Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern/Abschnitt I

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Definitionen Versuch einer Theorie der electrischen und optischen Erscheinungen in bewegten Körpern (1895)
von Hendrik Antoon Lorentz
Abschnitt II
[14]
ABSCHNITT I.
DIE GRUNDGLEICHUNGEN FÜR EIN SYSTEM IN DEN AETHER EINGELAGERTER IONEN.

Die Gleichungen für den Aether.


§ 5. Bei der Aufstellung der Bewegungsgleichungen werden wir alle Grössen in electromagnetischem Maass ausdrücken und vorläufig ein Coordinatensystem zu Grunde legen, das im Aether ruht. Nach Maxwell kann nun in diesem Medium zweierlei Abweichung vom Gleichgewichtszustande bestehen. Die Abweichung der ersten Art, welche u. A. in der Nähe jedes geladenen Körpers angetroffen wird, nennen wir die dielectrische Verschiebung; sie ist eine Vectorgrösse und möge die Bezeichnung [1] erhalten. Sie ist im „reinen“ Aether, also in den Räumen zwischen den Ionen, solenoidal vertheilt, d. h. es ist daselbst

(3)

Wir wollen nun voraussetzen, dass sich auch in dem von einem Ion eingenommenen Raum der Aether befinde und dass auch dort eine dielectrische Verschiebung stattfinden könne, dass also die von einem Ion hervorgerufene dielectrische Verschiebung sich über das Innere der übrigen Ionen erstrecke.

Die Ladung eines Ions werden wir als über einen gewissen Raum vertheilt ansehen; die räumliche Dichtigkeit möge heissen, und wir wollen annehmen, dass diese Function beim Uebergang aus dem Inneren eines Theilchens in den reinen Aether stetig [15] in 0 übergehe. In dieser Voraussetzung, die uns den Vortheil bietet, dass keine Discontinuitäten zu berücksichtigen sind, liegt indess keine wesentliche Einschränkung. Es lassen sich ja die Vertheilung einer Ladung über eine Fläche und eine Discontinuität von als Grenzfälle behandeln von Zuständen, bei welchen jene Voraussetzung zutrifft.

In den zu betrachtenden Fällen ist nur im Inneren einer sehr grossen Anzahl von kleinen und gänzlich von einander getrennten Räumen von Null verschieden. Wir können jedoch mit dem allgemeineren Falle anfangen, dass in beliebig grossen Räumen eine electrische Dichtigkeit besteht. Da wir uns die electrischen Ladungen immer an ponderable Materie gebunden denken, so würde das einer continuirlichen Vertheilung dieser Materie entsprechen.

Ponderable Materie, welche nicht geladen ist, kommt für uns nur insofern in Betracht, als sie auf die Ionen Molecularkräfte ausübt. Was die electrischen Erscheinungen betrifft, so hat sie gar keinen Einfluss und geschieht alles so, als ob der von ihr eingenommene Raum nur den Aether enthielte.

Wo von Null verschieden ist, gilt nicht mehr die Gleichung (3). Nach einem bekannten Satze aus Maxwell’s Theorie ist für jede geschlossene Fläche , wenn die gesammte Ladung im Inneren darstellt,

oder

sodass überall

(I)

sein muss.

Bewegt sich die ponderable Materie, so besteht — da sie die Ladung mit sich fortführt — an einem bestimmten Punkte des Raumes jedesmal wieder ein anderes , und ist, wenn man es mit von einander getrennten Ionen zu thun hat, die Dichtigkeit bald hier, bald dort von Null verschieden. Fortwährend hat sich aber der Zustand des Aethers der Gleichung (I) zu fügen.

§ 6. Die Aenderung von , welche mit der Zeit an einem [16] bestimmten Punkt des Raumes stattfindet, constituirt einen electrischen Strom, den Maxwell’schen Verschiebungsstrom, der sich durch darstellen lässt. Wir nehmen an, dass derselbe auch im Inneren der geladenen Materie bestehe. Ausserdem aber findet man dort einen Convectionsstrom . Diesen betrachte ich, wenn die Geschwindigkeit der ponderablen Materie ist, als in Grösse und Richtung durch

gegeben, und setze für den Gesammtstrom

(4)

In der geladenen Materie soll sich nur continuirlich von Punkt zu Punkt ändern[2]. Ausserdem soll während der Bewegung die Ladung jedes Massenelementes unverändert bleiben. Es muss also constant sein, wenn das — vielleicht veränderliche — Volumen des Elementes ist.

