Sponsel Grünes Gewölbe Band 4/Der Inhalt des Grünen Gewölbes – Übersicht über den 4. Band des Tafelwerkes – Arbeiten aus Elfenbein

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Einleitung Das Grüne Gewölbe: eine Auswahl von Meisterwerken in vier Bänden. Band 4 (1932) von Jean Louis Sponsel
Arbeiten aus Elfenbein
Arbeiten aus Bernstein
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
[6]
ARBEITEN AUS ELFENBEIN

In der Auswahl von „Meisterwerken der Goldschmiedekunst“, die Geräte, Gefäße, Figuren, Uhren, Kleinodien, Kabinettstücke aus Holz, Stein, Perlmutter, Muscheln, Ton, Glas, Kristall, Straußenei, Kokosnuß, Gold, Silber, jeder Art Halbedelstein und Edelstein auf 200 Tafeln der drei ersten Bände wiedergab, sind gewisse Werkstoffe von geringerem Werte, vor allem Elfenbein, Bernstein und Holz noch nicht in größeren, selbständigen Werken zu ihrem Rechte gekommen. Lediglich dort, wo sie den Körper von Schmuckgefäßen bilden oder in den Kreis der ornamentalen Requisiten einbezogen waren, konnten sie erwähnt werden. Eine scharfe Grenze zu ziehen war hier bei einem System wohl nicht möglich, das sich seine Kategorien weder aus der historischen Disposition der räumlichen Beziehungen noch aus dem zeitgebundenen Gebrauchszweck oder der zeitlichen Folge des Entstehens entnahm. Dennoch nahmen die Arbeiten aus Elfenbein, denen in dem vorliegenden Bande über die Hälfte der Tafeln eingeräumt ist, schon in der alten Kunstkammer einen hervorgehobenen Platz ein. Wenn auch das Elfenbeinzimmer erst der Einrichtung der Jahre 1721–1724 durch August den Starken seinen Aufbau verdankt – das erste selbständige Inventar stammt sogar erst aus dem Jahre 1819 – sind doch die meisten hier aufgestellten Stücke schon im zweiten Raum der Kunstkammer des Kurfürsten August, die um 1560 wohlgeordnet war, festzustellen. Das vielzitierte Inventar, das Christian I. unmittelbar nach seines Vaters Tode 1587 anfertigen ließ: „.. wie desselben Vornehme sachen, Kunststücke und Zugehöriger Vorradt jedes besondern sortirt [7] und ordiniri wordenn und nachvolgendenn Orten zu befinden“, in einem saffianledernen, reich im Stile Jakob Krauses goldgepreßten Einband, 1588 bezeichnet, nennt als zweiten Raum:

Ein Hinteres großes Gemach gegen den Vehsten Bau Gartenn.

Dieses Zimmer war, wie wir aus dem Schloßmodell, das wohl von Paul Buchner um die Zeit des ersten Inventars gearbeitet worden ist, ablesen können, von dem südwestlichen Wendelstein aus unmittelbar zugänglich, lag also gerade über dem alten Eingang und jetzigen Bronzezimmer. Zwischen geodätischen Instrumenten, türkischen Waffen, Geschenken des Kaisers Matthias, Brech-, Folter- und Tischler-, Schlosser- und Büchsenmacherwerkzeugen stoßen wir hier auf eine Gruppe

Ahn allerley gedröheten Kunststücken, von Helfenbein, welche zum Teill von Hertzogen Augusto Churfürsten zu Sachßen hochlöblicher gedechtnus mit eigenen handen gemacht Theilß aber durch die bestelten Hoffdrößler geferdtigt wordenn.

Daß der hohe Herr in vielerlei Handwerk erfahren war, bezeugen nicht nur zahlreiche Schreiben, Rechnungen, Bestellungen, die schon bei der Berufung Paul Buchners und den Aufträgen für Leonhard Danner, dessen Vetter, den Schraubenmacher aus Nürnberg. Was er selbst in Elfenbein gedreht hat, erblickte man auf einem gemalten achteckigen Tisch, der sich in sechs Stufen erhob. Da gab es Becher, Schale, Pokale, Büchschen, und besonders die, „Kunststücklein“ genannten, nur als handwerkliche Spielereien ohne irgendwelchen Zweck geformten, meist spiraligen Säulen, Türme oder Pyramiden, die, mit ihren wechselnden Kurven und Umrissen, meist auf muschelförmigen Sockeln sich emporschrauben, um in einem Stern oder in einer figürlichen Spitze zu enden. 135 Stück zählt das Register der, von hoher Hand gedrehten Arbeiten. Damit überschreitet es die Zahl der Arbeiten des Meisters Egidius Lobenigk, dessen Gesamtnachlaß nur durch ein Inventar des Hauptstaatsarchives bekannt ist. Er hatte, durch Kurfürst August aus Köln berufen, seine Arbeits- und wohl auch Wohnräume unweit der Kunstkammer neben der Anatomiekammer. Eines seiner noch heute erhaltenen Hauptwerke ist die hohe Kontrafektsäule (II. 130, vgl. Bd. II, 48), die am 13. April 1591 der Kunstkammer übergeben wurde:

1 Ablengigter geschraubter Pyramides oder Seulen mit einer runden Kugell darinnen ein 20 eckigt Corpus mitt spitzen und darauf die geschnittenen bilder Mercurius und Sol. Unten auf einem schwartzen Eibenen fuße stehendt. (Inv. 1595, S.235).

Diese Säule, bei der die Bewunderung sich mehr auf die Überwindung der [8] technischen Schwierigkeiten, die virtuose Handhabung des Schneideisens und Stichels als auf die künstlerische Konzeption richtet, stammt aus der gleichen Schaffensperiode des Meisters wie das andere seit Jahrhunderten bestaunte Wunderwerk, wo er die churfürstliche Tafelrunde, fünf Personen, das Paar Christian und Hedwig selbst samt Dienerschaft, bewegliche Automaten, um einen Tisch in der Kugel ausgeschnitten hat. Auf der Kugel selbst, die ein Zifferblatt trägt, bildet die Hand eines liegenden Putto den von dem innern Uhrwerk bewegten Zeiger (E. L. 1589 bezeichnet).

Wo der Meister sich im rein Figürlichen bewegt, wie bei dem Marcus Curtius-Becher, (Tafel 8 b), ist er den Plastikern der Spätrenaissance, wie sie sich in Dresden z. B. aus der Familie Walther rekrutieren, nicht ebenbürtig. Seine Figuren sind von einer hausbackenen Aufgeregtheit, die Antike durch die Brille des kleindeutschen Handwerkers gesehn. Nur gelegentlich, wie bei der Maske auf dem Schilde des römischen Helden, zeigt sich formale Gewandtheit und so etwas wie ein vertrackter Humor. Die Rührigkeit des Meisters war jedenfalls größer als seine Phantasie. Sie erschöpfte sich, wie die Einträge des Inventars von 1595 beweisen, in seinen Zweckgebilden: 1588 kamen sieben, 1589 zwei, 1590 fünf und 1591 sieben Stück neu ein. Die komplizierte sphärische Geometrie dieser, mit wissenschaftlicher Akribie gearbeiteten Gebilde zeigt etwa folgende Beschreibung:

1 runder zugespitzter geschraubter Becher, dessen Schrauben bis in Punkt gedröhet, unden am fus 6 zugespitzte Schrauben in form eines Sterns, under demselben ein holen Dryangell, stehet uff 3 schwartzen Eibenen ablengt gedröheten Spiegelein. Der Deckel auch geschraubt biß ins Centrum, uf demselben aber zwey ausgedröhete Kugelein eines ins andre, Oben ein 6 eckigter Stern mit zugespitzten Schrauben.

