Von einem Vielgenannten (Die Gartenlaube 1873/34)

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Autor: Siegfried
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Titel: Von einem Vielgenannten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 550–554
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Von einem Vielgenannten.

„Da sitzt mein lieber Freund Lasker. Ich kann wirklich mit Falstaff sagen: ‚Der Junge hat mir einen Trank eingegeben, daß ich ihn so liebe; es kann nicht anders sein, er hat mir einen Trank eingegeben.‘ Mit wahrer Vaterfreude habe ich gesehen, daß er mich bald überragte, und jedes Mal, wenn er muthig sich hineinwagt und von allen Seiten angegriffen wird, fühle ich in mir den Aufruf, ihm beizustehen, was ich aber seinen Fractionsgenossen überlassen muß. Brächte ich ihn heraus, würde ich mir vorkommen wie der alte Talbot, der seinen wackern Jungen, den John, aus der Schlacht bringt und ihm zuruft:

‚Als Du vom Helm des Dauphin Feuer geschlagen,
Da ward mein Vaterherz emporgetragen
In stolzer Siegesbegier.‘“

Ein eigenthümlicher Zufall war es, der dem großen Volksmann [551] Ziegler an der Jubelfeier seines siebzigjährigen Geburtstages diese anerkennenden Worte in den Mund legte, wenige Tage vor jener denkwürdigen Sitzung des preußischen Abgeordnetenhauses, in welcher Eduard Lasker mit der wuchtigen Waffe seiner Rede wie ein Blitz herniederfuhr in die corrumpirte Atmosphäre des preußischen Handelsministeriums. Der Reichstagsabgeordnete für Breslau, der lange vor Bildung der nationalliberalen Partei, schon im Anfange des Krieges gegen Oesterreich, im Namen jener parlamentarischen Demokratie von 1848, um deren willen er Freiheit und Amt hatte opfern müssen, in Schlesiens Hauptstadt das nationale Banner entfaltet hatte, der aber nichtsdestoweniger den Grundsätzen des Rechts und der Freiheit, welche den Inhalt seines langen Lebens bildeten, treu geblieben war, der ehemalige Oberbürgermeister von Brandenburg, durch dessen stets geistvoll zündende Reden noch immer etwas wie das Pathos der Märzrevolution klingt, war jedenfalls in erster Linie berechtigt, die Verdienste und den sittlichen Werth des Mannes zu würdigen, der unter den Gründern und Führern der nationalliberalen Partei die erste, wenn auch leider nicht immer maßgebende Stelle einnimmt. Der Schreiber dieser Zeilen steht auf dem Standpunkte, daß er noch heute die Bildung der nationalliberalen Fraction, die im Herbste des Jahres 1866 erfolgte, nicht als ein nationales Glück betrachtet, weil die Trennung der bewährtesten Männer, welche bisher Schulter an Schulter für die Einheit Deutschlands, zugleich aber für die Aufrichtung des Rechtsstaates und die Durchdringung desselben mit den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit gekämpft hatten, in zwei verschiedene Heerlager in der großen Masse der Nation die falsche Meinung hervorrufen mußte, als ob Freiheit und Einheit Deutschlands Gegensätze und nicht vielmehr sich gegenseitig ergänzende Bedingungen der Macht und Größe des Vaterlandes seien. In diesem Sinne möchten wir behaupten, daß trotz mancher Meinungsverschiedenheit, wie sie im politischen Leben selbst unter den am nächsten stehenden Freunden kaum zu vermeiden sind, Eduard Lasker auch heute noch an dem Programm und an den Grundsätzen festhält, auf welche hin er im März 1865 vom Berliner vierten Wahlkreise in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt worden ist, und die ihn zum Anschlusse an die Fraction der deutschen Fortschrittspartei bewogen.

