Vernünftige Gedanken einer Hausmutter (8)

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Autor: C. Michael
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Titel: Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.
8. Die Poesie im Hauskleid
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 856 + 858
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[856]

Vernünftige Gedanken einer Hausmutter.

Von C. Michael.
8. Die Poesie im Hauskleid.

Ein altes wahres Wort sagt: „Es giebt der Dichter gar viele, die niemals einen Vers geschrieben haben.“ – Ja, es giebt dieser unbewußten „Dichter“ gar viele in jedem Lebenskreise; sie reimen nicht, aber sie drücken den Stempel ihres „Dichterthums“ ihrer ganzen Umgebung auf. Das Leben wird anders aufgefaßt, Freud’ und Leid wird ganz anders getragen in einem Hause, wo, nach den Worten Anastasius Grün’s, noch:

„Wallt auf Erden
Die Göttin Poesie“

und wo:

„Mit ihr wandelt fröhlich[WS 1],
Wem sie die Weihe lieh. –“

Trittst du in ein fremdes Haus, so wirst du es schon in der ersten Stunde empfinden, beim ersten Willkommen hören, beim ersten Blicke sehen, ob in diesen Räumen „Einer“ wandelt, dem die Göttin „die Weihe lieh“. – Nicht gleich aber wirst du zu erkennen vermögen, welcher der Hausbewohner der Gottbegnadete ist; dazu bedarf es schon längeren Studiums. Vielleicht ist es der Vater, trotz seines grauen Strubelkopfes und der spießbürgerlichen „Pfeife“, die er raucht; oder es ist die Mutter, die einzig von kleinen Kindern und häuslichen Angelegenheiten zu sprechen weiß – laß dich dadurch nicht irre machen – sie kann es dennoch sein! Ist’s aber keines von den Eltern, dann ist es vielleicht jener Knabe mit den tiefen, glänzenden Augensternen, oder das halb schon zur Jungfrau erblühte Mädchen dort, die unter deinen Blicken die Augen schnell auf die feine Handarbeit senkt – ja, sogar die alte Magd, die dir soeben den Imbiß credenzt, kann jene still verborgene Dichternatur sein, die du im Hause ahnest, aber vergeblich heraus zu finden strebst.

Beim Fortgehen wirfst du vielleicht zufällig einen Blick durch die offen stehende Thür in die Kammer der Magd und bemerkst, wie das Fenster dicht umrahmt ist von wohlgepflegtem Epheu; auf dem Sims steht ein mächtiger Strauß Feldblumen – die „alte Marie“ hat ihn vom letzten Sonntagsausgang mit heim gebracht. Eine schneeweiße Decke ist über den kleinen Tisch am Fenster gebreitet. An der Wand darüber hängt eine alte, verblichene Photographie; ob sie des Mädchens Vater, Bruder, oder den ungetreuen Liebsten vorstellt – gleichviel, der zarte, wunderniedliche Kranz von rothen Steinnelken und blauen Vergißmeinnicht, der das Bild umrahmt, die sorgfältig gehaltenen alten Bücher auf der Commode, die gepreßten Blumen in der aufgeschlagenen Bibel, all das ist – Poesie!

Die alte Magd mit der spiegelblanken breiten Leinwandschürze und dem glattgescheitelten grauen Haar, die seit zwanzig Jahren in gleich stiller Emsigkeit dem Hause dient, ist seine gute Fee; sie ist eine von jenen Dichterinnen, die nie einen Vers geschrieben, ja kaum jemals einen gelesen haben, und doch stammt von ihr die poetische Weihe des Hauses – verlaß dich darauf! –

Auch von außen, von fern her kann jener süße, heilige Zauber der Poesie wirken. Der Sohn, der nur einmal des Jahres „in die Ferien“ kommt, kann binnen dieser sechs Wochen das Elternhaus für’s ganze Jahr mit solchem Zauber weihen; eine ferne Mutter oder Schwester kann es durch ihre Briefe thun, ein lieber Freund durch häufigen Verkehr im Hause. Wo du höhern Gedankenschwung triffst, und ideale Auffassung des Lebens, da forsche nur nach – ein Jünger der Poesie wird nicht fern sein.

