Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (11)

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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
11. Vergeßlichkeit und Vergessen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 542-544
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.[1]
11. Vergeßlichkeit und Vergessen.

Wie viel Leid und Aergerniß bringen alle vergessenen Dinge in die Welt! „Ach, wenn es doch keine Vergeßlichkeit gäbe!“ seufzt mehr als eine Hausmutter, wenn sie eben, mit Paketen beladen, aus der Stadt kommt und gerade das Allerwichtigste – das, um dessen willen sie ausgegangen ist – vergessen hat.

„Wenn es doch kein Vergessen gäbe!“ Welch thörichter Wunsch! Wenn uns der Himmel nicht den großen Segen bescheert hätte, vergessen zu können, wie elend wäre unser Dasein! Müßten wir denn nicht alle großen Schmerzen und kleinen Aergernisse unseres ganzen Lebens mit uns fortschleppen bis an’s Grab?

Das „Vergessenkönnen“ ist keine Schwäche; es ist eine der segensvollsten Kräfte unseres Geistes; nur kommt es darauf an, was man vergessen soll. Ich glaube nämlich bestimmt, daß man auch diese Seelenkraft ebenso streng schulen und in seine Gewalt bekommen kann, wie alle übrigen, daß man, bei einiger Selbstbeherrschung, sich stets zwingen kann, das zu vergessen, was man vergessen will. So aber wie jede Tugend zu einem Fehler, wird jede Kraft unserer Seele zur Schwäche, wenn sie falsch benutzt wird. Wie schön ist, beispielsweise, die Tugend des Mitgefühles bei fremdem Leide, und doch kann sie ausarten in weichlich sentimentalen Weltschmerz; wie groß und herrlich steht der echte Wohlthäter der Menschen da, wie lächerlich und erbärmlich Jener, der da „allen Sperlingen Schuhe schaffen“ möchte, und doch entspringt das Thun Beider aus derselben Quelle, aus dem Wunsche, Glück zu verbreiten auf Erden; nur durch die Mittel, welche sie dazu anwenden, unterscheidet sich der wahre Menschenfreund vom lächerlichen Don Quixote.

So geht es mit allen Tugenden und Kräften unserer Seele, so geht’s auch mit dem arg geschmähten Vergessen.

Wir dürfen nicht nur, wir sollen und müssen gar viele Dinge vergessen – aber welche?

Wenn ich darüber nachsinne, so ist mir, als bestünde unser Gedächtnißschrein aus mehreren verschiedenen Fächern. Da giebt es nun Erinnerungen, schöne, traurige oder geheiligte, die soll man ganz tief zu unterst legen, wo sie still und sicher ruhen für ewig, ohne durch den rasch wechselnden Inhalt der obern Fächer gestört zu werden. In diesen obersten Fächern aber, da gilt es, Ordnung zu halten.

Wir haben darin nur einen bestimmt begrenzten Raum und können nur Platz schaffen für das Wichtige, indem wir den alten, unnützen Plunder hinaus werfen.

Ihr schüttelt die Köpfe?

O, probirt es nur, Ordnung zu machen in Kopf und Herzen – dann hat gar wunderbar Vieles Platz in dem kleinen Gehirnkästchen. – Hätte jene Frau, die schwer bepackt aus der Stadt kommt, nicht den ganzen Weg über an das neue Kleid ihrer Nachbarin gedacht und sich dessen Schnitt und Farbe beständig vor das geistige Auge gehalten, hätte sie lieber an das Kleid ihres Kindes gedacht, das sie heute noch zuschneiden will – sicherlich würde sie dann die Zuthat zu demselben einzukaufen nicht vergessen haben und brauchte jetzt nicht, mit tiefen Seufzern über ihre Vergeßlichkeit, umzukehren, um den weiten Weg noch einmal zu machen.

Was wir im Kopfe behalten müssen, ist so gar viel nicht, wenn es ganz allein darin steckt. Für besondere Fälle giebt [543] es dann noch besondere kleine Hülfsmittel. Der Knoten im Taschentuch ist ein unsicheres, denn wenn du nicht glücklicher Weise den Schnupfen hast, so magst du dir nur gleich noch anders wohin einen zweiten Knoten knüpfen, um den ersten nicht zu vergessen.

