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Dichter singt, weil er singen muß. Wenigstens, kein großer Dichter tut es. Ein großer Dichter singt, weil er singen will. Es ist jetzt so, und ist immer so gewesen. Wir sind manchmal geneigt anzunehmen, die Stimmen, die im ersten Beginn der Poesie erklangen, seien einfacher, frischer und natürlicher gewesen als unsere, und die Welt, auf die die ersten Dichter blickten und durch die sie wandelten, hätte an sich selbst eine Art poetische Eigenschaft gehabt und hätte fast ohne Veränderung in Gesang übergehen können. Jetzt liegt dichter Schnee auf dem Olymp, und seine schroffen, steilen Hänge sind öde und unfruchtbar, aber einst, so träumen wir, streiften die weißen Füße der Musen den Morgentau von den Anemonen, und am Abend kam Apollon und sang den Hirten des Tales. Aber damit leihen wir nur andern Zeiten, was wir für unsere eigene wünschen oder zu wünschen glauben. Unser historischer Sinn ist im Irrtum. Jedes Jahrhundert, das Poesie hervorbringt, ist insofern ein künstlerisches Jahrhundert, und das Werk, das uns das natürlichste und einfachste Produkt seiner Zeit scheint, ist immer das Ergebnis der bewußtesten Leistung. Glaube mir, Ernst, es gibt keine schöne Kunst ohne Bewußtheit, und Bewußtheit und kritischer Geist sind eins.

Ernst: Ich verstehe, was du meinst, und es ist viel daran. Aber gewiß müßtest du zugeben, daß die großen Gedichte der Vorzeit, die primitiven, anonymen Gesamtheitsdichtungen, mehr aus der Phantasie von Völkern als von Individuen hervorgingen?

Gilbert: Nicht als sie Dichtung wurden. Nicht als sie eine schöne Form erhielten. Denn es gibt keine Kunst, wo nicht Stil ist, und keinen Stil, wo nicht Einheit ist, und Einheit schafft das Individuum. Ohne Zweifel hatte

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/80&oldid=- (Version vom 1.8.2018)