Schon oft habe ich darüber nachgesonnen, was Poesie denn eigentlich sei, und konnte keine genügende Definition dafür finden. Ich möchte sagen: „Die Poesie liegt nicht in den Dingen selber, sondern in der Art, wie wir sie ansehen.“ Sowie nach jenem schönen Spruche „dem Reinen Alles rein“, ist dem wahren, echten Poeten Alles poetisch. Er denkt in Bildern und sieht nur lauter abgeschlossene einzelne „Bilder“ um sich her. Was nun in eines dieser Gemälde nicht passen will, das sucht er aus dem Rahmen zu entfernen, oder er rückt den unliebsamen Gegenstand möglichst in den Schatten, bis er sich sein „Bild“ nach seiner Weise zurechtgelegt hat, dann erst beschaut er es befriedigt. Man möchte behaupten: der Poet hat einen Sinn mehr als die übrigen Menschen, und dieser sechste Sinn wird ebenso empfindlich beleidigt durch die Formlosigkeiten des Lebens, wie das Gehör durch einen Mißton, das Auge durch häßliche Farbenzusammenstellung oder der Geschmack durch bittere Speisen. Es ist also nur reiner Egoismus, wenn der Poet mit ängstlicher Hast die Widersprüche des Lebens zu versöhnen, dessen Disharmonien umzustimmen trachtet, wenn er nicht ruht und rastet, bis er auch dem Allergewöhnlichsten eine poetische Seite abgewonnen hat, um es ohne Schmerz oder Widerwillen betrachten zu können. Ist der Poet ein Mann des Wortes, so wird er dieses Streben in dichterischen Schöpfungen verkörpern. Für viele Andere bietet die Umgebung des täglichen Lebens das Material, um sich zu äußern.

Selbstverständlich findet man die meisten für Poesie begeisterten Menschen in den höheren Lebenskreisen, wo der Geist schon früh mit den besten Producten unserer Dichter und Schriftsteller bekannt gemacht, wo feines Gefühl sorgfältig gepflegt und der Mensch zu höheren Zwecken herangebildet und erzogen wird. Da bedarf es nur einer geringen natürlichen Anlage, um diese herrliche Gottesgabe, diesen „sechsten Sinn“ auszubilden. Wir finden ferner die meiste Poesie auch selbstredend im Jugendalter, in den Jahren des Drängens und Stürmens, in der Periode der Ideale und der ersten Liebesregungen. Wer bei guter Erziehung, im Alter von sechszehn bis vierundzwanzig Jahren keinen Vers geschrieben oder für keinen Dichter „geschwärmt“ hat, muß schon fast beschränkten Geistes genannt werden.

[858] Dieses zeitweilige Auflodern schöner Empfindungen aber ist es nicht, was ich meine. Wer die echte Weihe der Göttin empfangen hat, der folgt ihrer Spur mit gleicher Treue nach, bis hinauf in’s höchste Alter, der bleibt ihr unwandelbar ergeben, auch in den drückendsten, erbärmlichsten Lebenslagen, für den giebt es eben absolut keine – Prosa in dieser Welt; er sieht sie nicht, er fühlt sie nicht, oder nur auf Augenblicke; er weiß immer und überall noch ein Blümchen zu finden, und sollte er es unterm Schnee hervorgraben; er sieht einen Stern leuchten selbst in der dunkelsten Nacht, und durch diese herrliche Gottesgabe gestärkt, geht er mit unverwüstlich heiterem Muthe durch’s Leben.