Aus dieser Voraussetzung leitet man für den Gesammtstrom die Eigenschaft der solenoidalen Vertheilung ab, welche ausgedrückt wird durch

(5)

§ 7. Die zweite Abweichung vom Gleichgewichtszustande des Aethers wird durch die magnetische Kraft bestimmt. Dieselbe hängt von der augenblicklichen Stromvertheilung ab und genügt den Bedingungen

(II)
(III)

deren Gültigkeit wir auch für das Innere der ponderablen Materie voraussetzen[3].

Endlich nehmen wir noch, sowohl für das Innere der Ionen[4] als auch für die Zwischenräume, die Beziehung an, durch welche in der Maxwell’schen Theorie die dielectrische Verschiebung [17] mit der zeitlichen Aenderung der magnetischen Kraft verknüpft ist. Diese Relation lautet

(IV)

wenn man mit das Verhältniss der electromagnetischen und electrostatischen Electricitätseinheiten, oder die Lichtgeschwindigkeit im Aether, bezeichnet.

Wir haben jetzt sämmtliche Gleichungen für den Aether niedergeschrieben. Sind und für überall gegeben, kennt man für alle späteren Augenblicke die Bewegung der geladenen Materie und fügt man noch die Bedingung hinzu, dass in unendlicher Entfernung und verschwinden, so sind diese Vectoren eindeutig bestimmt.

Wo ist , gehen die Gleichungen in die Formeln für den reinen Aether über, aus welchen sich bekanntlich ergibt, dass die durch und dargestellten Veränderungen sich mit der Geschwindigkeit des Lichtes ausbreiten.

Da die Gleichungen linear sind, so lassen sich verschiedene Losungen durch Addition zu einer allgemeineren zusammensetzen. Es sei z. B. die Bewegung von Ionen gegeben, und es seien Werthsysteme von und gefunden, welche den Zustand des Aethers bestimmen für den Fall, dass nur je eines der Ionen besteht und die übrigen weggelassen sind. Man erhält dann durch Superposition einen Zustand des Aethers, der mit den Bewegungen sämmtlicher Ionen verträglich ist. In diesem Sinne dürfen wir sagen, dass jedes Ion den Zustand des Aethers gerade so beeinflusse, als ob die anderen nicht vorhanden wären.

§ 8. Ist die ponderable Materie in Ruhe und unabhängig von der Zeit, so verschwinden und , während bestimmt wird durch

(I)

und

Diese letzte Gleichung besagt, dass als die partiellen Differentialquotienten einer einzigen Function, welche wir nennen wollen, betrachtet werden können. Wir setzen also [18]

(6)

und leiten aus (I) ab

(7)

Nachdem man hieraus bestimmt hat, lassen sich aus (6) berechnen.




Der erste Theil der auf die ponderable Materie wirkenden Kraft.


§ 9. Nach der älteren Electrostatik, deren Schlussfolgerungen mit der Erfahrung übereinstimmen, erhält man die Componenten der Kraft, welche in dem zuletzt betrachteten Fall auf ein Volumelement wirkt, wenn man zunächst mittelst der Poisson’schen Gleichung die „Potentialfunction“ bestimmt und dann die Abgeleiteten derselben mit multiplicirt.[5]. Da nun unsere Formel (7) mit der Poisson’schen Gleichung übereinstimmt, muss die Potentialfunction mit zusammenfallen; wir haben demnach als Werthe der Kraftcomponenten anzunehmen

(8)

Soll nun, wie die Maxwell’sche Theorie behauptet, die Kraft durch den Zustand des Aethers hervorgerufen werden, so ist es wahrscheinlich, dass sie von der dielectrischen Verschiebung in dem betrachteten Volumelemente abhängt. In der That lässt sich, wenn man (6) berücksichtigt, für (8) schreiben

Demgemäss werde ich annehmen, dass in allen Fällen, wo in dem Elemente eine dielectrische Verschiebung besteht, der Aether auf die daselbst befindliche ponderable Materie eine Kraft mit den genannten Componenten ausübe, eine Kraft[6] also, [19] welche sich für die Einheit der Ladung darstellen lässt durch