Lasker’s Stellung innerhalb der nationalliberalen Partei, wie überhaupt innerhalb des parlamentarischen Lebens des letzten Jahrzehnts, wird durch einen kurzen Rückblick auf seinen Entwickelungsgang erklärlich, der zugleich den Schlüssel für seine eigenthümliche Begabung und seinen durchaus harmonischen Charakter liefert. Am 14. October 1829 wurde Eduard Lasker in der kleinen Stadt Jarorin an der polnischen Grenze geboren und wuchs unter patriarchalischen Verhältnissen heran, wie sie Bernstein in „Mendel Gibbor“ und „Vögele der Maggid“ so meisterhaft geschildert hat. Sein Vater war ein Kaufmann, der seiner Redlichkeit und seines pflichttreuen Charakters wegen in der kleinen jüdischen Gemeinde, der er angehörte, eines großen Ansehens sich erfreut haben muß, denn noch heute steht seine patriarchalische Einfachheit und Humanität in gutem Andenken. Die ziemlich zahlreiche Familie scheint überdies wohlhabend gewesen zu sein, da die Eltern sich in den Stand gesetzt sahen, ihren Kindern eine verhältnißmäßig gute Erziehung zu Theil werden zu lassen. Den Kindern wurde ein Hauslehrer gehalten, wahrscheinlich ein Rabbinatscandidat, der ihnen zunächst die Kenntnisse des Hebräischen und insbesondere der gelehrten Bücher der Juden beizubringen hatte. Bei diesem Unterrichte soll der kleine Eduard schon als Kind eine erfreuliche Auffassungsgabe, scharfen Verstand und seltenes Gedächtniß entwickelt haben; schon als achtjähriger Knabe widmete er, wie erzählt wird, seinen Eltern eine hebräische Uebertragung des Schiller’schen Gedichtes „Die Theilung der Erde“. Im dreizehnten Jahre, bekanntlich dem Alter der Einsegnung für jüdische Knaben, war er in den biblischen Schriften schon vollständig bewandert; auch dem Studium des Talmud gab sich der lernbegierige Knabe mit unermüdlichem Eifer hin und legte dadurch frühzeitig den Grund zu einer scharfen, stets treffenden und durchdachten Ausdrucksweise. Der frühzeitige Verlust der Mutter, einer schlichten, aber durch Lebensklugheit ausgezeichneten Frau, war die Veranlassung, daß Eduard mit seinem älteren Bruder nach Breslau übersiedeln mußte, um dort das Gymnasium zu besuchen. Mit demselben Eifer, den Eduard bisher auf das Hebräische und des Studium des Talmud verwandt hatte, suchte er sich jetzt die Kenntniß der lateinischen und griechischen Sprache anzueignen und in den Geist der griechischen und römischen Classiker einzudringen. Er war bereits vierzehn Jahre alt, als er in die Quarta des Gymnasiums aufgenommen wurde, und da seinem ungestümen Wissensdrange es nicht nur leicht wurde, die vorhandenen Lücken in seinem Wissen schnell auszufüllen, sondern auch ungewöhnlich schnell die langsamen Classenstufen zu überspringen, so zog er es vor, das Gymnasialstudium aufzugeben und sich selbstständig auf das Abiturientenexamen vorzubereiten. Es verbindet sich, wie man hier deutlich sieht, in Lasker’s Entwickelung jene Sicherheit, welche das autodidaktische Studium verleiht, mit der Gründlichkeit, die allein durch eine regelrechte Ausbildung gewonnen werden kann. Der Arbeitslust und der Charakterfestigkeit des strebenden Jünglings gelang es, seine Vorbereitung in wenigen Jahren so weit zu fördern, daß er bereits Ostern 1847, also im Alter von siebzehnundeinhalb Jahren, die Abiturientenprüfung bestehen und die Universität beziehen konnte. Er hatte die Absicht, Medicin zu studiren, da sein Vater widerstrebte, aufgegeben und widmete sich anfangs dem Studium der Mathematik.

