Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen/Eriwan und der Ararat. Unsere Vertreibung aus dem Aras-Thale

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Von Tiflis nach Eriwan Vom Kaukasus zum Persischen Meerbusen
von Paul Müller-Simonis
Nakhitschewan. Beïram-Ali. Abschied von Rußland
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Fünftes Kapitel.
Eriwan und der Ararat. Unsere Vertreibung aus dem Aras-Thale.
Das Hôtel zur Stadt London. Nützlichkeit einer guten Empfehlung. Ursprung von Eriwan, historische Daten, geographische Lage; außerordentliche Strenge des Klimas. Denkmäler. Die grüne Moschee. Das Katil-Beïramsfest. Predigt in der Moschee und Fackelzug. Der Saal Serdars. Der Ararat. Vulkanische Erscheinungen. Unsere Vertreibung, deren Ursache ein H ist. Das Thal des Aras. Bewässerung; Seltenheit der Bäume. Die Reben und der Wein von Eriwan. Bauten aus gestampfter Erde. Reise von Eriwan nach Nakhitschewan. Komische Szene mit dem dortigen Polizeichef.
Eriwan, 13. und 14. September.

Das Hôtel zur Stadt London ist eine Art Hôtel, wo die einfachsten Elemente zur Behaglichkeit fehlen. Die Preise sind außerordentlich, und dabei gewähren die Betten einen höchst zweifelhaften Anblick, daß wir um etwaigen Unannehmlichkeiten aus dem Wege zu gehen, unsere Feldbetten aufschlugen. Nichts ist so viel wert in Rußland als gute Empfehlungen. Die des Gouverneurs bewirkte, daß wir von dem Distriktsvorsteher gut empfangen und dem Polizeichef empfohlen wurden. Dieser besuchte uns, und, da er kein Französisch sprach, ließ er sich von einem Schweizer begleiten, der im russischen Gouvernement angestellt ist.

Der Ursprung von Eriwan ist in Dunkel gehüllt. Da sie die Hauptstadt des Arasbeckens ist, lassen die Armenier die Gründung derselben von Noe selbst herrühren und erzählen in dieser Hinsicht die phantastischten Legenden. Nach andern soll Valarses, der Sohn des Tigranes, der im zweiten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung geherrscht, der Gründer der Stadt sein. Die Geschichtsschreiber Sebeos und Johannes Katholikos sind die ersten, die Eriwans im siebenten und achten Jahrhunderte als einer Festung und eines bedeutenden Marktfleckens Erwähnung thun.

Eriwan war immer ein Zankapfel zwischen den Türken und Persern. Die Türken eroberten es 1582; Schah-Abbas konnte es erst im Jahre 1605 nach einer sechsmonatlichen Belagerung wieder erobern. Von da an wurde Eriwan abwechselnd von der einen oder andern feindlichen Macht beherrscht. Die Könige von Georgien belagerten es mehrere Male. Im Jahre 1804 widerstand die Stadt dem russischen Angriff, den der Fürst Tsitsianoff gegen sie unternahm. Nach einem zweiten Angriff im Jahre 1808 gelang es den Russen 1827, sich der Stadt zu bemächtigen. Paskiewitsch, der Eroberer Eriwans, erhielt vom Zaren den Titel „von Eriwanski“.

Die Stadt liegt an dem Senga in einer Höhe von 984 Metern und ein wenig von der Stelle entfernt, wo sich der Senga mit dem Aras vereinigt. Deshalb ist die Stadt ein bedeutender Kreuzungspunkt in geographischer Hinsicht. Die Straße von Georgien nach Persien trifft hier mit der natürlichen Straße von der Türkei nach Persien, dem Arasthale, zusammen. Seit der Eroberung des Landes durch die Russen hat der türkisch–persische Transithandel das Thal des Aras verlassen und nimmt seinen weg über Bayasid.

Obgleich Eriwan unter dem 40,10. Breitegrad liegt, also drei Grad südlicher als Marseille, kann man das Klima daselbst ungeheuer rauh nennen. Der Winter dauert lange, meist schneit es noch im April. Im Januar fällt das Thermometer oft 30 bis 32 Grad unter Null (nach Celsius), während die russischen Offiziere im Sommer zuweilen in dem Fort 47 Grad Celsius im Schatten bemerkt haben.