§ 10. Es seien zwei ruhende Ionen mit den Ladungen und gegeben, deren Dimensionen sehr klein sind im Verhältniss zu der Entfernung . Um die Kraft zu finden, welche auf das erstere wirkt, hat man es in Raumelemente zu zerlegen, auf jedes derselben obigen Satz anzuwenden und dann zu integriren. Dabei darf man betrachten als zusammengesetzt aus den dielectrischen Verschiebungen, welche von dem ersten und dem zweiten Theilchen herrühren. Man findet leicht, dass der erste Theil von nichts zu der Gesammtkraft beiträgt. Der zweite Theil hat innerhalb des ersten Ions überall die Richtung von und die Grösse ; mithin wird von abgestossen mit einer Kraft

Da dies mit dem Coulomb’schen Gesetze übereinstimmt, so ist klar, dass die Ionentheorie, was die gewöhnlichen Probleme der Electrostatik betrifft, auf die frühere Behandlungsweise zurückführt.




Electrische Ströme in ponderablen Leitern.


§ 11. In einem ponderablen Leiter, der von einem Strom durchflossen wird, und in dem sich also nach unserer Auffassung unzählige Ionen bewegen, ändern sich , und in unregelmässiger Weise von Punkt zu Punkt. Aus den Gleichungen (II) und (III) folgt aber

da nun in messbarer Entfernung vom Leiter mit zusammenfällt, so wird die Wirkung nach aussen nur durch den mittleren Strom bestimmt. Dieser ist es, von welchem in der gewöhnlichen Theorie, die von den molecularen Vorgängen Abstand nimmt, die Rede ist.

[20] Der Gleichung (4) zufolge hat man

Ist nun der Strömungszustand stationär, so sind die der Beobachtung zugänglichen Grössen, also auch alle Mittelwerthe, unabhängig von der Zeit. Es wird dann

d. h. nur die Convectionsströme bedingen die Wirkung nach aussen.

Nach der § 4 gegebenen Definition sind die Componenten von

oder, wenn nur in den Ionen von Null verschieden ist, und jedes Ion sich ohne Rotation verschiebt,

wo die Ladung eines Ions ist, und die Summe sich auf alle in der Kugel enthaltene geladene Theilchen bezieht. Man sieht leicht, dass das Resultat sich in die Formel

zusammenfassen lässt, und dass diese auch gültig bleibt, wenn mau unter nicht gerade eine Kugel versteht, sondern einen beliebigen Raum, dessen Dimensionen, obgleich sehr klein, dennoch viel grösser sind als der mittlere Abstand der Ionen. Natürlich muss sich dann auch die Summe über den gewählten Raum erstrecken.

Besteht in einem Leitungsdrahte mit dem Querschnitte ein Strom, so können wir für den zwischen zwei um [7] von einander entfernten Querschnitten befindlichen Theil nehmen. Da nun die Stromstärke bestimmt wird durch

und , so erhalten wir

[21]

wo als ein Vector in der Richtung des Stromes zu betrachten ist.




Der zweite Theil der auf die ponderable Materie wirkenden Kraft.


§ 12. Ein Stromelement wie das soeben betrachtete befinde sich in einem durch äussere Ursachen hervorgebrachten magnetischen Felde. Nach einem bekannten Gesetze erleidet es eine electrodynamische Kraft

wofür wir jetzt auch schreiben können

oder

Diese Wirkung resultirt nach unserer Auffassung aus all den Kräften, welche durch den Aether auf die Ionen des Stromelementes ausgeübt werden. Es liegt also nahe, für die auf ein einzelnes Ion wirkende Kraft anzunehmen

eine Hypothese, welche wir noch dahin erweitern wollen, dass wir ganz allgemein eine auf die ponderable Materie des Volumelementes wirkende Kraft

voraussetzen. Für die Einheit der Ladung wäre das

[8].

