Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/87

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Gleichförmigkeit des Typus. In ihrer Verwerfung der geläufigen Meinungen über das, was Moral ist, stimmt sie mit höher entwickelter Ethik überein. Und die Tugenden! Was ist Tugend? Die Natur, so belehrt uns Renan, kümmert sich wenig um Keuschheit, und vielleicht verdanken es die Lukretias des Lebens unserer Zeit der Schande Magdalenas und nicht ihrer eigenen Reinheit, daß sie unbefleckt blieben. Die Barmherzigkeit, das müssen selbst die zugeben, zu deren Religion sie wesentlich gehört, schafft eine Menge Übel. Schon die Existenz des Gewissens, von dem die Menschen heutzutage so viel zu schwatzen wissen und auf das sie so dummstolz sind, ist ein Symptom unserer unvollkommenen Entwicklung. Es muß in den Trieb untertauchen, auf daß wir schön und vollendet werden. Selbstverleugnung ist nichts als eine Art, durch die der Mensch seinen Fortschritt hintanhält, und Selbstaufopferung ist ein Überbleibsel der Selbstverstümmelung des Wilden, ein Zubehör des alten Kultus des Leidens, der ein so schrecklicher Faktor in der Geschichte der Welt ist und der selbst jetzt Tag für Tag seine Opfer fordert und seine Altäre im Lande hat. Tugend! Wer weiß, was Tugend ist? Du nicht. Ich nicht. Niemand. Es dient unserer Eitelkeit, daß wir den Verbrecher niederschlagen, denn wenn wir ihn am Leben ließen, könnte er uns vielleicht zeigen, was wir durch sein Verbrechen gewonnen haben. Es dient seinem Frieden, daß der Heilige in sein Märtyrertum geht. Der grauenvolle Anblick der Ernte, die er gezeitigt, wird ihm erspart.

Ernst: Gilbert, du schlägst zu bittere Töne an. Wir wollen zu den lieblicheren Gefilden der Literatur zurückgehn. Was hattest du gesagt? Es sei schwerer, über eine Sache zu sprechen, als sie zu tun.