Durchschnittlich sind die Winter hier so kalt wie in Petersburg; aber der gewöhnlich kälteste Monat (-15 Grad Celsius) ist hier kälter als in Petersburg oder Archangelsk. Der Unterschied zwischen dem tiefsten Kälte- und dem höchsten Wärmegrad beträgt, wie hier angeführt, 79 Grad, während sonst der Unterschied durchweg bloß 40,4 Grad beträgt. Dieser Unterschied findet sich kaum in den Polargegenden; in Jakutsk z. B. sind die Sommer auch warm, aber im Winter ist es daselbst so eisigkalt wie am Nordpol. Die Sommerwärme wird in Eriwan ein wenig gemäßigt durch eine Art Mistral, der während der Nacht von den Bergen weht. Aber dieser Wechsel in der Temperatur erzeugt leicht Fieber, weshalb die europäischen Beamten im Sommer sobald als möglich Eriwan den Rücken wenden.

Durch die Verwüstungen, die Eriwan in den aufeinander folgenden Kriegen erdulden mußte, sowie dadurch, daß es in der Eile und dazu nicht einmal genau an derselben Stelle wieder aufgebaut wurde, besitzt Eriwan naturgemäß keine hervorragenden Baudenkmäler, und die etwa vorhandenen verdanken ihren Ursprung den Persern.

Die blaue Moschee, die durch die schöne Fayencearbeit an der Kuppel bemerkenswert ist, liegt in Trümmern. Eine andere Moschee, die grüne Moschee, ist sehr interessant. wie die Mehrzahl solcher Gebäude in Persien und Indien, hat sie keine eigentliche Façade, breitet sich aber auf dem Hofe zu großen Buchten mit Bogenwölbungen aus. Der mit Bäumen bepflanzte Hof ist von Klöstern umgeben, die heute den Kaufleuten als Warenschuppen dienen. Schöne grün-blaue Fayencestücke bedecken die Kuppel und das Minaret.

Wir trafen es gerade, daß wir in Eriwan waren während des Katil-Beïram, dem feierlichsten Feste der schiitischen Muselmänner. Damals war der sechste Tag des Festes, das in den ersten zehn Tagen des Monates Moharrem begangen wird.

Das Fest dient dazu, um der Ermordung der Familie Hussein zu gedenken. Da wir den Schluß des Festes in Nakhitschewan erlebt haben, werde ich später mehr davon berichten.

Der Polizeidirektor hatte zu unserer Verfügung seinen Unterchef, einen tartarischen Muselman, gestellt. Durch diese anzuerkennende Zuvorkommenheit konnten wir uns erlauben, allen Zeremonien des Festes in Sicherheit beizuwohnen und uns unter die Masse zu wagen.

Um ein Uhr waren wir an der grünen Moschee. An dem Portikus erwartete uns der Unterchef. Der Hof war mit einer buntscheckigen Menge angefüllt, die bis zum Beginn der religiösen Feierlichkeiten sich die Zeit damit vertrieb, ihre Geschäfte abzuwickeln und in den Schuppen des Klosters ihre Einkäufe zu machen. Ein Kaufmann lud uns freundlich (und auch in uneigennütziger Absicht) ein, in seinem Schuppen Platz zu nehmen und bot uns Kaffee, Thee und Zigaretten an, weigerte sich aber, etwas dafür von uns anzunehmen.