Indem wir diesen Vector mit dem früher (§ 9) betrachteten zusammensetzen, erhalten wir für die ganze, auf die Einheit der Ladung ausgeübte Kraft, wir wollen sagen, für die electrische Kraft,

(V)

[22] Wir unterlassen es, das hierin ausgesprochene Gesetz in Worten auszudrücken. Indem wir dasselbe zu einem allgemeinen Grundgesetz erheben, haben wir das System der Bewegungsgleichungen (I)—(V) vervollständigt, da die electrische Kraft, in Verbindung mit etwaigen anderen Kräften, die Bewegung der Ionen bestimmt.

Was diese letztere betrifft, so wollen wir noch die Voraussetzung einführen, dass die Ionen niemals rotiren[9].




Die Erhaltung der Energie.


§ 13. Um unsere Hypothesen zu rechtfertigen, ist es nothwendig, die Uebereinstimmung derselben mit dem Energiegesetze nachzuweisen. Wir betrachten ein beliebiges System Ionen enthaltender, ponderabler Körper, um welches sich ringsherum bis auf unendliche Entfernung hin, nur der Aether befindet, und legen um dasselbe eine beliebige geschlossene Fläche . Während eines Zeitelementes ist nun die Arbeit der aus entspringenden, die ponderable Materie afficirenden Kräfte

wobei zu bemerken ist, dass die aus abzuleitenden Kräfte keine Arbeit leisten, da sie immer senkrecht zur Bewegungsrichtung stehen. Ist weiter die Arbeit der sonst noch auf die Materie wirkenden Kräfte, und die gewöhnliche mechanische Energie dieser Materie, so ist

(9)

Das Integral bezieht sich auf den mit ponderabler Materie erfüllten Raum; wir können es sich aber ebenso gut über den ganzen von eingeschlossenen Raum erstrecken lassen. Alle weiteren Raumintegrale in diesem § sind in letzterem Sinne aufzufassen.

[23] Man ersetze in (9), nach (4) und (III),

durch

(10)

und forme die Theile des Integrals, welche Differentialquotienten von enthalten, durch partielle Integration um.

Unter Berücksichtigung der Gleichung (IV) wird man finden

(11)

wo

(12)

ist.

Zunächst soll jetzt angenommen werden, dass die electrischen Bewegungen auf einen gewissen endlichen Raum beschränkt seien, und dass die Fläche gänzlich ausserhalb dieses Raumes liege. Es wird dann an der Fläche , und

Somit besteht wirklich eine Grösse , deren Zuwachs der Arbeit der äusseren Kräfte gleich ist, und welcher demnach die Bezeichnung „Energie“ zukommt. Sie setzt sich zusammen aus der gewöhnlichen mechanischen Energie und der „electrischen“ Energie , für welche letztere wir den von Maxwell angegebenen Werth wiederfinden.




Der Poynting’sche Satz.


§ 14. Auch wenn wir die zuletzt über gemachte Voraussetzung fallen lassen, gestattet die Formel (11) eine einfache Deutung. Mit Maxwell nehmen wir nicht nur an, dass die electrische Energie den Werth (12) habe, sondern auch, dass sie wirklich über den Raum vertheilt sei, wie die Formel es ausdrückt, d. h. dass sie für die Volumeinheit

betrage.

[24] In der Gleichung (11) bedeutet dann die gesammte Energie innerhalb der Fläche , und es liegt also die Auffassung nahe, dass eine Quantität Energie

durch die Fläche hin nach aussen gewandert sei. Am einfachsten ist es, für den auf die Zeit- und Flächeneinheit bezogenen „Energiestrom“ zu setzen

(13)

In dieser Weise gelangen wir zu dem bekannten, zuerst von Hrn. Poynting ausgesprochenen Theorem. Auf die subtile, mit demselben zusammenhängende Frage nach der Localisirung der Energie soll hier nicht eingegangen werden. Wir können uns damit begnügen, dass die gesammte, in einem beliebigen Raum befindliche Energie — der „electrische“ Antheil nach der Formel (12) berechnet — sich immer so ändert, als ob die Energie in der durch (13) bestimmten Weise wandere.




Spannungen im Aether.


§ 15. Die durch unsere Formel (V) bestimmten Kräfte bedingen nicht nur die Bewegung der Ionen in den ponderablen Körpern, sondern können sich unter Umständen auch zu einer Wirkung vereinigen, welche die Körper selbst in Bewegung zu setzen strebt. In dieser Weise entstehen alle „ponderomotorischen“ Kräfte, also z. B. die gewöhnlichen electrostatischen und electrodynamischen, sowie auch der Druck, den Lichtstrahlen auf einen Körper ausüben.

