Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (7)

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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
7. Glückliche Jugend
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 33, S. 548-551
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[548]
Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
Von C. Michael.
7. Glückliche Jugend.

Das Paradies soll ganz und für immer von dieser sündhaften Erde verschwunden sein? Wer das behaupten kann, der hat noch keine Christbescheerung, kein erstes Maienglöckchensuchen, keine bunten Ostereier und keine großen Ferien erlebt.

Das Paradies ist immer noch da, ganz unverdorben, in seiner wunderherrlichen Glückseligkeit, und wir Alle, Alle sind auch mit darin gewesen in jenem Paradiese, das man – die Kinderzeit nennt.

Freilich, wie lange wir darin waren, und wie viel von seinen Herrlichkeiten wir schmecken durften, das hat zumeist von dem guten Willen unserer Eltern abgehangen. Jetzt sind wir selbst Eltern geworden und halten es in unserer Hand, unseren Kleinen den Antheil zuzumessen, den sie am Kindheitsparadiese haben sollen, und da möchte ich doch alle Eltern, die ihre Kinder lieb haben, darum bitten, recht reichlich zu messen.

Das junge Menschenkind ist schon so oft mit einem Bäumchen [549] verglichen worden, das man in „des Garten besten Raum“ gepflanzt hat, damit es „gute Früchte“ trage. Diese Früchte heißen: Menschenliebe, Pflichttreue, klarer, heller Geist, gesunder, kräftiger Körper, ungebeugter Muth in allen Lebenslagen und ein stets zufrieden heiteres Gemüth. All die schönen Früchte aber, die wir so gern an unserem Bäumchen ernten möchten, entstehen nur aus den Blüthen einer treubehüteten, wohlgepflegten und reichbeglückten Kinderzeit. Wie wollt ihr Früchte ernten, wenn ihr die Blüthe vorzeitig abstreift oder giftigen Thau darauf fallen laßt? wenn ihr den Sonnenschein rücksichtslos verdunkelt, in dem allein der junge Baum gedeihen kann? Nicht nur darnach, ob das Kind zweckmäßig ernährt und bekleidet ist und den entsprechenden Unterricht empfängt, habt ihr bei seiner Pflege zu fragen; auch darnach, ob seine kleinen Augen den Abglanz jenes echten Kinderglückes widerspiegeln, das für jedes Menschenleben nur einmal kommt; ob kein trüber Nebel den hellen Glanz verkümmert, in dem ihnen jetzt noch die ganze Welt strahlen muß, wenn diese Welt ihnen nicht später als ein – „Jammerthal“ erscheinen soll. Es ist merkwürdig, wie früh schon Kinderaugen jenen müden, gedrückten Blick annehmen können, der mir tief in die Seele schneidet, wo ich ihm begegne. Und wie herzerquickend ist es, in den klaren Augen eines ehrwürdigen Greises noch im höchsten Alter den Widerschein seiner glücklichen Kindheit leuchten zu sehen, den er sich tief im Herzen bewahrt hat, trotz aller Stürme einer langen Pilgerfahrt!

Mit Namen könnte ich sie euch herzählen, die heiteren alten Herren und freundlichen Matronen, die ihr ganzes Leben lang gleichsam „gezehrt“ haben an dem Segen einer glücklichen Kinderzeit; wo du aber finsterem Pessimismus begegnest, da forsche nur nach – auf dem Boden eines Kinderparadieses ist dieses Kraut sicherlich nicht gewachsen.

Der Schüchterne.

Siesta.

Ende des Spiels.
Aus dem Paradiese der Kindheit. Originalzeichnungen von Gustav J. Schulz in Wien.

Indem ich über die Erklärung jenes einen schönen Kinderglückes nachsinne, das ich allen unseren Kleinen so gern schaffen möchte, fällt mir ein Ausspruch ein, den ich einmal irgendwo gelesen habe und der am treffendsten bezeichnet, was dazu erforderlich ist.