Ein besseres Mittel schon ist das Zählen der Dinge, die man sich zu merken hat. „Ich habe sechs Gegenstände einzukaufen; ich will dem Arzte drei Fragen vorlegen; vier dringende Briefe sind morgen zu schreiben etc.“ Diese Zahlen merkst du dir leicht. Besonders nützlich ist es, auf Reisen stets so die Zahl der Gepäckstücke im Kopfe zu behalten. Freilich giebt es auch Leute, bei denen Hopfen und Malz verloren ist, Solche, von denen es heißt: „Gut, daß ihm der Kopf fest angewachsen ist, sonst hätte er ihn sicher auch schon einmal vergessen“, Solche, die mit unglücklicher Miene dastehen und fragen: „Hatte ich denn nur drei Pakete? Mir ist doch, als hätte ich vier gezählt.“ Das ist traurig. Wer sich nicht einmal die Zahl der Dinge merken kann, die er sich merken soll, für den bleibt nur noch das letzte Radicalmittel – das Aufschreiben.

Ehe wir aber von diesem reden, müssen wir noch eine Eigenthümlichkeit vergeßlicher und zerstreuter Personen erwähnen. Wenn dieselben sich noch auf den Ort zu besinnen vermögen, wo sie zuletzt an das Vergessene gedacht haben, und sie suchen diesen Ort auf, so fällt es ihnen meistens wieder ein.

„Ich weiß es genau,“ seufzt eine Hausfrau, „ich stand im Garten, unter dem Apfelbaum, als ich daran dachte.“

Gut, dann stelle dich wieder unter den Apfelbaum! Sorge aber auch, daß du die Augen nach derselben Richtung kehrst, wie damals! Da stehst du. Dort drüben über dem Zaune liegt der Nachbarin Wäsche auf der Bleiche. Ein Blick darauf, und sofort fällt dir wieder ein, daß du neuen Seifenvorrath bestellen wolltest.

Und jetzt also vom Aufschreiben und Notiren!

Das ist entschieden das beste Mittel, um nichts zu vergessen, nur leider passirt es dann zuweilen, daß wir gerade – das Notizbuch vergessen. Auch verwöhnt dieses beständige Aufschreiben unser Gedächtniß in einem solchen Grade, daß wir bald gar nicht mehr ohne Notizbuch leben zu können meinen und etwas, das wir nicht aufgeschrieben haben, dann jedesmal ganz sicher vergessen.

Geradezu erstaunlich ist es, welch treues Gedächtniß oft Menschen aus den niederen Volksclassen haben, die nie etwas aufschreiben, aber freilich auch nur einzig an die einfachen Vorgänge ihres geregelten Tagewerkes zu denken haben. Ich bewunderte darin einen Schuhmacher, der drei Personen Maß nahm, ohne sich die zusammen etwa fünfzehn verschiedenen Nummern dieser Maße zu notiren.

„Sie schreiben es aber doch dann zu Hause auf?“ fragte ich.

„Wäre nicht übel!“ meinte er; „habe ich doch die Maße von zwanzig Kunden genau im Kopfe.“

Ein ähnlicher Gedächtnißkasten ist meine alte Gartenfrau. Die weiß es genau zu sagen, auf welchem Beet vor zehn Jahren die Bohnen gestanden haben oder vor fünfzehn die Gurken, und wenn irgend ein Geräth durch lange Jahre nicht benutzt worden ist, braucht man nur die Alte danach zu fragen; sie weiß es gewiß, wo es Anno dazumal aufbewahrt wurde. Sie weiß es, die siebenzigjährige einfache Frau, die nicht ihren Namen schreiben kann und nie ein anderes Buch gelesen hat, als Bibel und Gesangbuch. – Ein Beweis, daß die vielen Gedächtnißübungen, mit denen man die heutige Jugend quält, nur dann das Gedächtniß wirklich kräftigen, wenn damit auch gleichzeitig eine gewisse strenge Schulung und Erziehung dieser Geisteskraft Hand in Hand geht. Wo aber diese fehlt, da werden gerade die gedächtnißstärksten Menschen oft die vergeßlichsten; hundert komische oder drastische Beispiele zerstreuter Gelehrten beweisen es täglich.

Die Beobachtung des außerordentlich klaren und treuen Gedächtnisses Ungebildeter drängt uns aber auch die Frage auf, ob wir es ihnen nicht auf irgend eine Weise nachthun können. Ja, wir können für bestimmte kurze Zeiträume unseren Kopf ebenso klar machen, wie es der des Schusters und der alten Gartenfrau ist, indem wir ihn freiwillig ebenso – leer machen.