Seine erste Studienzeit fiel in das Erwachen des politischen Lebens in Deutschland, und Lasker scheint den Ereignissen des Jahres 1848, welche bekanntlich in Breslau zu einer besonders großen Erregung der Gemüther führten, das eifrigste Interesse gewidmet zu haben. Sehr wahrscheinlich erscheint es mir, wenn auch sichere Nachrichten darüber mir nicht vorliegen, daß Lasker sich auch am regen burschenschaftlichen Leben, welches zu jener Zeit in der Viadrina sich entwickelte, lebhaft betheiligt hat. Das politische Interesse scheint den jugendlichen Studenten so sehr gefangen genommen zu haben, daß er in Wien, wohin er sich gerade in den blutigen Octobertagen begab, um unter Leitung des Professors Endlicher sein Studium fortzusetzen, in die berühmte akademische Legion sich aufnehmen ließ, welche unter Messenhauser und Robert Blum die Hauptstadt Oesterreichs gegen die Schaaren Windischgrätz’s und die Kroatenhorden Jellachich’s zu vertheidigen versuchte. Diese revolutionäre Sturm- und Drangperiode scheint bei dem besonnenen Jünglinge indessen sehr bald vorübergegangen zu sein. Seine Beschäftigung mit dem politischen Leben der Nation, mit den öffentlichen Angelegenheiten; die Entwickelung der Ereignisse mögen wohl den in der rastlosen Gedankenarbeit früh gereiften Jüngling zu dem Entschlusse geführt haben, sich dem Studium der Jurisprudenz zu widmen. Im Jahre 1850 absolvirte er sein Auscultatorexamen; im Jahre 1852 bestand er die zweite Staatsprüfung. In diese Zeit fällt der Tod seines innig geliebten Vaters, und vielleicht, um sich über den schmerzlichen Verlust hinwegzuhelfen, wohl auch, um Erholung von seiner angestrengten Berufsthätigkeit und den sonstigen Arbeiten, denen er oblag, zu finden, begab er sich auf längere Zeit nach England. Hier, im Mutterlande des Constitutionalismus, wo die parlamentarische Regierung nicht nur dem Scheine nach, sondern in Wahrheit besteht, wo die Grundsätze des Rechts und der Volksfreiheit in Fleisch und Blut der Nation und zugleich der leitenden Staatsmänner übergegangen sind, hier verweilte Lasker drei Jahre, die er zum eifrigsten Studium der Verfassung, der Verwaltung und der gesellschaftlichen Verhältnisse des englischen Volkes mit dem besten Erfolge benutzte.

Nach seiner Rückkehr im Jahre 1856 trat er auf’s Neue in den preußischen Staatsdienst ein und arbeitete seit 1858 als Assessor am Berliner Stadtgericht mit dem angestrengtesten Fleiße, mit der größten Ausdauer, obgleich ihm, dem Juden, weder Beförderung noch sonst lohnende Aussichten sich eröffneten. Damals war es, wo ich persönlich Gelegenheit hatte, die Bekanntschaft des jungen, unscheinbaren Assessors zu machen, der als Commissar in einem Concurse eine der schwierigsten und verwickeltsten Rechnungssachen zu bearbeiten hatte. Schon damals fiel mir die Leichtigkeit und Gewandtheit, die von seltener Geisteskraft getragene Sicherheit auf, die Lasker bei allen seinen Amtshandlungen an den Tag legte. Seine Arbeitskraft war geradezu unverwüstlich und wurde auch von seinen Collegen weidlich ausgenutzt. Ihm wurden mit Vorliebe die umfangreichsten und complicirtesten Sachen übertragen.

[552] Das lebhaftere Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, welches mit dem Eintritt der Regentschaft wieder erwachte, hat auch offenbar den jungen Assessor Lasker ebenso wie seinen damaligen Collegen, den leider früh verstorbenen Eduard Fischel, veranlaßt, den politischen Vorgängen und namentlich der parlamentarischen Entwickelung besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und er mag wohl schon damals in publicistischen Arbeiten seine Ansichten ausgesprochen haben. Oeffentlich wurde sein Name zum ersten Male genannt, als er Mitarbeiter an den von Dr. Oppenheim herausgegebenen „Jahrbüchern für Politik und Literatur“ wurde. In dem ersten uns bekannten Aufsatze, der aus Lasker’s Feder stammt (aus dem Jahre 1861), „Polizeigewalt und Rechtsschutz in Preußen“ tritt Lasker bereits mit umfassenden Kenntnissen des öffentlichen Rechts in Preußen und zugleich der politischen Verhältnisse und der Stellung der Parteien zu einander hervor.

