Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern/Zugabe über einige wichtige Streitpunkte innerhalb der nordamericanisch-lutherischen Kirche

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« II. Unser Streben nach Verbeßerung der Lage Wilhelm Löhe
Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern
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Zugabe.




Ueber den kirchlichen Differenzpunkt des Pastors Grabau zu Buffalo, New York, und der sächsischen Pastoren in Missouri.




| |  Es ist eine bekannte Sache, daß bereits in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts sowohl aus Sachsen, unter Stephan, als aus Preußen, unter Grabau, eine nicht unansehnliche Zahl von confessionell gesinnten Lutheranern nach Nordamerica auswanderten. So viel mir bekannt ist, standen die beiden Auswandererzüge in keinem engeren Zusammenhang miteinander; eine jede gieng ihren eigenen Gang. Wie heillos die sächsischen Brüder von Stephan betrogen wurden, weiß jedermann. An ihm hatten sie hierarchische Bestrebungen der schlimmsten Art kennen gelernt, und die gewaltige Enttäuschung war ganz geeignet, sie von jedem hierarchischen Gedanken zu befreien, dagegen aber für eine Art americanischer Ausprägung des allgemeinen Priesterthums empfänglich zu machen. Ihre Führung scheint in manchem Punkte der Führung Luthers ähnlich gewesen zu sein; sie waren mancher von seinen Versuchungen ausgesetzt, sein Thun und Reden konnte leicht für sie maßgebend werden, auch wo es sehr individuell und originell war. Umgekehrt brachte es, wie mir scheint, Grabaus Stellung mit sich, daß er mehr als andere die große Bedeutung des heiligen Amtes für Gemeindeleitung und Gemeindebildung erkannte; seine Versuchungen waren im Vergleich mit denen der sächsischen Brüder von umgekehrter Art und konnten ihn leicht dahin führen, dem Amte etwas mehr zuzuschreiben, als die heilige Schrift zuläßt. Im Lande der hervortretenden Schärfen und Extremitäten wurden beide Parteien, eine jede in ihrem Maße, auf ihrem Wege vorwärts und wohl auch etwas zu weit getrieben. Dabei verstand es sich von selbst, daß die sächsische Richtung in den nordamericanischen Verhältnissen mehr Vorschub fand, als die Grabaus, welche im Gegentheil den americanischen Protestantismus abstößt, so wie sie von ihm abgestoßen wird.

 Ich will mir gar nicht anmaßen, den Gang meiner Brüder in Nordamerica von beiden Fraktionen im Vorausstehenden völlig richtig gezeichnet zu haben, bitte sie auch von Herzen, mir nichts von allem, was ich etwa reden werde, übel auszudeuten. Ich bin mir ihnen gegenüber der besten Absicht bewußt, doch denke ich, der oben aufgestellte Gegensatz beider Richtungen wird ziemlich der Wahrheit entsprechen.

 Die beiden Richtungen, deren eine mehr das allgemeine Priesterthum der Christen, die andere mehr das Amt hervorhob, fanden denn auch bald Gelegenheit| zum Zusammenstoß. Es müßte ja schlimm gewesen sein, wenn zwei Kreise von ausgeprägter Verwandtschaft sich gegenseitig so vollständig ignorirt hätten, daß keiner die hervortretende Eigentümlichkeit der andern wargenommen hätte. Was sich in so hohem Grade anzieht, beobachtet sich scharf und wird auch die bemerkten Unterschiede mit ganzem Ernste sichten. So hat sich denn auch wirklich zwischen der sächsischen und grabauischen Richtung ein nicht geringer Hader erhoben, – ein Hader, der sich in Nordamerica, wo sich alles frei entwickeln kann, um so gewisser erheben und zur Beilegung aufrufen mußte, als die protestantische Vorzeit niemals sich der obschwebenden Frage mit derjenigen Hingebung gewidmet hat, deren sie werth ist. – Indem ich mir erlaube, demjenigen Freundes- und Bruderkreise, welcher von dieser Schrift Notiz nehmen wird, den americanischen Hader vorzulegen; wird es nicht lange verborgen bleiben, daß es hier einen Kampf gilt, welcher sein Echo diesseits des Oceans findet und in dem Maße mehr finden wird, in welchem die lutherischen Kirchen Deutschlands mehr in den Fall kommen, für ihre Gestaltung und Verfaßung freier und selbstständiger zu sorgen. Einerseits meine Aphorismen und so manche mit denselben übereinstimmende Sätze im Catechismus des Herrn Professor Delitzsch („vom Haus Gottes“), dazu die unverholene Ueberzeugung so manches im Amte stehenden Mannes von unbezweifelter kirchlicher Treue, – anderer Seits der bekannte Aufsatz von Herrn Professor Hofmann in der Erlanger Zeitschrift, der wohl auch einer ganzen Partei aus der Seele geschrieben sein mag, – außerdem vielleicht manch anderer ähnliche Conflikt innerhalb kirchlich-lutherischer Kreise, – deuten wohl auf eine doppelte Richtung der lutherischen Kirche auch diesseits des Oceans hin. Zwar gesteht man sich kaum noch den Dissensus oder sucht ihn auf die Bestrebungen einiger unruhiger Köpfe zu reduciren; aber es wird sich wahrscheinlich doch je länger je mehr anders herausstellen. Es hat jede Frage ihre Zeit, wo sie sich nicht mehr zurückdrängen läßt, sondern sich geltend macht, bis man sie gelten läßt und nach Würden erledigt. Bei solchen Entwickelungskämpfen ist je und je Segen gewesen, und aus dem, durch Ungerechtigkeit der Parteien oftmals heißen Kampfe kam am Ende die friedsame Frucht der Gerechtigkeit, die reine Lehre über den strittigen Punkt. Der selige P. Löber sagt p. 7. der nun bald zu erwähnenden Schrift ganz richtig: „Das ist der Segen von allen Kämpfen und Streitigkeiten in der christlichen Kirche und die verborgene Weisheit unsers Gottes, daß er auch aus den bittern Wurzeln, die der leidige Satan unter den Christen aufwuchern läßt, für alle, die der Wahrheit ihr Ohr öffnen, eine gar süße Frucht gereifterer Erkenntnis und festeren Glaubens hervorbringen kann.“ – Vielleicht werden wir uns am Beispiel der americanischen Brüder klarer; vielleicht schenkt uns Gott zum Heile der ganzen Kirche schriftgemäße Einigkeit! Jedenfalls können wir aber einsehen lernen, daß die americanische Kirche, so jung sie ist, in Folge ihrer größeren Selbständigkeit uns in praktischen Fragen und Kämpfen voraneilt, obwol viele unter uns den americanischen Brüdern eine Art von unverdienter Ehre anzuthun glauben, wenn sie dieselben im Vergleiche mit unsern Confusionskirchen für ebenbürtig erachten. |  Der ganze americanische Streit, so weit er bis jetzt gediehen ist, ist öffentlich zu jedermanns Einsicht in folgender Schrift vorgelegt[1]:
„Der Hirtenbrief des Herrn Pastors Grabau zu Buffalo vom Jahre 1840. Nebst den zwischen ihm und mehreren lutherischen Pastoren von Missouri gewechselten Schriften. Der Oeffenlichkeit übergeben als eine Protestation gegen Geltendmachung hierarchischer Grundsätze innerhalb der lutherischen Kirche. New-York. Gedruckt bei H. Ludwig u. Co., 70, Vesey-Strasse. 1849.“

 Herausgegeben ist die Schrift von dem leider im Sommer 1849 am Nervenfieber verstorbenen trefflichen P. Löber in Altenburg, Mō. In dem bereits im Oktober 1848 geschriebenen Vorwort bezeichnet P. Löber p. 6, die Streitpunkte, um welche sich die ganze Actensammlung – denn das ist die Schrift – dreht. „Jene Lehrartikel, sagt er, von welchen in diesem Büchlein vornemlich gehandelt wird, sind insonderheit der Artikel von dem rechten Verhältnis des Predigtamts zur Gemeinde, von der Berufung zu diesem Amte, von der Ordination, von dem geistlichen Priesterthum aller wahren Christen, von der geistlichen Freiheit derselben, vom Gebrauch guter Kirchenordnungen etc. etc.

 An der Spitze der Actensammlung steht p. 11. ff. der „Hirtenbrief an alle Brüder und Glieder der evangelisch-lutherischen Kirche in Buffalo, New-York, Milwaukie, Eden und Kl. Hamburg, Albany, Portage, Canada.“ Die Veranlaßung zu diesem Hirtenbriefe ist nach einem Schreiben des Herrn P. Grabau vom 12. Juli 49 folgende: „Im Jahre 1840 fragten die Gemeinden in Milwaukie und Freistadt (Wisc.) bei Herrn P. Grabau (dem damals mit ihnen ausgewanderten Prediger) an, ob nicht nach Inhalt der Breslauer Synodalbeschlüße von 1836 einige ihrer Kirchenvorsteher ordinirt werden möchten, die Sakramente in Mangel eines Predigers zu verwalten; sie hätten bereits den Bruder N. N. erwählt und bäten um seine Bestätigung, daß er, ohne Prediger zu sein, nur als Kirchenvorsteher eine Ordination empfinge, zu taufen, zu trauen und das heilige Abendmahl zu verwalten. Auch kamen ähnliche Anfragen wegen des Nothstandes von andern Theilen der mit P. Grabau ausgewanderten Gemeine. Hierauf schrieb er den Hirtenbrief als Antwort. Er suchte die erbetene Belehrung zu geben und zu zeigen, wie eine christliche Gemeinde in solchem Nothfall und unter den obwaltenden Umständen sich zu verhalten habe, um mit der rechtgläubigen Kirche in Gemeinschaft zu bleiben, schädliche Neuerungen zu meiden und im Gebet zu harren, bis Gott das rechte Predigtamt, das er in seiner Ordnung aufzurichten gebeten wurde, unter ihnen geben würde.“ – Hiebei legte nun P. Grabau seine Ueberzeugung in Betreff der oben mit P. Löbers Worten bezeichneten Punkte vor. „Die Gemeinden, sagt er, wurden dadurch gestärkt und getröstet| und erkannten den Irrthum, ein neues Amt, das kein Predigtamt wäre, aufrichten zu wollen, und erlangten durch Gebet von Gott bald das Predigtamt durch Berufung des Pastors Krause.“

 Da P. Grabau gerade damals in Berührung mit P. Löber kam und durch ihn mit dessen andern Amtsbrüdern, „sandte er ihnen eine Abschrift des Hirtenbriefes, damit sie daraus in brüderlicher Theilnahme ersehen möchten, wie es bei den ausgewanderten Preußen stände, in wie mancherlei Kampf sie wären, mit der Bemerkung, wenn sie etwas Irriges darin fänden, es ihm – P. Grabau – brüderlich anzuzeigen.“

 Nach 2 Jahren, 8 Monaten sandten die sächsischen Brüder die „Beurtheilung des Hirtenbriefsd. d. 3. Juli 1843, welche sich p. 20–36. der mehrerwähnten Actensammlung findet. – Wer diese beiden Schriften liest, findet den ganzen Gegensatz bereits ganz klar gezeichnet, und nur zur Erklärung des Gegensatzes dient alles andere, was auch gar nicht gegensätzlich gesprochen ist.

 Am 12. Julius 1844 schrieb nun P. Grabau die p. 37–51. sich findende, in vielfacher Beziehung sehr beachtenswerthe und treffende Antikritik. Es sind ihr zwei Anhänge beigegeben, deren erster die richtige Faßung mehrerer aus Luther’s Schriften beigebrachten Beweisstellen festzusetzen sucht, während der zweite p. 55. eine meines Erachtens keinesweges richtige „Uebersicht der sämmtlichen Irrungen“ vorlegt, welche Herr P. Grabau bei den Brüdern aus Sachsen (nunmehr in Missouri) zu finden glaubt.

 Darauf folgt p. 57–64. ein am 26 Jun. 1844 geschriebener, „zu der vorigen Widerlegung gehöriger Brief des Herrn Pastors Grabau an Herrn Pastor Brohm in New-York.“ Der Brief behandelt weitläufig ganz dieselben Themata, von denen überhaupt in diesem Streite die Rede ist.

 Am 15. Januar 1845 erließen die Pastoren Löber, Gruber, Keyl und Walther eine „Beurtheilung“ der Grabauischen Antikritik, welche, obwol ihrerseits in vielen einzelnen Theilen ganz gegründet, doch im Ganzen nur reichen Beitrag zur Erkenntnis der gar nicht unbedeutenden Verschiedenheit thut, welche zwischen den sächsischen und preußischen Brüdern obwaltet. (S. p. 64–88.)

 Auf diese Beurtheilung antwortete p. 88–91, die kleine Synode der mit Grabau verbundenen Pastoren ganz kurz am 25. Jun. 45, worauf von Seiten der sächsischen Brüder eine letzte Erwiederung (d. d. 2. Aug, 45. S. p. 91–95.) erfolgte.

 So weit die mitgetheilte Correspondenz. Andere Briefe, welche wahrscheinlich von geringerem Belang waren oder sich nicht zur öffentlichen Mittheilung eigneten, oder gegen deren Veröffentlichung anderweitige Gründe sprechen| mochten, blieben weg, wie ich das aus einer Mittheilung des Herrn P. Grabau weiß.

 Die Zeit von 1845 bis 1848 verging allerdings nicht unbenutzt; es wurden Versuche gemacht, den Schaden zu heilen. Da es aber den sächsischen Brüdern nicht gelang, das gewünschte Einverständnis herzustellen; so ließen sie die Acten drucken, so wie sie nun zu jedermanns Einsicht vorliegen, und begründeten dies Verfahren p. 95–101 der angegebenen Schrift

 Darf ich es nun fürs erste wagen, mich über den Ton zu äußern, welcher in den beiderseitigen Streitschriften herrscht und je länger, je lauter sich erhebt: so vermisse ich, ich bekenne es, beiderseits diejenige Liebe, Schonung und Langmuth, welche bei ehrlichem Streite so viel zum Frieden und für die Wahrheit vermag. Die Frage, wo die erste Reizung geschah, kann jeder Leser leicht selbst beantworten; sie möchte aber gleich da oder dort geschehen sein, so hätte sich doch die Liebe nicht sollen erbittern laßen, die Wahrheit hätte im Frieden den Weg zum Tageslicht finden können. Wo soll sich denn Ruhe finden, wenn nicht bei der Wahrheit, und welcher Eifer bedarf mehr der schonenden Sanftmuth, wenn der nicht, welcher die Aufgabe hat, die nächsten Verwandten zufrieden zu stellen? Als ich im Vorwort des seligen Löber p. 7. den Ausdruck „gefallener Knecht“ las und erkannte, wie leicht er auf P. Grabau und seine mitverbundenen Freunde und Amtsbrüder bezogen werden konnte, fühlte ich im Herzen eine wehe Wunde. Und als ich in Grabaus Antikritik den Schluß (p. 51.) und nun gar p. 55. die siebzehen Irrthümer las, welche zumal so, wie sie hingestellt sind, nun einmal billiger Maßen den sächsischen Pastoren nicht zuzuschreiben sind, da wurde ich, ich kann es nicht verhehlen, noch beklommener. Immer die nachfolgende Schrift überbietet die vorausgehende an Wehethuendem. Christi Knechte konnten vor seinem Kreuz und Angesichte eine freundlichere Gesinnung finden und heilendere Worte. Hier haben sich, meiner geringen Ansicht nach, beide Theile zu verzeihen und es dürfte wohl am besten sein, wenn sich beide Theile fürs Erste das gegenseitige Sündenbekenntnis erließen und es dem Geiste Gottes überließen, sie sänftiglich zur Erkenntnis und zur Buße zu leiten und ihnen Herz und Mund zu ungefordertem, demüthigen Selbstbekenntnis zu bereiten.