Während dieser Zeit drängte sich die Menge von allen Seiten auf die Moschee zu. Wir begaben uns an der Seite des Polizei-Unterchefs in die Mitte der „Gläubigen“. Ein Imam setzte sich mit gekreuzten Beinen auf eine kleine Estrade, die ihm als Kanzel diente, und begann mit der Erzählung der Leiden Husseins. Seine Erzählung hat den Fehler vieler Predigten, nämlich den der allzugroßen Länge. Er begann mit der Erschaffung der Welt, ließ die Propheten des Alten Testamentes an dem geistigen Auge seiner Zuhörer vorbeipassieren, sprach mit vieler Achtung von „Jesus, dem Sohne Mariens“ und kam dann zu den einfältigen Märchen, die Mohammed um seine Person gewebt hat. Endlich kam er zu den Muselmanen. An dem eigentlichen Gegenstand seiner Rede angekommen, nimmt er auf einmal einen schmachtenden, pathetischen Ton an, der mit dem Tone der italienischen Predigten erstaunlich viele Ahnlichkeit besitzt. Bei den rührendsten Stellen unterbricht er seine Rede durch Schluchzen. Auf dieses Zeichen hin antwortet die ganze Versammlung mit Seufzen und Weinen: jeder rauft sich heftig die Haare und schlägt sich mit der geballten Haust wider die Stirn. Dieses Seufzen, dieses Schlagen, das die eifrigsten unter den Zuhörern mit einer wahren Wut ausführten, machte einen tiefen Eindruck auf uns, aber dieser Eindruck hat etwas Trauriges an sich. Man fühlt unwillkürlich, daß von diesem Seufzen nur ein kleiner Schritt ist bis zu dem Todesruf gegen die Feinde des Islams, gegen die „Christenhunde“. Halbbestürzt gingen wir fort.

Am Abend machen die Fanatiker, welche die „Martyrer“ in der großen Prozession vorstellen sollen, einen Spaziergang mit Fackeln, während sie mit Säbeln und Knütteln bewaffnet waren. Sie bewegten ihre Fackeln und ihre Waffen hin und her, während sie zu derselben Zeit aus vollem Halse schrien: „Hussein, Ali, Hussein, Ali.“ Die roten Lichtreflexe der Fackeln, die hier auf die bleichen Silhouetten des Hauses fallen, sich dort gar seltsam mit dem Grün der Bäume vermischen und dann wieder die jämmerlichen Figuren der Andächtigen beleuchten, gewähren ein wildes, phantastisches Schauspiel, das den traurigen Eindruck aus der Moschee noch verstärkt.

In der ruinierten Umwallung der Festung findet sich der klassische Platz von Eriwan, der Eissaal oder der Saal Serdar, ein Überbleibsel des verschwundenen Glanzes. Es ist das alte Justizgebäude der persischen Gouverneure. Die Wände sind mit Gemälden geschmückt, die iranische Helden darstellen. Die Decke ist aus Spiegel-Stalaktiten zusammengesetzt, wodurch die Sonnenstrahlen in die Farben des Spektrums zerlegt werden und die Aufeinanderfolge der Farben sehr leicht erkenntlich ist. Dieser Schmuck hat in dem ganzen Orient eine große Verbreitung gefunden. Die schönste Art davon fanden wir in dem Divan-i-Khas des Palastes des Groß-Moguls in Dehli und im Palast von Amber.

Aber die wahre Schönheit dieses Saales besteht in dem, was die Natur hervorgebracht hat. Hinter einem Marmorbassin öffnet sich ein breites buntes Fenster, das den Blick auf eine geradezu feenhafte Landschaft zuläßt. Zu unsern Füßen, am Grunde eines Wasserfalles von 30 bis 40 Metern, fließt der Senga. Vor uns erhebt sich am Horizonte der Ararat, der eine Ebene von ungefähr dreißig Wersten Ausdehnung begrenzt. Trotz der bedeutenden Entfernung glaubt man sich an den Fuß des Kolosses versetzt. Seine wunderbare Schönheit fesselt jeden, und dieser Anblick ist die beste Auslegung der Worte des Psalmisten: „Wunderbar in den Höhen ist der Herr!“ Man kann hier stundenlang stillschweigend in der Betrachtung des Anblickes verweilen, ohne nur eine Ermüdung zu verspüren.

Der Ararat.

Obgleich der Ararat einer Gebirgskette angehört, wovon mehrere Gipfel eine Höhe von 2500 bis 2600 Metern erreichen, scheint er doch ganz isolirt zu stehen, so riesenhaft sind eben seine Proportionen. Er erhebt sich bis 5160 Meter über den Meeresspiegel und 4350 Meter über das Dorf Aralysch in der Ebene des Aras. Von Aralysch bis zum Gipfel ist der Abhang durch keinen einzigen Vorsprung unterbrochen, so daß dieser Abhang wahrscheinlich der längste ist, der überhaupt auf der Erde vorkommt.