Wer jemals die mühevolle und complicirte Pflege eines geliebten Schwerkranken besorgt hat, der versteht vielleicht am besten, wie ich das meine. Es kommen bei solcher Pflege Stunden, ja ganze Tage, wo wir die Kraft haben, aus unserem Gedächtniß so vollständig jeden anderen Gedanken auszulöschen, daß nichts mehr darin bleibt, als nur der fortschreitende Zeiger der Uhr, der uns angiebt, was in jeder einzelnen Minute bei dem Kranken zu geschehen hat. „Auf Ihre Pünktlichkeit kommt jetzt Alles an,“ hat ja der Arzt gesagt. An dieser unserer Pünktlichkeit hängt also das Leben des Heißgeliebten, und wir denken nichts – nichts mehr, als diese rettende Pünktlichkeit. Auf die Minute genau werden alle Vorschriften befolgt, und nicht die geringste Kleinigkeit wird vergessen. Haben wir doch nicht nur unser Denken, nein, selbst unser Fühlen in diesen engen Kreis gebannt! Still und todt ist es geworden in dem zuckenden Herzen; wir haben eine eiserne Mauer um all unser Denken, Fühlen und Erinnern gezogen. Es ist, als sei der Kranke, der dort liegt, für uns nur ein willenloser Körper, dessen Schmerzensausbrüche und Fieberphantasien uns ruhig lassen; keine Ahnung seines möglichen Scheidens darf unsere Seele streifen.

Nur wo dieses Concentriren aller geistigen Fähigkeiten auf die Pflege und Wartung errungen werden kann, wird die Pflege ebenso gut sein, wie die einer geschulten fremden Wärterin. Wenn du dem Theuersten, was du auf Erden hast, nicht fremd zu werden vermagst in der Stunde der Gefahr, dann taugst du nicht an sein Schmerzenslager.

Aber – du kannst es auch; du kannst vergessen, was dieser Kranke dir jemals war und ist, um – nicht die Minute für die vorgeschriebene Arznei zu vergessen, oder die Zahl seiner Pulsschläge oder die Temperatur des Thermometers. So groß, so unumschränkt ist unsere Gewalt über unser Gedächtniß.

Nicht nur im Schmerz, auch in der Freude müssen wir oft die gleiche Herrschaft darüber bewahren. Seht da die Brautmutter am Hochzeitstage der geliebten Tochter! Vergessen muß sie, daß dieses Kind heute für immer von ihr scheidet, vergessen die Träume von Glück, die sich in die Zukunft desselben hinausspinnen, und die Aufregung der jüngsten Vergangenheit, vergessen Alles, was ihr Herz so stürmisch bewegt, um nicht vielleicht darüber – den Hochzeitskuchen in der Ofenröhre zu vergessen.

Ja, unsere Gedanken losreißen von den Gegenständen, die sie mit Macht gefangen halten, und sie mit Schärfe und Klarheit auf tausend Kleinigkeiten richten, das ist das bittere, aber auch einzig wirksame Recept gegen die Vergeßlichkeit bei wichtigen Veranlassungen.

Wie aber bekämpft man diesen bösen Erbfeind im gewöhnlichen Lauf des Alltagslebens?

Da muß das schon oben erwähnte „Ordnung halten“ in unserm Gedächtnißschrein eintreten. Wir können nicht, wie bei großen Ausnahmefällen, Alles hinauswerfen, was darin ist, aber wir können, wie der Volksausdruck ganz richtig sagt, „unsere Gedanken hübsch ordentlich zusammen nehmen“.

Jeder von uns hat die Aufgabe, den größeren oder kleineren Gedächtnißraum, den ihm Mutter Natur bescheert hat, so nützlich und zweckmäßig wie möglich auszufüllen, nicht aber, wie manches Mädchen seine Schubfächer, mit altem Flitterkram und Naschwerk, neben dem die nöthigen Dinge nicht mehr Raum haben.

Da giebt es zum Beispiel Frauen, die sich mit fast grauenhafter Genauigkeit jedes Wort merken, welches sie jemals haben sprechen hören, die dich moralisch niederschmettern können durch Wiederholung einer vor Jahren flüchtig hingeworfenen Bemerkung, welche vielleicht deinen heutigen Ansichten entgegenlautete. – Es giebt wieder Andere, die ebenso genau vom ersten Ball an, den sie besuchten, bis zur zuletzt stattgefundenen Kaffeegesellschaft herzählen können, welche Toiletten die sämmtlichen Theilnehmer dieser Feste getragen haben. Noch Andere haben das gleiche treue Gedächtniß für Speisen und Getränke oder für Handarbeiten. Eine vierte Sorte – und es ist die schlimmste – vergißt nie ein Aergerniß, einen Streit, ein unangenehmes Ereigniß. Ob auch der Sohn solch einer Mutter selbst schon Vater wäre, immer noch zählt sie bis in’s letzte Detail alle seine Kinderkrankheiten auf und weiß genau, wie viel Brauschen er sich als Schuljunge an die Stirn gestoßen hat. So oft sie es aber herzählt, jammert sie darüber ebenso herzbrechend, wie vor dreißig Jahren.