Wir wollen den Körper als starr betrachten und durch einfache Addition aller Kräfte, welche der Aether in der Richtung der -Axe auf die Ionen ausübt, die gesammte Kraft in dieser Richtung berechnen. Diese Untersuchung soll sich an das zu Anfang des § 13 Gesagte anschliessen.

Man erhält sofort

[25] wo die Integrale sich nur über den ponderablen Körper zu erstrecken brauchen, aber wie im § 13 für den ganzen, von umschlossenen Raum genommen werden sollen.

Zunächst wird nun, indem man , u. s. w. durch die Ausdrücke (10), und, auf Grund von (I), durch

ersetzt,

(14)

Weiter ergibt eine partielle Integration und Anwendung von (IV) und (II), wenn man die Richtungsconstanten der Normale zu mit bezeichnet,

Substituirt man diese Werthe in (14), so ergeben sich mehrere Glieder, die sich vollständig integriren lassen, und es wird schliesslich nach leichter Umformung [26]

(15)

Zwei ähnliche Gleichungen dienen zur Bestimmung der anderen Componenten und der ponderomotorischen Wirkung.

Nebenbei ist zu bemerken, dass , und verschwinden müssen, sobald der Raum keine ponderable Materie enthält. Dann wäre also

(16)

§ 16. In einigen Fällen wird das in (15) übriggebliebene Raumintegral unabhängig von , und fällt das letzte Glied fort, nämlich sobald man es mit einem stationären Zustande, sei es mit einer electrischen Ladung, sei es mit einem System constanter Strome, zu thun hat. Es lässt sich dann, wenigstens was die resultirende Kraft betrifft, die ponderomotorische Wirkung durch Integration über eine beliebige , den Körper einschliessende Fläche berechnen, und es liegt nahe, dieses so aufzufassen, dass man, wie Maxwell es that, dem Aether einen gewissen Spannungszustand zuschreibt und die Spannungen als Ursache der ponderomotorischen Wirkungen betrachtet.[10] Versteht man gewohnterweise unter die auf die Flächeneinheit bezogene Kraft, die der Aether an der durch angegebenen Seite eines Elementes auf den gegenüberliegenden Aether ausübt, so wäre nach (15) zu setzen

(17)

Es ist leicht, hieraus die Werthe von , , , , [27] u. s. w. abzuleiten; man erhält dann gerade das System von Spannungen, welches Maxwell angegeben hat.

§ 17. Da in (15) das Glied mit dem Raumintegrale in der Kegel nicht verschwindet, so führt die Annahme der Spannungen (17) im allgemeinen nicht zu den von uns statuirten Wirkungen. Wollte man nun die Gleichung (V) als Grundlage für die Berechnung der ponderomotorischen Kräfte fallen lassen und sich an die Spannungen halten, so wäre die Sache mit den Formeln (I)—(IV) und (17) doch keineswegs abgethan. Man würde nicht einmal denselben Werth für herausbekommen, wenn man die Gleichung

bald auf die eine, bald auf die andere, den betrachteten Körper umschliessende Fläche anwendete. Es hängt dies damit zusammen, dass die Spannungen (17) den Aether selbst nicht in Ruhe lassen würden.

Wir haben oben für einen von ponderabler Materie freien Raum die Formeln (16) gefunden. Dass diese, so lange der Aether ruht, richtig sind, ist wohl nicht zu bezweifeln, da bei der Ableitung nur allgemein angenommene Gleichungen ins Spiel kommen. Aus den Formeln

und

ergibt sich nämlich, dass die rechte Seite der Gleichung (14) für den freien Aether gleich Null ist; die Anwendung von (IV) und (II) führt dann weiter zu der ersten der Formeln (16).