Der kleine Ararat (3960 Meter) liegt südöstlich von dem großen Kegel, mit dem er durch einen Paß verbunden ist.

Die Grenze des ewigen Schnees befindet sich auf dem Ararat in einer beträchtlichen Höhe. Im Sommer reicht auf dem großen Ararat der Schnee nur vom Gipfel abwärts bis zu einer Höhe von 4000 Metern, während der kleine Ararat davon ganz frei ist. Diese Thatsache ist zunächst durch die isolierte Lage des Massivs und dann aber auch durch die außerordentliche Sommerhitze in der Ebene des Aras begründet. Ohne Zweifel trägt auch die vulkanische Natur des Gebirges dazu bei, welche die Aufnahme einer großen Wärmemenge begünstigt. (In der Schweiz z. B. liegt die Schneegrenze durchweg in einer Höhe von 2900 Metern.)

Ungeachtet der Regelmäßigkeit seiner Formen ist der Berg doch schwer zu ersteigen; besonders schwierig fällt es, sich daselbst für das Unternehmen einen Führer zu beschaffen. Die Eingeborenen halten das Besteigen des Berges einfach für unmöglich. Nach ihrem Glauben befindet sich die Arche Noes wohlerhalten auf

Armenische Kirche in Sandscherlü.

der Spitze des Berges; ein Engel, der zu ihrer Bewachung dient, stößt jeden Sterblichen,

der den Aufstieg versucht, in die Tiefe. Dieser Glaube ist so fest in dem Volksgeist eingewurzelt, daß kein Armenier dem Reisenden Parrot Glauben schenkte, nachdem dieser im Jahre 1829 den Ararat glücklich bestiegen hatte.

Seit dieser Zeit wurde der Ararat einige Male erstiegen; aber die Armenier glauben es nicht, und uns erzählte man mit einer sehr ungläubigen Miene, daß die Russen, die einige Tage vorher dieses gefährliche Unternehmen gewagt hatten, vorgaben, endlich zu ihrem Ziele gekommen zu sein.

Obgleich der große Krater des Ararat seit langer Zeit erloschen ist, macht sich doch zuweilen der vulkanische Charakter des Berges durch Erdbeben bemerkbar. Das letzte im Jahre 1840 war schrecklich. Es deckte sich mit dem Wiederöffnen eines alten Nebenkraters. Die Verwüstungen, die das Erdbeben in dem Lande anrichtete, waren außerordentlich; mehrere Tausend Menschen kamen dabei um das Leben.

Der alte armenische Name des Ararat ist Massis; bei den Türken heißt er Aghry-Dagh oder der erhobene Berg; die Perser nennen ihn Keh-i-Nouh oder Berg des Noe.

Die Ruinen der Zitadelle von Eriwan bieten nichts von Interesse, sie sind nur Erdanhäufungen.

Der Bazar ist erbärmlich.

Wir trafen unsere Vorbereitungen zu dem Ausflug nach Etschmiadsin, wo Hyvernat interessante Studien glaubte zu machen können. Wir sollten uns andern Tags daselbst treffen. Der Unter-Gouverneur versprach, uns warme Empfehlungsschreiben mitzugeben.

Datum:
15. September

Wahrlich, die russische Liebenswürdigkeit! Jetzt haben wir einen richtigen Begriff davon. Anstatt in Etschmiadsin zu sein, befinden wir uns auf dem Wege nach Persien, da wir aufgefordert wurden, das russische Gebiet schleunigst zu räumen.

Was für ein Geheimnis mag denn hier walten, und was konnte einen solchen Wechsel veranlassen? Die Antwort auf diese Frage ist sehr einfach; es ist ein H, das dies alles verschuldet.