Im gleichen Zeitraum erreichten Lobenigks Zunftgenossen Georg Weckhardt Lieferungen die Zahl sechsundvierzig. Dieser war ein Sohn des bayerischen Hofdrechslers Hans Wecker und seiner Frau Barbara, die noch 1578, als er schon im Dienste des sächsischen Kurfürsten stand, in der Schwabinger Gasse zu München wohnte. Er heiratete in Dresden die Marie Springinklee, die Tochter des Kammerschreibers Michael Springinklee. Außer den 78 Stücken, die er bis 1591 in die Kunstkammer lieferte, von deren drechslerischer Vorzüglichkeit der bauchig gedrehte Pokal II. 232 (Tafel 4 c), bez. G. W. 1584 eine Vorstellung gibt, hat er noch bis 1610 allerhand für den Hof gearbeitet. Damals schuldete ihm der Kurfürst – es war Christian II., der Enkel Augusts – noch 648 fl 6 Gr. Der Ruf seiner Kunstfertigkeit war so weit gedrungen, daß er, mit Genehmigung seines [9] hohen Herrn, im Jahre 1599 dem Kaiser Rudolf II. in Prag eine Drehstube einzurichten den Auftrag erhielt. Neben Adrian de Vries, Egidius Sadeler, Bart. Spranger, den Miseroni, Kaspar Lehmann, Paulus von Vianen scheint er hier der einzige Vertreter seines Handwerks gewesen zu sein. Sein Sohn Hans Weckher wird noch 1615 als Kammerdrechsler am Hofe des Kaisers Matthias genannt.

Der Meister G. F., dessen Initialen, samt einem zierlich gravierten Reiher mit einem Fisch im Schnabel und einem Adler, mehrfach auf Pokalen und Bechern von ähnlicher Qualität vorkommen (Tafel 4 b, II. 297), könnte für einen Schüler Weckhardts gehalten werden. Als sein Nachfolger tritt Jakob Zeller seit dem Ende des Jahrhunderts mehr und mehr hervor. Sein Ruhm knüpft vor allem an das noch heute als solches anerkannte Meisterwerk an, das er 1620 dem jungen Kurfürsten Johann Georg I. widmete: an die große Fregatte mit dem Neptun, den glänzendsten Tafelaufsatz der Renaissance, den die Kunst der Elfenbeinschnitzerei hervorgebracht hat. Gebürtig aus Deutz am Rhein, konnte er gewiß schon im Jahre 1611, als er die Kontrafektkugel mit dem Krieger und dem Löwen für Christian II. schuf (II. 296, Tafel 8 c) als Hofdrechsler auf eine Reihe von Dienstjahren zurückblicken. Sein künstlerischer Stil, den wir über ein Jahrzehnt an datierten Werken verfolgen können, entwickelt sich vom trocknen Naturalismus, der die Zufälligkeiten der anatomischen Erscheinung gewissenhaft beobachtet, zu dem Schwunge der monumentalen Freiheit, die aus dem Beherrscher der Meere eine imponierende Erscheinung von einer durchaus an das beste Barock gemahnenden Vielfalt der Achsenverschiebung und Frontveränderung macht. Wie spielt die Lust am Grotesken und Skurrilen in den mannweiblichen Hermen am Piedestal des Georgpokals, wo der Satir, aufs derbste gekennzeichnet, unter der Last seiner Früchte fast zusammenbricht (Tafel 6 a). Die Gruppe des Drachentöters auf dem Deckel über dem durchbrochenen Tierfries, ist ebenso ungewöhnlich wie die Komposition der großen Fregatte auf Neptuns Rücken zugleich als Trägerin der wettinischen Ahnenreihe. Von ungemeiner Überlegung zeugt der Parallelismus des Vorwärtsstrebens in dem erregten Gliederspiel der Hippokampen und in den windgeschwellten Segeln, auf denen das Doppelwappen von der fürstlichen Ehegemeinschaft der Besitzer kündet.

In der „Beschreibung des Grünen-Gewölbes in Dreßden“ aus dem Jahre 1739, Frankfurt und Leipzig, der ersten gedruckten nach der Neuordnung, wenn man von Iccanders Hymnus auf das Königliche Dresden in der 2. und 3. Auflage [10] seiner Darstellung von 1723 und 1726 und des Freiherrn von Pöllnitz ebenso allgemein gehaltener von 1734 absieht, wird Zellers Werk unter den vier überhaupt erwähnten Hauptstücken des zweiten Zimmers ausführlich und an erster Stelle genannt. Das Kunstkammerinventar von 1619 führt von Meister Jacob Zeller 23 „gedrehete und geschnittene Sachen“ auf, darunter außer den schon genannten Stücken ein Kruzifix, darauf ein Pelikan, unten eine Schlange auf einem Totenkopf, einige Ketten mit Medaillonbildnissen, Becher, Kugeln, auch dreieckige Jagdhörner, mit Kirschkernen, in die das sächsische Wappen geschnitten ist, geschmückt. Das Pfefferkorn im Deckel des Georgpokals, das mehrere hundert elfenbeinerne Becher in sich barg, ist leider mitsamt seinem eingeschraubten Büchslein, verloren. Vergleicht man das Inventar der Prager Schatz- und Kunstkammer Kaiser Rudolfs, das sein Nachfolger am 6. Dezember 1621, also nur zwei Jahre nach dem Dresdner Inventar, niederschreiben ließ, so begegnen uns hier Nr. 120 und 121, 118 „Stück allerhand Sorten getrechselter Kunststücke von Helfenbein“, dazu vielerlei Brettspiele, Büxen, indianische Jagdhörner, auch ein „Ventolo“ (Fächer = éventail) und „ein großer maienkrug“.

Mit den Arbeiten Weckers und Lobenigks wandert 1640 auch das reiche Werk Zellers in das achte Zimmer, das sich, an der südöstlichen äußeren Ecke des Flügels, dem zweiten unmittelbar anschloß. Hier werden auch seine Gesellen zum erstenmal erwähnt, während Meister Wecker seine Kunst in seinen Söhnen fortpflanzt. Merkwürdigerweise ist hier bei der Beschreibung des großen Schiffs mit dem Neptun der Schöpfer dieses Prachtstücks nicht erwähnt. Und dies Versäumnis erbt sich weiter in das erste Inventar des neuen Grünen Gewölbes 1725, wo sich unter mancherlei Zierfiguren und Cabinetstücken, im Pretiosensaal (Bl. 111) unter den am 8. September 1724 von der Kunstkammer abgegebenen „Kunststücken und Figuren“ auch das Schiff wiederfindet. Dem alten Bestand schließen sich hier die zwanzig Arbeiten an, die u.a. Melchior Barthel, Balthasar Permoser, Köhler, Neßler in die Sammlung einführen. In der Kunstkammer verblieb, nach dem Inventar ihres Leiters, des Dr. Gottfried Heinrich Duckewitz vom 14. Juli 1741, mit dem Nachtrag desselben Beamten von 1766, noch immer genug, um (Cap. XVI) bei der Auflösung der Sammlung 1832 und der Versteigerung von 1834 erhebliche Erträge zu erzielen. Das Kapitel zählt 141, mit dem Nachtrag 186 Stücke, der größte Teil davon gelangte ans Grüne Gewölbe und an die Rüstkammer. Die Kunstkammer war damals im Zwinger aufgestellt, und zwar in den Erdgeschoßräumen des nordwestlichen Pavillons, der nach seiner Verwendung [11] für die Bilder der französischen Schulen den Namen des „Französischen Pavillons“ erhielt.