In diesen stehen nun links die Kräfte, welche sich aus den Spannungen an der Oberfläche ergeben, und die Formeln besagen also, dass der betrachtete Aethertheil unter dem Einflusse dieser Kräfte nicht in Buhe bleiben kann. Wer die Gleichungen (17) für allgemein gültig hält, muss schliessen, dass in allen Fällen, wo der Poynting’sche Energiestrom mit der Zeit veränderlich ist[11], der Aether als Ganzes in Bewegung geräth. [28] Es wäre dann weiter die Art der entstehenden Aetherstromungen zu erforschen und unter Berücksichtigung derselben die Frage nach den ponderomotorischen Wirkungen aufs neue in Angriff zu nehmen.

Die Grundzüge einer Theorie der genannten Aetherströmungen wurden noch von Hermann von Helmholtz’ Meisterhand entworfen in einer[12] der letzten Arbeiten, die es ihm vergönnt war, zu vollenden.

Hier kann auf die eben berührten Fragen nicht eingegangen werden, da die Grundannahme, von der wir ausgegangen sind, eine andere Auffassung mit sich bringt. In der That, weshalb sollten wir, da wir doch einmal angenommen haben, dass der Aether sich nicht bewege, je von einer auf dieses Medium wirkenden Kraft reden? Das Einfachste wäre wohl, anzunehmen, dass auf ein Volumelement des Aethers, als Ganzes betrachtet, nie eine Kraft wirke, oder selbst den Begriff der Kraft auf ein solches Element, das doch nie von der Stelle rückt, nicht einmal anzuwenden. Freilich verstiesse diese Auffassung gegen den Satz von der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung —, da wir ja Grund haben zu sagen, dass der Aether Kräfte auf die ponderable Materie ausübe —; aber, soviel ich sehe, zwingt nichts dazu, jenen Satz zu einem unbeschränkt gültigen Fundamentalgesetze zu erheben.

Haben wir uns einmal für die so eben geschilderte Betrachtungsweise entschieden, so müssen wir auch von vornherein darauf verzichten, die durch (V) bedingten ponderomotorischen Wirkungen auf Aetherspannungen zurückzuführen. Das wären ja Kräfte zwischen dem einen und dem anderen Theil des Aethers, und solche dürfen wir, wollen wir consequent sein, nicht mehr annehmen.

Trotzdem werden wir zur Erleichterung der Rechnung die Gleichung (15) anwenden können, und es wird auch kein Missverständniss verursachen, wenn wir uns der Kürze halber so ausdrücken, als ob die Elemente der beiden ersten Integrale wirkliche Spannungen im Aether bedeuteten.

[29] Aus diesen jetzt bloss fingirten „Spannungen“ lassen sich dann, wie wir sahen, die Wechselwirkung zwischen geladenen Körpern und die electrodynamischen Wirkungen unmittelbar ableiten. Es empfiehlt sich gleichfalls, mit denselben zu operiren, wenn die Erscheinungen periodisch sind und man nur die Mittelwerthe der ponderomotorischeu Kräfte während einer vollen Periode zu kennen wünscht; das letzte Glied von (15) trägt nämlich nichts zu diesen Werthen bei.

Man gelangt auf diese Weise leicht zu Maxwell’s Satz über den durch eine Lichtbewegung erzeugten Druck.




Die Umkehrbarkeit der Bewegungen und das Spiegelbild einer Bewegung.


§ 18. Behufs späterer Anwendung schalten wir hier noch folgende Betrachtungen ein.

Es sei ein System sich bewegender Ionen gegeben, und in demselben seien , , und die verschiedenen, in Betracht kommenden Grössen. Wir können die entsprechenden Grössen für ein zweites System mit , , und bezeichnen und wollen uns denken, dass in einem beliebigen Punkte diese Grössen zur Zeit übereinstimmen mit den Grössen , , und zur Zeit .

Man siebt leicht ein, dass, was und betrifft, dieser Bedingung durch eine wirkliche Bewegung von Ionen genügt werden kann, und zwar muss hierzu das System dieser Ionen vollkommen mit dem ersten System übereinstimmen; es müssen dieselben Configurationen mit denselben Zwischenzeiten nach einander eintreten, wie in jenem ersten Systeme, nur in entgegengesetzter Reihenfolge; mit anderen Worten: man erhält die Bewegungen der Ionen im zweiten Systeme, wenn man die zuerst gegebenen Bewegungen rückläufig macht.