Als Hyvernat in Rom seinen Paß beglaubigen ließ, hatte er seinen Namen angegeben, wie er im Französischen ausgesprochen wird, nämlich Iverna. Der betreffende Schreiber hielt sich an die Aussprache und schrieb den Namen Üverna in den Paß. Von anderer Seite hatte die Regierung in St. Petersburg von der bevorstehenden Reise des Geistlichen Hyvernat Kenntnis erhalten. (Zwar hatte der Gesandte in Rom Herrn Hyvernat empfohlen, für die Reise in Rußland seine geistliche Kleidung abzulegen.) Da die russischen Beamten die genaue Aussprache des Namens nicht kannten, schrieben sie ihn auf russisch so gut es ihnen möglich war. Nun hat die russische Sprache kein H, sondern ersetzt diesen Buchstaben durch das aspirierte G. Zudem wird das t am Ende ausgesprochen. Auf diese Weise war Hyvernat, da der Name niedergeschrieben werden mußte, zum Gyvernat geworden. Und gerade dieser Gyvernat war der Polizei als ein gefährlicher Mensch empfohlen worden, dessen Beachtung sie nicht versäumen durfte. Für Üverna hatte sie keine besondern Befehle. Dieser Üverna war der Polizei nur insoweit bekannt, den Fürsten Schervatchidza ausgenommen, der genau eingeweiht sein mußte, als ein Mensch, der von der französischen Regierung mit einer wissenschaftlichen Reise betraut war. Dieser Üverna erschien deshalb auch völlig ungefährlich, weshalb wir überall freundlich empfangen wurden. Alle dagegen lauerten auf Gyvernat, an dem sie sich die Lorbeeren zu verdienen trachteten. Wir ahnten dies gar nicht, fanden die Russen ganz liebenswürdig und dachten schon, dieselben seien nicht sehr bureaukratisch angelegt, weil sie den Vermerk „durchreisen ohne Aufenthalt“ ganz nach unserm Wunsche auslegten.

Armenierin aus Transkaukasien.

Aber des Abends gegen zehn Uhr ertönte im Hôtel ein Säbelgerassel und Sporengeklirr. Die ganze hohe Verwaltung von Eriwan kam in großem Pompe heran. Sehr höflich, mit einem wahren Armsündergesicht, verlangte der Untergouverneur, derselbe, der uns mit Liebenswürdigkeiten überhäuft hatte, Herrn Üverna zu sprechen. Nathanael und ich wurden von dem Gespräche ausgeschlossen. Das Ergebnis der Konferenz war die Vorlegung einer Ordre, die uns aufforderte, Eriwan nach der persischen Grenze hin zu verlassen und zwar innerhalb zwei Stunden, folglich also bis Mitternacht. Nach einigen Einwänden glaubte der Untergouverneur es auf sich nehmen zu können, wenn er einen Aufschub bis zum folgenden Morgen bewilligte.

Woher kam nun dieses Mißgeschick? Der Gouverneur Schalikoff hatte ohne Zweifel überlegt, nachdem er uns die Empfehlungsschreiben gegeben hatte: soeben habe er einen Herrn Üverna empfangen, der von der französischen Regierung mit einer wissenschaftlichen Mission betraut war; ein gewisser Gyvervat, der unter der selben Zweckangabe reiste, sollte nächstens den Kaukasus passieren, ohne sich daselbst aufzuhalten. Die Reisenden dieser Art sind nicht zahlreich, und hier sind zwei Namen, die eine auffallende Ähnlichkeit haben. Sollten nicht beide Namen ein und derselben Person angehören? Schnell telegraphiert der alte Schalikoff und befiehlt genau zu untersuchen, ob wirklich Üverna und Gyvernat dasselbe Individuum seien, und falls dies zutreffe, ihn innerhalb zwei Stunden auszuweisen.

Da hatten wir die richtige Auslegung der Worte : „reisen ohne Aufenthalt“.

Es blieb dabei; vergebens legten wir die Papiere vor, die sich auf Etschmiadsin bezogen, vergeblich baten wir, das Kloster unter der Aufsicht zweier Polizeibeamten und mit dem ausdrücklichen Versprechen, mit keinem Mönche des Klosters zu sprechen, besuchen zu dürfen. Gyvernat ist zu gefährlich für den Zaren und sein weites Reich, es ist besser, daß er abreist!

Was würde der alte General erst gesagt haben, wenn er geahnt hätte, daß die beiden Begleiter des schrecklichen Gyvernat auch Priester waren?