„Ihr habt Viel für eure Kinder gethan,“ heißt es da ungefähr. „Erst habt ihr ihnen eine Amme gehalten, dann eine Bonne, dann Erzieherinnen und Lehrer; jetzt haltet ihr dem Sohne ein Reitpferd und der Tochter einen Logenplatz im Theater, und doch [550] sind eure Kinder nicht glücklich? O, hättet ihr ihnen doch statt alledem einen – Vater und eine Mutter gehalten!“

Ja, seht ihr, darin liegt es: nur ein Vater und eine Mutter können die Schöpfer des Kinderparadieses sein, und ungetrübt wird Kinderglück nur in einem Hause wohnen, wo beide Eltern sich darin vereinigen, dieses Glück stets heilig zu halten. Streng sollen die Kinder erzogen werden, aber auch gerecht. Eine gerechte Strafe schädigt die Heiterkeit des Gemüthes durchaus nicht, ja sie erhöht dieselbe sogar durch die nachfolgende Vergebung. Die Strafe ist ja nur Mittel; Reue und Versöhnung sind der Zweck dabei, das darf man nie aus den Augen lassen. Nicht die Strafe selbst, nein, die halbe Stunde, welche der Strafe folgt, ist das Wichtige für die Erziehung. Und wenn nun der Fehler bereut, wenn aufrichtig Besserung gelobt und Alles wieder vergeben ist, dann leuchtet die Sonne nur um so heller; kein Kind ist zärtlicher gegen die Mutter, als das soeben gestrafte, und nur streng erzogene Kinder können glückliche Kinder sein.

Um aber in diesem Sinne die Kindererziehung durchführen zu können, dazu bedarf es kurz und bestimmt ausgesprochener Anordnungen oder Verbote, deren Mißachtung nie übersehen, sondern stets auf dem Fuße gestraft wird; das beständige Nörgeln und Zanken, wie man es in manchen Häusern hört, ist schon eine der Versündigungen am Kinderparadiese, die man sich nicht gestatten darf.

„Geh’ doch da herunter!“ „Greife das nicht an!“ „Mach’ nicht so viel Lärm!“ „Herr Gott, wie Du wieder aussiehst!“ „Wirf doch nicht Alles herum!“ „Laufe doch nicht ewig aus und ein!“ „Wie setzest Du nur wieder die Beine!“ „Wie hältst Du nur wieder die Hände!“ „Ist das ein Elend mit Dir! Du hörst aber auch gar nicht.“

So geht es in vielen Familien den ganzen lieben Tag, und ein Fremder, der es nur kurze Zeit mit anzuhören gezwungen ist, möchte am liebsten die Ohren zuhalten.

Dann klagt die Mutter: „Ich bin doch gewiß streng genug; ich rede den ganzen Tag, aber es ist nichts anzufangen mit dem Jungen.“ – Der arme Junge aber, der es täglich zwanzigmal hören muß, daß mit ihm „nichts anzufangen“ ist, steht mit verschüchterter Miene daneben, kaut unbeholfen an den Nägeln, und jeder seiner ängstlichen Blicke ist eine stumme Anklage ob des geraubten Kinderglückes.

Nehmt jenen andern pausbackigen Bengel von drei bis vier Jahren dagegen. Seine Mutter sieht ruhig zu, wie er auf fünf Stühle des Zimmers nach der Reihe klettert und wieder herabrutscht, auf den sechsten aber steigt er gewiß nicht, denn der steht vor Vaters Schreibtisch, und nie wird es dem wilden Jungen einfallen, dort nur das kleinste Papierschnitzelchen anzurühren. Das ist ihm nur ein- oder zweimal verboten worden, aber er weiß, so klein er noch ist, daß verbotenes Thun stets unnachsichtlich bestraft wird; der Schreibtisch, der Mutter Nähtisch, auf dem sie ruhig Nadeln und Scheere liegen lassen kann, existirt einfach gar nicht für ihn.

So tobt und jubelt, plaudert und springt er ungehindert den ganzen Tag, und kommt einmal ein Riß in’s Schürzchen, nun, das kann ja wieder zugenäht werden. Beschmutzt er sich Gesicht und Hände – Wasser und Seife sind ja leicht zu haben. Aber wenn die Mutter nur einmal (nicht wie jene andere zehnmal) in festem, ernstem Tone sagt: „Setze Dich jetzt ein Weilchen ruhig hin!“ so thut er das ganz gern und beschäftigt sich eine lange Zeit stillschweigend. Er hat so stundenlang frei und ungehindert die kleinen Glieder bewegen können; da schmeckt zur Abwechselung auch die Ruhe ganz gut.