Somit war das Material an Arbeiten aus Elfenbein, das bisher zwischen den Geräten, Gefäßen, Figuren und Kabinettstücken verstreut weniger nach seiner stofflichen als nach seiner zwecklichen und ästhetischen Bedeutung untergebracht war, so vermehrt, daß es geboten schien, ihm einen eigenen Raum mit selbständiger Ausstattung zu gewähren. Aber erst ziemlich ein Jahrhundert später war die Ordnung dieses Zimmers so weit festgelegt, daß man ihr in einem eignen Inventarband gerecht wurde. Dieser, 1819 datiert, ist eine Arbeit des Inspektors Geh. Cämmerierers Laurens Orlandi und von dem Oberkammerherrn Frh. von Friesen abgenommen. Er trägt die Namen sämtlicher Inspektoren des 19. Jahrhunderts von Orlandis Nachfolger Fr. Anton Kühne an, Moritz Schultze, Adolf Frh. von Landsberg, dem Verfasser des ersten Führers (1831), Carl Th. Chalybäus, Dr. I. G. Th. Gräße, dem wir die erste Bildpublikation, das Album mit 100 Tafeln 1877 verdanken, Julius und Albert Erbstein, durch deren Führer, 1884, die wissenschaftliche Bearbeitung der Schätze in ein neues Stadium getreten ist. Als Nachfolger Julius Erbsteins, der nach dem frühen Tode des Bruders bis 1908 die nunmehrige Direktion führte, erscheint J. L. Sponsel. Sein im Jahre 1913 erschienener Führer (2. Aufl. 1921) lieferte den Text der Tafeln der Bände 1–3 dieses Werkes und bildete nicht nur die Grundlage der wissenschaftlichen Erläuterungen, die der Bearbeiter selbst den Tafeln vorausschickte, sondern auch den Ausgangspunkt aller kunstgeschichtlichen Kritik, die von nun an mehr und mehr auch die weniger berühmten Stücke der Sammlung zu behandeln bestrebt war.

Von den 427 im Inventar der achtziger Jahre verzeichneten Stücken des Elfenbeinzimmers, denen im Inventar des Jahres 1819 339, zusammen mit den bis 1876 gehenden Nachträgen 501 Stück vorangehen, sind im Verlaufe der Neuaufstellungen eine Unzahl, hauptsächlich aus dem Gebiete der figürlichen Kleinkunst, in das 3. Zimmer (Emaillenzimmer) gelangt. Das betraf vor allem die Erzeugnisse des 18. Jahrhunderts. Denn hier zog die Lust an der sinnlichen Anmut des festen und zugleich liebenswürdigen Stoffes, dessen gilbliche Urfarbe doch auch jede andere Tönung willig aufnahm, zugleich aber in ihrer Neutralität sowohl dem Edelmetall, Gold und Silber wie dem Farbenreiz der kostbaren Steine und des leuchtenden Email eine angenehme Folie bot, auch das Elfenbein für die mannigfaltigen Aufgaben der Kleinplastik mit heran. So entstand die [12] Welt der kaum spannenlangen Handwerker, Bauern, Straßenhändler, Komödianten, Bettler, der lächerlichen Kavaliere und Soldaten, das Liliputreich der herrschenden, genießenden und der untertänigen, fröhlich in den Tag lebenden Menschheit. Es lag ein besonderer Reiz für Auge und Geschmack darin, wenn es dem Künstler gelang, körperliches Elend, physische Defekte, die dumpfe Triebhaftigkeit des sozial Entrechteten nicht nur aufs Zierlichste in dem aristokratischen Stoff nachzubilden, sondern diesen Püppchen sogar ein Piedestal von einer materiellen Kostbarkeit zu geben, wie sie das irdische Vorbild kaum je im Traum hätte schauen können. Wie auf der Bühne des Rokokotheaters bewegten sich diese Geschöpfe des dritten Standes vor dem Parterre der Damen und Kavaliere, der höfischen Nichtstuer mit der Harmlosigkeit, die gerade im Gegensatz zu dem verwöhnten Snobismus dieser überzüchteten, in allen Raffinements moralischer und modischer Debauchen heimischen Gesellschaft als Naivität des Herzens bewundert werden mußte. Und neben dieser Komparserie, die keine Diva, keinen Helden, nur eben eine Columbine und einen Harlekin, lustige Personen ohne Pathos und Sentiment kannte, tummelte sich das exotische Gesindel, Neger und Türken, Zigeuner und Chinesen. Hier begegnet das lichte Gelb des Elfenbeins nicht nur dem Kaleidoskop der vielen Juwelen, sondern auch dem Nachtschwarz des Ebenholzes, dem Samtbraun des Palisanders. Schon ein Heimatkünstler wie Simon Troger hatte das blasse Fleisch-Elfenbein seiner alttestamentarischen und mythologischen Heroen durch das Braun des Zuckertannenholzes, das aus den tektonischen Nöten der Zusammenfügung der Werkstücke die Tugend einer malerisch bewegten Kostümierung, zum mindesten Draperie macht, zu morbider Wirkung gesteigert. Der Mohr auf dem Schimmel war die Lösung derselben Aufgabe von der Gegenseite aus. Wie pikant leuchtete das Inkarnat der schlanken Venus aus der Tiefe der Sänftenmuschel, wenn die dunkelhäutigen Sklaven die feingliedrige Last trugen.

Damit sind wir von der Zone des phantastischen Exotismus, wo Orient und Occident nicht mehr zu trennen sind, wieder zu jenen Sphären aufgestiegen, die seit Jahrhunderten der Phantasie der Erdgeborenen ihre göttlichen Pforten offenhalten. Über den Repräsentanten von Adel, Bürger- und Bauernstand, Schauspiel und Opera buffa thronen die Himmlischen in ewiger Jugend. Aus der Renaissance übernimmt die Plastik des Barock nicht nur das Wissen um die mythologischen Tatsachen, um das unerschöpfliche Epos von Stolz und Entsagen, Liebe und Haß, Begierde und Hingabe, das auf dem Olymp und dem [13] Helikon spielt. Es stürzt sich mit doppelter Leidenschaft auf das Körperliche, auf die straffe Energie des männlichen, die weiche Grazie des weiblichen, die durch den organischen Verfall unterstrichene Tektonik des greisenhaften Leibes. Die schwelgerische Sinnlichkeit der Vlamen, die der Rubensschüler Faidherbe in die Barockplastik des Elfenbeins verströmt hatte, verliert bei den Deutschen, etwa bei Melchior Barthel, Leonard Kern, Mathias Rauchmüller den Schwung, das Temperament, das durch das Medium der Farbe im Bilde dies Übermaß physischen Gesättigtseins uns heute noch ästhetisch schmackhaft macht. Hier wird manches plump und derb, was bei dem großen Vorbild in seiner üppigen Lebensfülle von einer nie zu beruhigenden Spannung innerviert scheint.

