Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Großherzogthum Hessen wegen wechselseitiger Gewährung der Rechtshülfe

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Titel: Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Großherzogthum Hessen wegen wechselseitiger Gewährung der Rechtshülfe.
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Fundstelle: Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Band 1870, Nr. 48, Seite 607–618
Fassung vom: 18. März 1870
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Bekanntmachung: 18. November 1870
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(Nr. 588.) Vertrag zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Großherzogthum Hessen wegen wechselseitiger Gewährung der Rechtshülfe. Vom 18. März 1870.

Seine Majestät der König von Preußen, im Namen des Norddeutschen Bundes, und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen, von dem Wunsche geleitet, die gegenseitig zu gewährende Rechtshülfe zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Großherzogthum Hessen südlich des Mains durch Uebereinkunft zu regeln, haben zum Abschluß eines Vertrages hierüber zu Bevollmächtigten ernannt:

Seine Majestät der König von Preußen:
Allerhöchstihren Geheimen Legationsrath Bernhard König und
Allerhöchstihren Geheimen Ober-Justizrath Herrmann von Schelling,
Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen:
Allerhöchstihren Geheimen Staatsrath Heinrich Franck,

welche auf Grund ihrer Vollmachten sich über die nachstehenden Artikel geeinigt haben.

I. Von der Rechtshülfe in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten.

Artikel 1.

Die Gerichte der beiden vertragenden Theile haben sich in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gegenseitig Rechtshülfe zu leisten.
Das ersuchte Gericht darf die Rechtshülfe selbst dann nicht verweigern, wenn es die Zuständigkeit des ersuchenden Gerichts nicht für begründet hält. [608]

Artikel 2.

Die Rechtshülfe wird auf Requisition von Gericht zu Gericht geleistet, soweit nicht in den Artikeln 3. bis 6. ein Anderes bestimmt ist.

Artikel 3.

Wenn nach dem Rechte des Orts, wo die erforderliche Prozeßhandlung vorzunehmen ist, diese zum Geschäftskreise besonderer Beamten (Gerichtsvollzieher, Gerichtsvögte u. s. w.) gehört oder von der betheiligten Partei bei dem Gerichte unmittelbar zu betreiben ist, so hat das ersuchte Gericht selbst oder die bei ihm bestehende Staatsanwaltschaft einen zuständigen Beamten mit der Vornahme der Prozeßhandlung zu beauftragen oder, soweit es erforderlich ist, die Sache einem Anwalte oder einer sonst geeigneten Person zur Betreibung zu übergeben.

Artikel 4.

Durch die Vorschriften des Artikels 3. wird nicht ausgeschlossen, daß die betheiligte Partei unmittelbar einen zuständigen Beamten mit der Vornahme der Prozeßhandlung beauftragt oder die Sache bei dem Gerichte betreibt.

Artikel 5.

Wird in einem anhängigen oder anhängig zu machenden Rechtsstreite eine Prozeßhandlung erforderlich, welche nach dem für das Prozeßgericht geltenden Rechte nicht von den Gerichten verfügt, sondern im Auftrage der Parteien durch besondere Beamte bewirkt wird, dagegen nach dem Rechte des Orts, wo die Handlung vorzunehmen ist, zu dem Geschäftskreise der Gerichte gehört, so hat das zuständige Gericht dieses Orts auf den von der Partei unter Vorlegung der zuzustellenden oder der sonst erforderlichen Schriftstücke gestellten Antrag die Prozeßhandlung anzuordnen.

Artikel 6.

Requisitionen und Parteianträge, welche durch Vermittelung der Staatsanwaltschaft an die Gerichte gelangen, sind in derselben Weise zu erledigen, als wenn sie unmittelbar von dem Prozeßgerichte eingesendet oder von der Partei gestellt wären.

Artikel 7.

Eine im Wege der Rechtshülfe zu bewirkende Zwangsvollstreckung (Exekution) erfolgt nach den am Orte der Vollstreckung geltenden Vorschriften.

Artikel 8.

Ueber Einwendungen, welche die Zulässigkeit der Rechtshülfe (Artikel 37.), die Art und Weise der Vollstreckung oder das bei derselben zu beobachtende Verfahren betreffen, hat das Gericht des Vollstreckungsorts zu entscheiden.
Dasselbe gilt von Einwendungen, welche von dritten Personen wegen eines Anspruchs auf den Gegenstand der Vollstreckung erhoben werden.
Alle anderen Einwendungen gegen die Vollstreckung unterliegen der Entscheidung des Prozeßgerichts. [609]

Artikel 9.