Auch Gewitter muß es geben am kindlichen Himmel, und die Sonne scheint danach um so heller. Aber außer den Krankheiten sollte die Unzufriedenheit der Eltern bei Ungezogenheiten die einzige dieser Wolken sein. Und wie selten braucht auch diese heraufzuziehen, wo es die Eltern erkannt haben, daß man neun Zehntel der gewöhnlichen Kinderfehler leichter verhüten als ausrotten kann! (Ist’s ja sogar bei den „großen Kindern“ eine Hauptaufgabe, dahin zu zielen, daß weniger Verbrechen verübt werden; es genügt nicht, nur die schon verübten streng zu bestrafen!) Also, außer den Rügen und Strafen für Selbstverschuldetes sollte kein peinlicher Eindruck den Frieden der reinen Kinderseele trüben. Kein Zank und Streit zwischen den Erwachsenen ihrer Umgebung, keine finsteren Launen, kein Besprechen unangenehmer oder wohl gar unpassender Verhältnisse in ihrer Gegenwart.

Es giebt ja doch fast in jedem Hause mindestens zwei bewohnbare Räume. Da schickt man doch lieber die Kinder hinaus, sobald Dinge auf’s Tapet kommen, bei denen sie nichts lernen können oder die sie noch nicht verstehen sollen. Wie früh dieses Verständniß schon zu fürchten ist, beweisen alle die unzähligen Anekdoten von „enfants terribles“, welche in aller Unschuld aufgefangene Worte weiter plaudern. Wenn schon die Kinder niemals Streitigkeiten ihrer Eltern über ihnen gleichgültige Dinge mit anhören sollten, ist es noch viel verderblicher, ja ein wirkliches Verbrechen an den jungen Seelen, sie zu Zeugen der geringsten Meinungsdifferenzen zu machen über Fragen, welche sie selbst betreffen. Da müssen Vater und Mutter vollständig als eine Person in ihren Augen erscheinen. Nie darf die Mutter erlauben, was der Vater verboten hat, nie darf das Kind in die Arme des Einen flüchten, wenn es vom Andern gescholten worden ist. Hier gilt es wieder einmal, wie für eine kluge Mutter so oft, von zwei Uebeln das kleinere zu wählen.

Du glaubst, das Kind hat schon genug gegessen, aber der Vater kann ihm die Bitte um „noch ein Bischen Compot“ nicht abschlagen. Du hast dem Gatten schon einen abmahnenden Blick zugeworfen, und doch legt er noch einen Löffel Kirschen auf den Teller des Kindes. Was nun thun? Laß das Kind ruhig die Kirschen essen! Das Uebel einer kleinen Verdauungsstörung ist geringer, als jenes, wenn dich das Mädchen rufen hört: „So gieb doch dem Kinde kein Obst! Es wird sich den Magen damit verderben.“

Wohl aber wirst du später, allein mit deinem Mann, ihn bitten, dergleichen nicht zu wiederholen. Oder nein, ich denke, es kommt anders. Sobald das Kind aus der Stube ist, hält er dir die Hand hin und sagt lachend:

„Zürne nicht, daß ich schon wieder schwach war gegen die Kleine! Ich hab’ Dir’s wohl angesehen, wie unangenehm es Dir war; es soll auch nicht wieder vorkommen.“

Ob’s wirklich nicht wieder vorkommt?

Nun, die Väter, welche ihren Kindern eine vernünftige Mutter gegeben haben, mögen darüber nachdenken und sie nicht gar zu oft auf solche Proben stellen!

Ich mache noch auf einen Punkt besonders aufmerksam, der von weittragendster Bedeutung ist: Wir Erwachsenen vermögen es nur unvollkommen, uns in die Gefühle eines Kinderherzens zu versetzen, und dürfen dieselben durchaus nicht nach den unserigen bemessen.

Die kindliche Seele genießt das Vorrecht, unangenehme Empfindungen schnell wieder zu vergessen, aber in dem Augenblicke, wo sie davon beherrscht wird, gehen diese Empfindungen ebenso tief, wie bei uns Alten. – Das Mädchen, welches seine schönste Puppe zerbrochen hat, ist ebenso unglücklich darüber, wie die Mutter, der ein Kind starb. Der Knabe, der in der Schule eine nach seiner Meinung unverdient schlechte Censur bekam, fühlt sein Ehrgefühl genau so tief gekränkt, wie sein Vater, der im Avancement übergangen wurde. Der Unterschied besteht nur darin, daß ein Kind in Stunden verschmerzt, was bei uns Wochen und Monate braucht, um niedergekämpft zu werden.