 Was die Streitpunkte selbst anlangt, so finde ich:

a. einiges, worin meines Erachtens beide Theile entweder von vornherein einig waren und sich nur misverstanden, oder im Verlaufe des Streites sich selbst klarer wurden und dann sich gegenseitig annäherten;
b. einiges, worin mir beide Theile zu irren scheinen;
c. einiges, worin die sächsischen Brüder,
d. einiges, worin Herr P. Grabau irren dürfte; und endlich
e. manches, was wohl als offene Frage der weiter gehenden Erleuchtung vorbehalten bleiben könnte.
|  Indem ich diese fünffache Unterscheidung hieher schreibe, ahne ich wohl, daß man mich an manchem Orte der Anmaßung oder irgend einer andern Untugend zeihen wird. Allein die Absicht dieser Unterscheidung, sowie des ganzen Aufsatzes, den ich hiemit vorlege, ist denn doch keine andere, als meinen kleinen Beitrag zum Siege der Wahrheit zu geben und dadurch zugleich das Meinige zur Vereinigung unsrer Brüder in Nordamerica zu thun. Wo ich irre, will ich mir gerne Zurechtweisung gefallen laßen; gegen den Vorwurf bösen Willens aber müßte ich mich verwahren. Ich sehne mich, meine Brüder in Nordamerica einig zu wißen; aus dieser Sehnsucht kommen diese Blätter, und es würde Mir wehe thun, wenn irgend jemand dies mein Schreiben anders nehmen wollte, als für einen Versuch, einen gerechten Mittelweg aufzuzeigen, den beide Theile betreten könnten.
Ad a.
 Hierher rechne ich namentlich die Punkte 1. vom Gebrauch der alten lutherischen Kirchenordnungen und 2. von dem geistlichen Priesterthum aller Christen. Mag auch, was den Gebrauch der KOO. betrifft, Herr P. Grabau hie und da in Worten etwas zu weit gegangen sein, wie er denn auch selbst zugibt, daß er beßer gethan hätte, das Göttliche und Menschliche in den Kirchenordnungen ausdrücklich zu unterscheiden; so muß man doch auch anerkennen, daß er im Verlauf der Zeit nicht blos durch dieses Zugeständnis, sondern auch durch sonstige Erklärungen und Beschränkungen diesen Mangel erstattet hat. Daß der Mangel nicht in der Erkenntnis, sondern nur in der Darstellung lag, ist einem solchen Manne völlig zuzutrauen. – Andererseits vervollständigte sich das Urtheil der sächsischen Freunde im Verlauf des Streits so sehr, daß es in seinem Unterschied vom Urtheil Grabaus nur als Ergänzung aufgefaßt zu werden braucht. Weder wird Grabau leugnen, daß der christlichen Freiheit zu nahe getreten wäre, wenn man die Gewißen an irgend eine menschliche Kirchenordnung binden würde[2]; noch werden die Sachsen Grabaus Wunsch, daß Eine Ordnung alle lutherischen Gemeinden umfaßen möchte, misverstehen und die Wahrheit verkennen wollen, die in dem Wunsche liegt.[3] So wenig eine KO. dem hohen Artikel von der Rechtfertigung allein aus Glauben zu nahe treten darf; so wenig kann geleugnet| werden, daß Eine heilige Ordnung von kirchlich-pädagogischem Standpunkt aus als hochwichtiges Förderungsmittel des Bewußtseins kirchlicher Zusammengehörigkeit und Einheit angesehen werden muß.
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 Aehnlich verhält es sich rücksichtlich der Lehre vom geistlichen Priesterthum aller Christen. Grabau sagt p. 38.: „Vom geistlichen Priesterthum lehrt die heilige Schrift, daß es bei allen Gläubigen, Männern und Weibern, Alten und Kindern, darin besteht, daß sie als rechtgläubige Christen für andern Menschen die Herrlichen, die Auserwählten Gottes, Heilige und Geliebte und Erstlinge seiner Kreaturen sind, und daß sie täglich opfern geistliche Opfer, die Gott angenehm sind durch JEsum Christum, und durch Christi Blut erlöst, freien und freudigen Zutritt zum Gnadenthron Gottes haben. (Ps. 16, 3. Col. 3, 12. Jac. 1, 18. 1. Petr. 2, 5. 9. Ebr. 13, 15. 16. Röm. 12, 1. Apoc. 1, 5. 6.)“ Allerdings besteht nun der Beruf eines Priesters (ἱερεῦς) zunächst im Opfer, und darauf bauend, wollte nun Grabau auch das „Verkündigen der Tugenden des, der uns berufen hat von der Finsternis zu seinem wunderbaren Lichte“ (1. Petr, 2, 5. 9.) von den „geistlichen Opfern vor Gott“ verstehen, „die alle Gläubigen mit Herz und Munde und Leben bringen, weil sie nicht mehr im Finstern nach dem Fleische wandeln.“ Dagegen reden nun die sächsischen Brüder p. 66. und sagen: „Es ist §. 3. bei dem aufgestellten Begriff des geistlichen Priesterthums aller Christen wohl von den geistlichen Opfern die Rede, die Gott angenehm sind durch Christum; aber auch mit keinem Wort wird der Tugenden Gottes gedacht, die ein geistlicher Priester verkünden soll. Der herrliche Spruch, worin dies steht, 1. Petr. 2, 9., ist wohl mit angeführt; aber in den beiden folgenden Paragraphen auch wieder entkräftet und ganz falsch allein wieder auf die geistlichen Opfer vor Gott bezogen.“ Ganz treffend zeichnen sich hiemit beide Richtungen. Die sächsischen Brüder gehen über die Opferpflicht, welche das geistliche Priesterthum seinen Trägern auflegt, ziemlich schnell hinweg, wie wenn ihnen diese Idee gleich vielen treuen Lehrern der älteren Kirche, weniger wichtig und geläufig wäre. Andererseits betont Grabau, obwol er durch den Satz: „die Gläubigen bringen die Opfer mit Herz und Mund und Leben“ darauf hindeutet, doch die Pflicht des priesterlichen Zeugnisses zum Heile der Welt etwas zu leise. War doch auch das hervorragende Geschäft der alttestamentlichen Priester das Opfer; und doch heißt es: „Des Priesters Lippen sollen die Lehre bewahren.“ Warum sollte also geleugnet werden, daß auch die Gläubigen des Neuen Testaments, als Gottes auserwähltes, priesterliches Volk, neben dem Opfer zu Gott heilsames Zeugnis gegen die Welt und vor den Brüdern, welches ja auch ein Opfer genannt werden kann, (von St. Paulus auch so genannt wird), – abzulegen haben? Die Hauptsache des geistlichen Priesterthums ist dies nicht; Grabau hat richtig die Hauptsache genannt und hervorgehoben, hatte auch ein Recht, sie gerade jetzt hervorzuheben, da man ja in unsrer Zeit das geistliche Priesterthum meistens nur in seiner Berechtigung gegenüber, dem Amt und den Menschen überhaupt, selten aber in seiner Pflicht gegen den HErrn zu lehren, zu rühmen und zu preisen pflegt. Aber P. Grabau wird auch meines Erachtens gar nicht haben leugnen wollen,| daß alle Glieder des priesterlichen Volkes Recht, ja Pflicht zum Zeugnis haben. Sagt er doch selbst im Zusammenhang der oben angeführten, von den Sachsen für mangelhaft erkannten Stelle, daß das Recht, Prediger zu erwählen und zu ordiniren, welches in der That Recht und Pflicht, Lehre und Leben der Candidaten zu beurtheilen, in sich schließt, aus dem geistlichen Priesterthum stamme, daß beide Handlungen geistlich opfernder Natur seien, indem sie Gott eine Person darstellen, durch welche er seines heiligen Amtes Werke und Geschäfte wirken wolle. (p. 38. §. 5.) Ich kann deshalb beide Theile im Grunde nicht im Widerspruch erkennen. Sie ergänzen einander. So wie sie nur wollen, können sie, einer vom andern, Vortheil ziehen, und zwar gewis die sächsischen Brüder nicht weniger von Herrn P. Grabau, als er von ihnen. Denn die Weihe des Lebens liegt doch im geistlichen Opfer, wie es P. Grabau betont und hervorhebt.
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 Es handelt sich hiebei insonderheit um die aus dem geistlichen Priesterthum abgeleitete Berechtigung der Gemeinden, die Lehre und den Wandel ihrer Prediger zu beurtheilen. p. 33. schreiben die sächsischen Brüder an Herrn P. Grabau: „Sie scheinen, lieber Herr Amtsbruder, das Achthaben auf Lehrer und Lehre, so wie das Urtheilen der Lehre den Gemeinden fast gänzlich abzusprechen und allein denen, die im Lehramte stehen, zuzuweisen.“ Das schloßen die Brüder aus Grabau’s Hirtenbrief. Darauf antwortet Grabau p. 49. §. 3.: „Jeder wahre Christ hat und erkennt seinen allgemeinen Christenberuf, falsche und rechte Lehre zu unterscheiden; denn er soll sich um seiner Seligkeit willen vor falscher Lehre hüten; dies sollen auch unsre Prediger um ihrer eigenen Seligkeit willen. Das stellt der Hirtenbrief durchaus nicht in Abrede. Außer diesem allgemeinen Christenberufe, den wir alle in der heiligen Taufe empfangen haben, gibt es aber nach Gottes Ordnung noch einen amtlichen Beruf, welchen die Kirchendiener von Gott haben, daß sie als berufene und verordnete Hirten und Lehrer innerhalb der Kirche sollen Acht haben auf die Lehre, daß sich nicht falsche Lehre eindränge.“ Ganz ähnlich, ja in gewisser Hinsicht noch zufriedenstellender äußert sich Grabau p. 54. §. 9. Da nun ihrerseits die sächsischen Freunde an der Befugnis der Lehrer, über die Lehre zu urtheilen, nicht zweifeln (vgl. die angeführte Stelle p. 33. im Zusammenhang); so ist auch hier kein Widerstreit. Der ganze Unterschied besteht darin, daß jede Partei von einem zweitheiligen Satze einen Theil mehr hervorhebt, die eine den ersten, die andere den zweiten. Der Satz ist dieser: „Alle Christen haben Recht und Pflicht, die Lehre zu urtheilen, insonderheit die Lehrer.“ Während nun die sächsischen Brüder allen das allgemeine Recht wahren wollen, will P. Grabau das besondere Recht der Lehrer in Obhut nehmen. So wenig nun hiebei die sächsischen Brüder im Sinne haben, „den rechten Gehorsam gegen treue und rechtmäßig berufene Diener Christi“ (S. p. 9.) aufzuheben und den Gemeinden ein ungebundenes Wesen zu gestatten; so möchte es doch auch keinem Zweifel unterliegen, daß der Grabauische Accent und Redeton unter nordamericanischen Verhältnissen seine Berechtigung habe. – Ist deshalb noch gegenwärtig im Punkte des Lehrurtheils zwischen P. Grabau und den sächsischen Brüdern eine Verschiedenheit, so kann sie sich kaum mehr auf die gegenseitig| kundgegebenen betreffenden Lehrsätze gründen, sondern der Dissensus entspringt wohl mehr aus der verschiedenen Praxis, welche durch die allerdings bei beiden Theilen verschiedene Lehre vom Verhältnis der Gemeinde zum Amte und des Amtes zur Gemeinde bedingt ist, davon handeln wir sofort.
Ad b.

 Beide Theile scheinen mir insofern zu irren, als sie der Ortsgemeinde das Recht, ihren Pastor zu wählen und zu berufen, ohne weiteres zusprechen. Dies Recht gilt ihnen beiden als Ausfluß des allgemeinen Priesterthums der Christen. Zwar weist P. Grabau p. 40. die Wahl allen Ständen der Ortsgemeinde zu; da aber in einer Ortsgemeinde meist nur ein oder einige Prediger sind, so wird die Gemeinde in den meisten Fällen ohne einen Vertreter des Lehrstandes wählen oder doch ohne genügende Vertretung dieses Standes, namentlich wo das Stimmenmehr gilt, und es kommt deshalb trotz des guten Grundsatzes faktisch auf dasselbe hinaus, was in dem Kirchenordnungs-Entwurf der sächsischen Brüder p. 78. ganz einfach zu lesen ist: „Das Recht, die Kirchendiener zu berufen, steht bei der Gemeinde; sind aber in einer Gemeinde, welche einen Prediger beruft, schon andere Prediger, so gehören auch diese zu den Berufenden.“ Da nun überdies die sächsischen Brüder nach p. 69. die von Grabau gemachte, trotz Gerhards Auctorität auch für die Praxis wichtige Unterscheidung zwischen Wahl und Berufung als eine Subtilität verwerfen und die Wahl unter den Begriff der Berufung subsumiren; so liegt Wahl und Berufung, das ist im Grunde nicht weniger als alles in den Händen einer Ortsgemeinde. Pastor Grabau schwebte ohne Zweifel der richtige organisirende Gedanke vor, den Gemeinden bei ihrem Wählen und Berufen wenigstens das orthodoxe Ministerium aus der Nachbarschaft zur Seite stellen, – oder etwas der Art; er führt aber den heilsamen Gedanken nicht durch, und trotz vieler Anhaltspunkte, welche seine Aeußerungen denen darbieten, die ihm völliges Licht in Sachen kirchlicher Organisation zutrauen möchten, bringt mans am Ende doch immer nicht weiter, als zu der Ueberzeugung, daß er gehemmt ist, daß die vorhandene Hemmung ihn nicht zu dem einfachen Satze kommen läßt: „Ohne Beistand eines orthodoxen Ministeriums soll keine Wahl und Berufung geschehen.“ Und doch wäre dies das Wenigste, was man dem Ministerium zutheilen muß. – Die Hemmung liegt wohl nirgends anders, als in der nicht völlig klaren Abgrenzung des geistlichen Priesterthums der Christen von dem Bereich des geistlichen Amtes und in der Auctorität Luthers und älterer Lehrer im Betreff dieser Sache. Davon nachher.

