Seite:Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben.pdf/91

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bringen die Engel ihr das Symbol von Gottes Leiden. Der kühle Hauch des Morgens bewegt die goldfarbenen Strähnen über ihrer Stirne. Auf dem kleinen Hügel bei der Stadt Florenz, wo die Liebespaare des Giorgione liegen, herrscht immer die Sonnenhöhe des Mittags, eines Mittags, den die sommerlichen Gluten so schmachtend und schlaff machen, daß das schlanke nackte Mädchen kaum den runden gläsernen Becher in die Marmorzisterne tauchen kann, und die langen Finger des Lautenspielers müßig auf den Saiten ruhn. Es ist immer Zwielicht für die tanzenden Nymphen, die Corot unter die Silberpappeln Frankreichs setzte. In ewigem Zwielicht bewegen sie sich, diese gebrechlichen, durchsichtigen Gestalten, deren zitternde weiße Füße das taugetränkte Gras nicht zu berühren scheinen, auf das sie treten. Aber die im Epos, Drama oder Gedicht wandeln, sehen aus den kreißenden Monaten die jungen Monde wachsen und hinschwinden, und sie gewahren die Nacht vom Abend bis zum Morgenstern, und von Sonnenaufgang bis Untergang sehen sie das Wandeln des Tages mit all seinem Gold und all seinem Schatten. Für sie wie für uns blühen und welken die Blumen, und die Erde, diese grüngelockte Göttin, wie Coleridge sie nennt, wechselt ihr Gewand zu ihrem Ergötzen. Die Statue ist auf einen Moment der Vollendung gesammelt. Das Bildnis, das auf die Leinwand gemalt ist, besitzt kein geistiges Element des Wachstums oder der Veränderung. Sie wissen nichts vom Tod, weil sie wenig vom Leben wissen, denn die Geheimnisse von Leben und Tod gehören denen und nur denen, die der Wandel der Zeit berührt und die nicht nur die Gegenwart, sondern die Zukunft besitzen und aus einer Vergangenheit des Ruhmes oder der Schande fallen oder sich erheben können.