Von allen diesen Frauen kann man fast mit Bestimmtheit annehmen, daß sie – vergeßlich sind. Sie haben ihren Kopf so voll gepfropft mit überflüssigem Ballast, daß kein Platz darin bleibt für die Bedürfnisse des Augenblickes; sie haben ihr Gedächtniß so ermüdet, so abgestumpft durch das beständige Wiederholen alter Ereignisse, daß ihm die Spannkraft verloren gegangen [544] ist für die rasch wechselnden Anforderungen jedes neuen Tages. Sie Alle müssen vergessen lernen, wenn sie die fatale Vergeßlichkeit los werden wollen. Aber nicht nur aus jenen engherzigen, kleinlichen Naturen recrutirt sich das Heer der „Vergeßlichen“. Auch ein edler interessanter Theil unserer Mädchen- und Frauenwelt liefert sein ansehnliches Contingent dazu. Es sind – die Träumerinnen unter uns.

Wie süß und herzerquickend ist ein waches Traumstündchen, wo man Bild um Bild an der Seele vorüberschweben läßt und all seinen Gedanken freie Audienz giebt, wo auch das tiefste, verborgenste Fach der Erinnerung sich aufthut und seine heiligsten Schätze an’s Licht bringt! Wer kennt nicht den Zauber solcher Stunden, wer möchte nicht jedem fühlenden und denkenden Wesen den Genuß derselben gönnen?

Ja, träumt nur, ihr jungen Mädchen und Frauen, träumt nur, ihr gewiegten Matronen, die ihr eine Stunde stiller Einkehr in euch selbst vielleicht noch nöthiger habt! Aber wenn der einsame Spaziergang, der Sonntagsmorgen im stillen Kämmerlein, der Mondabend im duftigen Garten vorüber ist, dann habt auch die Kraft, mit allen euren Gedanken wieder in die Gegenwart zurückzukehren und mit Herz und Verstand bei dem zu sein, was sie von euch fordert!

Die alten lieben Erinnerungen, die goldigen Zukunftsträume dürfen nicht Theil haben an der Zubereitung des Mahles; sie dürfen nicht mit an das Bügelbrett und an die Nähmaschine treten. – Hinab, hinab mit ihnen in’s stille Heiligthum eurer Seelen, oder – verlaßt euch darauf! – die abscheuliche Vergeßlichkeit wird durch das versäumte Vergessen gerächt.

  1. Von der so schnell beliebt gewordenen Verfasserin sind unter dem Titel „Vernünftige Gedanken einer Hausmutter. Prosa und Poesie“ (Leipzig, Ernst Keil) soeben die in unserem Blatte unter dieser Rubrik bereits früher veröffentlichten Aufsätze als Buch erschienen. Diese in der Schule des täglichen Lebens entstandenen, ebenso warmblütigen wie einfachen Aufzeichnungen, welche durch eine Reihe bisher noch ungedruckter gleichartiger Erzeugnisse der Verfasserin eine schätzenswerthe Bereicherung erfahren haben, dürfen bei ihrem inneren Werthe und ihrer sittlichen Gediegenheit wohl einer allgemeinen freundlichen Aufnahme von Seiten der Leser der „Gartenlaube“ gewiß sein, dies um so mehr, als es gerade Stimmen aus diesen Kreisen waren, welche den Wunsch nach einer in Buchform zusammengefaßten Sammlung von C. Michael’s „Vernünftigen Gedanken“ wiederholt dringend aussprachen. Möge das hiermit unseren Lesern dargebotene trefflich ausgestattete Buch (Preis 3 Mark), welches, wie es die Widmung andeutet, die geistige Ausbeute eines vollen Menschenlebens repräsentirt, den deutschen Hausmüttern – denn an diese wendet es sich in erster Reihe – ein bei der ihm innewohnenden Gesundheit und Frische der Lebensansichten stets gern gesehener Freund und Rathgeber werden!
    D. Red.