Erst mit Balthasar Permoser erscheint die schöpferische Persönlichkeit, die, obwohl von Natur im Monumentalen beheimatet, auch in den beschränkten Ausmaßen, die dem Elefantenzahn von der Natur gesetzt sind, die mächtigen Harmonien zum Klingen bringt, denen das Barock seine stärksten dekorativen Wirkungen verdankt. Er übernimmt, im Zenith des Jahrhunderts geboren, Rubens’ Erbe in einem Sinne besonderer Art. Die Wucht und Fülle der flandrischen Körperlichkeit ist in der leichten Luft des Alpenvorlandes zu tänzerischer Beweglichkeit gelockert. Permosers Figuren haben oft einen spiraligen Aufbau; die Fronten wechseln in der Drehung der Achsen, die Knöchel knicken ein, die Arme verstärken den Effekt des Kontrapost. Die S-förmige Kurve springt z. B. in dem Herbst aus der Gruppe der Dresdner Jahreszeiten deutlich ins Auge (Tafel 22 a). In der Gruppe des Herkules mit der Omphale (Tafel 21 b) entsteht durch die idealen Verbindungslinien zwischen den Extremitäten der drei Figuren – man verfolge die linke Hand des Putto zum linken Ellbogen der Königin, deren Rechte, die Krümmung der Arme aufnehmend, den Schwung auf die rechte Schulter des Gebändigten weiterleitet, während dessen rechte Ferse mit der herabhängenden linken Hand die Schleife schließt – ein Rhythmus von ausgesprochen ornamentaler, d. h. letzten Endes architektonischer Stilbedeutung.

Bei Permoser berühren sich Sinnlichkeit und Inbrunst. Wie in der Pracht des Menschenleibes findet er in der seelischen Erschütterung des religiösen Empfindens die Impulse seines Schaffens. Wenn das Barock niemals die Gestalten der Erlösungsgeschichte aus den Augen verloren, in der Durchbildung des Kruzifixes die äußerste Grenze des realistisch Faßbaren erreicht hat, so gilt das für [14] Permoser in ganz besonderem Maße. Christus, gemartert, seinen Vater suchend, an die Säule gebunden, wo er körperliche Schmerzen jeder Art erlitten, kehrt immer aufs Neue in seinem Werke wieder. Damit ist der Kreislauf der Darstellung durchmessen. Nächst den Skulpturen der Spätgotik weist die deutsche Kunst kaum Schöpfungen auf, die in der Wiedergabe des Leidens so ergreifend und dabei künstlerisch beherrscht sind wie die Gekreuzigten auf den Altären des Jahrhunderts Ludwigs XIV.

Als Joachim Sandrart 1679 seine Teutsche Akademie veröffentlichte, kannte er Permoser noch nicht, der zu dieser Zeit in Italien tätig war. Die Heiligen am Portal der Kirche San Gaetano in Florenz zeigen, wie der junge Meister sich mit Aufgaben im Rahmen der Baukunst abfand. Aber auch andere Künstler, die für die Entwicklung der Elfenbeinplastik wichtig geworden sind, fehlen in seiner biographischen Reihe. Georg Petel, gleich Permoser aus dem bayerischen Bergland, seit 1625 in Augsburg tätig, wird vor allen anderen als Meister der Elfenbeinschnitzerei gerühmt. Er ist, wie Faidherbe, lange bei Rubens in Antwerpen. Aber sein Hauptwerk, Apoll und Daphne, das diesen Einfluß am deutlichsten zeigen würde, ist heute nicht mehr nachzuweisen. „Runde Kändelein mit Bacchanalien, dem Sileno, denen Faunis und Satyrus auswendig“ sind zwar in vielen Sammlungen als beliebtestes Motiv in Menge vorhanden. Der Versuch, ihm einige Kruzifixe des Münchner Nationalmuseums zuzuschreiben, stützt sich lediglich auf den Vergleich mit dem Wiener Humpen, der allein die unzweifelhafte Signatur des Meisters trägt. Was von den Krügen und Kannen des Grünen Gewölbes nach Sandrarts ausführlicher Würdigung, wobei besonders der Arbeiten in den Augsburger Kirchen und im Besitze des Kurfürsten von der Pfalz-Neuburg gedacht wird, die auch Paul von Stetten erwähnt, in den Kreis der Rubensmotive gehört, ist nicht mit Petel selbst in unmittelbare Beziehung zu bringen. Trüge nicht die Büchse (Tafel 15 a) auf der Fassung die Marke eines norddeutschen Silberschmiedes, könnte man die figürlichen Einzelheiten der Neptunszene am ehesten in den Stichen der zahlreichen Nachahmer des Rubensstiles finden, die auch Petel angeregt haben. Leonard Kern wird, seltsamerweise, von Sandrart nur als Bildhauer in Stein und Holz genannt. Der gedrungene Typus seiner Gestalten begegnet zwar auch in der Kanne mit dem Bacchusfest (Tafel 15 c) und auch zeitlich würde die Fassung von Daniel Harnischter d. ä., Silberschmied aus Straßburg, einem Werke der reifen Zeit des Nürnberger Meisters wohl anstehen. Aber auch hier erlaubt die Konventionalität der im [15] Übrigen sehr geschickt dem Rund angepaßten Komposition keine sichere Zuschreibung. Dasselbe gilt von dem Schwaben Bernhard Strauß, von dem ein bezeichneter Pokal in Wien, ein Kruzifix in der Theatinerkirche zu München erhalten ist, von dem vielgereisten Ehregott Bernhard Bendel, von Christoph Harrich, dem Lehrer des berühmten Glasschneiders Georg Schwankardt, von Justus Gleßker, Balthasar Stockamer, der die deutsche Kunst am Hofe des Großherzogs Cosimo II. in Florenz zu Ansehen brachte, von David Heschler, der in Ulm Meister wurde, und von Hans Ulrich Hurter aus Zürich, einem Mitschüler des Dresdners Melchior Barthel bei Heschler in Ulm.

Wo in den Darstellungen mythologischer Szenen in dieser Zeit zwischen Satirn, Bacchantinnen, Göttern und Göttinnen jene weinfrohen, zu allerhand Scherz und Schabernack aufgelegten Kinder erscheinen, die als Putten das Treiben der Erwachsenen mit primitiver Drolerie in spielerische Harmlosigkeit übersetzen, ist man gewohnt, das Vorbild bei dem italienisierten Flamen François Duquesnoy zu suchen. In der Tat rühmt Sandrart von diesem Fiamingo „die große Wissenschaft der nakenden Leiber, besonderlich an Kindern und Knaben, die er ganz anmutig und artig, als ob natürliches Fleisch wäre, gemacht, sehen lassen, dann er dem Fleisch, gleichsam ein bewegliches Leben gegeben und den Kindern pratschete feißte und dickbackete Milchmäuler mit Grüblen auf den Knien, Elenbogen und Fingern gestaltet, der Natur so ähnlich, daß niemals auch keiner von den Antichen diese Natürlichkeit erreichet. Daher dann jederman dergleichen posierte Kinder verlangt hätte, die er vielfältig gar hurtig und geschwind gemacht.“ Diese Charakteristik paßt genau auf die Marmorfigur eines bogenschnitzenden Amor in Lebensgröße (Berlin, Kaiser Friedrich-Museum), dessen abenteuerliche Geschichte in Sandrarts wortreicher Würdigung des kunstreichen Meisters einen breiten Raum einnimmt. Nicht zuletzt aus dem Grunde, weil der Historiograph sich selbst als den Kenner nennt, der das von den Italienern verschmähte Werk dem bekannten Amsterdamer Kunstsammler Lukas van Ufflen empfohlen habe. Aus dessen 1639 aufgelöster Sammlung kam das liebenswürdige Werk als Geschenk des Magistrats in den Besitz der Prinzessin von Oranien nach dem Haag und von dort 1689, wohl aus dem Nachlaß der Kurfürstin Henriette, der 1667 verstorbenen Gemahlin des Großen Kurfürsten, in die Brandenburgische Kunstkammer. In der Dresdner Wiederholung des Bildwerks (Tafel 11 c) glaubt Scherer eine eigenhändige Arbeit des Meisters zu erkennen, ebenso wie er die Statuette der „Geduld“ in Braunschweig für eine eigenhändige Arbeit des vielgepriesenen Schöpfers der auch von Sandrart erwähnten [16] Sa. Susanna in S. Maria di Loreto in Rom (1630) hält. Die Tradition des 19. Jahrhunderts weist sowohl den Bogenschützen wie einen auf dem Rücken schlafenden Amor dem Balthasar Permoser zu. Daß auch letzteres Motiv bei Fiamingo vorkommt, erfahren wir wiederum von Sandrart: seine eigene Sammlung enthält ja, von seinem Freunde geschaffen, „ein nackendes Kindlein, auf dem Rücken liegend“. Wenn nun auch keine der ihm zugeschriebenen Elfenbeinschnitzereien – das für Urban VIII. geschnitzte Kruzifix 1626 ist nicht mit dem in dem Museum des Vatikans erhaltenen zu identifizieren – mit Sicherheit als Werk des vielbeschäftigten Meisters erkannt werden kann, liegt doch kein Grund vor, von den Dresdner Kinderfiguren nicht wenigstens die größere, eben den bogenschnitzenden Amor (Tafel 11 c) ihm und damit dem frühen 17. Jahrhundert zuzuweisen. Die ausgesprochene Ähnlichkeit aber vor allem des Gesichtes dieser Figur mit der des kleinen schlafenden Liebesgottes legt die Vermutung nahe, daß wir auch hier die Hand des Meisters vor uns haben. Von Permoser, der ja in den Jahren 1704–1710 in Berlin war, und dessen vielfache Reisen ihn auch sonst die Kenntnis der Werke Fiamingos vermittelt haben, wissen wir aus der zweiten Hälfte seines Lebens nichts über die Beschäftigung mit der mühevollen Kunst der Elfenbeinschnitzerei. Die Ähnlichkeit einzelner größerer Steinskulpturen mit dem Typus bezeugt nur, daß auch er sich dem Einfluß des Meisters nicht hat entziehen können.

