Was ist atonal?

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Textdaten
Autor: Alban Berg
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Titel: Was ist atonal?
Untertitel: Ein Radio-Dialog
aus: 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift, 1936, Nr. 26-27, Seite 1-11
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1930
Erscheinungsdatum: 1936
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Erscheinungsort: Wien
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstveröffentlichung nach Bergs Tod in: 23 – Eine Wiener Musikzeitschrift Nummer 26/27 vom 8. Juni 1936.

Die kurze Einleitung von Willi Reich (1898-1980) hat keine Schöpfungshöhe

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[1]
Was ist atonal?


Das Manuskript des nachstehenden, am 23. April 1930 im Wiener Rundfunk gesprochenen Dialogs hat Alban Berg mir geschenkt und sich mit seiner gelegentlichen Veröffentlichung einverstanden erklärt. Die Publikation zum gegenwärtigen Zeitpunkt bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, nur kurz sei noch angemerkt: Wenn es auch für den Meister leicht war, die schwächlichen Argumente des (inzwischen wieder rückfällig gewordenen) Opponenten[WS 1] zu widerlegen, so gab ihm doch selbst der bescheidene Anlaß die Anregung zu wichtigen sachlichen Feststellungen; aber auch unabhängig davon hat der Dialog als persönliches Dokument für die Art, in der Berg zu argumentieren pflegte, besondere Bedeutung und bildet ein würdiges Präludium zu der vom nächsten Heft der „23“ ab geplanten Diskussion über die Grundlagen der Zwölftontechnik.

Willi Reich


Opponent: Also verehrter Meister Berg, wir müssen beginnen!

Alban Berg: Fangen nur Sie an, es genügt mir, wenn ich das letzte Wort habe.

Opp.: So sicher sind Sie Ihrer Sache?!

Berg: So sicher, wie man einer Sache sein kann, an deren Entwicklung und Wachstum man selbst seit einem Vierteljahrhundert Anteil genommen hat, und zwar nicht nur mit der Sicherheit, die einem Verstand und Erfahrung gegeben haben, sondern - was mehr ist - mit der des Glaubens.

Opp.: Also schön! Es ist wohl am einfachsten, wenn ich gleich den Titel unseres Dialoges aufgreife: Was ist atonal?

Berg: Die Antwort läßt sich nicht leicht mit einer Formel abtun, die gleichzeitig Definition wäre. Dort, wo dieser Ausdruck zum ersten Mal gebraucht wurde – wahrscheinlich in einer Zeitungskritik – kann es, wie das Wort deutlich [2] sagt, natürlich nur gewesen sein, um eine Musik zu bezeichnen, deren harmonischer Verlauf nicht den bis dahin bekannten Gesetzen der Tonalität entsprach.

Opp.: Das soll wohl heißen: Im Anfang war das Wort, oder besser gesagt, ein Wort, mit dem die Hilflosigkeit ausgeglichen werden sollte, mit der man einer neuen Erscheinung gegenüberstand.

Berg: Ja, das will ich sagen, aber noch mehr: Diese Bezeichnung „atonal“ geschah zweifellos in der Absicht, herabzusetzen, so wie dies bei den zur selben Zeit aufgebrachten Worten, wie arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch der Fall ist. Während sich aber diese Worte nur zu einer gelegentlichen Kennzeichnung spezieller Fälle eigneten, wurde die Bezeichnung „atonal“ – ich muß schon sagen: leider – zu einem Sammelbegriff für eine Musik, von der man nicht nur annahm, daß sie keine Bezogenheit zu einem harmonischen Zentrum hat (um mich des von Rameau eingeführten Begriffes der Tonalität zu bedienen), sondern, daß sie auch allen anderen Erfordernissen der Musik, wie Melodik, Rhythmik, formale Gliederung, im kleinen und im großen nicht entspricht, so daß die Bezeichnung heute eigentlich soviel heißt, wie keine Musik, ja wie Unmusik. Tatsächlich stellt man sie ja auch in völligen Gegensatz zu dem, was man bisher unter Musik verstand.

