Unter Deutschlands Philosophen und Mathematikern
war Frhr. v. Wolf einer der hervorragendsten, ebenso
sehr gefeiert wie geschmäht, gehaßt wie bewundert; er
gründete sich einen großen weithin verbreiteten Namen,
und gab seiner Wissenschaft ebenso feste Basis, wie er
derselben treueifrige Jünger weckte und zuführte. Er
wurde zu Breslau geboren, wo sein Vater Bäcker
war, und war berufen, aus der engen Sphäre bürgerlicher
Gewerbsthätigkeit die Höhe der Wissenschaft zu
gewinnen. Gute Anlagen befähigten ihn, sich auf dem
Marien-Magdalenengymnasium vorzubilden, und er entwickelte
schon auf diesem regen Forschungsgeist und die
Neigung zu den beiden Doctrinen der Mathematik und
Philosophie, in denen er später ein so großes Ziel
erreichte. Demzufolge entsagte Wolf auch der Theologie,
für die er eigentlich bestimmt war, und widmete
sich auf der Hochschule zu Jena, welche er 1699 bezog,
und darauf in Leipzig mit dem besten Erfolg den von
ihm bevorzugten Studien.
In Leipzig wurde Wolf 1703 Magister, disputirte, wurde durch den berühmten Mathematiker Grafen Tschirnhausen an Leibnitz empfohlen und studirte eifrig die Schriften des letztern, dessen Geist er sich ebenbürtig zu fühlen begann. Er hielt öffentliche Vorlesungen an der Hochschule, verließ die von de Cartes eingeschlagene und vorgezeichnete Richtung der Philosophie und wandte sich der von Leibnitz zu, mit dem er lange im brieflichen Verkehr blieb und von welchem er auch nach Halle empfohlen wurde. Dort begann Wolf, nachdem er mehrere vortheilhafte Anträge nach Gießen, Danzig und Wismar abgelehnt hatte, 1706 seine Vorlesungen und erhielt im darauf folgenden Jahre die erste Professur der Mathematik. Die Schriften, welche Wolf ausarbeitete und nach einander erscheinen ließ, in denen allen sich lichtvolle Klarheit der Gedanken, folgerichtige Ordnung und strenge Logik seiner Lehrsätze und Lehrmethode kund gab, erwarben dem Halleschen Philosophen die allgemeinste Anerkennung und seinen Hörsälen eine ungemeine Schüler- und Zuhörerfülle. Mehr als jeder andere Vorgänger oder Mitringer auf dem Felde der philosophischen Wissenschaft erwarb sich Wolf auch dadurch ein Verdienst, daß
Ludwig Bechstein: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen. Georg Wigand's Verlag, Leipzig 1854, Seite 395. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zweihundert_deutsche_M%C3%A4nner_in_Bildnissen_und_Lebensbeschreibungen.pdf/395&oldid=- (Version vom 15.9.2022)