War den süddeutschen Meistern die klassische Form, deren Kenntnis die Alpenländer mit ihrem starken Einschlag italienischen Schönheitsempfindens vermittelten, und damit die Freude an dem naturnahen Körper des Südländers nicht fremd, so mied die Lust am Fabulieren bei ihnen auch nicht die Gebiete der charaktervollen Verwitterung und Verzerrung des leiblichen Organismus, des Häßlichen, des Grotesken und Skurrilen. Schon im 17. Jahrhundert zeigen sich Ansätze einer figürlichen Plastik, die alles, was den unteren Ständen angehört, vor allem Bauern und Bettler, mit besonderer realistischer Ausführlichkeit wiedergibt. Auch dort, wo das Thema, religiöser oder mythologischer Art, es nicht bei den Nebenfiguren der Handlung unmittelbar fordert. So entstehen Einzelszenen und Gruppen, die als sittengeschichtliche Dokumente ebenso kennenswert sind wie als solche eines Realismus, der in der Genremalerei der Holländer noch stärkere Parallelen hat wie in der mehr dekorativ eingestellten Malerei der süddeutschen Meister. Dazu gehört auch die Gruppe der schreitenden Vagabunden (Tafel 8 a), die in ihrem Aufbau wie in der merkwürdig übertriebenen [17] Betonung der Mimik und in der Kühnheit der Umrisse ziemlich vereinzelt zwischen den gelassenen und gesättigten Nuditäten ihrer antikisch gepflegten Zeitgenossen steht. In die Wiener Sammlung kam 1879 aus Luxemburg ein großes Elfenbeinrelief, das die Marter des Hl. Sebastian in einer vielfigurigen, ungemein bewegten Szene zeigt (Schlosser, Werke der Kleinplastik in der Skulpturensammlung des A. H. Kaiserhauses, II. T. 39). In einer durchaus malerisch und friesartig gesehenen Komposition sind eine Anzahl von Kriegsleuten beschäftigt, den an einen Baumstamm gebundenen Heiligen mit ihren Pfeilen zu durchbohren; während zwei an den Flanken gerade zum Schuß ansetzen, ist ein dritter, halbnackt, mit skytischem Typus, kniend dabei, den Pfeil aus dem am Boden liegenden Köcher zu ziehen. Zwei Märtyrer liegen tot zu Füßen des Heiligen, ein gewappneter Bannerträger – die Fahne schmückt der kaiserliche Doppeladler – sprengt rechts herbei. Die krampfige Erregung in den Gesichtern der Henker wie ihrer Opfer, die Betonung der Sehnen und Adern an Armen und Beinen, kostümliche Einzelheiten, die parallelen Falten, die herunterhängenden Stiefelschäfte – alles dies kehrt bei dem Relief wieder. Es trägt die Zahl 1655. Eine Elfenbeingruppe im Museum zu Albi, die Schindung des Hl. Bartholomaeus, die dem Stil der Wiener Reliefs außerordentlich nahesteht, fügt der Jahreszahl, 1638, den Namen des Künstlers zu: Jacobus Agnesius Calviensis. Wenn es sich dabei wirklich um einen Sohn der schwäbischen Stadt Calw handelt, wäre die Annahme berechtigt, daß auch diese Gruppe von Darstellungen, die in der leidenschaftlichen Erregtheit der Gestikulation, der asymmetrisch-krausen Überladenheit mit Einzelmotiven dem Pathos des Barock noch ganz fernstehen, in Süddeutschland, dem Hauptgebiet der Elfenbeinkunst des 17. Jahrhunderts, beheimatet ist. Dorther stammt auch der berühmteste Elfenbeinkünstler der Renaissance, Christoph Angermair von Weilheim, der Hofbildhauer Kurfürst Maximilians. Sein Hauptwerk, der Münzschrank der Kurfürstin Elisabeth, im Münchner Nationalmuseum, gibt in dem wohlbemessenen Reichtum seiner architektonischen Durchbildung wie in der abgerundeten Harmonie seiner szenischen Plastik das vollkommenste Bild von der Begabung seines Schöpfers. Ein Vergleich mit den mythologischen Reliefs der Innentüren verweist das Relief mit der Aktaeonszene (Tafel 9 b) in die erste Zeit der Beschäftigung Angermairs mit der umfangreichen Aufgabe. In den Jahren 1618 bis 1624 war er an dem Münzschrein beschäftigt. 1619 verehrte der ernestinische Herzog Johann Philipp seinem kurfürstlichen Vetter die kleine, [18] aber nicht minder meisterliche Arbeit. Wie sich hier das Drama der Verwandlung auf zwei übereinandergelagerten Bühnen abspielt, wie der diagonale Zug, der den Unglücklichen auf die Mauer des verschwiegenen Bades hinaufgerissen hat, auch die Gruppe der nackten Frauen teilt, das bestätigt die Würdigung des Meisters als Schöpfers der figurenreicheren Kompositionen in München. Aus dem Flachrelief, wie es das Laubwerk, ähnlich wie bei der Orpheusplatte dort, zeigt, geht der geborene Plastiker mühelos in die dreidimensionale Rundung über, wie er sie zur Darstellung der blühenden Schönheit seiner beleidigten Göttin braucht. Wie geistreich ist in dem Kopfe des kühnen Spähers schon der Übergang in das Tierische des Hirschkopfes angedeutet. So geht man kaum zu weit, wenn man das Dresdner Relief als eine Studie zu den größeren Kompositionen des Münchner Schreins bezeichnet, die nicht nur die Keime der Vollkommenheit jener enthält, sondern in der Klarheit der Linienführung die mehr zierhafte Schichtenverschiebung dort ästhetisch in den Schatten stellt.