Vor uns liegt ein altes Notizbuch aus der Jugendzeit; darin steht ein Auszug, mit dem Namen „W. Nade“ gezeichnet, der solch eine Natur schildert:

„Ja, quäle Dich einmal bei Tag und Nacht,“ heißt es da; „ängstige Dich unaufhörlich, schau mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit, mit heißem Kummer in die Augen, die Dir lieb sind, und empfange nichts dafür als gleichgültige Worte, mißmuthige Reden, launischen, hastigen Tadel um Nichts, oder vielmehr – für Deine Güte und Liebe; lächle mit den Lippen und weine in Kopf und Herzen heimlich die bittersten Thränen – und habe das alles und siege dennoch! Geh’ aus dem Kampfe hervor und sage, er sei Dir leicht geworden! O ja, ich weiß es wohl, daß es Menschen giebt, deren Sinn so einzig hoch und klar ist, daß sie über alles Erdenleid gleichsam nur lächelnd hinweg schweben. In alten Sagen erzählt man sich von einem wunderbaren blauen Vogel, der von Zeit zu Zeit des Nordens Wälder besuchen und mit zauberhaftem Gesang erfüllen soll. So selten wie jener Vogel ist solch ein Gemüth, und wo es erscheint, da starrt man es verdummt an und begreift es nimmer, und nennt die Elasticität des Geistes – Leichtsinn. Ich hatte etwas an mir von solch einem blauen Vogel, aber Leichtsinn war es nicht.“[WS 2]

Ja sicherlich, Leichtsinn ist es nicht, wenn eine Mutter am Bettchen des todtkranken Kindes liebliche Märchen erzählt, daß unter dem sanften Klang ihrer Worte das dunkle Krankenzimmer zum hohen Königsschlosse wird, oder zum rauschenden Eichenwald – Leichtsinn ist es nicht, wenn sie bei allem Herzeleid ein lustig Liedlein singt, leiser und immer leiser, bis die müden brennenden Augen des Kindes sich langsam schließen, während noch ein halbes Lächeln auf den zuckenden Lippen liegt.

„Wie kannst Du erzählen und singen, armes Weib, als wäre rings um Dich nur Glück und Sonnenschein?“ möchte man da fragen.

Und wenige Wochen später, da ist’s Ostern geworden, und die Brüder des kleinen Mädchens, welches genesen, mit glücklichem Ausdruck in dem noch etwas bleichen Gesichtchen, auf der Mutter Schooß harrend am Fenster sitzt, können jeden Augenblick „in die Ferien“ eintreffen.

Mitten in der Stube steht ein weißgedeckter Tisch, darauf liegt für den ältesten der heimkehrenden Schüler ein neuer schwarzer Anzug und ein Gesangbuch, auf dessen erster Seite die Mutter die Nummern ihrer Lieblingslieder verzeichnet hat, daneben die alte silberne Uhr, das Andenken an den verstorbenen Gatten, das sie so treu gehütet hat bis zu dieser Stunde. Frische Blumen zieren die mit so viel Liebe aufgebaute Bescheerung für den Confirmanden. Damit aber sein jüngerer Bruder nicht zu kurz kommt, hat für ihn am anderen Ende des Tisches ein schon längst ersehntes Lesebuch und ein neuer Strohhut Platz gefunden.

Der Tisch am Fenster ist schon gedeckt zum Abendbrod. Auf den Tellern der Söhne prangen bunte Serviettenbänder, die klein Lisbeth unter der Mutter Anleitung in großen Stichen ausgenäht hat, und unter der Gabe des Schwesterchens verborgen, ruht das willkommene Geldgeschenk des fernen Pathen. Nicht gleich soll es der Bruder finden, es muß noch eine Ueberraschung dabei geben. Draußen in der Küche stehen in verdeckter Schüssel die bunten Eier, die „Mutter“ noch spät am Abend draußen im Gärtchen verstecken wird, und welche die Kinder dann früh am Ostermorgen suchen sollen.