 Es wird wohl hier am rechten Orte sein, eines Differenzpunktes zu erwähnen, welcher zwischen Grabau und den sächsischen Brüdern obzuwalten scheint. Die letzteren machen dem ersteren p. 71. den Vorwurf, daß er in dem Schreiben an P. Brohm den Grundsatz aufgestellt habe, „was die Apostel in der Kirche befohlen hätten, das sei nöthig und habe für alle kommende Zeiten verbindende Kraft.“ Die Stelle, aus welcher der Vorwurf seine Begründung nehmen müßte, bezieht sich speziell auf die Ordination, von welcher P. Grabau p. 58. sagt: „Da St. Paulus verlangte, daß Timotheus das Amt durch Ordination befehlen (d. i.| übertragen) mußte, so war dieselbe ein Befehl St. Pauls. Was aber St. Paulus befiehlt, befehlen gleicherweise alle Apostel; also war die Ordination ein Befehl der Apostel. Was nun die Apostel in der Kirche zu thun befohlen haben, das ist nöthig. Da nun die Ordination befohlen ist, so ist sie nöthig. Was aber nöthig ist, darf ordentlicher Weise nicht unterlassen werden.“ Ganz ähnlich schließen Anglicaner zum Besten ihrer kirchlichen Organisation: „Christus spricht: „„Taufet alle Völker, lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe!““ Was hat nun Christus den Aposteln befohlen? Offenbar das, was sie wieder befohlen haben. Also ist das, was die Apostel befohlen haben, Christi Befehl.“ Da nun in Nordamerica anglicanische Gedanken sich vielfach geltend machen, so konnten die sächsischen Brüder in Erinnerung des allerdings versucht werden, aus Pastor Grabau’s Worten den allgemeinen Gedanken, wie sie ihn oben faßten, zu abstrahiren und ihm denselben zuzuschreiben. Aber billig scheint mirs nicht. Ja, es wäre nicht einmal billig, den Anglicanern den Gedanken in seiner Allgemeinheit unterzulegen. Sowol Grabau, als die Anglicaner reden von einem besonderen Fall, für welchen sie ihre Schlüße geltend machen. Die dem allgemeinen Grundsatz, den beide nicht haben, widerstrebenden Bemerkungen vom Bluteßen, Verschleierung der Frauen beim Gottesdienst, Oelsalbung der Kranken (p. 71), wißen ja Grabau und die Anglicaner auch; sie würden sie zum Beweis anführen können, daß ihre Reden billiger Maßen nicht ausgedeutet werden konnten, wie es die sächsischen Brüder thaten. Ja, sie würden aus den faktischen Zustand aller Kirchengemeinschaften der ganzen Welt zum Beweise hinzeigen können, daß entweder niemand in der Welt den von den sächsischen Brüdern Grabau aufgebürdeten allgemeinen Grundsatz hege, oder auch die, welche ihn hegten, den Aposteln ungehorsam sein müßten. Denn es gibt keine Kirche, deren Zustand auch nur in den äußerlichen Dingen den apostolischen Anordnungen getreu wäre. – Indes deutet die angeregte Frage doch auf ein Bedürfnis der sich freier gestaltenden Kirche unsrer Tage. Wir müßen allerdings wißen, wiefern die äußerlichen Anordnungen und Befehle der heiligen Apostel für uns maßgebend seien oder nicht. Daß nicht alles für alle Zeiten und Orte befohlen sei, ist allgemein zugestanden; gerade die römische Kirche legt hierin ihrem Priesterthum und dessen Haupte, dem Pabste, die größte, ja eine viel zu weit greifende Macht zu Abänderungen bei. Was ist hier Rechtens? Die Grenze ist nicht scharf genug gezogen. Es ist des Fleißes und Studiums werth, hier aufzuräumen, und so wie hie oder da (wie in Nordamerica) die Kirche in den Fall tritt, frei von Gewalt, sich selbst zu gestalten, tritt die Nöthigung ein, aufs Reine zu kommen. – Sollte sich freilich ergeben, daß von allen apostolischen Anordnungen gar nichts allgemeine und dauernde Giltigkeit habe, als der Befehl des Predigtamtes, daß, wofern es nur festgehalten wird, die Formen, unter denen es in eine Gemeinde eintritt und in ihr besteht, freigegeben seien und eine jede Gemeinschaft hierin nach Uebereinkunft handeln könne, daß auch im Kirchlichen jede in der Ordnung aufgestellte menschliche Satzung göttliche Sanktion und Geltung habe: nun ja, dann könnte auch meinerseits von einem Irrthum meiner theuern Brüder in Nordamerica in Betreff der Wahl und Berufung gar keine Rede sein. Man irrt nicht, wenn man ohne Sünde verschiedenes thun kann und seine Freiheit| nach bestem Wißen und Gewißen gebraucht. Allein bei einer solchen Ansicht von der Geltung der apostolischen Anordnungen müßte man wenigstens (wie das auch Luther seiner Seits ohne Sorgen thut) zugestehen, daß man den alten Kirchen widerspreche, eben so außer der lutherischen und einigen reformirten Kirchen allen noch jetzt bestehenden Kirchen mit Einschluß der anglicanischen, ja, vielen lutherischen Theologen und Kirchenordnungen oben drein. – Was insonderheit unsern Fall anbetrifft, so glaube ich Ursache zu der Annahme zu haben, daß beide, die sächsischen Brüder und P. Grabau, dasjenige, was im Neuen Testamente über Wahl, Berufung und Bestellung der Kirchendiener sich findet, wenigstens als apostolische Praxis respectiren, ja für maßgebend erkennen und oft als auf göttliche Aussprüche darauf zurückkommen. Ich meinerseits glaube jedenfalls, daß – die Frage von einem göttlichen Generalbefehl des Gehorsams gegen äußerliche Anordnungen der Apostel nun einmal bei Seite gelaßen – die apostolische Praxis die weiseste ist, daß in der ganzen Kirchengeschichte nichts Weiseres, Beßeres und Nützlicheres sich zeigte, ja daß die apostolische Praxis für sich bildende Gemeinden ganz natürlich ist, daß sie sich erzeugen mußte und immer wieder erzeugen muß, ja auch allenthalben selbst in der lutherischen Kirche, so weit es ihre Feßelung durch den Staat zuließ, erzeugt hat. Wo überall eine Kirche auf Erden zunahm und gedieh, hatte sie entweder die apostolischen Anordnungen oder doch annähernde. Ob es deshalb gewagt ist, zu sagen: je treuer wir dem apostolischen Vorbilde bleiben, desto beßer? – Genug. Ich denke mit meinen Brüdern auf Grund der apostolischen Anordnungen verhandeln zu dürfen, und das angenommen, scheint es mir klar, daß sowol P. Grabau als die sächsischen Brüder den Gemeinden bei Wahl und Berufung ihrer Aeltesten und Lehrer zu viel statuiren. Beide überlaßen die Wahl der Ortsgemeinde, während die Apostel und ihre Schüler die Presbyter setzen und der Gemeinde nur so viel Antheil an der Wahl der Person gestatten, als sie haben muß, wenn sie den aus ihrer Mitte genommenen Geistlichen das Zeugnis geben soll, das ihr gebührt. (S. Aphorismen §. 23. p. 55. ff.) – Wenn man freilich die Diaconen, welche in der That ganz anders ins Leben traten, als die Presbyter, mit den Presbytern vermengt, wie das P. Grabau p. 58. thut; dann kann man mehr Befugnis für die Gemeinden erschließen. Allein wir haben kein Recht, das zweite Amt der Kirche mit dem ersten zu vermengen, etwa bloß weil sich im Verlauf der Zeit an der Stelle des apostolischen Diaconats ein dem Presbyterat verwandteres, es vielfach verdrängendes geltend gemacht hat. Presbyterat ist Presbyterat; Diaconat ist Diaconat; Vermengung beider hat zeug der Kirchengeschichte geschadet. Darum wird immerhin dem Ministerium das Amt zu „setzen“ (wozu in den apostolischen Beispielen „wählen“ und „berufen“ gerechnet werden muß) bleiben und der Gemeinde nur irgend eine untergeordnete Betheiligung zukommen. (S. Aphorism. l. c.) Und da eine Gemeinde nur einen oder etliche Prediger haben wird, so wird man auf den Zusammenhang mit den Presbyterien oder Ministerien der nächsten Gemeinden, d. i. auf Organisirung eines größeren Ganzen wie von selbst hin geführt und genöthigt, und so gewis das Setzen dem Ministerium zugewiesen ist, so gewis wird alsdann nicht die Ortsgemeinde („independentische Gemeinde“) allein, sondern sie im Zusammenhang mit dem und geleitet| von dem Ministerium des größeren Complexes, zu dem sie gehört, Wahl und Berufung vorzunehmen haben.[4] – Daraus geht denn auch erst unzweifelig hervor, was P. Grabau selbst unter dem Widerspruch seiner sächsischen Freunde p. 39. sagt: „Rite vocatum esse, ist nicht einerlei mit der Vocation der Ortsgemeinde.“ Und eben danach ist auch der an sich richtige Satz P. Grabau’s zu faßen: „Der ordentliche Beruf oder das rite vocatum esse im 14. Art. August. Conf. ist der allgemeine Begriff, welcher electio, vocatio und ordinatio umfaßt, mithin ist die Vocation der Ortsgemeinde nur ein Theilbegriff von rite vocatum esse.“ Ueberall geht die Gemeinde mit dem Amte, und ohne das Amt setzt sie ordentlicher Weise niemand ins Amt.
Ad. c.
 Wenn P. Grabau’s Aeußerungen über Wahl und Berufung der Aeltesten eben so wie die der sächsischen Freunde der apostolischen Praxis und der aus ihr uns zugehenden Weisung widersprechen; so liegt das nur in einer Art von Unklarheit, da seine übrigen Ansichten nicht dazu paßen. Es hätte nur des Wegstreichens etlicher Sätze in Grabau’s Briefen bedurft, so würde b dieses Aufsatzes weggefallen und in c als Irrthum der Freunde in Missouri etc. eingerückt worden sein. Bei diesen hängt die ganze Ansicht zusammen, ähnlich, ja noch consequenter wie bei manchen der ältesten lutherischen Theologen, und sie berufen sich meines Erachtens ohne groß Unrecht auf Luther. Wer Luthers Schrift von 1523: „Grund und Ursach aus der Schrift, daß eine christliche Versammlung oder Gemeine, Recht und Macht habe, alle Lehre zu urtheilen und Lehrer zu berufen, ein und abzusetzen“ – oder die von demselben Jahre, auf welche sich die sächsischen Brüder am liebsten berufen: „Von Einsetzung und Ordnung der Diener der Kirchen d. i. der Gemeine. An den ehrsamen und weisen Rath der Stadt Prage des Böhemischen Landes“ aufmerksam durchliest, darf nur weniges übersehen und consequent bei dem Hauptgedanken stehen bleiben, so wird er zugestehen daß die sächsischen Brüder getreu an Luthers Ansicht halten, wenn sie den predigerlosen Gemeinden das Recht der Wahl und Berufung ihrer Prediger zuschreiben. Das Wenige, was man leicht übersehen kann, aber nicht soll, finde ich in einem Satze der letztangeführten Schrift Luthers, welche ich in einem deutschen Autographon [„Aus dem Lateyn in das Teutsch gebracht und gezogen im Jahr 1524. Martinus| Luther. Wittenberg.“] vor mir habe. Es heißt hier: „Es ist augenscheinlich und liegt gar am Tage, von wannen her die Priester zu fordern sind und auch dabei die Diener des Wortes Gottes, nemlich aus der Schaar, Menge und Versammlung Christi und sonst nirgend. Denn das ist je genug angezeigt, daß ein jeglicher Gewalt habe, dem Wort Gottes zu dienen; ja, es ist geboten, so er sieht Mangel und Gebrechen an denen, die dann die andern lehren gleichförmiger Weis, wie denn Paulus 1. Cor. 14. verordnet hat, daß die Kraft Gottes durch uns alle verkündigt würde. Wie möchte es denn sein, daß nicht vielmehr die ganze Gemeinschaft Gewalt und Befehl hätte, dieses Amt mit gemeiner Stimme und Erwählung etwa einem oder mehreren an ihrer Statt befehlen möchte, und nachmals diese andern, doch mit Zustimmung der Gemeine.“ (Im Latein: Hic luce clarius ac fide certius habemus, unde petendi sint sacerdotes seu ministri verbi, scilicet ex ipso grege Christi ac nusquam alibi. Nam ubi id monstratum est evidenter, habere unum quemque jus ministrandi verbi, immo praeceptum, si viderit vel deesse qui doceant, vel non recte docere, qui adsunt, ut 1. Cor. 14. Paulus statuit, quo virtus Dei annuncietur per nos omnes; quomodo non multo magis jus ac praeceptum habebit tota aliqua universitas, id officii communibus suffragiis alicui uni vel pluribus vice sua committere, et illi deinceps aliis, accedentibus eisdem suffragiis.)
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  Es ist keine Frage, daß Luther namentlich in den zwei schon genannten Schriften im Grundgedanken, daß das Amt in Vollmacht der mit dem allgemeinen Priesterthum bekleideten Gemeinde verwaltet werde, mit den sächsischen Brüdern übereinstimmt, und wir wollen hernach diesen eigentlichen Dissenspunkt zwischen P. Grabau und den Sachsen vorlegen. Aber, und das wollt ich eben sagen, – in der Praxis stimmt Luther mit den Sachsen nicht. So fest Luther im Grundgedanken: „das Amt stammt von der Gemeinde“ – steht und den Böhmen danach räth; so gibt er doch ziemlich aufrichtig zu, daß die aus dem Grundsatz kommende Praxis, gemäß welcher eine Gemeinde sich selbst Lehrer setze, ein, wenn gleich nicht ohne alles Beispiel des Alterthums, zu setzendes Novum sei; es ist ihm die Wahl eines Bischofs durch die Gemeinde etwas Großes; er will von der Gemeinde allein nur im höchsten Nothfall wählen und alsbald nach beseitigtem Nothstand das Ministerium an die Spitze treten und – allerdings im Einklang mit der Gemeinde – handeln laßen. Jeder dieser Sätze ist aus den obigen Schriften strictissime zu beweisen, und daran denkt Luther nicht, daß im geordneten Zustand der Kirche die Ortsgemeinde ohne Ministerium berufen und wählen solle.[5] Wie die betreffenden symbolischen Stellen (z. B. in den Schmalk.| Artt.), so sind auch Luthers praktische Rathschläge durchaus Geburten des Nothstands, der Eisen bricht; sie werden selbst im Nothstande selten befolgt worden sein – und es beweisen so viele vor uns liegende Kirchenordnungen, daß in den nachreformatorischen Zeiten, dem Ministerium dasjenige Maß von Einfluß und Thätigkeit, welches ihm ohne Schaden der Gemeinden selbst nicht entzogen werden kann, auch je und je und fast allenthalben gegeben worden ist. Ich habe deshalb die gewisse Ueberzeugung, daß, bei völlig gleichem Grundsatz, Luther dennoch nicht für die americanische Praxis spricht, und glaube, daß die theuern Brüder in Nordamerica, so wie sie nur wollen, d. i. so wie sie noch einmal jene Bücher Luthers mit dem Sinne, das pro oder contra für meine Behauptung zu finden, lesen wollen, mir beistimmen werden. Nur der Mangel an Raum verbietet es mir, die Belege aus Luther hieher zu setzen. Ich muß es bei der Verweisung auf Luthers beide Schriften bewenden laßen und möchte nur die einzige kleine Bemerkung hinzufügen, daß einige kleine Inconsequenzen Luthers in der schriftlichen Darlegung seiner Rathschläge leicht zu erkennen und deshalb nicht anzuführen sind, um fürs Gegentheil meiner Behauptung zu sprechen.
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  Indes das alles handelt von der Praxis Luthers, mit welcher allerdings die nordamericanische nicht zusammengeht. Wir haben es aber hier mit dem Grundsatz zu thun, welchen die Brüder in Missouri etc. mit Luther gemein haben und aus welchem sie durch eine Art von Consequenz eine andere Praxis erschließen, als Luther selbst den Böhmen rieth. Ich meine den Grundsatz, daß das Amt ein Ausfluß des allgemeinen Priesterthums der Christen sei. – Wenn Luther die Lehre von dem geistlichen Priesterthum der Christen aufs Neue auf den Leuchter bringt, so freut sich ohne Zweifel jedermann, der die Wahrheit lieb hat. Wer wird es leugnen wollen, daß alles Göttliche, also auch das Amt Eigenthum derer sei, welche das geistliche Priesterthum besitzen? Extra ecclesiam nulla salus – und nur bei der Gemeinde des HErrn ist Gottes Sitz und die Quelle Siloah. So wird auch niemand leugnen, daß nur wer das geistliche Priesterthum besitzt, zum Amte des Neuen Testamentes gelangen kann, kein Heide, kein Jude, – daß vermöge des geistlichen Priesterthums ein Laie giltig tauft und hiemit Gnade, die er selbst besitzt, auf diejenigen fortpflanzt, welche sie zuvor nicht besaßen. Aber etwas ganz anderes ist es mit dem Amte des Neuen Testaments, welches das Priesterliche Volk des HErrn zu dem ewigen Leben im Anschauen JEsu geleiten soll. Dies Amt ist offenbar eine besondere Stiftung Christi innerhalb der Gemeinde und für sie. Daß es also sei, davon zeugen alle Stellen des Neuen Testamentes, welche überhaupt vom Amte handeln; jeder, der sich die Stellen zusammenstellen will, kann sich davon aus eigener Sicht überzeugen. Kaum wird die bekannte Stelle Matth. 18., welche der Gemeinde Befugnis zuertheilt, im Ernste dagegen aufgebracht werden, da ja die Vereinigung mit den übrigen Stellen, die vom Amt reden, so nahe liegt. Dagegen beweisen alle Stellen, die Luther so gerne für das gewis unbestreitbare Recht der Gemeinden, über die Lehre zu urtheilen, anführt, z. B. Joh. 10, 27. (v. 3.), Matth. 7, 15. ff. 1. Thess. 5, 21., Matth. 24, 4. ff. etc., für den Hauptgrundsatz nichts, weil Recht und Pflicht, sich vor falschen Lehrern zu hüten, wohl die Pflicht der Trennung von solchen, keineswegs| aber das Recht und die Pflicht einer Gemeinde involvirt, sich selbst rechte Lehrer zu berufen. Die Schlüße, welche Luther aus ihnen macht, gehen zu weit und befriedigen keinen, der mit dem Hunger, göttliche Beweise zu finden, die beiden angeführten oder andere einschlägige Schriften des theuern Helden liest. Der Nothstand, in welchem die neuentstehenden lutherischen Gemeinden waren, bei denen sich keine übergetretenen Priester befanden, brachte ihn dahin, diese Schlüße zu thun, deren Unhaltbarkeit aber gegenwärtig, wo kein Nothstand jener Art vorhanden ist, jeder findet, der versucht, sie auf logischem Wege selbst zu machen. Die Behauptung, daß das heilige Amt ein Ausfluß der Gemeinde sei, beruht, so viel ich erkennen kann, auf keinem einzigen klaren Worte der Schrift, – und wird sich deshalb in der lutherischen Kirche auf die Länge kaum halten können. Die Behauptung aber, daß Christi Amt eine besondere Stiftung Christi innerhalb der Kirche und für sie sei, daß sich dies Amt durch die besondere, hervortretende Wirkung derer, die es hatten, auch fortgepflanzt habe, ist nicht bloß ohne alle Schlüße ganz einfach aus dem Wortlaut der Schrift zu beweisen, sondern rechtfertigt sich auch durch die Kirchengeschichte im Allgemeinen und durch den constanten Brauch der lutherischen Kirche im Besonderen. – Für Nothstände, in denen ein Ministerium oder Presbyterium nicht zu erreichen ist, könnten Luthers Verweisungen aufs allgemeine Priesterthum allerdings manchen ermuthigen, seine Vorschläge nachzuthun. Allein weder die Böhmen waren, noch sind die Nordamericaner im Fall, ein Ministerium nicht erreichen, einem kirchlichen Organismus sich nicht anschließen zu können; überhaupt wird der Nothfall genau genommen, höchst selten stattfinden (man frage die Erfahrung!), zumal Lehre und Nothtaufe, als das Unentbehrliche, dem Laien verstattet ist, und Luther, wenn auch nicht constant, und die Lehrer der lutherischen Kirche selbst drauf hinweisen, daß man im Mangel eines Pastors in Anbetracht des h. Abendmahls das: Crede et manducasti – zu üben habe.
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 Luther sagt, die päbstliche Ordination wolle nur zur Messe und zum Beichthören befähigen, Lehre und Taufe gestatteten auch die Römischen den Nichtordinirten. Da nun die Messe und am Ende auch die römische Beichte wider Gottes Wort sei, so ermächtige die päbstliche Ordination nur für Handlungen, welche überhaupt nicht Statt finden sollten. Es sei drum die päbstliche Ordination gar nicht nöthig; die Gemeindeglieder aber, welche kraft ihres geistlichen Priesterthums lehren und taufen dürften, könnten um so leichter für Abendmahl und Seelsorge aus ihrer Mitte Pastoren selbst erwählen; denn da sie das Größere – Lehre und Taufe – vermöchten, so könnten sie das Geringere – Abendmahl consecriren und Absolviren – nur desto gewisser. Allein ganz abgesehen davon, ob wirklich Abendmahl halten und Absolviren geringer sei, als Lehren und Taufen (ich würde aber alle diese Handlungen gleich stellen), verkennt denn doch Luther den Ursprung der römischen Praxis. Nach außen hin, gegen Heiden und Juden, stehen alle Getauften in der Pflicht, zu lehren, auch wohl zu taufen; das Presbyterat aber ist ein Amt innerhalb der Gemeinde und seine specifischen Geschäfte sind allerdings Abendmahlhalten und Seelsorge. Darum ist es nicht so gar ohne Sinn, wenn die Ordination dieses Amtes innerhalb der Gemeinde hauptsächlich zu den Geschäften Kraft und Vollmacht gibt, auf welche es für die Führung| der Gemeinde besonders ankommt. Es ist damit keineswegs ausgesprochen, daß Lehre und Taufe den Haushaltern über Gottes Geheimnisse und ihrem Wirkungskreise ferne liegen: die Lehre, welche zur Leitung der Gemeinde nöthig ist, und die Taufe, welche innerhalb der Gemeinde geschieht, also hauptsächlich die Kindertaufe, gehört ja dennoch dem Amte des HErrn. Ja, es resultirt dem Amte aus seiner Stellung innerhalb der Gemeinde – abgesehen von bestimmten Befehlen JEsu für seine ganze Kirche – Recht und Pflicht, auch nach außen hin vor allen zu wirken und die Wirksamkeit anderer zu leiten. – Ich erwähne dies nur, um anzudeuten, daß es ein richtiger Unterschied zwischen dem allgemeinen geistlichen Priesterthum und dem Amte sei, wenn jenem in gewissem Maße Lehre und Taufe, diesem aber allein außer Lehre und Taufe das heilige Mahl und die Seelsorge (die Beichte und Absolution) zugesprochen wird. Daß dem römischen Priester aus dem Abendmahl die römische Messe, aus der Beichte ein Beichtzwang und ein Sacrament der Buße geworden, ist, versteht sich, eine üble Wendung der anfänglich guten Praxis, welche niemand billigen wird, der ein Freund der Wahrheit ist.
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 In dem bisher Gesagten ist allerdings zugegeben, daß das allgemeine Priesterthum der Christen in einigem Zusammenhang mit dem heiligen Amte stehe. Man kann sagen, daß das allgemeine Priesterthum der Boden sei, in welchen das Samenkorn des Amtes gelegt worden, aus dem der fruchtbare Baum des Amtes hervorgewachsen sei. Aber das Amt und das geistliche Priesterthum ist nicht Eins und Dasselbe, es ist auch jenes nicht eine bloße Entwicklung von diesem; wer dieses hat, hat nicht eben damit auch jenes, kann es deshalb auch nicht andern übertragen, die es in diesem Falle ohnehin schon selbst hätten und höchstens die Erlaubnis brauchten, damit vor andern hervorzutreten. Das allgemeine Priesterthum gibt, wenn die Befähigung da ist, wohl das Recht das Bischofsamt zu begehren (ὀρέγεσϑαι), aber es ertheilt nicht das Bischofsamt, sondern das Bischofsamt theilt sich selbst mit – im Einklang mit den Gemeinden, denen es dienen will, – und Bischöfe setzen ist, wie es auch factisch allenthalben steht, jus episcopale. Die Gemeinde soll nicht theilnahmlos zusehen, im Gegentheil, – sie nimmt und hat großen Antheil, sie bethätigt sich durch Zeugnis, Wunsch, Bitte, Verlangen, auch wohl, wenn das Ministerium es für die Gemeinde und die Wahrheit zuträglich findet, durch Wahl; aber berufen und durch den Beruf das Amt mittheilen kann sie ohne Mitwirkung eines rechtgläubigen Ministeriums nicht[6]. Luther behauptet wohl das Gegentheil, er sagt sogar den Böhmen, sein Rathschlag, durch gemeine Stimmen der Gemeinde Prediger zu wählen, sei biblisch, nicht neu, sondern ganz alt, apostolisch. Aber den Beweis ist er schuldig geblieben, da das Zeugnis, welches die ersten Gemeinden den Presbyter setzenden Apostelschülern Timotheus und Titus für die Wahlkandidaten zu übergeben hatten, noch lange keine Wahl, noch lange kein Wahlrecht begründet. Er thut deswegen ganz wohl, sein Novum aus dem Nothstand| der Kirche zu begründen, und im Nothstand liegt auch, um zu wiederholen, der ganze Anlaß zur Ausstellung seiner Theorie. Er hätte nicht daran gedacht, kraft des allgemeinen Priesterthums die Böhmen und andre zur Selbstberufung von Lehrern zu ermuntern, wenn die Bischöfe reine Lehrer hätten geben können und wollen. Er sagt: „Nu zu unsern Zeiten die Noth da ist und kein Bischof nicht ist, der evangelische Prediger verschaffe, gilt hie das Exempel von Tito und Timotheo nichts, sondern man muß berufen aus der Gemeinde, Gott gebe, er werde von Tito bestätigt oder nicht. – – – Diese Zeit ist gar ungleich den Zeiten Titi, da die Apostel regierten und rechtliche Prediger haben wollten. Jetzt aber wollen unsre Tyrannen eitel Wölfe und Diebe haben.“ So weit hat er denn auch gewissermaßen Recht.