Werden bei dem Vollstreckungsgerichte Einwendungen erhoben, über welche in Gemäßheit des Artikels 8. das Prozeßgericht zu entscheiden hat, so kann das erstere, wenn ihm die Einwendungen erheblich und in thatsächlicher Beziehung glaubhaft erscheinen, die Vollstreckung vorläufig einstellen.
Im Falle der Einstellung ist für die Beibringung der Anordnung des Prozeßgerichts eine Frist zu bestimmen, nach deren fruchtlosem Ablaufe die Vollstreckung fortgesetzt wird.

Artikel 10.

Sollen die in einem Rechtsgebiete, in welchem die Zwangsvollstreckung zum Geschäftskreise besonderer Beamten gehört, erlassenen Erkenntnisse in einem Rechtsgebiete vollstreckt werden, in welchem die Zwangsvollstreckung von den Gerichten geleitet wird, so hat das zuständige Gericht die Zwangsvollstreckung auf Antrag der Partei anzuordnen. Zu diesem Zwecke ist eine mit dem gerichtlichen Zeugnisse der Vollstreckbarkeit versehene Ausfertigung des Erkenntnisses vorzulegen.

Artikel 11.

Wenn nach dem für das Prozeßgericht geltenden Rechte die Vollstreckung durch Einlegung eines Rechtsmittels gehemmt werden kann, so ist in dem Zeugnisse der Vollstreckbarkeit (Artikel 10.) zu bemerken, welche Rechtsmittel die Vollstreckung hemmen, und binnen welcher Frist dieselben einzulegen sind.
Wird dem Vollstreckungsgerichte glaubhaft gemacht, daß ein Rechtsmittel, durch welches die Vollstreckung gehemmt wird, binnen der gesetzlichen Frist eingelegt ist, so hat dasselbe die Vollstreckung einzustellen.
Ein solches Rechtsmittel kann bei dem Vollstreckungsgerichte ohne Beobachtung einer besonderen Form eingelegt werden. Diese Einlegung wird jedoch wirkungslos, wenn sie nicht innerhalb der Nothfrist und spätestens binnen vierzehn Tagen seit dem Tage der Einlegung nach den am Orte des Prozeßgerichts geltenden Vorschriften wiederholt wird.
Hat das Vollstreckungsgericht in Gemäßheit der Vorschriften dieses Artikels die Einstellung der Vollstreckung angeordnet, so kann die betreibende Partei die Fortsetzung der Vollstreckung nur dann verlangen, wenn sie ein die Fortsetzung anordnendes oder das eingelegte Rechtsmittel verwerfendes Erkenntniß des Prozeßgerichts beibringt.
Die Bestimmungen dieses Artikels finden keine Anwendung, wenn für das Prozeßgericht dasselbe Prozeßrecht gilt, wie für das Vollstreckungsgericht.

Artikel 12.

Sollen die in dem Gebiete des einen vertragenden Theils erlassenen Erkenntnisse oder sonstigen richterlichen Verfügungen in einem Rechtsgebiete des anderen Theils, in welchem die Zwangsvollstreckung zum Geschäftskreise besonderer Beamten gehört, vollstreckt werden, so sind sie von der zuständigen gerichtlichen Behörde des Orts der Vollstreckung mit der Vollstreckungsklausel zu versehen. Zu diesem Zwecke ist der Behörde eine von dem Prozeßgerichte mit dem Zeugnisse der Vollstreckbarkeit versehene Ausfertigung des Erkenntnisses oder der Verfügung vorzulegen. [610]
Die Vollstreckungsklausel wird ohne Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung oder Verfügung und ohne Anhörung der Parteien ertheilt.

Artikel 13.

Das in dem Gebiete des einen vertragenden Theils eröffnete Konkursverfahren (Falliment, Debitverfahren, konkursmäßige Einleitung, Gantverfahren u. s. w.) äußert in Bezug auf das zur Konkursmasse gehörige Vermögen seine Wirkung auch in dem Gebiete des anderen Theils. Dies gilt insbesondere von den Beschränkungen, welche die Verfügungs- und Verwaltungsrechte des Gemeinschuldners erleiden, und von dem Uebergange dieser Rechte auf die Gläubigerschaft.

