Propheten wolltet ihr sehen? Ja, ich sage euch, der auch mehr ist, denn ein Prophet. Denn dieser ist’s, von dem geschrieben steht: siehe, ich sende meinen Engel vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.“ Da sehen wir, was Bescheidenheit ist und den Lohn der Bescheidenheit, und wie es sich an dem Täufer bewahrheitet, daß, wer sich selbst erniedrigt, von Gott hervorgezogen und erhöhet wird. Das Gegenteil von dem ist der Ehrgeiz, das anspruchsvolle Benehmen eines Menschen der gerne überall der Oberste sein möchte, der Mittelpunkt und die Achse, um die sieh alles drehen soll. Solcher Mensch hat aber das Unglück, daß er überall anstößt, daß er überall verletzt und beleidigt. Und dadurch zieht er sich überall scharfe Zurückweisung, scharfe Demütigung zu, und bewahrheitet sich auch das Wort des HErrn in diesem Sinn; Wer anspruchsvoll auftritt, über Gebühr hinaus Ansprüche erhebt, der wird zurückgewiesen und erniedrigt. Unsere selbstverschuldete Demütigung zu entgehen, sagt der HErr: Gehe nicht vorne an, dränge dich nicht nach vorn, sondern laß dich von andern nach vorn ziehen, das steht dir besser an. Suche nicht, daß du bemerkt werdest, um dein Licht auf den Scheffel zu stellen.
Die Bescheidenheit oder Bescheidung ist freilich nicht nach dem Geschmack unserer Tage. Nichts ist, könnte man fast behaupten, dem Geschmack unserer Tage so sehr abhanden gekommen als die Bescheidung. Man hält die Bescheidung für eine altmodische Tugend, man spottet über sie mit dem gemeinen Reim, daß die Bescheidenheit eine Zier sei, doch daß man weiter ohne sie komme, worin sich die ganze Roheit dieser Tage ausspricht. Wer nichts aus sich macht, aus dem wird nichts, das ist die ganze Lebensweisheit von heute. Und was ist die Folge? Ein unverschämtes Sichhervordrängen, eine Entfesselung der niederen, selbstsüchtigen Triebe, wodurch aller Bestand hoher Güter und alle Sitte untergraben wird. Die Lehre von der Bescheidenheit tut unserm Volke so not, wie dem Kranken die Arzenei und wie dem Hungrigen das Brot. Du darfst ein Licht anzünden am hellen Tag, wenn du einen bescheidenen Menschen findest willst.
So notwendig es aber auf Grund unsers Textes auch ist, ein Loblied der Bescheidenheit zu singen, so muß ich doch sagen: Der HErr hat Anlaß zu Höherem gegeben. Es scheint nur so auf den
Johannes Deinzer: Zwei Predigten vom sel. Missionsinspektor Johannes Deinzer. ohne Verlag, Bryan (Ohio) 1908, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Predigten_vom_sel._Missionsinspektor_Johannes_Deinzer.pdf/8&oldid=- (Version vom 30.6.2016)