Des Morgens in aller Frühe reisten wir ab, nachdem uns noch die zweifelhafte Ehre zu teil geworden war, von einem besondern Postillon begleitet zu werden. An jeder Poststation kündigte er uns feierlichst durch das Geschmetter seines zersprungenen Hornes an. Seine ganze Sorge bestand darin, die Fahrt zu beschleunigen, um uns um so eher an der Grenze absetzen zu können. Ohne Zweifel hatte er auch den Auftrag erhalten, uns zu überwachen.

Von Eriwan nach Dschulfa steigen wir beständig das Thal des Aras hinab. Die Armenier nennen ihn Erask, nach Erasd, dem Sohne des ersten fabelhaften Königs Armenas von Armenien, der gegen das Jahr 2000 vor Christus regiert haben soll.

Der Aras hat seine Quelle in der Nähe von Erserum. Sein bedeutendster Arm, der Pasinsu, entspringt auf dem Nordabhang des Bingöl-Dagh (Gebirge der tausend Seen), der seine Gewässer teils zum Aras, teils aber auch zum Euphrat schickt. Ein anderer Arm hat seine Quelle auf dem Ostabhang des Pandeuken, kaum einige Stunden von Erserum. Die beiden Arme vereinigen sich zu Keüprükeui (Köprü-köi) (dem Brückendorf) und der Fluß fließt nach Osten bis zur Höhe von Eriwan. Vor seiner Ankunft daselbst wird er durch den Arpa-tschai bedeutend verstärkt. Dieser große Fluß nimmt die Zuflüsse der Höhen von Alexandropol und Kars aus und befähigt erst den Aras, die Ebene von Eriwan zu bewässern.

Hier drängt er sich auch durch die Gebirgsmassive des Goktscha und Karabagh: Zugleich ändert er auch seine Richtung und fließt nach Süden oder vielmehr beschreibt er einen großen Bogen, dessen Scheitel bei Ortubad liegt. Unterhalb Ortubad durchbricht er die Kette des Karabagh und windet sich durch mehrere schauerliche Engpässe. Dabei fällt er auf einer Strecke von weniger als hundert Kilometer doch über neunhundert Meter. In dem kleinen Kaukasus haben fast alle Flüsse auf den hohen Plateaux einen ruhigen Lauf und werden erst dann reißend, wenn sie von den Plateaux den Ebenen zufließen.

Nach einem Laufe von ungefähr 780 Kilometern nimmt der Aras die Kura auf. Es ist nach der Hypothese Baers möglich, daß er sich in einer noch nicht allzuweit entfernt liegenden Periode direkt in das Kaspische Meer ergoß. Auch jetzt soll er, wie man erzählt, zuweilen versuchen, sich mehr nach rechts zu wenden und sich von der Kura zu trennen.

Der Aras bildet die Grenze zwischen Rußland und Persien auf dem ganzen Laufe, wo er den erwähnten großen Bogen bildet, also vom Ararat bis zu seinem Eintritt in die Steppe von Mughan.

Das Thal des Aras wäre an den meisten Stellen sehr fruchtbar, wenn es bewässert würde. Aber die Bewässerungsarbeiten vergangener Jahrhunderte, die ehemals so berühmt waren, sind ungefähr gänzlich zerstört. Die Armenier scheinen ebenso schlechte Landwirte zu sein, als sie geschickte Handelsleute sind, und die anwesenden Tartaren sind zu faul, um irgend etwas Schwieriges zu unternehmen.

Ohne die nötige Bewässerung kann aber in diesem Klima nichts wachsen. Da, wo Kanäle dem Lande Wasser zuführen, befinden sich richtige Oasen, sonst aber nichts als Wüsten. Die Perser haben den meisten Kanälen einen unterirdischen Lauf gegeben, um die zu starke Verdunstung des so wertvollen Wassers zu verhindern.

Bäume giebt es wenig; bloß in der Umgebung der Dörfer werden sie angetroffen und dann aber auch nie wildwachsend. Die pyramidenförmige Pappel herrscht in der ganzen Landschaft vor. Man pflanzt sie in Reihen, damit sie den Stürmen Trotz bieten. In den Gärten wachsen Aprikosenbäume; die Landleute bauen Reis, Sesam und Ricinus. Der Ricinusstrauch, der schöne Formen zeigt, liefert in diesen Ländern das Brennöl. Von dem Olbönd, der nach Reclus in dem Becken des Aras häufig vorkommen soll, erinnere ich mich nicht ein einziges Exemplar gesehen zu haben. – Die Kultur der Baumwolle ist ebenfalls weit verbreitet, aber die Pflanzen selbst haben ein erbärmliches Aussehen.

