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Homer alte Balladen und Erzählungen vor sich, wie Shakespeare Chroniken und Stücke und Novellen hatte, nach denen er arbeitete, aber sie waren nur sein Rohmaterial. Er nahm sie und formte sie zu Gesang. Sie wurden sein eigen, weil er ihnen seine Schönheit gab. Sie wurden aus Musik gebaut,

          und also nicht gebaut,
     und doch gebaut für immer.

Je länger man Leben und Literatur erforscht, um so stärker fühlt man, daß hinter allem Herrlichen das Individuum steht, und daß nicht der Zeitpunkt den Menschen bildet, sondern daß es der Mensch ist, der die Zeit schafft. Wirklich bin ich geneigt zu denken, daß jede Mythe und Legende, die nur aus dem Staunen oder Schrecken oder der Phantasie eines Stammes oder Volkes zu entspringen scheint, in ihrem Ursprung die Erfindung eines einzelnen Geistes war. Die erstaunlich kleine Zahl der Mythen, scheint mir, drängt zu diesem Schlusse. Aber wir wollen nicht zu Fragen der vergleichenden Mythologie abschweifen. Bleiben wir bei der Kritik. Was ich dartun will, ist folgendes. Eine Zeit, die keine Kritik hat, ist entweder eine Zeit, in der die Kunst unbeweglich, hieratisch und auf die Wiedergabe formeller Typen beschränkt ist, oder eine Zeit, die überhaupt keine Kunst besitzt. Es hat Zeiten der Kritik gegeben, die nicht im gewöhnlichen Sinn des Wortes schöpferisch waren, Zeiten, in denen der Menschengeist die Schätze seiner Schatzkammer zu ordnen suchte, das Gold vom Silber und das Silber vom Blei zu trennen suchte, seine Edelsteine zählte und den Perlen Namen gab. Aber nie hat es eine schöpferische Zeit gegeben, die nicht auch kritisch war. Denn die Erfindung neuer Formen ist Sache der kritischen Anlage. Die Tendenz

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 77. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/81&oldid=- (Version vom 1.8.2018)