Ueber den Nothstand in einem Theile von Westphalen
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Als ich in den rheinischen, und westphälischen Blättern, unter andern in Nr. 221 der deutsch. Volkshalle und in Nr. 33 u. ff. des westphälischen Volksblattes, die Berichte über den hereinbrechenden »Hungertyphus,« der, wie vor einigen Jahren in Oberschlesien, die Gemeinden Stukenbrok und Hövelhof im Kreise Paderborn, Reg. Bez. Minden, mit seinem Pesthauche zu verheeren droht, las: da wurde ich von tiefem Schmerze des Mitleids ergriffen und hielt mich verpflichtet, auch an meine schlesischen Mitbrüder über die Sachlage nach meinem besten Wissen und Willen Bericht zu erstatten. Denn es muß Einem das Herz bluten, wenn man aus den glaubhaftesten Berichten ersieht, wie die Bewohner dieser unglücklichen Gegend, die als ein biederes, arbeitsames und religiöses Volk allgemein bekannt sind, Gras und Laub essen, um den Hunger zu stillen. Woher, wird man voll Verwunderung fragen, auf einmal diese schreckliche Noth, da doch Westphalen und vorzugsweise das paderborner Land für wohlhabend gilt? Referent, der Westphalen und namentlich den Theil des paderborner Landes, von dem hier die Rede ist, sehr genau kennt, kann diese Frage um so weniger hier umgehen, weil vielleicht diejenigen, welche mit den dortigen Verhältnissen nicht so vertraut sind, die Noth unbegreiflich und die desfallsigen Berichte für übertrieben halten könnten. Allerdings gehört das paderborner Land, der oftmalige Aufenthalt Carl d. Gr., zu dem wohlhabendsten Theile der Provinz Westphalen; allein die Gegend von Stukenbrok und Hövelhof, welche sich nordöstlich an den teutoburger Wald anlehnt und selbst einen Theil der »Senne«, wo die Ems ihre Quellen hat, ausmacht, ist von der Natur eben nicht sehr begünstiget. Der Boden ist sandig und wenig ertragfähig; noch vor 40–50 Jahren bestand diese ganze Gegend großentheils aus Waid und Haiden; hie und da hatten sich an geeigneten Plätzen Bauernhöfe gebildet, denen, da ihrer wenige waren, eine gewisse Wohlhabenheit nicht abgesprochen werden konnte. Nach und nach fing man aber an, die Wälder zu rasiren und den Boden urbar zu machen; auch der Anbau in den Haiden wurde begünstiget und die Population nahm in wenigen Jahren so zu, daß man bald da, wo man kurz zuvor noch Wald oder Haide sah, jetzt eine bunte Reihe von Häusern gewahrte. Da nun aber der kärgliche Ertrag des dürren Bodens nicht ausreichte, den ungewöhnlichen Zuwachs der Bewohner zu ernähren, so blieben die neuen Anbauer und Heuerlinge nach dem Beispiele ihrer Nachbaren in der Grafschaft Rietberg und Ravensberg, so wie in den Lippe’schen Staaten lediglich auf die Spinnerei und Weberei als ihre Hauptnahrungsquelle hingewiesen. Indessen ist auch diese fast einzige Erwerbsquelle dieser Gegend durch das Maschinenwesen gänzlich verdrängt. Mißwachs aller Art und das dort häufig grassirende sogenannte »holländische« Fieber haben das Uebel noch gesteigert und die unglücklichen Bewohner in ein unabsehbares Elend gestürzt.
Zwar wird der allgemein beliebte und hochgeehrte Ober-Präsident von Westphalen nicht lange auf sich warten lassen, sondern sich bald an Ort und Stelle überzeugen und alsdann mit gewohnter Umsicht und Weisheit die geeigneten Maßregeln von Seiten des Staates hervorrufen; indessen kann man von der Regierung nicht Alles erwarten, weshalb sich auch bereits in Paderborn ein General-Comité zur Abhilfe des Nothstandes in den Gemeinden Stukenbrok und Hövelhof gebildet, dem sich dann ein Special-Comité in Stukenbrok und Hövelhof, aus der Pfarrgeistlichkeit und dem Ortsvorstande bestehend, angeschlossen hat. Die noch wohlhabenden dortigen Bauern haben freiwillig die armen Familien, die an Zahl ihre eigenen Hausgenossen oft bei Weitem übertreffen, förmlich in Kost genommen und theilen mit ihnen brüderlich, was sie noch haben.
Das vorerwähnte Comité berichtet (Nr. 221 der deutschen Volkshalle) über den Thatbestand Folgendes:
»Im Frühjahr und Vorsommer dieses Jahres wurde es laut, daß die Verarmung der Gemeinden Hövelhof und Stukenbrok durch das Aufhören der Feingarnspinnerei, der fast einzigen Erwerbsquelle dieser Gemeinden, ständig im Wachsen begriffen und selbst einen höhern Grad, als in den früheren Mangeljahren erreicht habe.