Der volle Name des Künstlers mit dem Zusatz „B. H (Bildhauer) von München“ steht auf dem schönen Relief der Hl. Familie im Bayer. Nationalmuseum. Dem hier genannten Jahre 1632 gehört auch das zierliche Skelett an, mit dem der Meister in der Dresdner Kunstkammer vertreten ist (II. 116). Der Knochenmann mit dem Spaten, auf dem der Künstlername zu lesen ist, steht neben einem mit ornamentalen Reliefs gezierten Postament, an dem eine Eidechse davon huscht. Eine Schlange züngelt am Boden, zwei andere verschlingen sich an der Front des Pfeilers. Der Tod aber, in würdiger Haltung auf das Werkzeug gestützt, das sonst nur seine Diener führen, hält in der Rechten ein aufgerolltes Pergament. Sollten hier die Leistungen des Menschen verzeichnet sein, dem der Mahner entgegentritt? Bleibt das scheue Getier von dem Allvernichter verschont, der hier so feierlich dem greisen Meister erscheint? Unter den Darstellungen des beinernen Todes, die der Zeit so vertraut waren wie die des blühenden Lebens, ist die von der Hand Angermairs, die von Alters her in einem zierlichen Schrein aus Ebenholz und Glas aufbewahrt wird, eine der eigenartigsten und virtuosesten.

Von den Bildhauern, die das große Buch der Mythologie mit immer neuem Eifer auf der Jagd nach dem bewegten Spiel der nackten Körper durchforschten, haben, wie schon erwähnt, die aus Süddeutschland die Kunstkammern der Spätrenaissance am erfolgreichsten erobert. Meergötter, Tritonen, Hippokampen, Najaden und Nymphen bevölkern das Wasser, Kentauren, ewig nach den Töchtern [19] der Menschen lüstern, Jäger und Jägerinnen, die Erde, die uns den Wein spendet, den Sorgenlöser, der mit Ceres Gabe die Irdischen wie die Himmlischen erfreut. Das unendliche Band des Frieses, der die äußere Rundung des gewachsenen Tierzahns umkreist, kennt kaum betonte Einschnitte. Im Ausbruch ihrer Triebe gleichsam unlösbar ineinander verflochten, drängen und treiben die Körper, wie von einer zentrifugalen Energie erfaßt, zwischen den gewölbten Bändern der silbernen Fassungen. Selten einmal, daß sich die Figuren als statuarische Vertikalen so deutlich von den weichen Wülsten der silbergetriebenen Rahmen absetzen, so abgetrennt und beziehungsarm auf der Fläche stehen wie bei dem Krug des Augsburgers Abraham Warnsperger (Tafel 16, II. 399). Im schärfsten Gegensatz hierzu läßt der Künstler des Kruges mit der Kentaurenschlacht die erhobenen Arme das wilde Über- und Durcheinander der unteren Glieder noch verstärken (Tafel 15 b). Hier wird, was ganz selten vorkommt, auf dem runden Deckel durch die galoppierende Reitergestalt des kindlichen Kurfürsten die Bewegung in eine bestimmte Linie gedrängt, statt sie durch eine stehende Figur, wie die Diana (Tafel 14 a) oder den Apoll auf dem großen Mannlich-Pokal (Tafel 14 b) im Vertikalen zu beruhigen.

Wie stark der Dresdner Melchior Barthel in den zwei knappen Jahren des Wirkens in seiner Vaterstadt an dieser Huldigung vor dem Geist der Antike beteiligt ist, wird vor allem durch die drei größeren Bildwerke beleuchtet, die seit einem Jahrhundert auf ihn zurückgeführt werden. Daß der „Raub der Sabinerin“ (Tafel 10 b) eine Nachbildung des genialen Hauptwerkes von Giovanni da Bologna ist, hat schon Landsberg in seinem ersten Katalog 1834 bemerkt. Hier auch werden die Gruppe der zwei Männer mit dem Stier (II. 47) wie das Pferd mit dem Löwen (II. 342) ganz richtig als Varianten antiker Originale bezeichnet. Wobei freilich der farnesische Stier nur ganz entfernt an der schwerfälligen Komposition des Deutschen beteiligt ist. Alle drei Gruppen stammten aus dem Brühlschen Nachlaß, und erst 1825 taucht Barthels Name in Verbindung mit ihnen auf. Bei einem fast lebenslänglichen Aufenthalt in Florenz und Venedig, wovon das ausdrucksvolle Kruzifix und der Christus an der Martersäule im Bargello zeugen, hat Barthel ja ausreichend Gelegenheit gehabt, die antiken Bildwerke zu studieren, die in den Museen und Bauten der großen Städte aufbewahrt waren. Wenn er aber bei seiner Komposition des gebändigten Stieres schon völlig frei verfuhr, so kann man auch den Sabinerinraub ernsthaft kaum mehr als eine Studie nach dem vielbewunderten Marmor der Loggia de [20] Lanzi nennen. Und zwar keineswegs als eine kongeniale: im Gegenteil ist die unerhörte Spannung der forma serpentinata, die die drei Körper verbindet und durchzuckt, so gelockert, daß ein flaues, fast kokettes, tänzerisches Sichanschmiegen an die Stelle des wilden Gewaltaktes getreten zu sein scheint. Das hohe Ansehen, das auch nach Sandrarts Kunde der tüchtige Meister bei seinen italienischen Freunden und Auftraggebern genoß, wird durch solche Leistungen kaum begründet. Man beachte daraufhin ebenso wie die Kopfhaltung der Geraubten die des kauernden Greises: auch hier weicht die erregte Schroffheit des Sichaufbäumens einer mehr objektiven Theatralik. Wo der rechte Fuß des Räubers sich in dem Original gegen einen Stein stemmt, wie es die Statik des Körpers durch den Druck der erhobenen Last ja auch bedingt, ist bei der Nachbildung, in völligem Mißverstehen des Motivs, gerade umgekehrt ein Emporschreiten dargestellt worden. Der Naturalismus des Nordländers in der Wiedergabe gewisser körperlicher Intimitäten trägt auch nicht dazu bei, die sonst allzu glatte Paraphrase als eine künstlerische Arbeit neben das Urbild zu rücken.

Damit stehen wir vor der Frage nach Barthels schöpferischem Können an sich. Sein allein völlig gesichertes Hauptwerk, das riesige Grabmal des Dogen Giovanni Pesaro in der Frarikirche zu Venedig, ist zwar in seinem Aufbau, dessen Architektur Baldassare Longhena entwarf, ein echtes Erzeugnis barocker Weitschweifigkeit und Überladenheit. Seine Figuren aber, siebzehn an der Zahl, Neger, verweste Leichname als Tafelträger, Verkörperungen von Tugenden, Drachen, Putten, sind kraft- und schwungvoll durchgebildet, und zeigen eine Meisterschaft des Handwerks, die auch im Kreise der Erben des Vittoria und Fiammingo ihren Platz behauptet. Versuche, ihm bestimmte Großplastiken in Dresden nachzuweisen, sind bisher gescheitert. Daß er in Elfenbein arbeitete, weiß auch Sandrart, der übrigens auch sein Todesjahr falsch angibt; auch in dem Katalog der Abgüsse, die der Organist der Kreuzkirche, Emanuel Benisch, dem wir die Originalmaske Augusts des Starken 1704 verdanken, herstellte und vertrieb, erscheint nur sein Name neben denen berühmterer Meister wie Michelangelo, Adrian de Vries, Bernini u. a. Selbst zugegeben, daß die Hand, die Marmor und Bronze mit ihren großen Maßstäben mühelos beherrschte, sich in den bescheidenen Dimensionen des Elfenbeins schwerer zurechtfand – der Stil der Dresdner Bildwerke, zu denen auch die vier Götter auf den verzierten Postamenten (Tafel 12) und die Gruppe der beiden Frauen (Tafel 10 a) gezählt werden muß, weist keineswegs auf ein Talent von der ursprünglichen [21] Kraft hin, die das Pesarograbmal auszeichnet. Charakteristisch ist allen diesen Köpfen die schwere, füllige Unterlippe und der matte, verschwommene Blick des Auges.