Artikel 14.

Auf Ersuchen des Konkursgerichts oder auf Antrag des Konkursvertreters ist das in dem Gebiete des anderen Theils befindliche Vermögen des Gemeinschuldners von den Gerichten des Orts, wo sich dasselbe befindet, nach Maaßgabe der daselbst für den Fall des Konkursverfahrens zur Anwendung kommenden Gesetze sicher zu stellen, zu inventarisiren und zur Konkursmasse abzuliefern.

Artikel 15.

Insoweit nach den Gesetzen des Orts, wo sich abzulieferndes Vermögen (Art. 14.) befindet, gewisse Personen für den Fall eines daselbst eröffneten Konkurses berechtigt sind,
1) Vindikations-Ansprüche in Bezug auf dieses Vermögen oder auf einzelne Theile desselben geltend zu machen,
2) ihre abgesonderte Befriedigung aus diesem Vermögen oder aus einzelnen Theilen desselben zu verlangen, oder
3) auf Grund eines auf bestimmte Gegenstände dieses Vermögens beschränkten dinglichen oder persönlichen Rechts aus diesen Gegenständen ihre vorzugsweise Befriedigung zu beanspruchen,
stehen ihnen diese Rechte in derselben Weise zu, als wenn der Konkurs an diesem Orte eröffnet wäre.
Vorzugsrechte anderer Art bestimmen sich nach dem für das Konkursgericht geltenden Rechte.

Artikel 16.

Die in Artikel 15. Ziff. 1. und 2. bezeichneten Rechte können, so lange die Ablieferung der Vermögenstheile, auf welche sich die Rechte beziehen, noch nicht erfolgt ist, bei den Gerichten des Orts geltend gemacht werden, wo sich diese Vermögenstheile befinden.
Nach der Ablieferung sind diese Rechte bei den Gerichten des Orts der Konkurseröffnung geltend zu machen. [611]
Die in Artikel 15. Ziff. 3. bezeichneten Gläubiger haben sich in den Konkurs einzulassen und ihre Rechte bei dem Konkursgerichte zu verfolgen.

Artikel 17.

Gläubiger, welche sich kraft eines Pfand- oder Retentionsrechts in dem Besitze eines abzuliefernden Vermögensstücks befinden, sind in keinem Falle verpflichtet, vor ihrer Befriedigung das Vermögensstück zur Konkursmasse abzuliefern.
Inwieweit dieselben berechtigt sind, ihre Forderung im Konkurse anzumelden, ohne gleichzeitig das von ihnen als Pfand oder retentionsweise besessene Vermögensstück der Konkursmasse zur Verfügung zu stellen, entscheidet sich nach den Gesetzen des Orts, wo der Konkurs anhängig ist.

Artikel 18.

Der Verkauf der in dem Gebiete des anderen vertragenden Theils belegenen unbeweglichen Sachen und die Befriedigung der Gläubiger, welche aus der durch den Kaufpreis gebildeten Masse ihre abgesonderte Befriedigung zu verlangen berechtigt sind, erfolgt am Orte der belegenen Sache nach den Vorschriften, welche gelten würden, wenn der Konkurs daselbst eröffnet wäre. Sofern nach den Gesetzen dieses Orts die bezeichneten Gläubiger ihre Rechte bei dem Konkursgerichte geltend zu machen hätten, tritt an Stelle des letzteren das zuständige Gericht des Orts der belegenen Sache.
Insoweit nach den Gesetzen des Orts, wo sich abzulieferndes Vermögen befindet, im Falle der daselbst erfolgten Eröffnung des Konkurses ein Spezial- oder Partikular-Konkurs über das abzuliefernde Vermögen oder einzelne Theile desselben zu eröffnen wäre, wird dieser Konkurs eröffnet.
Der Betrag, welcher nach Befriedigung der in Gemäßheit der Bestimmungen dieses Artikels zu berücksichtigenden Gläubiger übrig bleibt, ist zur Konkursmasse abzuliefern.

Artikel 19.