Als energischer Vertheidiger des Rechtsstaats bekämpft er mit sittlichem Ernste und eindringlicher Logik die willkürlichen Eingriffe der Bureaukratie in die Rechtspflege, wie sie durch das Gesetz vom 11. Mai 1842, „dieses Grundgesetz des Polizeistaats“, dessen leitender Gedanke darin besteht, daß Beschwerden über polizeiliche Verfügungen jeder Art lediglich vor die vorgesetzte Dienstbehörde gehören, sanctionirt worden sind. Man wird schon damals den ernsten Mann des Fortschritts nicht verkannt haben, den treuen und eifrigen Freund des Vaterlandes, wenn er sagt: „England ist ein mächtiges Land geworden, nicht wegen seiner insularen Lage, nicht wegen seiner Handelsverbindungen, nicht trotz seiner Rechtsherrschaft, sondern durch diese. Die Rechtsherrschaft hat ihm die wahre Freiheit gegeben, denn ohne Sicherheit neben ungestrafter Willkür giebt es keine wahre Freiheit. Die Freiheit hat jedem Bürger Englands jenes hohe Selbstbewußtsein gebracht, um welches der einsichtige Bürger des Continents ihn mehr beneidet, als um den Reichthum und die vielen anderen Vorzüge seiner Nation. Das Selbstbewußtsein aber ist die Quelle seiner Thatkraft und seines Wohlstandes, seiner lebendigen Theilnahme am Staatsleben, seiner Opferwilligkeit, Mäßigung, der Kraft des Staats und der innern unerschütterlichen Ordnung.“

Der spätere Parteiführer, der mit Zähigkeit an seinen Grundsätzen festhält, immer im Hinblick auf das Wohl des Vaterlandes seine Ideen verwirklicht sehen will, kennzeichnet sich aber in folgenden Schlußworten der Aufsehen erregenden Abhandlung: „Deutschland braucht England nicht zu beneiden, es kann ihm nachstreben; es braucht nur desselben Wegs zu wandeln, und es wird zu demselben Ziele gelangen. Friedrich der Zweite hatte kaum die äußere Macht Preußens consolidirt, und er begriff diesen Theil seiner Aufgabe. Auf seine Anregung wendete sich der Staat der Rechtspflege zu, und die preußischen Gesetzgeber fingen an, unter der Rechtsherrschaft die Kraftentfaltung zu suchen. Diesem bewußten Streben sind die Gesetzbücher entsprungen. Dieser Geist beherrschte trotz mannigfacher Schwankungen die Geschichte Preußens bis zu der unglücklichen Periode der zwanziger Jahre, ihm verdankt Deutschland seine Regeneration. Daran muß das heutige Preußen anknüpfen, und das übrige Deutschland wird ihm folgen. Auch das gehört zu den Aufgaben Preußens in Deutschland.“

Man wird zugeben, daß in den scharfen und festumschriebenen Anschauungen dieser Abhandlung die Grundlagen des auf Volksfreiheit gegründeten Rechtsstaats in jener prägnanten Weise niedergelegt sind, wie sie bisher nur mit gleicher Schärfe und nur noch mit viel größerem Pathos der Vater der preußischen Demokratie, der verewigte Waldeck, offenbart hatte. Diese und ähnliche Aufsätze über Verfassungsrecht lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit immer mehr auf den jungen unbesoldeten Assessor, der sich bald darauf in den Berliner Verein der Presse, in den großen Berliner Handwerkerverein aufnehmen ließ, wo er noch gegenwärtig in der wohlthätigsten Weise wirkt, und in Bezirksvereinen öffentliche Vorträge hält. Während seine staatsrechtlichen Abhandlungen, seine öffentlichen Vorträge die politische Begabung Lasker’s in immer höherem Grade hervortreten ließen, war doch der seltne Umfang seines Wissens, seine Charakterfestigkeit und Sittenreinheit nur seinen nächsten Freunden bekannt, sowie die seltne Uneigennützigkeit, die ihn jeden Erwerb verschmähen ließ, der nicht auf die ehrenwerthesten Quellen zurückgeführt werden konnte.