 Hat er aber einiges Recht, gegenüber dem abfälligen Ministerium aus dem Nothstand der Gemeinde eine Befugnis derselben zur Selbsthilfe abzuleiten – eine Befugnis für einen Nothstand, der genau genommen nur äußerst selten oder vielleicht kaum je eintritt; so haben wir in unsern Zeiten tausendmal Recht, beim großartigen Verderben der Gemeinden auf das Recht des Amtes hinzuweisen, rechte Lehrer zu setzen und sich unter einem unschlachtigen Geschlecht selbst wider Willen desselben fortzusetzen. Fand sein Novum in seinen Zeitumständen Entschuldigung, wie viel mehr wird die apostolische Weise aus unsern Zeitumständen gerechtfertigt werden können. Sagt doch Luther selbst in seiner Schrift „Grund und Ursach aus der Schrift etc. 1523“, auch rechtschaffene Bischöfe sollten nach seiner Meinung ohne der Gemeinde Willen, Erwählen und Berufen keine Prediger setzen, „ausgenommen wo es die Noth erzwänge, daß die Seelen nicht verdürben aus Mangel göttlichen Worts; denn Noth ist Noth und hat kein Maß, gleichwie jedermann zulaufen und treiben soll, wenns brennt in der Stadt und nicht harren, bis man ihn drum bitte.“ Diese Noth dürfte gegenwärtig fast in allen Gemeinden sein. – Zwar war auch zu Luthers Zeiten diese Noth nicht selten. Wie wenig Freude hatte Luther an so vielen Gemeinden seiner Zeit, selbst an der Wittenberger, die er in seinen alten Tagen mehrere Male verließ vor Jammer und Kummer über ihre sittliche Beschaffenheit! Was für Urtheile und Klagen liest man bis auf diesen Tag aus seiner Feder, Urtheile und Klagen, ganz den unsern gleich! Und diesen Gemeinden, so wie sie damals waren, so wie sie annoch sind, so wie sie vielleicht meistentheils auch ferner sein werden, will man so ohne Weiteres die Befugnisse zusprechen, die Luther aus dem geistlichen Priesterthum wahrer Christen ableitet? Sie, denen das geistliche Priesterthum, so wie es unter ihnen steht, meist nur aus Hochmuth und als Waffe gegen das heilige Amt angenehm ist, die von den Pflichten dieses Priesterthums, zu opfern geistliche Opfer, keine Idee haben, geschweige Sinn dafür und Uebung davon, – sie sollten Wahl und Berufung der Prediger in ihren Händen haben? Gewis nicht! Man vergeße doch nicht, daß man auf dem Boden der Wirklichkeit lebt und wende die Lehre vom geistlichen Priesterthum nicht so an, daß unter heiliger Firma der Feind der Seelen sich maskire und Macht und Gewalt innerhalb der Kirche an sich ziehe!

|  Es sei ferne, den theuern Brüdern in Missouri den Sinn und Willen zuzuschreiben, als wollten sie geflißentlich die Sache der heiligen Kirche dem Volke, der Stimmenmehrzahl überliefern. Nicht bloß wehren sie sich hiegegen in manchen Stellen der mehrfach angeführten Actensammlung (z. B. p. 9.), sondern auch ich bin bereit, sie gegen dergleichen Vorwürfe zu vertheidigen. Viele tatsächliche Beweise stehen mir hiezu zu Gebote. Wollte Gott, es würde allenthalben nicht bloß in Nordamerica, sondern auch bei uns in Deutschland so die Ordnung wargenommen und aufrecht gehalten, wie es trotz aller Freiheit in der großen Synode von Missouri, Ohio und andern Staaten geschieht. Ist sie doch, meines Wißens, die einzige, welche zur Wahrung guter Ordnung und zur Abhilfe plötzlicher und dringender Gebrechen ihrem Präses auch außerhalb der Synodalzeit wesentliche bischöfliche Rechte in die Hände legt! Bei aller Hochachtung und Liebe vermag ichs aber doch nicht zu verhehlen, daß mir der lutherische Grundsatz von der Befugnis der Gemeinden oftmals auf eine gefährliche Weise hervorzutreten scheint, daß die theuern Brüder nicht bloß Stellen aus Luthers Werken, die wahrlich nicht für americanische Verhältnisse geschrieben sind, sondern auch eigene Gedanken veröffentlichen, welche nicht den Sinn für christliche, sondern die americanische Lust und Neigung für fleischliche Freiheit in kirchlichen Dingen nähren können. Wenn schon auch P. Grabau bei seinen Aeußerungen manchmal die andere, gleichfalls berücksichtigenswerthe Seite vergißt, so habe ich doch die Ueberzeugung, daß es namentlich für nordamericanische Verhältnisse bei Weitem gerathener ist, mit Grabau die eigentlichen Pflichten des geistlichen Priesterthums hervorzuheben und selbst das unabweisbare Recht jedes Christen, ja jedes Menschen, sich vor Verführern und geistlichen Wölfen zu hüten, nur mit demjenigen Maße von offenherziger Vorsicht zu lehren, welches bei dem ungebundenen americanischen Sinn erforderlich scheint. Stellen, wie z. B. die p. 32. (z. B. „Wo sich’s gewis von selbst ergibt“!?) sind, und zwar gerade in ihrem eigenthümlichen Zusammenhang, der Misdeutung zu sehr ausgesetzt, als daß man sie gerne läse. Eben so ist es mit den Citaten aus Luther. Viele Worte, die Luther gegen das Amt der römischen Bischöfe mit allem Rechte gebrauchen konnte, erleiden mindestens eine starke Modification, wenn sie auf das rechte Amt rechtschaffener Diener Gottes in der lutherischen Kirche angewendet werden. Wenn Luther im Citate p. 32. die Kirche von den Bischöfen trennt und – in sehr zweifelhafter Auslegung des Κυρία im Anfang der 2. Ep. St. Johannis – die Kirche eine Κυρία oder Herrscherin nennt, die sich gegenüber den Bischöfen geltend machen könne, – oder wenn er im Citate pag. 34. „das Volk“ geradezu „die Kirche, die Königin“ nennt etc. etc.; so klingt das allerdings sehr americanisch – per hyperbolen ohne Zweifel, in welcher Luther so oft denkt und redet; aber wahr und weise geredet ists nicht, zumal nicht römischen Bischöfen gegenüber, sondern gegenüber den armen lutherischen Pastoren, die, wenn auch nicht im Bereich der Synode unsrer Freunde, doch anderwärts in Nordamerica so gar oft wie Hirten gemiethet und wie Hirten entlaßen werden. Ich gestehe, daß ich auch beim Lesen der Synodalverhandlungen, welche mir so viele Freude machen, doch oft herzlich betrübt wurde, wenn ich den Einfluß der Gemeinden gar so stark hervortreten sah, –| und wie ich fürchte, daß einmal ein Bösewicht auf Grund so mancher Stelle in Luthers Werken einen dämonischen Tractat schreibe: „Luther, ein Demokrat“; so fürchte ich auch, es möchte manches in Wort und That meiner theuern Brüder in Missouri etc. den Verdacht entschuldigen, daß sie in Betreff der kirchlichen Verfaßungsfrage von americanisch-demokratischen Geiste angehaucht seien. Mag P. Grabau auf der andern Seite immerhin auch fehlen: sein Fehl schadet und fäht nicht in dem Maße: seinem Wort widerstrebt der ganze americanische Geist und noch zur Zeit ist auf keine Siege irgend einer protestantischen hierarchischen Partei zu schließen. Aber der Fehl, welcher der Freiheit des Americaners schmeichelt, ist folgenreicher, verderblicher. Ich denke, ich werde keine Belege anzuführen brauchen; ich überlaße mein Bedenken der Prüfung meiner Brüder und wollte nur, daß sie mich also widerlegten, daß ich die wahre Freude hätte, einen Irrthum zu bekennen, den ich mir gewis nicht gerne zu Schulden kommen ließ.