Ist eine bürgerliche Rechtsstreitigkeit in dem Gebiete des einen vertragenden Theils rechtshängig geworden oder rechtskräftig entschieden, so kann die Rechtshängigkeit oder die Rechtskraft vor jedem Gerichte des anderen Theils geltend gemacht werden.

II. Von der Rechtshülfe in Strafsachen.

Artikel 20.

Die Gerichte der beiden vertragenden Theile haben sich in Strafsachen auf Requisition gegenseitig dieselbe Rechtshülfe zu leisten, wie den Gerichten des Inlandes, insoweit sich nicht aus den Artikeln 21. bis 33. ein Anderes ergiebt. [612]

Artikel 21.

Die Gerichte eines jeden der vertragenden Theile sind – vorbehaltlich der aus den Artikeln 23. bis 26. sich ergebenden Ausnahmen – verpflichtet, Personen, welche von den Gerichten des anderen Theils wegen einer strafbaren Handlung verfolgt werden oder verurtheilt sind, diesen Gerichten auf Ersuchen auszuliefern, wenn die strafbare Handlung, wegen welcher die Auslieferung beantragt wird, in dem Gebiete des Staates verübt ist, welchem das ersuchende Gericht angehört.
Bei Anwendung dieser Vorschrift wird angenommen, daß eine mittelst der Presse verübte strafbare Handlung nur an dem Orte verübt sei, an welchem das Preßerzeugniß erschienen ist.

Artikel 22.

Die Verpflichtung zur Auslieferung (Art. 21.) erstreckt sich auf die Auslieferung der Theilnehmer, einschließlich der intellektuellen Urheber, der Gehülfen und derjenigen Begünstiger, welche die Begünstigung vor Verübung der That zugesagt haben, auch dann, wenn die denselben zur Last fallenden Handlungen nicht in dem Gebiete des Staates begangen sind, in welchem das ersuchende Gericht sich befindet.

Artikel 23.

Von Seiten der Staaten des Norddeutschen Bundes wird kein Norddeutscher, von Großherzoglich Hessischer Seite kein Angehöriger des südlich vom Main belegenen Hessischen Gebiets ausgeliefert.

Artikel 24.

Die Auslieferung findet nicht statt, wenn in Ansehung der strafbaren Handlung in dem Staate, welchem das ersuchte Gericht angehört, ein Gerichtsstand begründet und das Strafverfahren früher anhängig geworden ist, als in dem Staate, welchem das ersuchende Gericht angehört.
Befindet sich die Person, deren Auslieferung verlangt wird, in dem Staate, welchem das ersuchte Gericht angehört, wegen einer anderen strafbaren Handlung in Untersuchung oder in Strafhaft, so kann die Auslieferung bis nach Erledigung der Untersuchung oder der Strafhaft abgelehnt werden.

Artikel 25.

Auch dann findet die Auslieferung nicht statt, wenn die Handlung
1) ein politisches Verbrechen oder Vergehen, oder mittelst der Presse verübt worden, oder
2) nicht mit Strafe bedroht oder in Betreff ihrer die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung durch Verjährung ausgeschlossen ist.
Ob einer dieser Fälle vorliegt, ist nach den Gesetzen des Staates, in dessen Gebiete der Beschuldigte oder Verurtheilte sich befindet, zu beurtheilen, und bei dieser Beurtheilung die Handlung als im Gebiete dieses Staates verübt anzusehen. [613]

Artikel 26.

Die Auslieferung darf aus den im vorigen Artikel bezeichneten Gründen, gleichviel ob sie zum Zwecke der Untersuchung oder zu dem der Strafvollstreckung nachgesucht wird, nicht abgelehnt werden, wenn während des Aufenthalts in dem Staate, welchem das ersuchende Gericht angehört, dem Angeschuldigten der Beschluß oder die Verfügung, durch welche die Untersuchung gegen ihn eröffnet worden ist, persönlich zugestellt oder er als Angeschuldigter über die That verhört oder zum Zwecke der Einleitung der Untersuchung in Haft genommen war.

Artikel 27.