Aber nicht blos die staatsrechtlichen Studien und die öffentlichen Angelegenheiten erfüllten Lasker’s Herz und Sinn, wenn er ihnen auch sein ernstestes, hauptsächliches Streben zuwendete; auch mit Geschichtsstudien beschäftigte er sich, und die Geisteswerke der berühmten Dichter der deutschen Nation gewährten ihm eine reichliche Quelle der reinsten Genüsse, wie denn seine Mußestunden nicht selten dem Anhören großartiger Tondichtungen gewidmet sind. Noch während Lasker gewissermaßen mit den theoretischen Vorarbeiten auf seine epochemachende Laufbahn als Parlamentarier beschäftigt war, während er die undankbare Arbeit eines unbesoldeten preußischen Assessors mit unermüdlichem Fleiße und nie versiechendem Frohsinn abwickelte, wobei er durch juristische Gutachten, durch publicistische Arbeiten die ihm vom Staat versagten Mittel für seinen Unterhalt zu erwerben suchte, war es seine auch heute noch beibehaltene Gewohnheit, in den Bergen der Schweiz durch rüstige Fußwanderungen jene Erholung zu suchen, welche Körper und Geist stets frisch zu erhalten vermag und die Grundlage seiner unerschütterlichen Gesundheit geworden ist. Mit der wachsenden Anerkennung verlor indeß Lasker keineswegs seine liebenswürdige Bescheidenheit, welche ihm die Freundschaft der besten Männer verschaffen sollte, und weder Aussicht auf Beförderung noch auf Vermehrung seines Einkommens waren im Stande, ihn von der Erfüllung der Aufgaben abzuhalten, die er sich vorgezeichnet hatte, oder ihn von den einmal angenommenen einfachen Gewohnheiten des Lebens abweichen zu lassen. Jahrelang wohnte Lasker im dritten Stockwerk bei denselben schlichten Wirthsleuten und ist mit diesen, die den stillen arbeitsamen Miethsmann, der besonders die Kinder sehr lieb hatte und dies jederzeit in Ernst und Freude bewährte, sehr liebgewonnen hatten, weiter gezogen, als die Umstände sie nöthigten, eine andere Wohnung zu miethen. So war der Mann beschaffen, der wie wenige vor ihm und nach ihm eine Zierde der preußischen und später der deutschen Volksvertretung werden sollte. Bekanntlich hatte sich in jenen Jahren, in welche Lasker’s erstes publicistisches Auftreten fiel, zwischen der preußischen Regierung und dem Abgeordnetenhause aus Anlaß der von der Regierung eigenmächtig durchgeführten Armeereorganisation ein Conflict entwickelt, welcher durch die verfassungswidrige Behandlung des Budgetrechts nach der Uebernahme des Ministeriums durch Herrn von Bismarck-Schönhausen eine ungewöhnliche Schärfe erhielt.

Lasker’s publicistische Arbeiten in den „deutschen Jahrbüchern“ behandelten vorzugsweise die Fragen des Budgetrechts und der preußischen Verwaltung und zeugten von so überraschenden staatsrechtlichen Kenntnissen, von so gründlicher Gelehrsamkeit, daß die damals den Ausschlag gebende Fraction der Fortschrittspartei den Wunsch hegen mußte, eine so hervorragende noch jugendliche Kraft für die parlamentarische Thätigkeit zu gewinnen, welche selbst der schlagfertigen Dialektik des nicht immer zuverlässigen Gneist auf staatsrechtlichem Gebiete gewachsen war. Es war indeß selbst in der Conflictszeit, wo der Einfluß der Fortschrittspartei auf die einzelnen Wahlkörper sehr weitreichend war, immerhin ungemein schwierig, Lasker einen Sitz in der Volksvertretung zu verschaffen. So freisinnig die Wählerschaften in Preußen sich auch geberdeten, so bewährten sie doch größtentheils den alten Ausspruch Lessing’s: „Es ist nicht Jeder frei, der seiner Ketten spottet.“ Es wäre geradezu unmöglich gewesen, in einem ländlichen Kreise Lasker durchzubringen, und so mußte schon der Versuch gemacht werden, in Berlin selbst dem jüdischen Assessor zu einem Mandat zu verhelfen. Wiederholt mißlang indeß dieser Versuch, da selbst die gebildete Wählerschaft des ersten Wahlbezirks der Hauptstadt der Intelligenz sich nicht auf die Höhe der Aufklärung emporschwingen konnte, den „Juden“ Lasker zum Abgeordneten zu wählen. Erst im März 1865, als Professor Temme aus Zürich sein Mandat für den vierten Wahlbezirk niederlegte, gelang es ihm, einen Sitz in der Volksvertretung zu erhalten.

