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die nach dem Vorschlag eines unserer betriebsamsten Schriftsteller der Ausgangspunkt einer endgültigen und einmütigen Bewegung unter unsern Poeten zweiten Ranges werden soll, um ihnen dazu zu verhelfen, richtige Romantiker zu werden. Jede neue Richtung schreit bei ihrem Auftreten gegen die Kritik, aber sie verdankt ihre Entstehung der kritischen Anlage des Menschen. Der bloß schöpferische Trieb erneuert nicht, sondern wiederholt.

Ernst: Du nimmst die Kritik als wesentlichen Teil des schöpferischen Geistes, und ich akzeptiere jetzt deine Theorie ganz und gar. Aber was ist von der Kritik jenseits des Schaffens zu sagen! Ich habe die Gewohnheit, Zeitschriften zu lesen, und mir scheint, die meiste Kritik unserer Zeit ist völlig wertlos.

Gilbert: Genau das gilt auch von den Hervorbringungen unserer Zeit. Die Mittelmäßigkeit wiegt die Mittelmäßigkeit und hält ihr das Gleichgewicht, und die Unfähigkeit klatscht der Unfähigkeit zu – das ist das Schauspiel, das uns die künstlerische Betätigung von Zeit zu Zeit bietet. Und doch habe ich das Gefühl, das ein bißchen ungerecht ausgedrückt zu haben. In der Regel stehen die Kritiker – ich spreche natürlich von den besseren, das heißt von denen, die für die billigeren Blätter schreiben – geistig viel höher als die Menschen, deren Werke sie zu rezensieren haben. Auch ist von vornherein nichts anderes zu erwarten, denn die Kritik verlangt unendlich mehr Bildung als das Schaffen.

Ernst: Wirklich?

Gilbert: Ganz gewiß. Jeder Mensch kann einen dreibändigen Roman schreiben. Dazu bedarf es nur einer völligen Unkenntnis des Lebens und der Literatur. Die Schwierigkeit, die nach meiner Idee der Rezensent

Empfohlene Zitierweise:
Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/83&oldid=- (Version vom 1.8.2018)