Wenn in Gemäßheit der Bestimmungen in Artikel 23. und Artikel 25. Ziff. 1. eine Auslieferung nicht stattfindet, so ist der Angeschuldigte in dem Staate, in dessen Gebiete er sich befindet, und zwar, falls nach den Gesetzen dieses Staates ein anderer Gerichtsstand nicht begründet ist, von dem Gerichte, in dessen Bezirke er sich aufhält, wegen der ihm zur Last gelegten Handlung zur Untersuchung zu ziehen. Es wird jedoch hierzu in den Fällen des Artikels 25. Ziff. 1. noch der Antrag der zuständigen Behörde des Staates, in dessen Gebiete die Handlung verübt worden, vorausgesetzt.
Bei der Untersuchung und der Aburtheilung ist die Handlung so anzusehen, als ob sie in dem Gebiete des Staates, welchem das untersuchende Gericht angehört, verübt worden. Sollte jedoch die Handlung in den Gesetzen des Staates, in dessen Gebiete sie verübt worden, mit einer geringeren Strafe bedroht sein, so sind bei der Aburtheilung diese Gesetze zur Anwendung zu bringen.

Artikel 28.

Dem Ersuchen um Auslieferung ist eine Ausfertigung des gegen den Auszuliefernden erlassenen gerichtlichen Verhaftsbefehls oder des gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Strafurtheils beizufügen.
In dem Verhaftsbefehle ist die Beschuldigung und das auf sie anzuwendende Strafgesetz genau zu bezeichnen, insbesondere Zeit und Ort der That anzugeben.

Artikel 29.

In dringenden Fällen kann, unter Vorbehalt unverzüglicher Nachbringung eines vorschriftsmäßigen Auslieferungsantrages, die einstweilige Verhaftung des Auszuliefernden auf dem kürzesten, selbst auf telegraphischem Wege erwirkt werden.

Artikel 30.

Die Sicherheitsbeamten eines jeden der vertragenden Theile, insbesondere die Gendarmen sind ermächtigt, die einer strafbaren Handlung verdächtigen Personen unmittelbar nach verübter That, oder unmittelbar nachdem dieselben betroffen worden sind, im Wege der Nacheile bis in benachbarte Gebiete des anderen Theils zu verfolgen und daselbst festzunehmen. Der Festgenommene ist unverzüglich an die nächste Gerichts- oder Polizeibehörde des Staates, in welchem er ergriffen wurde, abzuliefern.
Zur selbstständigen Vornahme von Haussuchungen sind Sicherheitsbeamte des anderen Theils nicht befugt. [614]

Artikel 31.

Bei Auslieferung der Person sind zugleich die zum Beweise der strafbaren Handlung dienlichen Gegenstände, vorbehaltlich der Rechte dritter Personen, zu übergeben.

Artikel 32.

Jeder der vertragenden Theile ist verpflichtet, die Durchführung von Personen und Gegenständen durch sein Gebiet zum Behuf der Ueberlieferung an die Behörden des anderen vertragenden Theils zu gestatten.

Artikel 33.

Zur Vollstreckung eines in dem Gebiete des einen vertragenden Theils erlassenen Strafurtheils sind die Gerichte des anderen Theils nur dann verpflichtet, wenn die strafbare Handlung, wegen welcher die Strafe erkannt ist, im Gebiete des Staates, in welchem sich das ersuchende Gericht befindet, verübt ist (Art. 21. 22.), und wenn außerdem die Strafe nur in das Vermögen des Verurtheilten zu vollstrecken ist.
Dem Ersuchen um Vollstreckung ist eine Ausfertigung des rechtskräftigen Strafurtheils beizufügen.

Artikel 34.

Im Falle der Auslieferung darf die Untersuchung oder Strafvollstreckung auf andere Handlungen oder Strafen, als diejenigen, wegen welcher die Auslieferung erfolgt war, nicht erstreckt werden.
Die vorstehende Bestimmung findet auf die von dem Ausgelieferten nach der Auslieferung im Gebiete des Staates, welchem das ersuchende Gericht angehört, verübten strafbaren Handlungen keine Anwendung.

Artikel 35.

Ist gegen eine Person von den Gerichten des einen vertragenden Theils wegen einer in dem Gebiete desselben begangenen strafbaren Handlung die Untersuchung eingeleitet, so findet, sofern die Verpflichtung zur Auslieferung durch die Bestimmungen der Artikel 23. bis 26. nicht ausgeschlossen war, gegen diese Person in dem Gebiete des anderen Theils wegen derselben strafbaren Handlung eine Untersuchung nicht statt.