Es trat deßhalb hier in Paderborn ein Comité zusammen, weiches sich an Ort und Stelle mit den Ortsgeistlichen, Vorstehern und andern achtbaren Mitgliedern der bedrängten Gemeinden über die Ursachen der immer zunehmenden Nahrungslosigkeit und über die zur Hebung des Nothstandes zu ergreifenden Mittel berieth. Es wurde hierbei dem Comité klar, daß es sich nicht darum handeln könne, durch vorübergehende Almosen einer augenblicklichen Noth abzuhelfen, sondern daß theils mit eigenen Kräften Mittel geschafft und Fürsorge getroffen, theils Regierungsmaßregeln erwirkt, oder wo solche bereits vorbereitet wären, unterstützt werden müssten, damit jenen bedrängten Gemeinden [500] wieder Arbeit und Verdienst verschafft und einem sich mit sicherem Schritte unausbleiblich nahenden Elende früh genug und sicher vorgebeugt werde. Daß das Comité nicht dabei auf einzelnen schreienden Thatsachen, sondern auf der ganzen wirklichen Lage der Verhältnisse, deren Wahrheit sich eben so wenig, wie ihre nothwendigen Folgerungen in Abrede stellen lassen, fußte, davon wird sich das Publicum leicht überzeugen, wenn wir nur des Mißverhältnisses der Armen zu den Bemittelten in der Gemeinde Stukenbrok gedenken. Nach den genauesten Ermittelungen gibt es in Stukenbrok:
- a) 83 Heuerlings- und Pächter-Familien, die sich noch ernähren können,
- b) 124 Heuerlings-Familien, die arm sind,
- c) 125 Heuerlings-Famllien, die bettelarm sind,
- d) 41 Colonen, die noch zu leben haben,
- e) 33 Colonen, die mit Schulden belastet sind.
- f) 19 Colonen, die mit Schulden überlastet sind,
- g) 11 Colonate, die nur mit Heuerlingen noch besetzt sind.
Es lastet also auf den 41 Colonen sub d mindestens die Ernährung der sub b und c aufgeführten 249 Heuerlings-Familien, auf jedes Colonat kommen also 6 arme Heuerlings-Familien, abgesehen davon, daß die sub a aufgeführten Heuerlinge und Pächter auch ihren Verdienst hauptsächlich auf den Colonaten suchen und finden müssen.
Dieses schreiende Mißverhältniß zwischen Armuth und Gehäbigkeit, welches in der Gemeinde Hövelhof nicht ganz so stark, in den Gemeinden Kaunitz, Verl und einem Theil von Neuenkirchen eben so schlimm, wenn nicht schlimmer ist, liefert den klarsten Beweis, daß jene Gegenden unaufhaltsam einem sicheren Verderben entgegen gehen müssen, wenn Ihnen nicht Hilfe, recht baldige Hilfe wird. – Hiermit glauben wir vorläufig genug gesagt zu haben, um sowohl die bisherigen Wohlthäter von nah und fern, denen Gott ihre Barmherzigkeit vergelten wolle, in Betreff der guten Verwendung ihrer Gaben zu beruhigen, als auch eine christliche Bitte um fernere allgemeine und andauernde Theilnahme als vollständig begründet erscheinen zu lassen, und fühlen wir uns um so mehr zu derselben gedrungen, als wir die Bewohner dieser unglücklichen Gegend als ein biederes, arbeitsames und religiöses Volk kennen gelernt haben.«
Noch möge hier ein Brief von einem wohlbekannten, hochgestellten Arzte, an den Vincentius-Verein in Paderborn gerichtet, seinen Platz finden:
»Dem Vernehmen nach hat ein hochverehrlicher Vincentius-Verein den schönen Vorsatz gefasst, sich der armen Spinner in den Gemeinden Stukenbrok und Hövelhof anzunehmen. Es handelt sich um keine geringere Aufgabe, als um diese: dem großen Unglücke eines »westphälischen Hungerthyphus», so lange es noch Zeit ist, vorbeugen zu helfen. In solchen Fällen pflegt man die Privat-Wohlthätigkeit mit einem gewissen Mißtrauen zu betrachten und Collecten als eine »palliative« Hilfe zu beseitigen, welche zu nichts führe, wenn nicht auf »radicale« Maßregeln gesonnen werde. Solche ausweichende Ansichten theile ich nicht; es handelt sich vielmehr darum, an irgend einem Ende anzufangen, sei es bei der Ursache oder bei der Wirkung, bei der Arbeitslosigkeit oder beim Hunger; denn beide bedingen sich cirkelförmig und wechselseitig. Jedenfalls halte ich es für die bescheidene Pflicht eines jeden täglich sich sattessenden Menschen, vorläufig nicht zuzugeben, daß andere Menschen vor Hunger Gras essen. Wenn ich daher mein Scherflein im Betrage von 30 Thlrn. hierneben übersende, so überlasse ich gerne und im vollen Vertrauen die Art der Verwendung der bessern Einsicht eines verehrlichen Vereins; es ist mir ganz gleichgiltig, ob für dieses Scherflein Flachs oder Brodt gekauft, d. h. ob der indicatio causalis oder der indicatio vitalis genügt wird. Nur Eins wünsche ich, daß Leute, die mehr haden, mehr geben mögen.«
Im Vertrauen auf Gott, daß es der christlichen Wohlthätigkeit, gelingen wird, ein großes Uebel zu beseitigen und ein noch größeres zu verhüten, darf man sich auch der Hoffnung hingeben, daß trotz der vielfachen Ansprüche, welche zur Zeit an die öffentliche Wohlthätigkeit gestellt werden, auch die biedern Schlesier bereit sein werden, ihr Scherflein zur Linderung der gräßlichen Armuth dieser bedauerungswürdigen Bewohner beizutragen. Zugleich geht an die verehrliche Redaction die freundliche Bitte: etwa eingehende Beitrage zur Beförderung an das vorerwähnte Comité in Paderborn gütigst entgegen nehmen zu wollen[1].
- ↑ Wird mit freudiger Bereitwilligkeit geschehen.
- Die Redaction des schles. Kirchenblattes.