 In gleichem Sinne herzlicher Liebe und Sehnsucht, allenthalben mit meinen Brüdern in der Wahrheit vereinigt zu sein, erlaube ich mir auch, Sie hier zu erinnern, ob nicht wirklich in P. Grabau’s Vorwurf zu großen Haltens über den Worten Luthers etwas Wahres liege. Ich gestehe, daß mir nicht bloß in der Actensammlung, sondern auch im „Lutheraner“ manchmal die Beruhigung zu groß erschien, die ich zu bemerken glaubte, wenn etwas mit Luthers Worten bewiesen oder bestätigt war, – oder auch mit symbolischen Stellen. Es zeigt sich hier die Wichtigkeit eines quia, welches nicht zuläßt, daß jemand bei einer andern Auctorität sich beruhige als bei jener letzten der heiligen Schrift. Bei den symbolischen Büchern ist nun allerdings durch Gottes gnädige Vorsehung weniger Gefahr, irre zu gehen, wenn man ihren Inhalt richtig faßt und sich aneignet. Nicht eben so bei den zahlreichen lutherischen Schriften. Wie sehr auch die lutherische Kirche das Gebot: „Gedenket eurer Lehrer und folget ihnen“ an Luther in Erfüllung brachte, dennoch gibt es zahlreiche[WS 1] Beispiele – namentlich in Dingen der Praxis, der Organisation, der Kirchenleitung –, daß sie nicht in verba magistri schwor und schwören konnte. Wer z. B. weiß nicht, wie wenig Luthers Ansichten von der Ehe und seine liturgischen Rathschläge von 1526 in der Kirche durchgingen, und wer sieht und hört es den lutherischen Kirchenordnungen nicht vielfältig ab, daß sie von einer andern Ansicht des Amtes ausgehen als Luther? Luther lebte vielfach in Noth und Gedränge; die Noth der Zeit hat oft seine Ansicht bestimmt, hat ihn eine Seite der Wahrheit hervorheben, die andere unbeachtet übergehen laßen: der Satz „Noth kennt kein Gebot“ beherrschte ihn nicht selten. Als nun der oder jener Nothstand vorüber war, erlosch auch die Wahrheit und Geltung mancher Worte und die Kirche hob nun manches von der vergeßenen Kehrseite hervor und that recht dran. Ganz anders ists nicht bloß mit den anerkannten Geboten der Apostel, sondern auch mit ihrer Praxis und ihren äußerlichen Anordnungen; sie sind nicht aus Noth geboren; über der Noth stehend, geben die Apostel Anordnungen, die in ihrer Einfalt und Angemeßenheit ihrer Zeiten Noth und die Noth nachfolgender Zeiten überdauerten und bewältigten, zu denen man immer wieder zurückkehrt.

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Ad d.

 Befand ich mich nun im Falle, meinen Brüdern in Missouri nicht beistimmen zu können, weil sie den Gemeinden zu viel einräumten; so muß ich mich nun auch in einem Punkte mit Herrn P. Grabau im Dissensus bekennen. Es war mir eine Herzensangelegenheit, seinen Standpunkt genauer kennen zu lernen, und ich habe mich, als ich seinen Hirtenbrief, und besonders, als ich das Thetische in seiner Antikritik und im Briefe an P. Brohm las, herzlich gefreut, so viel Wahrheit, Erkenntnis und Verstand in Sachen kirchlicher Organisation und amtlicher Leitung der Gemeinden warzunehmen. Ich könnte meine Zustimmung eingehender darlegen, wenn es sich darum handelte und wenn ich anerkennende Worte dieses Ortes nicht überhaupt bloß in der Absicht, meinem nachfolgenden Bedenken die Bezeugung meiner Liebe und Hochachtung vorangehen zu laßen, auf dem Grunde öffentlich bekannter Einigkeit eine abweichende Gesinnung oder Erkenntnis kundgeben zu dürfen, voraussenden zu müßen glaubte. Welch eine Freude würde es für mich sein, wenn ich allenthalben und in allen Stücken mich der Zustimmung hingeben dürfte, die ich in vielen Punkten Herrn P. Grabau aussprechen könnte und zu der ich so große Lust und Neigung habe! Ich kann es aber leider nicht.

 Meine Zustimmung kann ich nemlich in der Auslegung und practischen Anwendung von Ebr. 13, 17. „Gehorchet euern Lehrern und folget ihnen“ (Πείϑεσϑε τοῖς ἡγουμένοις ὑμῶν καὶ ὑπείκετε) nicht geben. Auf Grund dieser Stelle verlangt Herr P. Grabau von den Gemeinden „Treue und Gehorsam gegen ihre Lehrer in allen Dingen, die nicht wider Gottes Wort sind.“ (p. 14. Nr. 7.) Das anlangend stimme ich ganz dem bei, was p. 28. von den sächsischen Brüdern gesagt worden ist. Ein Pfarrer kann auf Grund des angeführten Spruches allerdings verlangen, daß Gottes Wort seine Pfarrkinder durchdringe und in allen Lebenskreisen, in allen Fällen leite, daß sie in allem, was Sünd und Tugend, den treuen aus Gottes Wort genommenen und demselben entsprechenden Vermahnungen ihres Seelsorgers gehorchen. Allein es gehört hieher nicht bloß eine gewisse Hingebung der Gemeinde, sondern auch eine gewisse Bescheidenheit des Seelsorgers; nur wo beide zusammentreffen, geht es auf die Dauer wohl. Das Wort Gottes hat unbeschränkte Weitschaft; dagegen die Anwendung, welche ein Seelsorger in seiner menschlichen Weisheit davon macht, hat ihre Grenzen. Jede Anwendung, für welche der Seelsorger Gehorsam verlangt, muß sich als durchaus dem Worte gemäß und aus dem Worte gestoßen legitimiren. Wo Zweifel herrscht, wo im höchsten Fall nichts weiter bei der Gemeinde erreicht wird, als die Ueberzeugung, daß das Geforderte dem Worte Gottes nicht zuwider sei, da muß des Seelsorgers Bescheidenheit eintreten. Es wird überhaupt beßer sein, den Gehorsam der Gemeinden gegen die Seelsorger in alle dem zu fordern, was dem göttlichen Worte gemäß ist, als in dem allen, was ihm nicht zuwider ist. Es gibt ja ganz offenbar Grenzen des geistlichen Amtes und seiner Aufsicht und Leitung, so wie es Grenzen der Staatsgewalt gibt. Ja es gibt auch ein Gebiet individueller Freiheit, auf welchem kein Mensch| den andern beeinträchtigen soll. Die Freiheit von Menschenleben und Menschensatzungen, die Freiheit, in persönlichen Dingen selbst zu beschließen, Rath zu suchen, wo man ihn bedarf, ihn nicht zu suchen, wo man ihn nicht bedarf, – dazu die ganze Weitschaft der christlichen Freiheit gehört ja zu den Gütern, für deren rechten Brauch der Mensch durch die Kirche erzogen werden soll. Der nicht Freiheit hat, der erkannten Wahrheit von innen heraus die Folge im Leben zu geben, – der sich nicht selbst bestimmen darf, lernt gewis auch den rechten Gehorsam gegen das Amt nicht, welcher ganz und gar auf der wunderbaren, allerdings geheimnisvollen, aber dennoch den Menschen gegenüber freien Hingebung des Herzens an erkannte göttliche Wahrheit und Gebote beruht. Ich kann mir’s denken, daß freie, sehr selbstständige Christen nichts ohne ihren Pfarrer thun; da ists aber nicht Gebot, sondern Vertrauen, das sich nicht erzwingen läßt, – ein Vertrauen, das am dauerhaftesten der findet, der keinen Anspruch auf persönliche Geltung macht.

 Es ist eine bekannte Sache, daß Ceremonien, Kirchen- und Schulordnungen, welche den Gemeinden ohne ihre Ueberzeugung aufgedrungen werden sollen, entweder gar nicht zu Stande kommen, oder doch ohne den beabsichtigten Einfluß und Segen bleiben. So ist der Mensch; es ist zuweilen zu beklagen; es ist aber auch zuweilen ein Zeichen, daß noch Kundschaft da ist von dem besten Wege, zu gemeinsamen Zielen zu gelangen, nemlich von der freien Zusammenstimmung der Seelen. Ist aber auf dem Gebiete kirchlicher Ordnungen diese Erfahrung alle Tage zu machen, und schützt Gott die – seis auch schwachen – Gewißen der Christen durch sein Wort, durch die Lehre von Menschengebot und Menschensatzungen in ihrem Rechte: wie viel mehr wird es der Fall sein in Dingen, welche ins bürgerliche oder häusliche Leben des Christen einschlagen und nicht wider Gottes Wort sind? Gerade auf dem Gebiete des nicht Verbotenen hört die Verantwortung vor Menschen auf und beginnt der stille innere Gehorsam und die Verantwortung vor Gott allein. Dahinein mische sich ungebeten keiner. Lehrt die augsburgische Confession, daß der Mensch „einiger Maßen“ einen freien Willen habe, so taste man auch dies übrige Maß nicht an.

 Daß eine Gemeinde mit ihrem Pastor ein Abbild der mit dem allerhöchsten Oberhaupt verbundenen Kirche im Ganzen und Großen sein soll, – daß die Verbindung zwischen beiden keine zufällige, sondern eine von Gott gewollte, heilige sei, so daß kein ἀλλοτριοεπισκοπός hineingreifen und scheiden dürfe, ist gewis, Alles, was die Schrift vom Verhältnis zwischen Weitesten und Gemeinden sagt, deutet drauf hin. Und wer nun dies Verhältnis durch Ungehorsam gegen Gottes offenbares, unmisverständliches Wort und gegen den Diener, der es predigt, bricht und zerreißt, wer deshalb nach vergeblicher Anwendung der gradus admonitionum excommunicirt wird, der ist freilich nicht bloß von seiner Ortsgemeinde, sondern von der ganzen Kirche excommunicirt und kann auch von keinem Pfarrer vor gethaner Buße und Versöhnung mit seiner Gemeinde und deren Pastor auf- und angenommen werden; sonst hat der aufnehmende Pastor gleiches Loos mit| ihm, ist gleich ihm der Gemeinschaft der andern los. Wenn hingegen der Pfarrer äußere Anordnungen, welche sich nicht aus den gegebenen Verhältnissen als nothwendig und vom Wort erheischt darstellen, kraft seiner Amtsgewalt durchzusetzen, – seinem menschlichen Ermeßen göttliche Nothwendigkeit beizulegen strebt; so geht er über seine Grenze, provocirt den Ungehorsam, der vielleicht schon entweichen wollte, herrscht, statt zu weiden; und wenn seine Gemeinde hierin den Gehorsam versagt, so kann es zwar in hundert Fällen sein, daß sie sich hiebei versündigt, aber der Pastor hat sie dazu versucht, – und in manchen Fällen kann es auch sein, daß sich die Gemeinde durch ihr Widerstreben nicht versündigt, daß sie nur ihr Recht gebraucht und ihre Pflicht übt. „Ihr seid theuer erkauft, werdet nicht der Menschen Knechte“, sagt der Apostel und davon gilt hier die Anwendung. Geht nun in solchen Fällen der Geistliche so weit, die Widerstrebenden zu excommuniciren; so geschieht ihnen Gewalt für Recht. Sie können vielleicht in der Sache viel zu bereuen haben, aber darin sind sie nicht schuldig, daß sie dem Pfarrer in den Dingen auf sein bloßes amtliches Ansehen hin nicht gehorchen wollten, auf welche sich sein Bischofsrecht nicht erstreckte. „Nicht als die über das Volk herrschen“, warnt ein großer Hirte. Es ist allerdings ein Unterschied zwischen christlicher und kirchlicher Freiheit, und eine Gemeinde kann allerdings, wenn sie will, ihrem Hirten viel Macht auch in äußerlichen Dingen geben; aber sie muß nicht. So gewis sie in allem, was Gott gebot oder verbot, dem Wort und seinem Diener zu gehorchen hat, so gewis ist sie in andern Dingen, die Gott frei ließ, nicht verbunden, andere Gründe, als die der Ueberzeugung und Belehrung gelten zu laßen. Luthers Worte p. 32. finden hier um so gewisser ihre Anwendung, als in Nordamerica kein weltlicher Gewalthaber als Summus episcopus seine Stellung in die Wagschaale wirft. – Ganz etwas anderes ist es, wenn Ignatius die Christen vermahnt, nichts ohne den Bischof zu thun, und wenn der Bischof den Anspruch stellt, daß seine Gemeinde in Sachen, wo nur die freie Ueberzeugung walten kann, seinem Ansehen und Ermeßen unbedingt gehorche. Diese Forderung wäre wohl von Ignatius weder in Theorie, noch in Praxis gemacht worden. Wohl aber konnte er durch jene den freien Willen ziehen und zum Bischof, d. i. zum Worte und zu göttlicher Weisheit leiten.

 Wird nun eine auf dem Gebiete der Adiaphora oder der individuellen Freiheit dem gebietenden Bischof widerstrebende Gemeinde um deswillen von ihm excommunicirt; so ist sie keine Rotte. Der seine amtliche Befugnis überschreitende Bischof hat in diesem Falle das Band zerrißen, und um seines Fehls willen kann die Gemeinde der kirchlichen Gemeinschaft, des Sacraments und der Wohlthaten des Amtes nicht verlustig gehen. Ein Pastor oder eine Synode, welche nach klar erkannter Unschuld der Gebannten rücksichtlich des Excommunicationsgrundes sich derselben annimmt, hat dafür keine Buße zu thun. Der neue Pastor ist kein Rottenprediger; er trägt unverdiente Schmach, wenn man ihm diesen Namen gibt.

 Es ist nicht meine Sache, über einzelne Fälle zu sprechen. Aus solcher Ferne erkennt man nicht sicher. Aber die Auffaßung der Stelle Ebr. 13, 17.,| wie sie P. Grabau unverholen ausspricht, kann jeden Falls zu großen Mißgriffen, zu einer gewissen Tyrannei, ja zu Hierarchie im schlimmen Sinne führen! – „Gehorchet euern Lehrern gewis“, gewis, aber in dem, was sie als Lehrer aus Gottes Wort zu euch sprechen! Ὑπείκετε, folget ihnen, – natürlich in allem, was ihres Amts ist! Aber weder sind sie Obrigkeit, noch sind sie Gemeindeversammlung oder Hausväter im Großen, daß sie über das Zeitliche der Unterthanen beschlößen! Es gibt eine Grenze, wo selbst Apostel ihre Auctorität beschließen: sie beginnt, wo der zeitliche Besitz anfängt und nach dem 7. Gebote die freie, barmherzige Liebe Herrin ist. Der von der Gemeinde gewählte Diaconus ist es, der, obschon im Einklang mit dem Presbyterium, über die freie Liebesgabe der Gemeinde waltet. In dem Ihren redet die Gemeinde mit allem Recht ihr Wort.