Deshalb ist es eine Grausamkeit, solch kindliches Weh zu verlachen und ihm die Theilnahme, den Trost zu versagen, den es ohne allen Zweifel verdient. Wohl mußt du Selbstbeherrschung verlangen von dem Kinde und es so früh wie möglich daran gewöhnen, seinen Kummer tapfer niederzukämpfen, aber das arme kleine, betrübte Wesen muß wissen, daß du seinen Schmerz anerkennst und für berechtigt hältst. Dieses Bewußtsein ist ihm süßer Balsam und knüpft das heiligste aller Bande, das zwischen Eltern und Kindern, noch fester, als es die reichsten Liebesbeweise vermöchten.

Wen dir der kleine Sohn zitternd und mit heftigem Schluchzen sein todtes Vögelchen bringt, so würdest du sehr Unrecht thun, die Sache etwa gleichgültig zu nehmen oder, wie ich es einen Vater habe thun sehen, die kleine Leiche gar zum Fenster hinaus zu schleudern. Ein Vater, der so handelt, braucht sich dann freilich nicht zu wundern, wenn die Kinder beim Heranwachsen sich nicht mit Vertrauen und Liebe an ihn schmiegen und er ihnen ziemlich fern steht in jenen Tagen, wo es Größeres zu begraben gilt, als eine todten Vogel. Konnte er nicht das Söhnchen liebreich in [551] seine Arme nehmen und etwa sagen: „Das ist ja sehr traurig! Wie thut auch mir das Vögelchen leid! Aber weißt Du, es war alt und krank; da ist es viel besser so für das arme Thierchen. – Wir wollen es in eine schöne Schachtel legen, und Du magst es draußen im Garten begraben.“

Ehe noch die Schachtel ganz mit Erde bedeckt ist, schimmert schon wieder der alte Glanz aus den rothgeweinten Aeuglein – o, du selige, glückliche Kinderzeit! In solcher Weise muß man, wenn man es redlich meint, die Kümmernisse behandeln, die das Kinderparadies bedrohen. Als ich diese Ansicht einmal aussprach, wurde mir eingewendet: „Das Leben bettet aber später unsere Kinder nicht auf Rosen; ist es da nicht thöricht, sie in der Jugend so sehr zu verwöhnen?“

Auch hier, wie überall im Leben, sprechen Thatsachen und Erfahrungen am lautesten. Nun kann ich aber, bei mir selbst anfangend, die ich eine der sonnigsten Stellen im unvergessenen Kinderparadiese bewohnen durfte und gerade dadurch gestählt wurde für die Kämpfe späterer Jahre – bei mir selbst anfangend, kann ich mich umsehen so weit ich will, ich höre fast von allen Menschen, welche schwere Schicksale standhaft zu ertragen wußten, sagen: „Wer hätte gerade diesem Menschen, der nur in Glück und Freude groß gewachsen ist, solche Kraft zugetraut?“

Das Glück und die Freude haben ihm eben die Kraft gegeben, auch weniger gute Stunden heiter zu ertragen. Elterliche Schwäche, Inconsequenz, Unverstand oder Nachlässigkeit in der Erziehung verwöhnen ein Kind und machen es für die Anforderungen des Lebens untauglich, aber Kinderjahre voll Liebe, Lust und Freude, geschützt und geleitet von besonnener treuer Elternhand, haben gewiß noch keinen Menschen verwöhnt.

Wer seine Kinder lieb hat, der gönne ihnen den sonnigen Frühling und suche alle die kleinen Freudenblumen zu pflegen, an denen das Kinderherz so reich ist und die man ihm so leicht verschaffen kann. Alles aber, was dieses Glück trüben oder vorzeitig begraben muß, suche er sorgfältig, mit Selbstverleugnung und Aufopferung zu vermeiden; dann hat er seinen Kindern den Talisman mit in’s Leben hinaus gegeben, den keine menschliche Gewalt und keine Schicksalstücke ihnen jemals rauben kann: ein heiteres Gemüth und ein zufrieden fröhliches Herz.