Die Weinstöcke bringen einen ausgezeichneten goldgelben Wein hervor, der mit Madeira oder Xeres recht gut einen Vergleich aushalten kann. Die besten Lagen sind die von Eriwan und Etschmiadsin, die auch dafür weit und breit bekannt sind. Aber die Pflege des Weinstocks bereitet große Arbeit; während der strengen Winterkälte muß er mit Erde bedeckt werden, damit er nicht erfriert, und im Sommer muß er wie überhaupt alle Kulturpflanzen der dortigen Gegend begossen werden.

Am Ende Eriwans sind alle Wohnungen aus Stampferde ausgeführt. Da man sich um die Instandhaltung derselben aber wenig Mühe giebt, so ist es unvermeidlich, daß dieselben Ruinen ähnlich sehen. Es ist verhältnismäßig leicht, eine Hütte aus Stampferde aufzuführen; deshalb scheint es auch, daß die Einwohner es vorziehen, ihre Hütten ruhig zerfallen zu lassen, als sich mit der Unterhaltung derselben zu bemühen. Dies ist überhaupt ein charakteristischer Zug des Orientalen. Eine noch so leichte Arbeit wird ihm lästig, wenn er sie längere Zeit fortsetzen soll. Lieber thut er eine Zeit lang nichts und läßt alles drunter und drüber gehen; wenn er hernach auch um so anstrengender arbeiten muß, so thut er dies eher, als daß er sich fortgesetzt mit leichten Arbeiten beschäftigt.

Hinter Eriwan durchschritten wir eine mit Kieselsteinen bedeckte Ebene, der die bewässerte Gegend folgte, wo dann auch ganz natürlich – bis zum Posthause von Kamerlü – die Dörfer fast aneinander liegen. (Einige Werste südlich von Kamerlü findet sich das Kloster Chor-Wirab auf den Ruinen des alten Artarata; aber da Rußland in Gefahr war, konnten wir nicht daran denken, uns daselbst etwas aufzuhalten). Das außerordentlich schlammige Wasser liefert neben der Feuchtigkeit auch noch Dünger. Die Hitze war groß. Zahlreiche Reihen von Kamelen, die durch ihren schwerfälligen Marsch dicke Staubwolken aufwirbeln, erhöhten die „Annehmlichkeit“ der Reise bedeutend. Von Kamerlü bis Sadarak, wo wir die Nacht über blieben, ist das ganze Land fast eine Wüste, eine Steppe ohne Kultur, mit krüppelhaften Bäumen bedeckt, unter denen der Kapernstrauch sehr zahlreich vorkommt.

16. September.

Der alte Schalikoff hatte uns einen ausgezeichneten Weg vorgeschrieben. Dieser Weg ist nur eine Fährte durch die Steppe, je nach der Jahreszeit entweder ein Meer von Morast oder Staub.

Ungefähr zehn bis 12 Werste von Sadarak öffnet sich das Thal des Arpatschai (nicht mit dem von Alexandrapol zu verwechseln). Genügendes Wasser und ein Abhang, der für die Bewässerung besonders günstig ist, haben eine Oase von nahegelegenen Dörfern hier geschaffen.

Die Entfernung zwischen dem Posthause von Nuraschen-Syphla und Tatschark beträgt im Sommer bloß drei Werste, da man den Arpa-tschai an einer seichten Stelle überschreiten kann. Während der Regenzeit aber muß man eine höher gelegene Furt benutzen, die bei Tamsalü liegt.

