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aber im Charakter und der Behandlung ist sie ganz und gar vollendet. Die sittliche Wirkung der Kunst, ihre Bedeutung für die Kultur und ihr Wert für die Charakterbildung war ein für allemal von Platon erledigt worden; hier aber sehen wir die Kunst nicht vom moralischen, sondern vom rein ästhetischen Standpunkt aus behandelt. Platon hatte sich natürlich schon mit vielen ausgesprochen künstlerischen Seiten beschäftigt, wie zum Beispiel der Bedeutung der Einheit in einem Kunstwerk, der Notwendigkeit des einheitlichen Tons und der Harmonie, dem ästhetischen Wert der Geistererscheinungen, der Beziehung der sichtbaren Künste zur äußeren Welt und der Dichtung zur Tatsache. Er war es, der zuerst in der Menschenseele das Verlangen erweckte, das wir noch jetzt nicht befriedigt haben, das Verlangen, den Zusammenhang zwischen Schönheit und Wahrheit und den Platz kennen zu lernen, den die Schönheit in der moralischen und geistigen Ordnung des Kosmos einnimmt. Die Probleme des Idealismus und Realismus, so wie er sie hinstellt, mögen manchem in der metaphysischen Sphäre des absoluten Seins, in die er sie hineinbringt, einigermaßen unfruchtbar vorkommen, aber man übertrage sie in das Bereich der Kunst, und man wird finden, daß sie noch voller Leben und Bedeutung sind. Es kann sein, daß Platon bestimmt ist, als Kritiker der Schönheit zu leben, und daß wir, wenn wir den Namen des Bereichs seiner Spekulation ändern, eine neue Philosophie finden. Aristoteles dagegen beschäftigt sich wie Goethe mit der Kunst vorwiegend in ihren konkreten Formen, und er nimmt zum Beispiel die Tragödie und untersucht das Material, dessen sie sich bedient, nämlich die Sprache, ihren Gegenstand, nämlich das Leben, ihre besondere Darstellungsart,

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/75&oldid=- (Version vom 1.8.2018)