Artikel 36.

Insoweit nach den Vorschriften der Landesgesetze die Requisitionen um Rechtshülfe in Strafsachen zu dem Geschäftskreise der Staatsanwaltschaft gehören, finden in Ansehung der von beiden Theilen gegenseitig zu gewährenden Rechtshülfe die Vorschriften, welche für die von den Gerichten erlassenen oder an diese gerichteten Requisitionen gelten, auch auf die von der Staatsanwaltschaft erlassenen[615] oder an dieselbe gerichteten Requisitionen Anwendung. Eine Verhaftung, Haussuchung, Beschlagnahme, Auslieferung oder Strafvollstreckung kann jedoch bei einem Gerichte nur auf Grund eines gerichtlichen Beschlusses verlangt werden und nur auf Grund eines solchen Beschlusses erfolgen.

III. Allgemeine Bestimmungen.

Artikel 37.

Die Rechtshülfe findet nicht statt, wenn die Vornahme der beantragten Handlung nicht zu dem Geschäftskreise des ersuchten Gerichts gehört, oder wenn eine Handlung des Gerichts, einer Partei oder eines Dritten beantragt wird, deren Vornahme nach dem für dieses Gericht geltenden Rechte verboten ist.

Artikel 38.

Ueber die Zulässigkeit der nach diesem Vertrage zu leistenden Rechtshülfe und über die Rechtmäßigkeit der Verweigerung derselben wird ausschließlich von den Gerichten des Staates, welchem das ersuchte Gericht angehört, im geordneten Instanzenzuge entschieden.

Artikel 39.

Bei Anwendung der Civil- und Straf-Prozeßgesetze, welche Vorschriften zum Nachtheile der Ausländer enthalten, sind von den Gerichten eines jeden der beiden vertragenden Theile die Angehörigen des anderen Theils als Inländer anzusehen. Eben dasselbe gilt hinsichtlich der Gesetze, welche sich auf den Konkurs über das Vermögen der Ausländer beziehen.
Insoweit nach Vorschrift der Prozeßgesetze Zustellungen an Personen, welche im Auslande wohnen, oder sich aufhalten, an die Staatsanwaltschaft mit derselben Wirkung, wie an diese Personen selbst, erfolgen, ist das Gebiet des anderen vertragenden Theils als Ausland nicht anzusehen.

Artikel 40.

Jeder Angehörige eines der beiden vertragenden Theile ist verpflichtet, auf Anordnung eines im Gebiete des anderen Theils belegenen Civil- oder Strafgerichts vor demselben zum Zwecke seiner Vernehmung als Zeuge zu erscheinen. Diese Vorschrift findet keine Anwendung auf Personen, welche nach dem am Wohnsitze derselben geltenden Rechte nicht verbunden sind, persönlich vor Gericht zu erscheinen oder in der betreffenden Sache Zeugniß abzulegen.
Die Ladung des Zeugen, dessen Erscheinen gefordert wird, ist bei dem Gerichte seines Wohnsitzes zu beantragen. Der Zeuge ist befugt, die Zahlung der Entschädigung für Zeitversäumniß und Reisekosten nach der an seinem Wohnsitze oder nach der am Sitze des Prozeßgerichts geltenden Taxordnung zu fordern. Die Zahlung ist dem Zeugen auf Verlangen vorschußweise zu leisten. [616]

Artikel 41.

Die Injuriensachen, welche im Wege des Civilprozesses verhandelt werden, gelten in Ansehung der Gewährung der Rechtshülfe als bürgerliche Rechtsstreitigkeiten. Soweit jedoch eine Strafe zu vollstrecken ist, kommen die Vorschriften des Artikels 33. zur Anwendung.

Artikel 42.

Ist von dem Strafrichter auf Civilentschädigung erkannt, so bestimmt sich die Gewährung der Rechtshülfe für die Vollstreckung des Erkenntnisses nach den Vorschriften über die Vollstreckung der in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten erlassenen Erkenntnis.

Artikel 43.

Die Kosten der Rechtshülfe sind von der ersuchenden Behörde zu bezahlen.
Wenn eine zahlungspflichtige Partei nicht vorhanden, oder wenn die zahlungspflichtige Partei unvermögend ist, so wird die Rechtshülfe kosten- und gebührenfrei geleistet. Es sind jedoch die baaren Auslagen, welche durch eine Auslieferung entstehen, der ersuchten Behörde zu erstatten.

