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vernünftiger oder gefühliger Pathetik, ihnen nur schwer oder gar nicht folgen können; so zum Beispiel erforschten sie die metrische Bewegung einer Prosa so wissenschaftlich exakt, wie ein moderner Musiker Harmonie und Kontrapunkt erforscht, und, ich brauche es kaum zu sagen, mit viel schärferem ästhetischen Instinkt. Darin waren sie wie überall auf dem richtigen Wege. Seit der Einführung des Buchdrucks und dem verhängnisvollen Aufschwung der Gewohnheit des Lesens in den mittleren und unteren Klassen unseres Landes gab es in der Literatur eine Tendenz, mehr und mehr sich ans Auge und immer weniger sich ans Ohr zu wenden, und doch ist in Wahrheit, vom Standpunkt reiner Kunst, das Ohr das Sinnesorgan, das die Literatur erfreuen sollte, und nach dessen Bedingungen sie sich immer richten sollte. Selbst die Schriften Walter Paters, der im ganzen der vollendetste Meister englischer Prosa ist, der jetzt unter uns weilt, gleichen oft viel mehr einem Mosaikstück als einem Musikstück und scheinen hie und da das wahre rhythmische Leben der Worte und die schöne Freiheit und den Reichtum der Wirkung zu entbehren, die so ein rhythmisches Leben hervorbringt. Wir haben in der Tat aus dem Schreiben eine bestimmte Kompositionsart gemacht und behandeln es als eine besondere Form der Ausarbeitung. Die Griechen dagegen betrachteten das Schreiben lediglich als eine Art Aufzeichnung. Ihr Prüfstein war immer das gesprochene Wort in seinen musikalischen und metrischen Beziehungen. Die Stimme war das Medium und das Ohr Kritiker. Ich dachte manchmal, die Geschichte von Homers Blindheit könnte wirklich ein künstlerischer Mythos sein, der in kritischen Tagen gebildet wurde und dazu diente, uns nicht vergessen zu lassen, nicht

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/72&oldid=- (Version vom 1.8.2018)