 Hier möchte ich gerne mein Angesicht vor Herrn P. Grabau verhüllen. Ich wollte fast lieber, daß ich Unrecht hätte, als er. So, wie es steht, weiß ich aber nichts zu thun, als brüderlich, inständig zu bitten, daß er von jener der ganzen schriftmäßigen Auffaßung des Wortes Ebr. 13, 17. widersprechenden Deutung abstehen wolle. Wie gönne ich dem Manne, bei dem ich so viel helle Erkenntnis, so viele der americanischen Kirche nothwendige Weisheit finde, daß all sein Denken und Thun dem Worte völlig getreu sei! „Gehorsam in allem, das dem Worte Gottes gemäß ist“ – diese kleine Aenderung, und ich denke, es ist“ seinerseits das Haupthindernis einer herzlichen Vereinigung mit seinen Brüdern in Missouri gestürzt. Mögen dann die Brüder in Missouri ihrerseits der Wahrheit Raum geben und jede der kirchlichen Demokratie entgegenkommende Aeußerung fortan heiligen Ernstes vermeiden. Einen Schritt von der äußersten rechten Grenze und einen von der äußersten linken Grenze hinweggethan, und es kann Friede werden. Denn was weiter scheidet, kann füglich als noch schwebende Sache, als offene Frage innerhalb der lutherischen Kirche betrachtet werden. – Davon reden wir jetzt.

Ad e.

 Daß das heilige Amt göttlichen Befehl und Einsetzung habe, darin stimmen Grabau und die sächsischen Pastoren zusammen (S. p. 71. 72.), und obwol ein wenig darüber gestritten wird, ob es ein Dienstmittel sei, durch welches Gott mit uns handelt, oder ob es das nicht sei (p. 44.); so finde ich doch auch hier – Ungleichheit im Ausdruck abgerechnet – kein wesentliches Auseinandergehen. Dagegen ists offenbar, daß rücksichtlich des Eintritts in das heilige Amt die Ansichten verschieden sind. Beide Theile stimmen in dem Ausspruch der augsburgischen Confession Art. 14., daß niemand das Amt verwalten könne, als ein rite vocatus zusammen. Zu diesem rite vocatum esse rechnet Grabau Vorbereitung, Tüchtigkeit, tentamen, Wahl, öffentliches Bekenntnis, Ordination, Installation. Nun werden beide Richtungen leicht über Vorbereitung, Tüchtigkeit, tentamen, Wahl, Bekenntnis und Installation übereinkommen, das aber fragt sich, ob die Ordination zum rite vocatum esse gehöre, ob sie überhaupt nöthig sei oder nicht. Diese Frage ist geradezu der hauptsächlichste Streitpunkt zwischen den beiden Fractionen, und es wird am besten sein, die divergirenden Ansichten neben einander zu stellen.

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Ansicht der Pastoren in Missouri.
 
Ansicht des Pastors Grabau.
S. 23
 
S. 40
„Die Art und Weise der menschlichen Ordnung, nach welcher der Pastor in das Amt kommt, ist nur äußerlich unwesentlich Ding, welches nach Zeit und Ort verschieden sein kann. Die Ordination ist also allerdings als eine von den ältesten christlichen Zeiten her recipirte löbliche und heilsame Generalceremonie beizubehalten, aber nicht als ein ausdrückliches göttliches Gebot, sondern, wie die Sonntagsfeier, blos um der Einigkeit und guter Ordnung willen; und weil sie blos publica testification ist dafür, daß die Vocation als das wesentliche Stück bei der Anstellung eines Predigers richtig sei, so ist noch vielmehr die confirmatio und introductio pastoris etc. ein unwesentliches Stück, welches nach Befinden der Umstände sein und auch nicht sein kann: wo sie aber in einem Lande aus älterer oder neuerer Kirchenordnung üblich und mit nichts verbunden ist, das dem Worte Gottes widerstreitet, da soll man sie behalten, nicht, weil es nothwendig zur Sache gehört, sondern weil man unterthan sein soll aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen.“ §.10. Was ist nun insonderheit die Ordination? Nicht eine bloße apostolische Generalceremonie, die man bloß beibehält, um in der äußerlichen Form mit der alten Kirche eins zu sein; sondern eine solche priesterliche Handlung der Kirche, da sie nach der Apostel Befehl erwählte Personen durch vorhandene Kirchendiener zur Ausübung des Amts befehligt, bestätigt und segnet, wobei sie glaubet, daß Gott selber dadurch befehligt, bestätigt und segnet. Als wir sehen 2. Tim. 2, 2. cf. 1. Petr. 5, 1. 2. Tim. 1, 5. Act. 14, 23. Act. 1. 26 – St. Paulus hat auch dem Timotheo vor Gott und dem HErrn JEsu Christo und den auserwählten Engeln befohlen, solche Ordination zu halten, und keine Untüchtigen in Uebereilung zu ordiniren, 1. Tim. 5, 21. 22. Und weil nun die Ordination ein göttliches Anbefehlen des Amts ist, so will er auch seine gnädigen Verheißungen dabei versichern, wovon St. Paulus 1. Tim. 4, 14 sagt. Eine Ordination ohne Gebet und Glaubensbekenntniß vor der gegenwärtigen christlichen Versammlung giebt es nach der Lehre des neuen Testamentes nicht.
     Anmerkung. Unser HErr JEsus Christus hat seine Apostel erstlich erwählet und berufen, hernach ordinirt oder befehligt zur Ausübung des Amts unter alle Heiden. Joh. 20. Matth. 28. Marc. 16. Luc. 24, 50. So bekennt auch die Augsb. Conf. Art. 28. §. 6. 7. „Nam cum hoc mandato Christus mittit Apostolos. Joh 20, 21. Sicut me misit| pater, ita et ego mitto vos etc. Marci 16.: Ite, praedicate Evangelium omni creaturae.“ Dieß war ordiniren oder das Amt befehlen, wie 2. Tim. 2, 2. lehrt.
     §. 11. Die Ordination ist kein Adiaphoron, indem sie ein wesentliches Stück des rite voccatum esse ist. Es ist zwar ein Adiaphoron, ob der Erwählte von einem Bischof oder gemeinen Pfarrherrn ordinirt wird, auch: ob der Ordinirende für seine Person gut oder böse sey, ob er die Hände oder eine Hand oder keine dem Erwählten auflege, u. a., aber die Ordination selbst ist kein Adiaphoron und unwesentlich Ding. Sie gehört zu der gebotenen göttlichen Ordnung und hat göttlichen und apostolischen Befehl, wie 1537 Dr. Luther gegen den päbstlichen Legaten Vergerius auf die Frage, ob sie auch Priester weiheten? antwortete: quoniam pontifex et episcopi nobis omnem ordinationem denegant, ipsi mandato divino consecramus et ordinamus (Selneccer in oratione de Luthero.)
     Wir wißen, daß wir mit dieser Ordnung den Willen Gottes thun, verdienen aber nichts damit, meinen auch nicht mit dem äußerlichen ritus dabei wunderbare Dinge auszurichten; wir sind Gott nur im Glauben gehorsam, wenn wir diese Ordnung halten, und hoffen, daß er in dieser Ordnung seine Kirche segnen und mit treuen Hirten versorgen will. Mag immerhin das Formular oder die Weise der Ordination in verschiedenen Ländern und Agenden der Kirche verschieden lautend sein und dieß als mitteldingisch betrachtet werden,| so ist sie (die Ordination) selbst noch kein Adiaphoron. Daher steht es in keines Kirchendieners Belieben, ob er sich wolle ordiniren laßen oder nicht.“

 Für diese verschiedene Auffaßung berufen sich beide Theile auf die heilige Schrift. Pag. 89. verlangt P. Grabau von seinen Gegnern den exegetischen Beweis, daß die von beiden Theilen auf die Sache bezogenen Stellen 2. Tim. 2, 2. und Tit. 1, 15. keinen bleibenden Befehl der Apostel enthalten und daß sie nicht von Ordination durch Kirchendiener, sondern bloß von Erwählung durch die Gemeinde handeln. Hiebei verweist er auf 2. Tim. 1, 13. 14. Umgekehrt verlangen die sächsischen Pastoren p. 93. den Beweis, daß in jenen Stellen nicht bloß ein specieller Befehl des Apostels an Timotheus und Titus, sondern ein „allgemeiner Befehl an die ganze Christenheit zu suchen sei,“ Man kann jene beiden Stellen noch durch andere verstärken, aber man wird, so viel man auch herbeizieht, immer nicht von diesem Punkte wegkommen: „Ist, da wirklich kein außerordentlicher Generalbefehl vorhanden ist, aus allen den Stellen, welche Specialbefehle der Ordination enthalten, auf einen Generalbefehl der Apostel zu schließen, oder nicht?“ Die in den meisten Kirchen auf Erden bejahend gegebene Antwort und der noch allgemeinere, selbst in der lutherischen Kirche herrschende Usus können zum Ja geneigt machen. Aber kann man bei mangelndem Generalbefehl wirklich sagen: „Ja, aus den Specialbefehlen resultirt ein Generalbefehl?“ Hier sind wir auf dem eigentlichen Kampfplatz. – Grabau sagt ja, die Missourier nein. Für ihre Antwort berufen sich beide auf kirchliche Auctoritäten. Und in der That fehlt es beiden nicht. Man vergleiche p. 16. f. 61.; 70. 72. 75.

 Beide Theile fühlen im Verlauf des Streits, daß sie auf dem Wege der Zeugnisse zu keinem völligen Siege kommen. Die sächsischen Pastoren versuchen p. 72. 89. und zwar keineswegs unglücklich, nachzuweisen, wie eine von Luther und den ersten Lehrern der Kirche abweichende Ansicht in der Kirche aufkommen und Platz greifen konnte; und die Synode von Freistatt gesteht p. 89, ganz ehrlich, „daß darüber nicht bei allen Lehrern der Kirche eine gleiche Entschiedenheit gefunden wird, deshalb man sich stracks an Gottes Wort halten müße nach Vorgang der Symbole,“ welch letztere sie also mit ihrer, der Grabauischen Ansicht, für ganz vereinbar erkennt.

 Und so ists denn auch wirklich. Die alten Lehrer sind nicht einig, die Symbole haben keine allseitigen, durchweg genügenden Bestimmungen, die Schrift ist in den betreffenden Stellen nicht einmüthig aufgefaßt, – und die Lehre von der Ordination ist eben eine von denen, über welche man innerhalb der lutherischen Kirche je und je verschiedener Ansicht gewesen ist, auf deren einmüthiges Verständnis erst durch Satz und Gegensatz hinzuwirken ist.

|  Luther war in Betreff der Prediger für seine neuentstehenden Gemeinden in großer Verlegenheit. Bischöfe, durch welche die Ordination ferner ertheilt worden wäre, waren nicht vorhanden, und das, was aus seiner völligen Erkenntnis der wesentlichen Gleichheit des Bischofs und Presbyters heraus sich am leichtesten empfohlen hätte, dem Presbyterium die Befugnis der Ordination zuzuschreiben, – übergieng er, mit oder ohne Willen. Eine jedenfalls ungefährliche, hierarchischem Gelüsten nicht einmal im Misbrauch entgegenkommende successio presbyteralis, die ohnehin bis auf seine, wie bis auf unsre Tage factisch bestand, die eine unabweisbare Wahrheit in sich selbst trägt und auch von denen nicht geleugnet werden kann, welche sie bestreiten, – kam ihm nicht ein. Gerade wie wenn er die schriftmäßige Gleichheit der Bischöfe und Presbyter vergeßen hätte, überträgt er alles dem Volke, und der κυρία, der Herrin, die sich nun auf ihm selber nicht völlig unbedenkliche Weise ein neues Presbyterium erwählen, ja ordiniren muß (s. die Schrift an die Böhmen[7], um dem neugewählten Presbyterium dann doch nach seinem eigenen Rathe diejenigen Befugnisse zu übergeben, die andere Presbyter der nächsten Gemeinden für predigerlose Gemeinden so leicht, oder doch ohne unüberwindliche Gefahren hätten ausüben können.
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  Dieselbe Noth, welche Luthern zwang, sich zu helfen, wie ers für möglich hielt, zwang auch andere, ihm beizustimmen. Jedoch ist schon zwischen ihm und seinem σύζυγος ein Unterschied, wie man leicht finden kann, wenn man diejenigen Stellen, welche in den symbolischen Büchern von Melanchthon stammen und über Ordination handeln, mit jenen andern aus Luthers Feder vergleicht. Man vergleiche auch Melanchthons Loci. (ed. 1559. p. 372. ff. Corp. doctr. 1569. Bl. 290. ff.) Schon hieraus ist ersichtlich, daß die herrschende große Noth denn doch von Anfang her nicht alle überwand, das Gute zu übersehen, was in der alten Ordnung lag, und die heilende Gegengabe zu verbergen und zu verschweigen. Wo die Noth nicht so groß war oder wo sie bald beseitigt wurde, findet man oft in sehr frühen Zeiten eine überraschende Anerkennung der Ordination. Es machte sich das Verlangen der nicht bloß theologisirenden, sondern im Amte arbeitenden und seufzenden Diener JEsu geltend, nicht bloß eine göttliche Gewähr des Berufs, eine testificatio vocationis, sondern auch die Gewisheit göttlichen Gnadenbeistandes zu dem Amte zu haben, welches unter allen am meisten aufs Unsichtbare säet und die Mühseligkeit des Lebens oft so sehr zu schmecken bekommt. So wurde denn je länger, je mehr die Amtsgnade, welche schon Gerhard und Balduin etc. bekennen, hervorgehoben und als Ausfluß, wenn auch nicht der Handauflegung,| so doch des Ordinationsgebetes betrachtet. Nicht bloß aus späterer Lehrer, wie z. B. aus des vielverkannten, aber vortrefflichen V. E. Löscher, Munde, sondern auch aus den Zeugnissen früherer Zeiten, z. B. gerade aus Balduins Schriften, ließe sich Beweisendes liefern, wenn es der Raum gestattete.[8]

 Das zwiefach geschiedene Zeugenregister ließe sich aus den zahlreichen Kirchenordnungen der lutherischen Kirche gar wohl vermehren, und wenn man auch in Anbetracht vieler Stellen die Entstehung ihres Wortlauts so erklären kann, daß die Worte ihr Gewicht verlieren, – wenn man Unklarheit und Tautologie (synonym. Gebrauch der Worte „ordnen“ und „bestätigen“) genug finden wird: mit allen Stellen, welche von der Ordination im höhern Tone reden, gelingt ein solcher Erklärungsversuch nicht. Oder was will man denn mit der von Grabau p. 63. angeführten Stelle aus der Nürnberger Kirchenordnung von 1592 machen, wo es heißt: „Es ist also das Predigtamt, das unser HErr selbst angefangen, eingesetzt und verordnet hat, immer von einem auf den andern kommen, durch das Handauflegen der Hände und Mittheilen des heiligen Geistes bis auf diese Stund. Und das ist auch die rechte Weise, damit man die Priester weihen soll und allewege geweihet hat und soll noch also bleiben. – Denn das, was man sonst für andere Ceremonien dabei getrieben hat, die sind ohne Noth von Menschen hinzugesetzt und erfunden worden.“ Hier ist einmal mit deutlichen Worten eine Ansicht ausgesprochen, welche der andern bekannten Auffaßung e diametro widerspricht, – und man wird sich eben doch herbeilaßen müßen, eine doppelte bis auf Luthers Zeit heraufsteigende, dort von Luther und Melanchthon selbst – bewußter oder unbewußter (Melanchthons sacramentum ordinis in der Apologie!) – repräsentirte Ansicht von der Ordination innerhalb der lutherischen Kirche anzunehmen. Möglich, daß von hier aus einmal eine doppelte lutherische Richtung auseinandergeht, eine mehr demokratische und eine mehr hierarchische, wenn man diese Worte im beßern Sinn gebrauchen darf. Noch wohnen sie aber friedlich neben einander, und wenn sich die Geister nicht verbittern und erhitzen, so finden sie vielleicht zusammen die Wahrheit. Mangelt gleich ein Generalbefehl, können sich auch nicht alle gleich leicht aus dem Speciellen das Generelle in diesem Punkte abstrahiren; so liegt doch vor uns eine ungezweifelte apostolische, gewis nicht leere Praxis, die von fast allen Kirchen zu allen Zeiten fest gehalten wurde. Halte man diese fest, und was unklar ist, ob die Ordination allgemein befohlen, also göttlich ist, oder nicht, darüber abzuschließen laße man sich Zeit. Der HErr wird den Redlichen und Aufrichtigen Licht und Frieden nicht versagen, er wird, was auf uns als eine noch nicht abgeschloßene Frage gekommen ist, durch Seinen Geist, der in alle Wahrheit leitet, gnädig lösen.