Sein erstes Auftreten im preußischen Abgeordnetenhause, am 27. März 1865, fiel in eine späte Nachmittagsstunde und seine vor einem ermüdeten Hause gehaltene Jungfernrede, der wir selbst beiwohnten, machte fast eine komische Wirkung, die durchaus nicht den Erwartungen entsprach, mit denen man dem [553] Eintritte des bereits berühmten Publicisten entgegengesehen hatte. Aber allmählich eroberte sich der kleine unscheinbare Mann mit dem durchaus nicht dialectfreien, aber kräftigen und durchdringend deutlichen Organe durch seine Arbeitskraft, durch sein Staunen erregendes Wissen und den sittlichen Ernst, den er den parlamentarischen Arbeiten entgegentrug, die Anerkennung, ja die Liebe seiner Parteigenossen und schließlich auch die Achtung seiner Gegner. Wir haben selbst aus Waldeck’s Munde die wärmsten Zeugnisse für die große Begabung, für die seltene Tüchtigkeit des neuen Fortschrittsmannes vernommen. In dem letzten Jahre des Conflict’s konnte indeß Lasker’s eigenthümliche, hervorragende Begabung neben Waldeck, Overbeck, Twesten, Forckenbeck, Virchow sich nicht mehr in dem hohen Grade geltend machen, wie es unzweifelhaft der Fall gewesen wäre, wenn er seit Bildung der deutschen Fortschrittspartei derselben angehört hätte. Gleichwohl trat er bei verschiedenen Gelegenheiten bereits damals hervor und entwickelte eine immer größere Redegewandtheit, die sich fern von allem Phrasenschwalle hielt und stets mit logischer Schärfe in den Kern der Sache einzudringen suchte. Erst mit der Begründung der nationalliberalen Partei, an welcher Lasker sicherlich in der vollen Ueberzeugung, seinem Vaterlande auf diese Weise am besten nützen zu können, einen großen Antheil nahm, begann der ruhmvollste Theil seiner politischen Laufbahn. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir constatiren, daß seit der Beilegung des großen Conflicts im Jahre 1866 kaum ein Gesetz für die preußische Monarchie, den norddeutschen Bund und das deutsche Reich zu Stande gekommen ist, das nicht in hervorragender Weise den Stempel des Lasker’schen Geistes trägt. Erst bei der Berathung der Verfassung des norddeutschen Bundes setzte sich Lasker in einen scharfen Gegensatz zur Fraction der Fortschrittspartei, indem er zunächst die Verfassung unter allen Umständen hergestellt wissen wollte, wenn dieselbe auch nicht seinen eigenen Ansprüchen auf Centralisation der Reichsgewalt und Reichsgesetzgebung entsprach und noch weniger in Bezug auf die constitutionellen Garantien und die Rechte der Reichsbürger. Er gab sich der Hoffnung hin, daß, wenn erst die Verfassung in’s Leben getreten sein würde, es der deutschen Nation nicht schwer fallen könne, das ihr gebührende Maß von Freiheitsrechten zu erlangen, und daß innerhalb der beschlossenen Formen eine Entwicklung der Verfassung keinen Schwierigkeiten begegnen würde. Es ist bekannt, daß diese Haltung den Vertreter des ersten Berliner Wahlbezirks im constituirenden Reichstage um das Vertrauen seiner Berliner Wähler brachte, die in ihrer großen Majorität noch heute mit den Gesichtspunkten einverstanden sind, welche Waldeck und seine fortschrittlichen Freunde veranlaßt haben, gegen den norddeutschen Verfassungsentwurf zu stimmen.