Artikel 44.

Wird ein Gesuch um Rechtshülfe an eine nicht zuständige Behörde gerichtet, so hat diese das Gesuch an die zuständige Behörde abzugeben.

Artikel 45.

In den Beziehungen der Großherzoglich Hessischen Gerichte nördlich und südlich des Mains untereinander behält es bei dem bestehenden Rechte insoweit sein Bewenden, als durch dasselbe die Gewährung der Rechtshülfe, insbesondere die Verpflichtung zu Auslieferungen in weiterem Umfange, als durch den gegenwärtigen Vertrag begründet wird.

Artikel 46.

Die Bestimmungen dieses Vertrages finden auch auf bereits anhängige Sachen unter folgenden Beschränkungen Anwendung:
1) die Vollstreckung eines Civil- oder Straferkenntnisses, welches vor dem Zeitpunkte, in welchem dieser Vertrag in Kraft tritt, im Wege des Kontumazial-Verfahrens ergangen ist, kann auf Grund dieses Vertrages nicht verlangt werden;
2) die Bestimmungen der Artikel 13–18. finden keine Anwendung, wenn der Konkurs vor dem Zeitpunkte eröffnet ist, in welchem dieser Vertrag in Kraft tritt. [617]

Artikel 47.

Der gegenwärtige Vertrag soll am 1. Januar 1871. in Kraft treten.
Gleichzeitig mit dem Beginn der Wirksamkeit des gegenwärtigen Vertrages treten alle zwischen dem Großherzogthum Hessen südlich des Mains und einzelnen Staaten des Norddeutschen Bundes bestehenden Verträge und Verabredungen über Leistung der Rechtshülfe in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und Strafsachen insoweit außer Kraft, als sie sich auf Gegenstände beziehen, welche durch den gegenwärtigen Vertrag geregelt sind.

Artikel 48.

Der gegenwärtige Vertrag soll ratifizirt und die Ratifikations-Urkunden sollen thunlichst bald in Berlin ausgewechselt werden.
Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag in doppelter Ausfertigung unterzeichnet und besiegelt.
So geschehen Berlin, am 18. März 1870.
     König.           v. Schelling.           Franck.     
(L. S.) (L. S.) (L. S.)
________________

Protokoll.

Nachdem Seine Majestät der König von Preußen, Namens des Norddeutschen Bundes, und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein unterm 28. Oktober, beziehungsweise 11. l. Mts., dem wegen wechselseitiger Gewährung der Rechtshülfe zwischen dem Norddeutschen Bunde und dem Großherzogthum Hessen bezüglich der Landestheile südlich des Mains am 18. März 1870. zu Berlin durch beiderseitige Kommissarien abgeschlossenen Vertrage Allerhöchstihre Ratifikation zu ertheilen geruht haben, so sind

der außerordentliche Gesandte und bevollmächtigte Minister des Norddeutschen Bundes am Großherzoglich Hessischen Hofe, Geheimer Legationsrath v. Wentzel, sowie
der Ministerialrath im Großherzoglich Hessischen Ministerium des Großherzoglichen Hauses und des Aeußern Dr. Neidhardt
– für den abwesenden Großherzoglichen Minister Freiherrn v. Dalwigk

heute dahier zusammengetreten und haben den Austausch der desfallsigen, in guter und gehöriger Form befundenen Ratifikations-Instrumente vorgenommen. [618]

Bei diesem Anlaß ist bezüglich der Auslegung des Art. 45. gedachten Vertrages das Einverständniß beider kontrahirenden Theile darüber konstatirt worden, daß durch den erwähnten Artikel eine Verpflichtung oder Berechtigung Oberhessischer Behörden, Angehörige des Norddeutschen Bundes, welche nicht dem Hessischen Staatsverband angehören, nach Südhessen auszuliefern, nicht begründet werden soll.
Dessen zur Urkunde haben die Unterzeichneten das gegenwärtige, doppelt ausgefertigte Protokoll unterschrieben und mit ihren Siegeln versehen.
So geschehen Darmstadt, den 15. November 1870.
(L. S.)      v. Wentzel.   (L. S.) Neidhardt.