 Was mich anlangt, so verhehle ichs nicht, daß ich in diesem Punkte auf Grabaus Seite mich neige. Ich will mich hier nicht auf meine Einwendungen| gegen die gewöhnliche, individuell lutherische Auffaßung der Ordination berufen, obwol sie noch mit nichts widerlegt sind. Aber ich sage es einfach: „Mir scheint die Ordination kein Adiaphoron. Im Zusammenhang des ganzen Lebens der ersten Zeit ist der Ordinationsbefehl generell und ganz allgemein zu verstehen, er wurde auch so verstanden. Die symbolischen Stellen sind zusammen zu faßen, nicht vereinzelt zu betrachten, dann klingen sie zusammen – oder sind wenigstens mühelos in meliorem partem und so zu deuten, daß eine zukünftige allgemeinere Erkenntnis von der Schriftmäßigkeit der Ordination mit ihnen nicht in Widerspruch stehen, sondern sich zu ihnen verhalten wird wie das Klare zum Unklaren, wie zum Stand, den man zuvor eingenommen hat, ein Fortschritt.“ – Meines Erachtens bahnt sich auch dieser Fortschritt an mehr als einem Orte an. Herr Professor Delitzsch sagt in seinem schon einmal angeführten Katechismus p. 49. auf Fr. 35. („War die Handauflegung ein bloßes Zeichen der Amtsertheilung?“): „Keineswegs, vielmehr empfingen die, welchen die Hände aufgelegt wurden, für den Zweck ihrer kirchlichen Wirksamkeit den heiligen Geist und den für ihr Amt nöthigen Segen. Ein Sacrament ist die Handauflegung freilich nicht, aber vollzogen in der Kraft apostolischen Glaubens und Lebens ist sie heute noch kräftig, denn das gläubige und ernstliche Gebet, welches den heiligen Geist auf den zu Weihenden herniederfleht, kann auch heute nicht unerhört bleiben. Wie wichtig der apostolischen Kirche die Handauflegung war, als das Zueignungsmittel der zur allgemeinen christlichen und amtlichen Wirksamkeit nöthigen Ausrüstung des Geistes, sieht man daraus, daß die Lehre von den Taufhandlungen und von der Handauflegung (Ebr. 6, 2.) unter die Grundartikel christlicher Lehre gerechnet wurden.“ So, wie Herr Professor Delitzsch werden gewis namentlich unter denen, die im Amte leben, viele denken; seine Worte werden ihnen aus dem Herzen geschrieben sein – Liegt doch selbst in der von den sächsischen Pastoren in Missouri p. 72. der vielerwähnten Actensammlung gegebenen Erklärung der Ordination eine Art Annäherung oder ein Anknüpfungspunkt für weitere Entwickelung. „Die Ordination, sagen sie, ist nichts anders, als publica testificatio vocationis, verbunden mit dem erbetenen und ertheilten Segen des HErrn.“ Man kommt doch immer auf eine mit Erfolg geübte apostolische Praxis. Woher am Ende der Erfolg, der Segen, als von der Verheißung, die, wie in andern Geboten, so auch im Ordinationsbefehle ruht und durch das Ordinationsgebet ergriffen wird?




 Noch eine Lehre Grabau’s ist übrig, welche von den Missouriern bestritten wird, und zwar ebenfalls ganz nach dem Vorgang älterer lutherischer Theologen. Es ist die von Grabau (p. 15. Nr. 3. p. 45. 46.) ausgesprochene, von den Brüdern in Missouri (p. 28. f.) widersprochene von dem Verhältnis des heiligen Amtes zum Sacrament. Grabau legt, gleich den Freunden in Missouri, das größte Gewicht auf die Einsetzungsworte; dennoch behauptet er auch: „Die Kirche hat seit den ältesten Zeiten geglaubt, daß zur rechten Verwaltung der heiligen Sacramente, zur Ertheilung der Absolution nicht allein das Wort der Einsetzung an sich gehöre, sondern auch der rechte göttliche Beruf und Befehl; und| gesetzt auch, die Amtsperson wäre böse, so sind die Worte der Einsetzung doch kräftig wegen des Amtes, zu welchem der HErr sich noch bekennt; denn in dem Amte liegt das Zeugnis Christi, seine einmal gemachte Einsetzung (Absolution und Sacrament) auf Erden fort und fort durch das dabei gebrauchte Wort verwirklichen und darreichen zu wollen.“ – Es wird überflüßig sein, noch hervorzuheben, daß P. Grabau nicht der sittlichen Beschaffenheit der Person, wohl aber ihrer Bekleidung mit dem Amte irgend eine Rücksicht schenkt.
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 Nun könnte man freilich diese Ansicht Grabau’s, welche übrigens nicht bloß von den älteren Kirchengemeinschaften, sondern auch von Calvin und Beza getheilt wird, ohne Weiteres unter die Irrthümer zählen. Es würde auch gar nicht am Vorgang alter Theologen fehlen. Indes ist doch bei der Sache manches zu bedenken. – Daß die Taufe, von Laien verwaltet, giltig und kräftig sei, liegt allerdings klar vor: der das geistliche Priesterthum hat, kann es auch durch die Taufe mittheilen. Wo Wort und Waßer richtig gebraucht ist, ist auch die Taufe richtig. Allein ob man die Taufe, welche Juden oder Heiden verrichten würden, auch, für giltig erkennen würde, wenn sie nur Wort und Sacrament richtig brauchten? Ob nicht der Mangel am Besitz des geistlichen Priesterthums Zweifel an der Giltigkeit und Kraft der Handlung erwecken würde? Ob also das pure Wort und Waßer hinreicht, die Gewisheit der durch die Taufe geschehenen Wiedergeburt zu verschaffen? Ob also nicht doch einige Rücksicht auf die geistliche Befähigung des Täufers durch das geistliche Priesterthum genommen wird?[9] – Aehnlich ists beim Sacrament des Altars. Man hat die Frage aufgeworfen, ob dieß Sacrament, wenn es von solchen gehandelt und gebraucht wird, die im Punkte des Sacraments oder der von ihm berührten Hauptlehren von der Kirche abweichen, auch wirklich Sacrament sei, bloß weil Wort und Element richtig gebraucht werde? Und bekanntlich gab und gibt es hier innerhalb der lutherischen Kirche eine doppelte Antwort, welche nicht zu vereinigen ist. Während die einen die Objectivität des Sacramentes darein setzen, daß unter allen Umständen, wenn nur Wort und Element richtig gebraucht werden, das Wort Christi ein volles Sacrament wirke; – haben andere und unter ihnen Luther selbst, die Antwort dahin gegeben, daß kein Sacrament bei denen sei, die in der Lehre namentlich vom heiligen Abendmahl irren. Also wird doch auch hier von vielen der treuesten Lehrer eine Rücksicht auf die| persönlichen Zustände der Gemeinde, auf Bekenntnis und Lehre genommen. Ist aber das der Fall, wirken persönliche Zustände auf Giltigkeit und Kraft der Sacramente ein, sind sie wenigstens in geringem Theile maßgebend; so könnte möglicher Weise mehr, als gewöhnlich, darauf gedrungen werden müßen, daß das Sacrament des Altars (und die Absolution) von recht berufenen Pastoren verwaltet werde. Denn hier ist ja nicht sacramentum initiationis, daß es jeder geben könnte, der selbst ins geistliche Priesterthum eingeweiht ist; sondern hier ist von dem nährenden und zum ewigen Leben erhaltenden Gnadenwort und Sacrament die Rede, für dessen richtige Verwaltung im Amte eben eine solche Bedingung liegen könnte, wie im geistlichen Priesterthum des Täufers eine Bedingung für die Taufe, d. i. für ihre Kraft und Geltung liegt.

 Wenn es den Hausvätern zu misrathen ist, beim Mangel an Pastoren den Ihrigen selbst das Sacrament zu reichen, so ist auch hier wieder eine Art von Rücksicht auf einen persönlichen Zustand, auf das Amt. Wenn gar nichts auf das Amt ankommt, sondern allein auf Wort und Element zu sehen ist, warum soll denn ein Mensch, welcher das geistliche Priesterthum hat, nicht auch Fug und Macht haben, das heilige Abendmahl zu reichen? Wenn es gleich nur eine Nothtaufe, aber kein Nothabendmahl gibt: warum soll denn die Sehnsucht des einsamen, von seinem Beichtvater und jedem Pastor weitentfernten Christen nicht doch Grundes genug sein, kraft des allgemeinen Priesterthums durch Laienhand ihm das Sacrament reichen zu laßen? In der Schrift an die Böhmen ist Luther ganz consequent. Wer kraft seines allgemeinen Priesterthums lehren und taufen kann, kann auch consecriren: das ist sein Satz. „So das Mehrere uns allen verliehen und gegeben ist, nemlich das Wort Gottes und die Taufe, so mag auch das Mindere nicht abgeschlagen werden, nemlich Consecriren, und wann schon hie der Schrift Autorität gebräche. Wie denn Christus selbst arguirt Matth. 6.: „„Die Seele ist mehr denn der Leib und der Leib mehr denn die Speise.““ Hat nun Gott dieses zugelaßen, wie viel mehr dasjenige.“ – Hier, bei Luther, ist Consequenz. Warum ist ihm die lutherische Kirche nicht nachgefolgt? Doch wohl aus Rücksicht auf den persönlichen Zustand des Amtes, obwol man auch einige andere geringere Gründe anführen könnte, die aber sämmtlich kein völliges Verzichtleisten auf das Sacrament im Zustand des Pastorenmangels begründen.

 Ich sage vorerst nicht, daß das Amt wirklich eine Bedingung für Giltigkeit und Kraft des Sacraments sei. Ich will es dahin gestellt sein laßen. Aber weil die lutherische Praxis mit der gewöhnlichen Theorie nicht stimmt, für den im Amte lebenden Praktiker aber jeden Falls die Ruhe einer sichern Theorie gewonnen werden muß; so scheint mir, bei dem Schweigen der Symbole, auch diese Frage in der Schwebe, in einer solchen zwar, die auf Entscheidung dringt, und ich denke, es wird auch das Beste sein, sie als eine solche zu behandeln. Man wird aber die Sacramentsverwaltung und Absolutionsertheilung jedenfalls in so lange den mit dem Amte Betrauten allein überlaßen müßen, als nicht erwiesen| werden kann, daß das geistliche Priesterthum die Befähigung zu den Werken des Amtes subsumire. Denn Lehre und Taufe in der Noth ist nicht Amtswerk, sondern Nothwerk.




 Ob meine obige Eintheilung der erheblicheren Streitpunkte der Brüder in America diesen meinen Brüdern selbst gefallen wird, weiß ich nicht, fast zweifle ich. Sei dem aber, wie ihm wolle; mehr als an allem liegt mir an der Beantwortung der Frage: ob diejenigen, welche in diesen Punkten differiren, miteinander in Kirchengemeinschaft stehen können, und ob deshalb ein friedliches Nebeneinanderstehen der Fractionen, für die Zukunft eine Sammlung der Seelen zu einerlei Erkenntnis möglich ist oder nicht?

 Nicht der für Nordamerica gefährlichste, aber in sich selbst dem Wesen des Amtes widersprechendste Punkt scheint mir, ich gestehe es, die hierarchische Auslegung der Stelle Ebr. 13, 17. Als ich oben eingehender davon schrieb, lag es mir immer schwer auf dem Herzen, daß ich so wenig Entschuldigung für diese Auslegung und deshalb so wenig begütigende Worte finden konnte. Aber ich konnte nicht. Vor lauter Bemühen, dem Manne, der in zwei Welttheilen um des Glaubens willen so viel gelitten und gethan, recht freundlich und als ein Friedenskind und womöglich Friedensstifter entgegenzukommen, verlor, wie mir wenigstens scheint, mein Wort über Ebr. 13, 17. die überzeugende Schärfe und Kraft. Vielleicht findet Herr P. Grabau selbst zu seinem misverständlichen Wort diejenige Erklärung, welche meine Befürchtung und meinetwegen diese meine Feder zu Schanden macht, indem sie mein Herz erfreut. Vielleicht habe ich misverstanden. Habe ich nicht, so ahne ich hier eine unübersteigliche Kluft und ein traurig Loos der mit P. Grabau verbundenen Gemeinden. Die übrigen Punkte der Differenz sind nicht minder wichtig, aber sie gehören doch alle, wenn man sie nemlich nach Lage der Kirche beurtheilt, mehr zu den dubiis, zu den unfertigen Sachen, obschon ichs wagte, zwischen Irrthümern und schwebenden Fragen meine Grenze zu ziehen. Die lutherische Kirche war dreihundert Jahre lang nicht im Fall, entscheiden zu müßen. An den Staat gebunden, wurden ihr dergleichen Fragen und ihre Erledigung entweder ganz erspart, oder man hatte Anlaß genug, sie so zu entscheiden, wie es für den Zustand der Cäsaropapie paßte. Die landesherrliche Kirchenordnung und landesherrliche Rescripte regelten alles; ernste Discussion kam wenig auf. Auch drückten gar oft Kriege und andere große, allgemeine Uebel nieder, so daß man froh war, wenn man sich in der einmal hergestellten und herkömmlichen Ordnung fortbewegen konnte. Es mußten americanische Verhältnisse kommen, um nur die Fragen, von denen wir hier reden, in ihrer praktischen Wichtigkeit erkennen zu können. So wie sie aber kamen, so regten sich bald alle zusammen. Die Geschichte der nordamericanischen Kirche ist desfalls für alle lutherischen Kirchen denkwürdig und lehrreich. Gegenwärtig ists nun gerade so weit gekommen, daß sich Grabaus kühnere, bei seiner großen Einsamkeit und dem Mangel an Gleichgesinnten ganz natürlich an mancher schroffen Härte leidenden| Lehren – und die dem individuellen Ermeßen Luthers und der Seinen treu nachfolgenden Lehren der „Missourier“ spröde einander gegenüber befinden. Die Kämpfer scheinen unentschloßen, ob man sofort kampflos einander verabschieden oder den Strauß erst recht beginnen soll. Hier liegt nun meines Erachtens das nächste praktische Vorwärts der freiwerdenden lutherischen Kirche.

 Darf ichs wagen, meinen theuern Brüdern mein, ich hoffe, anspruchloses Wort zu sagen? Ich denke, man verabschiede sich nicht, denn wer gehört zusammen, wenn ihr nicht? Man streite auch nicht, denn was geschehen soll, kann ja im Frieden geschehen. Man heilige sich auf jeder Seite, man bekenne gegenseitig die Sünde, die sich an die Füße und Hände hängte, und faße in JEsu den Entschluß, die Wahrheit zu suchen und ihr die Ehre zu geben, auch wenn man dabei erröthen und in Anbetracht früherer Aussprüche retractiren müßte. „Er muß wachsen, ich muß abnehmen“, sei willkommene Loosung.

 Man werde sich vor allem bewußt, daß man in einen Zwiespalt gekommen, der ein Erbe früherer Zeiten ist, welchen zu Ende zu bringen, eine große Gnade des 19. Jahrhunderts sein würde. Erkennt man das, so erkennt man auch die Wichtigkeit der Sache und hat zugleich einen Halt gegen die Leidenschaftlichkeit, die dem armen Sünder im Jammerthal so gerne zustößt.