In Tatschark hatten wir drei Stunden Aufenthalt. Nathanael wollte diese Zeit benützen und in dem eine halbe Stunde entfernten kleinen Dorfe Snagut den Taufschein eines dort geborenen Lazaristen holen. Wir begleiteten ihn dorthin. Snagut ist ein kleines, chaldäisches, katholisches Dorf, sehr arm und rings von Tartaren umgeben. Das nächste katholische Dorf liegt in Persien, aber mehr als acht Tagereisen entfernt. Der Ortsgeistliche hatte seit zwei Jahren keinen Priester mehr gesehen; er war glücklich, uns in seiner armseligen Hütte empfangen zu können. Kaum waren wir zwanzig Minuten da, als auch „zufällig“ der Chef der Polizei hereinkam. Er richtete zwar keine Frage an uns; aber die erschrockenen Mienen der Einwohner zeigten deutlich, daß diese wußten, daß der Polizist nur gekommen war um zu spionieren. Ich fürchtete gleich, daß er den Pfarrer unsern Besuch teuer werde bezahlen lassen. Der Pfarrer war ein harmloser Mensch, der von einer Verschwörung gegen die Regierung „Seiner Heiligen Majestät“ durchaus nichts wußte.

Meine Befürchtungen waren leider nur zu gerechtfertigt. Im Frühjahr 1891 erhielt ich einen Brief aus Persien, der mich von der Verbannung des Pfarrers benachrichtigte. Der allmächtige Kaiser von Rußland kann einige arme Chaldäer nicht in Frieden leben lassen. Zuerst nimmt er ihnen den Seelenhirten weg, und dann stellt er ihnen die Wahl zwischen Abfall oder aber Verfolgung ohne Gnade.

Die Russen mit ihrer erbärmlichen Scheinheiligkeit suchen die Verfolgung damit zu begründen, daß sie vorgeben, die Katholiken begünstigten die Unruhen. Was können die armen, unwissenden Chaldäer aber durch einen Aufstand gewinnen? Ohne Aufhören leben sie in Furcht entweder vor ihren tartarischen Nachbarn oder vor der russischen Regierung.

In einiger Entfernung von Tatschark beginnt die Wüste wieder. Der Ararat, der noch immer die Landschaft beherrscht, entfernt sich aber allmählich.

Das ganze Terrain ist durch die vulkanischen Erschütterungen sehr uneben. Eine felsige Kuppe, die in südöstlicher Richtung sich ganz allein erhebt, erregte unsere Aufmerksamkeit. Sie soll bei Nakhitschewan liegen.

Die Hitze war wirklich tropisch. Glücklicherweise folgte der Hitze beim Einbruch der Nacht eine angenehme Kühle und machte den langen Weg bis Nakhitschewan, wo wir ruhen sollten, erträglicher.

Selbst bei dieser nächtlichen Reise fehlt keineswegs ein Zauber, aber ein Zauber der Gefahr, wenigstens einer eingebildeten. Auf der Poststation hatte man uns die letzten Werste vor Nakhitschewan als häufig von Räubern besucht geschildert. In Folge dessen ließen wir rechts und links von dem Wagen unsere geladenen Flinten in dem Mondenschein sehen, aber von Räubern erblickten wir keine Spur.

Kaum waren wir an dem Posthause in Nakhitschewan angekommen, als wir auch schon den Besuch des Polizeichefs erhielten – aus dem alleinigen Grunde, um uns zu begrüßen – ; nach einer Unterhaltung von wenigen Minuten ging der ehrenwerte Beamte weg, kam aber sehr bald wieder und verlangte unsere Pässe. Jetzt entstand wieder eine neue komische Szene in Betreff der Namen. Wohl fand der Beamte Gyvernat und Müller, aber ihm fehlte ein Herr Abat. wo ist derselbe? Natürlich war uns diese Person gänzlich unbekannt. Es begann nun eine endlose Unterredung. Der Chef der Polizei verlangte Herrn Abat und wir hatten von dessen Existenz keine Ahnung. Endlich kam Nathanael auf den Gedanken, Abat sei vielleicht nur eine „Verwechselung“ des französischen Titels Abbé. Also sind Abat, Gyvernat, Üverna und Hyvernat Namen für ein und dieselbe Person. Aber dies dem armen Polizeichef zu erklären! Als er uns verließ, war er noch immer mit seinem Herrn Abat beschäftigt. Im übrigen verbrachten wir in unsern Feldbetten eine ausgezeichnete Nacht, so daß wir anfingen, unsere Feldbetten den besten Betten des modernen Europa vorzuziehen.