Auf der Höhe seiner parlamentarischen Laufbahn angelangt, tief eingreifend und mitentscheidend bei der Gesetzgebung für sein Volk, einflußreich im Rathe der Nation, blieb Lasker noch immer der unbesoldete Gerichtsassessor, bis endlich im Jahre 1870, nach endlicher Beseitigung eines unfähigen Justizministers, ihm eine Rechtsanwaltstelle am Berliner Stadtgericht zu Theil geworden ist, die er indeß bis zu diesem Augenblick niemals zu einer Quelle des Erwerbes gemacht hat. Erst nach dem Tode Twesten’s trat er in das Pfandbriefamt der Berliner Stadtgemeinde ein, dessen definitive Uebertragung mit einem einigermaßen nennenswerthen Gehalte auch erst in diesem Jahre erfolgt ist. Lasker’s Bedürfnißlosigkeit, die durchaus fern ist von ascetischer Enthaltsamkeit, setzte ihn in den Stand, seine äußere und innere Unabhängigkeit mit der größten Gewissenhaftigkeit aufrechtzuerhalten und den mannigfaltigsten Verlockungen, die sowohl seitens der Staatsverwaltung als auch von einflußreichen Privatmännern an ihn herangetreten sind, zu widerstehen.

Es wäre ihm vielleicht nicht minder leicht geworden, als Herrn von Bennigsen, ein einflußreiches Staatsamt zu erlangen, oder als Herrn Miquél, ein mehr als fürstliches Einkommen sich zu verschaffen, aber gerade die Integrität seines Charakters, die ihn vor solchen Versuchungen beschützte, stellt ihn hoch in den Augen der Nation. Nur ein Mann von Lasker’s Charakter war im Stande, jene Eiterbeule der Corruption aufzustechen, welche in Folge des Gründungsschwindels und des Milliardensegens auch in unserem Vaterlande zu wuchern begann und bereits die Spitzen des Beamtenthums angefressen hatte. Wenn die Ergebnisse der auf königlichen Specialbefehl angeordneten Untersuchung über die preußische Eisenbahnverwaltung erst veröffentlicht sein werden, dann erst werden die Verdienste, die Lasker sich um die Sittlichkeit und den öffentlichen Verkehr erworben hat, noch leuchtender hervortreten.

Aber Lasker’s Auftreten gegen den Gründungsschwindel im preußischen Abgeordnetenhause und im deutschen Reichstage ist, wenn auch sein hervorstechendstes Verdienst, das die Blicke von fast ganz Europa auf den kleinen jüdischen Abgeordneten lenkte, doch keineswegs der Gesammtinhalt oder auch nur der Gipfel seiner parlamentarischen Thätigkeit. Wie er im constituirenden Reichstage mit unablässigem Bemühen für die freisinnige Gestaltung der Bundesverfassung gewirkt hatte, so kämpfte er in den späteren Reichstagen des norddeutschen Bundes und deutschen Reichstages mit unerschrockenem Muthe für den freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung. Seine Anstrengungen um die Herbeiführung eines einheitlichen Rechts für das deutsche Reich, sein Einfluß auf eine rationelle Entwickelung der Gewerbegesetzgebung sind anerkannt, aber auch aus seiner offenen und ehrlichen Ueberzeugung machte er niemals ein Hehl, welche die Einheit Deutschlands auf die Freiheit gegründet wissen, welche den Rechtsstaat überall verwirklicht wissen wollte. Unvergessen ist seine consequente Haltung in der Diätenfrage, durch deren endliche Lösung eine gesunde Entwickelung der Reichsverfassung bedingt ist, seine auf endliche Herstellung eines der Controle der Volksvertretung unterworfenen Militär-Etats gerichteten Bestrebungen, die nicht sowohl die Schwächung der deutschen Wehrkraft, als vielmehr die Schonung der durch die unselige Pauschquantumswirthschaft geschädigten wirthschaftlichen Kräfte der Nation bezweckten. Noch in Aller Erinnerung steht die scharfe Logik, die unwiderlegliche Kraft der Beredsamkeit, mit welcher er in der letzten Reichstagssession den Grundsatz der Gleichberechtigung zwischen Militär- und Civilbeamten bei der Berathung über das Gesetz wegen der Wohnungsgeldzuschüsse vertrat. Diesem Grundsatze der gleichen Rechte und gleichen Pflichten verhalf der jederzeit unermüdliche und vorbereitete parlamentarische Streiter auch im preußischen Abgeordnetenhause bei Berathung der Kreisordnung in nicht unwichtigen Punkten zum Siege. Wenn Lasker’s redliche Bemühungen um das Zustandekommen einer freisinnigen Gesetzgebung, für den freiheitlichen Ausbau der Reichsverfassung nicht immer den gewünschten Erfolg haben, so trägt wesentlich der Umstand die Schuld, daß die zahlreiche nationalliberale Fraction, deren begabtester und zugleich redlichster Führer er ist, nur zum geringsten Theile aus Männern besteht, welche die große Aufgabe eines preußischen und deutschen Volksvertreters mit derselben sittlichen Kraft erfaßt haben, wie Eduard Lasker.