Da weiter und den Bedingungen (I), (II), (III) und (IV) genügen, so ist der durch diese Vectoren bestimmte Zustand des Aethers mit der Bewegung der Ionen verträglich.

Endlich folgt aus der Gleichung (V), dass in dem zweiten [30] Systeme zur Zeit die durch den Aether auf die Ionen ausgeübten Kräfte dieselbe Richtung und Grösse haben, wie die entsprechenden Kräfte im ersten System zur Zeit . Sind nun auch die im übrigen noch auf die Ionen wirkenden Kräfte in den beiden Fällen — und in den genannten Augenblicken — dieselben, so darf man schliessen, dass der zweite Bewegungszustand in jeder Hinsicht realisirbar ist.

Mittelst ähnlicher Betrachtungen lässt sich auch die Möglichkeit einer Bewegung darthun, welche das „Spiegelbild“ einer gegebenen in Bezug auf eine feste Ebene ist.

Wir nennen das Spiegelbild eines Punktes und bezeichnen die für zwei Systeme — und zwar für das erste in und für das zweite in — geltenden Grössen mit , , , und , , , . Dabei soll fortwährend sein, und es sollen die Vectoren , , die Spiegelbilder der Vectoren , und sein.

Dass nun der zweite Bewegungszustand füglich das „Spiegelbild“ des ersten heissen kann, bedarf wohl keiner Erläuterung. Sind die Kräfte nicht-electrischen Ursprungs derart, dass die Vectoren, durch die sie in den beiden Fällen dargestellt werden können, sich wie Gegenstände und deren Spiegelbilder verhalten, so wird die zweite Bewegung möglich sein, sobald die erste es ist.


  1. Einen Nachweis der benutzten Bezeichnungen findet man am Schluss der Abhandlang.
  2. Dadurch ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass von einander getrennte Ionen oft sehr verschiedene Geschwindigkeiten haben können.
  3. Die Berechtigung hierzu liegt in der Gleichung (5).
  4. Von speciellen magnetischen Eigenschaften der ponderablen Materie — welche übrigens gerade durch die Ionenbewegungen zu erklären wären — sehen wir ab. Demgemäss brauchen wir nicht zwischen der magnetischen Kraft und der magnetischen Induction zu unterscheiden.
  5. Der Factor muss hinzugefügt werden, weil wir uns des electromagnetischen Maasssystems bedienen.
  6. Da diese Kraft die einzige ist, welche bei den electrostatischen Erscheinungen besteht, so kann sie füglich die electrostatische Kraft genannt werden, obgleich sie im allgemeinen auch von der Bewegung der Ionen abhängt.
  7. Dieses Zeichen bedeutet hier nicht ein unendlich Kleines im strengen Sinne des Wortes, sondern eine Strecke, die zwar sehr klein gegen die Dimensionen des Leiters, aber dennoch viel grösser als die Entfernung der Molecüle ist.
  8. Will man einen gewöhnlichen electrischen Strom nicht als einen Convcetionsstrom betrachten, so muss man diese Formel durch die Annahme begründen, dass ein Körper, in dem eine Convection stattfindet, dieselben electrodynamischen Wirkungen erfahre wie ein entsprechender Stromleiter.
  9. In der früher publicirten Ableitung der Bewegungsgleichungen (La théorie électromagnétique de Maxwell et son application aux corps mouvants) habe ich die hierfür nothwendigen Bedingungen erörtert.
  10. Auch bezüglich des resultirenden Kräftepaares ist die ponderomotorische Wirkung auf einen starren Körper dem System der Spannungen (17) auf einer beliebigen, den Körper umschliessenden Fläche äquivalent. Wollten wir auch die ponderomotorischen Wirkungen auf biegsame oder flüssige Körper betrachten, so hätten wir auf Volumelemente zurückzugehen. Doch das würde uns zu weit führen.
  11. Abgesehen von dem Factor stehen nämlich auf der rechten Seite der Gleichungen (16) unter dem Integralzeichen die Componenten des Energiestromes.
  12. v. Helmholtz. Folgerungen aus Maxwell’s Theorie über die Bewegungen des reinen Aethers. Berl. Sitz.-Ber., 5. Juli 1893; Wied. Ann., Bd. 53, p. 135, 1894.


Definitionen Nach oben Abschnitt II
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.