So bleibt der Schöpfer der Reihe von Bildwerken, die sich an die technisch vollendete Gruppe des Sabinerinraubes anschließt, unbekannt. Vielleicht ist er eher in Süddeutschland zu Hause als in Sachsen; daß er Leonhard Kern und Andreas Feistenberger gleich nahe steht, macht sein Ansehen nicht geringer. Eine Figur indessen, wie die Venus mit dem Spiegel (Tafel 11 b), fügt sich nicht in diese Reihe ein: das feine Profil mit der anmutigen Bildung des Mundes vor allem weist auf einen Geschmack hin, der vielleicht von französischen Vorbildern beeinflußt ist.

Als Balthasar Permoser nach Dresden kam, war Melchior Barthel schon lange tot. In Florenz, vor allem in Venedig muß er den Spuren des Bildhauers nachgegangen sein, der wie wenig Andere seiner Zeit dazu beigetragen hatte, das Ansehen deutscher Kunst jenseits der Alpen zu festigen. Als Hofbildhauer am Hofe der sächsischen Kürfürsten zwar mit Schöpfungen der Großplastik vor allem beschäftigt, hat er sich doch auch bald der Elfenbeinschnitzerei zugewandt. Das Datum 1695 auf der Braunschweiger Ceres mag als Ausgangspunkt für die Zuweisung und Datierung einer größeren Gruppe derartiger Arbeiten dienen, von denen das Grüne Gewölbe, wie auch aus der oft zitierten Grabschrift hervorgeht, die hervorragendsten sein eigen nennt. Das Medaillonbildnis Kurfürst Johann Georgs IV. in Berlin kann ja nur wenige Jahre vor der Folge allegorischer Gestalten sein, die dann, wohl ein Jahrzehnt später, als Verkörperungen der Jahreszeiten wohl auf Grund eines besonderen Auftrags, ihre Auferstehung in vollendeterer Form erlebten. Die herkömmlichen Begriffe „Barock“ und „Rokoko“ scheinen in diesen Schöpfungen in kaum lösbare zeitliche Verwirrung geraten zu sein. Der Dresdner „Frühling“ (Tafel 21 c) steht, in der koketten Lockerheit der Standmotive mit den gekreuzten Beinen, in der Verschmelzung des sich anschmiegenden Putto mit dem Motiv des Mantelbausches, in dem süßlich-schwärmerischen Lächeln am Ausgangspunkt der stilistischen Entwicklung. Wenn der Putto in dem der Herkulesgruppe (Tafel 21 b) sein Gegenstück findet, so der erhobene Arm des Sommers in dem der Omphale, der das Löwenfell des entmannten Heroen mit so bewußter Gefallsucht über den Kopf zieht. In der Gewalt, mit der das Spiel der Schatten durch ein virtuoses Auf und Ab der Tiefen zur Steigerung der bewegten Form herangezogen wird, ist sowohl der Herbst [22] wie vor allem der Winter (Tafel 22 a, c) den weiblichen Jahreszeiten weit überlegen.

Da das Inventar des Elfenbeinzimmers in der Reihe der sorgfältig geführten Inventarien fehlt, die unmittelbar nach dem Tode Augusts des Starken 1733 auf Befehl seines Nachfolgers angelegt wurden, sind wir auf der Suche nach Künstlernamen und Herkunftshinweisen lediglich auf die Einzelinventare der Kunstkammer – die ja neben der „Geheimen Verwahrung“ weiterbestand, indessen nach und nach immer mehr von ihren Schätzen an diese abgab –, auf Spezifikationen über Ab- und Zugänge, Akten, Rechnungen und dergl. angewiesen. Eine solche vom 31. Dezember 1769, aus den ersten Jahren der Regierung Friedrich Augusts III., nennt unter den Vermehrungen des Elfenbeinzimmers nicht nur die Gruppe der Stierbändiger und die des Pferdes mit dem Löwen, beide „von Melchior Bartheln“, sondern auch einen „Jupiter auf einem Adler sitzend, auf einer schönen Corinthischen Säule von Schildkröt mit Silber belegt“ und „Ein Pferd, auf einem schwarzen hölzernen Fuß von Balthasar“ (scil. Permoser). Wohl durch die letztere Notiz verführt, nennt schon Landsberg 1834 auch den Jupiter ein Werk Permosers. Unter diesem Namen ist die prachtvolle Arbeit (II. 340) in die Kunstgeschichte eingegangen. Damit sind aber auch Scherers Zweifel an der Urheberschaft Permosers für das schreitende Pferd (Tafel 19 b) widerlegt, wenn auch der Hinweis darauf, daß sich diese, nicht nur von der Antike beeinflußte, sondern in höchstem Grade persönliche Schöpfung sowohl in der Elfenbeinplastik des Barock wie besonders in Permosers Werk einzeln dasteht, seine Geltung behält.

Ein Künstler wie der Altbayer Simon Troger verkörpert, neben einem geborenen Plastiker wie es ein Permoser ist, den Aufstieg des bodenständigen Handwerkers in die Sphäre der absoluten Kunst. Mit ihm erobert sich ein Stück reiner Volkskunst den Zutritt in die Paläste der Fürsten und des Adels, in die strengbehüteten Kunstkammern. Seine Kunst wurzelt in der naiven Freude des Süddeutschen an der Verbindung verschiedener Materialien, wie sie sich vor allem in den Plastiken der Krippenfiguren zeigt. Wenn Troger seinen Figuren Augen aus Glasmasse einsetzt, ihnen Waffen aus Metall in die Hand gibt, so befindet er sich damit schon auf dem Wege des Illusionismus, der besonders die italienischen und alpenländischen Krippen beherrscht. In Italien auch finden sich die Vorbilder der Materialverbindungen, die ja in der Antike, Marmorbüsten mit Bronzedraperie, ihren klassischen Ursprung haben. Drei Momente bestimmen die Technik Trogers: die Neigung zu einem Maßstab, der die organischen [24] Friedrich Augusts II. (II. 439) beweist, das Pathos religiöser Ergriffenheit, wie man aus der, in Buchsbaum geschnitzten Beweinung Christi (VII. 27) und den Köpfen von Maria und Johannes (II 348 und 350) ersieht. Der große Kruzifixus (Tafel 26) zeigt den Meister auf der Höhe nicht nur seines Könnens – die ungewöhnlichen Abmessungen des Körpers, mit 0,86 m, sind zu allen Zeiten angestaunt worden – sondern auch im Vollbesitz einer Kraft seelischer Ergriffenheit, die sein Vorbild Balthasar Permoser auch als reifer Mensch kaum übertroffen hat. Das hier zum ersten Male veröffentlichte Gerippe im Sarge (Tafel 27) darf nicht nur als abschreckende Kuriosität genommen werden. Die Wiedergabe menschlischer Skelette lag, worauf schon früher hingewiesen wurde, dem religiösen Zeitbewußtsein ebenso nahe wie die des gepeinigten Menschenleibes am Marterholze. Das Dresdner Exemplar ist nicht nur das größte bisher bekannt gewordene, sondern auch in seiner Gesamtidee wie in seiner Inszenierung dasjenige, das mit fast unheimlicher Folgerichtigkeit sein Memento mori in den dekorativen Geschmack des Rokoko kleidet. Das konnte nur ein Künstler ersinnen, der seine Vorwürfe so völlig aus der Vorstellungswelt in die Wirklichkeit zu heben imstande ist wie ein Regisseur, der das geschriebene Wort auf der Bühne durch den Mund des Schauspielers mit dessen Körperlichkeit zu einer unlösbaren Einheit verschmilzt.