 Sodann werde man sich klar, daß noch nicht zum Abschluß gekommene Fragen, die drei Jahrhunderte lang von der Kirche unerledigt mit hingetragen und man kann sagen, fast übersehen wurden, die Kirchengemeinschaft derer nicht aufheben, welche sonst mehr als andere Menschen in Bekenntnis und Lehre einig sind. Man reiche sich die Bruderhand und übe die süße Gemeinschaft der heiligen Kirche gerade deswegen um so mehr und treuer, weil man Versuchung hat, sich voneinander zu entfernen.

 So beginne man in Lieb und Frieden, unter Gebet und Flehen eine Prüfung der Streitpunkte vom Standpunkte einfacher Wahrheitsliebe und Sehnsucht nach vollkommener Einigkeit. Man suche im Gedanken des Gegners das Wahre und freue sich gegenseitiger ungeschminkter Anerkennung. So wird man sich halben Weges entgegenkommen, und glücklicher Weise werden die Friedens- und Anschlußpunkte in den bisher gewechselten Schriften nicht fehlen, selbst im Punkte der Ordination.

 Zur Erleichterung studire man die Verhältnisse der Reformationszeit rücksichtlich der Organisation, der Praxis und des Amtes in seiner Praxis. Man löse sich die Fragen, ob Luther im Bau der neuen sichtbaren Kirchengemeinschaft dieselbe oder mehr oder wenigere Größe bewiesen habe, wie im Kampfe um die großen Heilswahrheiten, deren sich seitdem die Kirche freut? Wo seine Schwachheit gewesen? Ob die Verhältnisse zur Verbeßerung der gleich anfangs gemachten Versehen hernachmals günstiger wurden oder nicht? Was am Mangel, welchen| die lutherische Kirche seitdem rücksichtlich äußerer Ausbildung und Einflußes nach außen hin litt, ihre gedrückte Lage, was etwa verkehrte Leitung verschuldete? etc. etc. Vielleicht macht dies Studium allseitiger gerecht. Vielleicht findet man dann auch gutes Gewißen, nicht bloß zu behalten, was wirklicher Gottessegen der Reformation ist, sondern auch, auf der Basis der Reformation vorwärts gehend, manch edlen Baustein beßerer Zeiten wieder einzufügen, nachdem er lang genug von den Bauleuten verachtet oder übersehen wurde. Dabei laße man sich Zeit. In der einen Hand den Stachel, der vorwärts treibt, führe man in der andern fest die Zügel, die den Lauf des Wagens hemmen und regieren. Man versäume nicht persönliches Vernehmen, das zwar sehr oft verunreinigt und falschen Eindrücken Raum gibt, das aber bei wachen Menschen die Gemüther lindert.

 Gewis, es wäre eine Freude unsers HErrn, Seiner Engel und Auserwählten, wenn die, welche nicht, wie wir diesseits des Waßers, erst über die nöthigsten Bedingungen kirchlichen Lebens, d. i. über Lehreinheit und Zucht, zu kämpfen haben, denn darin sind sie einig, sich in dieser oder einer vollkommeneren Weise die Hände böten. Dagegen wäre es ohne Zweifel eine Freude des Teufels, wenn die vorhandene Erbitterung sich nicht legte, wenn ein Theil, um den andern unbekümmert, seine Wege gienge.

 Es ist ja dabei gar nicht nöthig, daß sich alle zu Einer Synode zusammenthun; ist doch die Synode Missouri ohnehin schon zu groß und weit, als daß sie lange noch eine einzige sein könnte. Aber Kirchengemeinschaft, diese Bürgschaft, dies Zeugnis wahrer Einigkeit, sollte sein. Ja, es könnten die Gleichgesinnten sich immerhin zu gemeinsamen Synoden zusammenfinden, was wegen mancher aus den Hauptgrundsätzen entspringenden Verschiedenheit der Amtsführung nicht einmal von Uebel wäre, wenn nur Kirchengemeinschaft und zu deren öffentlicher Darstellung, Bethätigung und Stärkung womöglich eine einheitliche Verwaltung der gemeinsamen Angelegenheiten bestände, Eine Generalsynode, die über allem wachte, worin man durch Gottes Gnade einig ist: und das ist weitaus das Größte und Meiste! Das alles gienge ja wohl bei festgehaltenem Grundsatze, über die Differenzpunkte nicht böslich zu streiten, friedlich in JEsu Schule zu gehen und das Gefundene thetisch und apologetisch den Brüdern vorzulegen.

 Der HErr erhöre das sehnliche Flehen so mancher Freunde in Deutschland, welche für die Brüder in America beten

um Frieden!




 Der HErr helfe aber auch uns im alten deutschen Lande! Auch hier, wie jenseits schlummerten längst im Mutterschooß der Kirche zweierlei Richtungen, die nun vielleicht das Auge öffnen und sich einander gegenüber sehen. Die eine findet vielleicht an den Ergebnissen der Theologie voriger Zeiten, aber nicht an der Lösung der praktischen Fragen, welche überliefert ist, ein Genügen, während umgekehrt die andere, mit dieser zufrieden, das Vorwärts mehr auf jenem Gebiete| erstrebt. – Pfarrer werden gern auf jener Seite stehen. Ach, es ist wahrlich schwer, das Amt zum Segen der Gemeinde zu führen, wenn nicht die Bedingungen einer rechten Pädagogie gegeben und zu den Heilsmitteln die Subsidien des Heils, wie man sie nennt, in rechter Kraft und Macht gekommen sind. Das Wort ist mächtig, es thut alles im Großen und Kleinen, wer weiß, wer erfährt das nicht im Amtsleben alle Tage. Aber das Wort sucht menschliche Canäle und auch hier ist alles menschlich und göttlich zugleich. – Die lutherische Kirche hat Waßer des Lebens genug und Himmelsmanna im Ueberfluß, Spies und Wehr und alles zu Schutz und Trutz: und doch, – warum ist sie nicht in 300 Jahren ein größerer Segen der Welt geworden? Weil sie aus Mangel an Gestalt und Form, an Weg und Steg nicht faßlich, nicht kenntlich, im Großen nicht praktisch genug war. Die edelste Seele ohne Leib ist wohl für die Stadt Zion, aber nicht fürs Jammerthal geschickt. Ein allzugenügsames Genügen am Spirituellen macht einsam, hemmt die Wirkung. – Soll die lutherische Kirche noch etwas Rechtes zum Segen der Welt werden und leisten, so muß sie eine ihrer würdige äußere Erscheinung finden, was ohne ein göttliches, nach allen Seiten hin gerüstetes, allerdings auch innerhalb der göttlichen Schranke, die ihr ein Gurt der Nieren ist, waltendes Presbyterium und ohne Organisation nimmermehr, auch nicht dem Anfang nach geschehen wird. – Wo ist die lutherische Kirche? fragt der Heide, der Sectenangehörige. Was sollen wir auf diese Frage sagen? Weisen wir auf diese Symbole? Symbole sind Loosungen innerhalb des Lagers, zu schwer erkennbar für den, der draußen ist. Auf sie den Fragenden verweisen ist unpädagogisch. Der ernste Forscher, der den Willen mitbringt, eine Kirche kennen zu lernen, lernt sie aus den Symbolen kennen. Er wendet Mühe und Fleiß auf sie. Aber wir wollen ja nicht bloß die Forscher, wir wollen die Einfältigen und die am Markt des Lebens müßig stehen, mit unserer Antwort befriedigen, – und denen dienen wir mit der Verweisung auf Symbole nicht. In unsern Thoren fest und sicher wohnend, fragen wir, wie führen wir die Armen, die Lahmen, die Krüppel herzu? – Wenn das Kind nach der Mutter weint und ihrer Nahrung bedarf, gibt man ihm nicht den Gedanken, nicht das Bild, nicht die Beschreibung der Mutter, nicht eine Darstellung ihres Denkens, Glaubens, Wollens: eine Mutter in lebendiger Leiblichkeit gibt man ihm. So gedeiht es an Leib und Seele. So gedeiht der Heide, der Sectenangehörige, der Irrende zu Geist und Bekenntnis unsrer Kirche, wenn wir ihm eine einheitliche Erscheinung, Eine Repräsentation, dasselbe Presbyterium, dasselbige kenntliche Walten des Presbyteriums, Einen Gottesdienst etc. etc. allenthalben bieten. Die Kirche ist nicht Eins durch äußere Erscheinung, sondern durch innere, durch Lehr- und Bekenntniseinigkeit; aber sie zieht, sie lockt, sie sammelt, sie feßelt, sie hält nicht, wenn nicht dem Menschen, der auf allen Stufen seiner Ausbildung hilfsbedürftig bleibt, durch einheitliche Erscheinung und Anstalt entgegengekommen und Hilfe gegeben wird. Gottes Wort und Sacrament in Mund und Hand einer würdiglich und einheitlich erscheinenden und waltenden Kirche wird den armen Seelen ein lichter Stern, dem sie am leichtesten zum ewigen Leben folgen. So ordne sich allenthalben die lutherische Kirche, die| es ist, und vereinige sich zu einerlei Gestalt. Und wie am Leibe das Aug, das Ohr, der Mund, die edelsten Glieder am geziemenden Platze stehen, so am Körper der Kirche das Presbyterium, das Eine, wahre Episkopat, in apostolischer Einfalt, Kraft und Schöne. An dies schließe sich ohne Laienhochmuth die Schaar der Gläubigen, sei mit ihm Eins, lebe und sterbe mit ihm. Der Segen Gottes ruht auf solcher Eintracht.

 Gott helfe uns hier und Sein guter Geist leite uns zu wahrer Einigung! Ja ER helfe – und wenn bei gutem Willen, bei treuem Halten am alten Standpunkt und bei inniger Sehnsucht nach dem Vorwärts, nach dem sich am Ende alle sehnen, dennoch hie und da gefehlt wird; so vergebe er die Sünde und helfe uns doch.

 Seine Lerchen singen, ehe der Frühling kommt, und singen bis er kommt! Singt eine zu früh und erstarrt vor dem Frühling im Abschiedssturm des Winters; Er hat andere – und gibt am Ende aus Gnaden dennoch den Frühling!

Den wünsche ich allen meinen Brüdern und auch mir!
Amen.





  1. Ich würde mir nicht erlaubt haben, diesen Aufsatz zu schreiben, wenn nicht durch die eben angezeigte Schrift die Sache ohnehin in die Oeffentlichkeit herausgetreten wäre.
  2. „Gesetzt auch, es wäre möglich, die ganzen (? das meinte auch Grabau nicht!) alten KOO. in Eine zu verschmelzen und sie unter uns einzuführen; so wäre der Schade unleugbar größer als der Gewinn, wenn auch nur einigermaßen gelehrt würde, daß sie eine Verbindlichkeit haben, ja wohl gar, daß man auf diese und keine andere Weise die Kirche verwahren und Gott wahrhaft dienen könne und müße. Denn dann träfe uns das strafende Wort des HErrn Matth. 15, 9.: „Vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind.“ Der Weg des Glaubens würde, wie bei den Galatern, wenn auch immerhin gelehrt, doch zu gleicher Zeit auch wieder verkehrt und die christliche Freiheit untergraben, wovor uns Gott in Gnaden verwahren wolle.“ p. 26.
  3. „Wollte Gott, wir hätten alle einerlei gute Ordnung, wie schon Churfürst August von Sachsen 1580 dieselbe in Deutschland durch eine brüderliche Vergleichung aller dortigen Landeskirchen beabsichtigte, welcher Plan aber durch die vielen nachfolgenden kirchlichen und politischen Drangsale verhindert wurde.“ p. 42.
  4. Vgl. Delitzsch „Vom Hause Gottes oder der Kirche“ (Dresden bei J. Naumann 1849.) p. 43. Frage 32. „Durch wen wurden die ersten Presbyter eingesetzt? Antwort: Durch die Apostel oder ihre Bevollmächtigten, wie in Ephesus durch Timotheus und auf der Insel Creta durch Titus. Diese setzten die Presbyter nicht bloß ein, sondern wählten sie auch; doch waren nur diejenigen wählbar, die „„ein gut Gerücht bei den Brüdern““ hatten.“ – Fr. 33. „Wer hatte nach der Apostel Tode die Presbyter einzusetzen? Antw.: Die bestehenden Presbyterien. Wir sehen dies schon daraus, daß selbst der Apostel bei der Amtsweihe des Timotheus das Presbyterium der Stadt (Lystra oder Ephesus) zuzog. Die Gemeinden haben das Recht der Betheiligung bei der Wahl, die Wahlbestätigung aber und Bestallung ist Sache des kirchenamtlichen (keines weltlichen) Regiments.“
  5. Er überläßt es auch ausdrücklich den nach seinen Rathschlägen gewählten Nothbischöfen oder Pastoren, sich einen oder mehrere Oberbischöfe oder Visitatoren zu wählen. „Wenn es sich mit Mitwirkung Gottes dermaßen schicken wird, daß viele Städte auf die Manier ihre Bischöfe wählen werden, nachmals so mögen die Bischöfe, wenn sie wollen, unter ihnen überein kommen, und einen oder mehrere aus ihnen ausschließen und erwählen, die ihre Fürnehmsten und Obersten seien, d. i. ihnen Handreichung beweisen, sie visitiren und heimsuchen, so lang bis das Böhmer Land wieder zu ihrem rechten und evangelischen Erzbisthum kommen und sich kehren möge.“
  6. Hieher Melanchthon’s Loci p. 372. ff., Corpus doctrinae (1569) fol. 290. Baier’s Theologia histor. p. 329.: Haec quidem consuetudo, qua electio ministrorum ecclesiae ad clerum et populum pertinet, duravit in ecc[l]esia etiam post concilium Nicaenum tempore bene longo. Auch Joh. Gerhard sagt, daß kein Stand der Kirche ausgeschloßen sei von der Wahl.
  7. „Fahrt fort in dem Namen des HErrn und erwählet den oder die ihr dann wollet und die von euch würdig und geschickt dazu angesehen werden. Darnach so die (,die) dann Oberste und Fürnehmste in der Gemeinde sind, die Hand über sie gelegt haben, so bestätigens und befehlens dem Volke und der Gemeine, und demnach sollen sie eure Bischöfe, Diener oder Hirten sein, Amen.“ – Impositis super eos manibus illorum, qui potiores inter vos fuerint, confirmetis et commendatis eos populo et ecclesiae etc.
  8. Cf. Delitzsch’s Haus Gottes p. 57. Fr. 52, wo man die ermittelnde Ansicht in schönster Form findet.
  9. Etwas anderes, wenn Ein Mal in langen Zeiten eine Taufe vorkommt, die ein selbst ungetaufter Mensch vollzog, und wenn solche Fälle oft vorkommen würden. Wäre das Letztere, so würde man sich wahrscheinlich besinnen, die objective Antwort zu geben, die wir im Opus novum quaestionum practico-theologicarum (Francos., 1677.) p. 329. qu. X. aus Gerhards Munde finden. Wenn ibid. qu. XII. die Ketzertaufe in dem Fall für ungiltig erachtet wird, daß die ketzerische Lehre das Wesentliche der Taufe aufhebt und das Geheimnis der Dreieinigkeit anficht; so ist nicht zu begreifen, wie ein Ungetaufter, also ein Jude oder Heide giltig taufen könne. – Oder soll den gläubig gewordenen, aber noch ungetauften Juden oder Heiden zu Gunsten für einen kaum vorkommenden Fall eine Ausnahme gestattet werden? – Auch hier ist Unklarheit.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: zahreiche
« II. Unser Streben nach Verbeßerung der Lage Wilhelm Löhe
Unsere kirchliche Lage im protestantischen Bayern
Appendix »
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