Der berühmte Stifter der evangelischen Brüdergemeinde!
Ein Mann von edlem Herzen, frommem Wandel, erregbarer
Phantasie voll innerlichen Geistes- und Gemüthslebens,
religiöser Mystik zugänglich und ihr neuzeitlicher
Vorkämpfer. – Graf Zinzendorf wurde zu Dresden
geboren und erhielt seine erste Erziehung durch seine
Großmutter, eine Frau von Gersdorf, zu Großhennersdorf,
einem jetzt blühenden Fabrikort in der Lausitz.
Die Frömmigkeit dieser Frau und der Einfluß Philipp
Jacob Spener’s, der vor seinem Weggang von Dresden
nach Berlin viel mit ihr verkehrte, die lebhafte
Sehnsucht desselben, die Kirche aufs neue zu reformiren,
gaben dem jungen Grafen frühzeitig die Geistesrichtung,
der er durch sein ganzes Leben unerschütterlich
treu blieb. Treulich gehegt und gepflegt wurde sie auf
dem Pädagogium zu Halle, wohin man den Knaben
in seinem 11. Jahre sandte, dessen Stifter, der große
Menschenfreund August Herrmann Franke, unmittelbar
sich des gräflichen Knaben annahm, und ihm den eignen
frommen, vielleicht überfrommen Geist einhauchte. Nicht
reiten, tanzen und fechten war es, was dort die Stunden
des Sprossen eines altreichsgräflichen Geschlechts
ausfüllte, sondern weinen, beten und grübeln; und die
Neigung zum selbstvertiefen in das dunkle mystische
Gebiet einer heißersehnten Gottseligkeit ließ ihn schon
in Halle ein Bündniß mit Gesinnungsgenossen gründen,
das den Namen vom Senfkorn im Evangelium des
Matthäus lieh. Um dieser Richtung ein Gegengewicht
zu geben, wurde der junge Graf 1716 auf die Hochschule
Wittenberg gesandt, dort dem Studium der Rechtskunde
obzuliegen, allein ihn zog es ausschließlich zur
Theologie. Er sah das kirchliche Leben allgemein verflacht,
und ersehnte nichts mehr als eine Wiedergeburt
und Läuterung der christlichen Kirche, und wo möglich
eine Vereinigung der drei Konfessionen zu einem großen,
allgemeinen, auf die schöne Einheit des Urchristenthums
zurückgeführten Bruderbunde. Diese suchte er aber nicht
durch verflachende Allgemeinheit, philosophische Spitzfindigkeiten
und vernünftelndes Lossagen von jedem Glauben
zu erreichen, sondern er hielt unwandelbar fest an
den unumstößlichen Satzungen der heiligen Schrift und
des geoffenbarten Christenglaubens. Daher waren
Ludwig Bechstein: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen. Georg Wigand's Verlag, Leipzig 1854, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zweihundert_deutsche_M%C3%A4nner_in_Bildnissen_und_Lebensbeschreibungen.pdf/401&oldid=- (Version vom 15.9.2022)