Wir haben schon hervorgehoben, daß die ungetheilte Anerkennung aller vaterlands- und freiheitliebenden Männer dem selbstlosen, eingreifenden Wirken Lasker’s in den Parlamenten zu Theil geworden ist; wir fügen hinzu, daß in den letzten Wochen Lasker seitens der Universität Leipzig auch eine äußere Auszeichnung erhalten hat, indem ihn die dortige juristische Facultät wegen seiner Verdienste um die deutsche Rechtseinheit zum Ehrendoctor creirte, eine Auszeichnung, mit der zu gleicher Zeit der verdienstvolle Präsident des Reichskanzleramts Delbrück beglückt geworden ist. Noch sind leider trotz aller Fortschritte unserer gerühmten Civilisation und Aufklärung die Vorurtheile im gesellschaftlichen und staatlichen Leben Deutschlands nicht so weit beseitigt, daß Aussicht vorhanden wäre, eine so reich und allseitig gebildete Kraft für ein höheres Staatsamt zu gewinnen, wo sie zur vollen Entfaltung ihrer segensreichen Thätigkeit die meiste Gelegenheit haben würde. Freuen wir uns indeß, daß ein so rastloser, muthiger Arbeiter für constitutionelles Recht und Freiheit dem deutschen Vaterlande in Eduard Lasker erwachsen ist, der sich nicht scheut, unter Umständen selbst dem gefürchteten Kanzler des deutschen Reichs entgegenzutreten und selbst ihm gegenüber die Bedeutung der Volksrechte mit Nachdruck zu betonen, welche leider nicht immer von allen Volksvertretern in gleicher Weise hochgehalten werden.

Indem wir in vorstehenden Zeilen eine Würdigung des Politikers und Staatsmannes versuchten, haben wir zugleich angedeutet, daß sein parlamentarischer Ruhm durchaus abhängig gewesen ist von seiner geistigen und humanen Entwicklung. Späteren Zeitgenossen oder vielleicht erst den Nachkommen wird [554] es vorbehalten sein, tiefer in dieselbe einzudringen, als die Mitlebenden es vermögen, welche nicht unzart den Schleier von Privatverhältnissen lüften dürfen, wenn sie auch dem Manne zur höchsten Ehre gereichen sollten.

Lasker’s hohe geistige Begabung sprudelt aus dem reichen, unerschöpflichen Quell eines für alles Schöne, Hohe und Edle im Menschenleben empfänglichen Gemüths. Wenige Menschen dürfen sich rühmen wie er, die innige, uneigennützige Freundschaft der wackersten Männer gewonnen zu haben, wie denn die ergreifenden Worte, die Lasker am Grabe seines allzu früh verstorbenen Freundes Twesten gesprochen hat, sehr deutlich bekunden, wie theuer er selbst dem dahingeschiedenen Patrioten gewesen ist. Nur die Freuden der Familie sind ihm versagt geblieben.

Lasker steht gegenwärtig im dreiundvierzigsten Lebensjahre; er hat eine kleine, unscheinbare Figur; aber aus den feinen, intelligenten Gesichtszügen, die von einem dunkeln, bereits grau melirten Barte umrahmt sind, spricht ein energischer Geist, ein scharfer Verstand. Er vermag weder in seinem Antlitze, noch in seiner Redeweise, welche allerdings durch die fortwährende Uebung sein Organ völlig abgeschliffen hat, den Abkömmling der auserwählten Nation zu verleugnen. Durch seine mäßige Lebensweise, durch seine Fußwanderungen in der freien Natur hat er seinen an sich schwächlichen Körper in einer Weise gestählt, daß derselbe den Anstrengungen eines der rastlosesten Geistesarbeit gewidmeten Lebens gewachsen ist. Möge dasselbe dem deutschen Vaterlande noch lange erhalten bleiben!
Siegfried.