Es scheint, als werde es der Forschung gelingen, einem so ausgeprägten Talent wie Lücke in der Kleinplastik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts noch mehr Boden zu gewinnen als das bisher selbst der sorgfältigen Kritik Christian Scherers möglich war. Denn er gehört zu den romantischen Figuren aus der bunten Welt der vagierenden Künstler, Erfinder und Entdecker, ohne die man sich die Höfe im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus nicht denken kann. Wie weit er an den besten Werken der Kabinetts- oder Kleinplastik Anteil hat, die gerade im Grünen Gewölbe unvergleichlich zahlreich und vielartig vorhanden sind (Tafeln 28–33), wird sich schwer ermitteln lassen. Vorläufig wird man kaum fehlgehen, wenn man die künstlerisch reifsten dieser Genrefiguren, vor allem aber die neu auf Tafel 30 vereinigten für einen Meister in Anspruch nimmt. Daß dieser, der Hofjuwelier Joh. Christoff Köhler gewesen ist, dessen Namen von altersher in Verbindung mit ihnen genannt wird, darf noch so lange nicht als erwiesen gelten, als die Geschichte der Dresdner Goldschmiede im 18. Jahrhundert, in die er ja auch gehört, nicht geschrieben ist. Wenn dieser auch noch für August den Starken selbst gearbeitet hat, wie nachweislich u. a. durch die Hubertusuhr (Bd. 2, Tafel 26) [25] und die Stutzuhr (ebenda, Tafel 27) feststeht, so gehört doch seine Hauptwirksamkeit der Zeit Friedrich Augusts II., also dem beginnenden Rokoko an. Das beweisen auch die zahlreichen Montierungen, Sockel, Rahmen, sowohl für Elfenbein- wie für Perlenfigürchen, die in der Verteilung der Massen, der Verwendung asymmetrischer Zierelemente über die elegante, aber stets von dem Tektonischen geleitete Dekoration Dinglingers, der als sein Lehrer bezeichnet wird, hinausgehen. Die zahlreichen Miniaturfigürchen, die bisher unter seinem Namen gingen, sind ganz gewiß nicht von einer Hand, und ebensowenig alle von der Hand eines Meisters. Auch nicht die meistgenannten „Bettler der Gräfin Königsmarck“ (Tafel 28 f–i), die man deutlich als je ein Paar differenzieren kann. Daß der Klarinettenbläser (Tafel 30 g) ebenso wie sein sitzender Kunstgenosse (Tafel 32 h) auf einen „altdeutschen“ Stich zurückgeht, kann ihren künstlerischen Reiz nicht herabsetzen. Wer eine Figur von so sprühender Lebenskraft wie den Fischer (Tafel 30 b), von der humorigen Energie der Bewegung wie den Koch (Tafel 30 f) so bis in die fast mikroskopischen Einzelheiten auf die Beine zu stellen vermag, ohne bei allem Realismus je ins Kleinliche zu verfallen, der verdient auch als selbständiger Schöpfer den Platz in dem bescheideneren Reich der schmuckhaften Kleinkunst, den andere, in großem Format Arbeitende sich schon längst errungen haben. Ob Wilhelm Krüger aus Danzig, der seit 1711 für den Dresdner Hof arbeitete, auf diesen Platz Anspruch hat, dem wir die glänzende Reiterfigur Augusts des Starken in Gotha verdanken, ist heute kaum mehr als eine Vermutung.

Die Frage, wie die Kunst des Elfenbeinschnitzens in die Handwerksverfassung der deutschen Städte eingespannt war, ist für die Zeit der Renaissance und des beginnenden Barock nur unvollständig zu beantworten. In dem Nürnberger Handwerksbuch von 1357/58, dem ältesten bekannten, sind die Beinschnitzer den Nadelmachern zugezählt, da es sich hier hauptsächlich um die Herstellung von beinernen Nadeln handelte. Im Jahre 1602 wird dann das „paindrehen“ dem Holzdrechslerhandwerk „anhengig und incorporirt“. Da die Handwerksordnungen weiterhin die Bein- oder Elfenbeinbearbeitung nicht mehr erwähnen, so dürfte diese wohl wie die Bildschnitzerei zu den „freien Künsten“ gerechnet worden sein. Eine „freie Kunst“ war eine Hantierung, die nicht nach Gesetzen und Verordnungen geregelt war, und fast nie in ein „geschworenes Handwerk“ verwandelt werden durfte. Eine gewisse Ordnung wurde hier von „Vorgehern“ überwacht. So wurde z. B. die Gesellenzeit, früher auf vier Jahre bemessen, [26] 1598 auf fünf Jahre verlängert, von denen drei in Nürnberg selbst gearbeitet werden soll.

Zu Geislingen in Württemberg hat sich dann im 18. Jahrhundert die Kunst des Elfenbeinschnitzens und -Drehens aus der Zunftverfassung, die schon im 13. Jahrhundert, als die älteste Deutschlands erwähnt wird, besonders selbständig entwickelt. Die unendliche Feinheit der Durcharbeitung bei Altärchen, Kruzifixen, Nähkästchen und dergl. soll sogar die Nürnberger Künstler angeregt und zur Bewunderung hingerissen haben. So entstanden etwa „hundert kleine Gesichter auf einem Stückchen Elfenbein von der Größe einer Muskatnuß oder hundert Kelche in einer Nuß, oder drei Kegelspiele in einem Pfefferkorn“. Ein solches Pfefferkorn, das sich auch in dem St. Georgspokal Jakob Zellers (Tafel 6 a) unter der Deckelfigur in einem Schraubbüchschen befand, ein Werk des Abraham Elias Resch, gest. 1609, kam in den Besitz des Papstes Pauls III. Wilhelm Knoll, gest. 1764, verfertigte in Elfenbein die ganze Leidensgeschichte Christi samt Ölberg, „ein Kunstwerk, das in Deutschland, der Schweiz, Italien, Holland und England zur Schau getragen, endlich sehr teuer nach England verkauft wurde“. In dieser Zeit schlossen die Geislinger Drechsler mit dem Händler Joh. Daniel Stiebel in Straßburg den sogen. „Bein-Akkord“ ab, der die Geislinger auf neun Jahre zur jährlichen Abnahme von „30000 Stück Beinern“ verpflichtete. Ähnlich wie in Geislingen wurde in Erbach die Beindreherei zu dem führenden Handwerk. Graf Franz, der Gründer der Kunstsammlungen in Schloß Erbach (gest. 1823), hat das Handwerk selbst erlernt. In der Fachschule für Elfenbeinschnitzerei hat diese Kunst, die durch mehr als ein Jahrtausend die Vorstellungskraft der Künstler ebenso befruchtet wie die Freude an der Kostbarkeit des bildhaften Naturstoffs angeregt hat, ihre letzte Pflegstätte gefunden.