Stunden der Andacht/Am Vorabend des Versöhnungstages

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« Am Tage vor dem neuen Jahre oder dem Versöhnungstage, wenn man die Gräber besucht Stunden der Andacht Am Morgen des Versöhnungstages »
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Am Vorabend des Versöhnungstages.

Und Gott sprach:
„Ich verzeih was sie verbrochen. –
Es sei so wie du gesprochen.“
 (4. B. Mos. 14, 29.)

Allerheiligster! Unter tiefem Schauer öffnen sich meine Lippen vor dir zum Gebete in dieser ernst feierlichen Stunde, da der große Tag der Sühne und Buße beginnt. Es eilet dein ganzes Volk hin zur heiligen Stätte, und aus zerknirschten Herzen steigen Sang und Gebet zu dir empor. Wie an jenem großen Tage des Gerichts, wo die Daheimgegangenen im ewigen Lichtkreise an deinem himmlischen Throne stehen, so stehen auch wir heute vor deinem Angesichte; offen liegt vor dir das Buch unsres Herzens, in dessen Blättern du liesest mit allsehendem Auge, dessen Inhalt du prüfest mit allumfassender Gerechtigkeit. Gott, mein Gott, die Engel des Himmels sind nicht rein vor dir, und wie erst wir, die wir alle schuldbeladen, schuldbewußt vor dir stehen! Verderben wohnt in unsrem Herzen, die Sünde feiert ihre Triumphe darin, und wir sollten nicht zagen, und unsre Knie nicht in Angst zusammen brechen? – Doch nicht um uns zu erdrücken durch die Last der Erinnerung an unsere Schuld, nicht um uns aufzulösen in Furcht und Grauen vor deinem Zorne deiner strafenden Richterhand, hast du diesen großen, gesegneten Tag geschaffen; sondern um durch ihn, dein an sich Verzweifelnden, den muthlos sich aufgehenden Sünder wieder zurückzuführen an dein Vaterherz, dem in der Nacht des Verderbens Wandelnden, dem Lichte deiner himmlischen Gnade den Blick zu öffnen. – Dazu hast du uns diesen Tag gegeben [51] und ihn eingesetzt zum Allerheiligsten im Jahre, daß wir an ihm durch eine ernste Prüfung, durch eine strenge Anschauung unsrer selbst das wieder finden, was uns so oft im Rausche und Getümmel des Lebens, unter den Eindrücken und Einflüssen der Welt verloren geht: unser besseres Ich – unsern frommen Sinn – unser kindliches Herz – unser gläubiges Gemüth! Damit durch ihn die Scheidewände fallen, die das Geschöpf vom Schöpfer trennen, die des Kindes Gemüth fern halten von des Vaters Herz, des Kindes Ohr verschließen für des Vaters Wort, dem Blick des Kindes entziehen des Vaters liebevolles Angesicht.

Wie schwer wir auch gesündigt, wie tief wir auch gefallen, wie weit wir von der rechten Bahn abgekommen; deine Huld und Gnade eröffnet uns den Weg zur Erhebung, zum Wiedereintritt in die Gemeinschaft der Frommen und Gerechten; und so wir in Reue und Buße zu dir uns wenden, haben wir die selige Verheißung: „An dem Tage sollet ihr versöhnet werden, rein und frei von jedem Sündenfleck und Makel; vor dem Ewigen, euerem Gotte sollt ihr rein sein.“

So mögen denn, Allvater, meine Thränen vor dich gelangen; mögest du mein Gebet, das in heißer Inbrunst zu dir aufsteigt, wohlgefällig aufnehmen, und Schuld und Sünde von mir nehmen in deiner Barmherzigkeit, daß mich deine Huld umschwebe wie in den früheren Tagen meiner Unschuld, daß sich meine Seele frei und froh zu dir erhebe in dem seligen Bewußtsein deiner wiedererrungenen Liebe und Gnade! Mögest du mich stärken in meinem Streben zum Guten und deinen Schutz walten lassen über mich und Alles, was mir angehört. Amen.