„Horch, Lisbeth!“ – wieder ein Schritt auf dem Pflaster. „Ach, sie sind’s noch immer nicht!“ Es ist nur die Nachbarin, die einen kurzen Besuch machen will. Erstaunt sieht sie die Vorbereitungen im Wohnzimmer und ruft lachend:

„Nun, das sollte mir doch nicht beikommen, so viel Umstände um eine Confirmation! Meine Grethe wird auch mit eingesegnet, die hat ihr Pathengeschenk schon vorige Woche bekommen. Aber um ihr Kleid sorge ich mich recht; die Schneiderin hat es noch immer nicht fertig. Ach, was das für ein Elend ist mit so viel Kindern, und der Trubel, das Lärmen, wenn sie alle zu Hause sind! Ich danke meinem Schöpfer allemal, wenn die Ferienzeit erst wieder vorüber ist.“

Die so spricht, ist eine recht brave, tüchtige Hausfrau; sie hat auch ihre Kinder so lieb wie die Freundin die ihrigen, aber wenn eines krank ist, dann geht sie den ganzen Tag mit verweinten Augen herum und hört nicht auf, die Hände zu ringen und laut zu jammern. Es ist eine brave – eine gute, rechtschaffene Frau, aber vom „sechsten Sinne“ hat sie keine Spur geerbt, wie die harrende Mutter, welche nicht anders kann, als um Leid wie Freude den versöhnenden und verklärenden Schimmer der Poesie zu weben.

Während Solches daheim vor sich geht, nähern sich die erwarteten Söhne auf ihrer Wanderung immer mehr der Heimath. Jetzt ist die letzte Anhöhe erreicht, und weit unten in der Ebene sieht man, inmitten hoher Obstbäume, das heimathliche Dorf liegen. Der Himmel ist von schweren Wolken bedeckt, die ein heftiger Aprilwind hin und her peitscht. Jetzt theilen sie sich und grell schießt ein Sonnenblick herab zur Erde.

„Bruder, sieh nur, sieh!“ ruft der Aeltere.

„Was denn?“ fragt ruhig der Jüngere. „Die Wolken ziehen vorüber, wir kommen schon noch ohne Regen bis nach Hause.“

„Aber siehst Du denn nicht das wundervolle Bild?“ fragt sein Bruder erregt. „Sieh nur hinab: Alles dunkel rings um uns her, und nur das liebe Vaterhaus allein in hellstem Sonnenglanze! – So soll es sein, so soll es bleiben,“ fährt der Jüngling dann träumerisch fort, „mag auch die ganze Welt umwölkt und dunkel sein, nur für dieses Haus spare mir stets einen Sonnenstrahl auf, barmherziger Himmel – dann will ich zufrieden sein.“

So verschieden sehen verschiedene Naturen das gleiche Bild! Dieser ältere Sohn, was ist er anders, als ein Poet?

Immer bleibt es vor Allem Frauenaufgabe, die Poesie im Hauskleid zu hegen und zu pflegen nach besten Kräften. Dem Manne kann wohl draußen im Kampf mit so viel Widerwärtigkeiten der Sinn dafür verkümmern, aber die Frau muß, wenn ihr anders die poetische Anlage nicht ganz versagt ist, gleich der Vestalin des Alterthums, die göttliche Flamme hüten. Oft – ich will es gern zugeben – glimmt sie nur noch schwach unter den Schlacken von Müh und Sorgen, von Kummer und Aerger, aber es kommen schon auch wieder Tage, die ihr neue Nahrung bringen; es streicht schon auch wieder ein frischer Luftzug durch’s Haus, der sie zu heller Flamme anfacht, wenn nur treu und unermüdlich die glimmenden Funken gehütet wurden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: fröhlich; im zitierten Gedicht „Der letzte Dichter“ von Anastasius Grün lautet es jubelnd.
  2. zitiert aus Aus den Memoiren eines Vagabunden von Edmund Hoefer, 1867