Opp.: Aha, ein Vorwurf! Ich muß ihn freilich gelten lassen. Nun sagen Sie aber selbst, Herr Berg, besteht nicht tatsächlich ein solcher Gegensatz, und ist durch den Verzicht auf die Bezugnahme auf eine bestimmte Tonica[WS 2] nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik erschüttert?

Berg: Bevor ich Ihnen das beantworte, möchte ich folgendes vorausschicken: Wenn diese sogenannte atonale Musik in harmonischer Hinsicht auch nicht auf eine Dur- oder Mollskala bezogen werden kann - schließlich hat es ja auch schon vor der Existenz dieses harmonischen Systems Musik gegeben – ...

Opp.: ... und was für eine schöne, kunstvolle und phantasiereiche! ...

Berg: ... so ist damit noch gar nicht festgestellt, ob [3] sich nicht doch in den „atonalen“ Kunstwerken des letzten Vierteljahrhunderts, zumindest in Hinblick auf die chromatische Skala und die daraus resultierenden neuen Akkordbildungen, ein harmonisches Zentrum, welches natürlich nicht mit dem Begriff der alten Tonica identisch ist, finden lassen wird. Selbst wenn dies in Form einer systematischen Theorie nicht gelingen sollte, ...

Opp.: Ach, diesen Zweifel finde ich unberechtigt!

Berg: Na, um so besser! Aber unabhängig davon sind wir auch heute schon so weit, in der von Schönberg zum ersten Mal praktizierten „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ ein System zu haben, das der alten Harmonielehre hinsichtlich Gesetzmäßigkeit und Materialgebundenheit in nichts nachsteht.

Opp.: Sie meinen wohl die sogenannten Zwölftonreihen? Wollen Sie in diesem Zusammenhang darüber nichts Näheres sagen?

Berg: Nicht jetzt, das würde zu weit führen. Wir wollen ja von dem Begriff „atonal“ sprechen.

Opp.: Ja natürlich! Sie haben ja auch auf meine frühere Frage noch gar nicht geantwortet, ob nämlich nicht wirklich ein solcher Gegensatz zwischen der früheren und der jetzigen Musik besteht und ob also durch den Verzicht auf die Bezogenheit auf eine Tonica nicht tatsächlich das ganze Gebäude der Musik ins Wanken gekommen ist?

Berg: Nun, wo wir uns geeinigt haben, daß durch den Verzicht auf die Dur- und Molltonalität keineswegs harmonische Anarchie einzureißen braucht, kann ich diese Frage viel leichter beantworten. – Selbst wenn durch den Verlust von Dur und Moll einige harmonische Möglichkeiten verloren gegangen sind, so sind doch alle anderen Erfordernisse wirklicher und echter Musik geblieben.

Opp.: Zum Beispiel welche?

Berg: So schnell ist das nicht aufgezählt, da möchte ich schon näher darauf eingehen; ja, ich muß es tun, denn es handelt sich gerade darum, zu zeigen, daß dieser anfangs ganz einseitig sich auf das Harmonische beziehende Begriff der Atonalität jetzt, wie schon gesagt, ein Sammelbegriff für „Unmusik“ geworden ist.

[4] Opp.: Unmusik? Den Ausdruck finde ich zu stark; ich habe ihn auch noch nicht gehört. Ich glaube, daß es den Gegnern der atonalen Klänge hauptsächlich darauf ankommt, den Gegensatz mit der sogenannten „schönen“ Kunst zu betonen.

Berg: Von mir aus fassen Sie es so auf. Jedenfalls soll mit diesem Sammelbegriff alles geleugnet werden, was bisher den Inhalt der Musik ausgemacht hat. Ich habe schon die Worte arhythmisch, amelodisch, asymmetrisch erwähnt und könnte sie um ein Dutzend weiterer, die moderne Musik herabsetzende Bezeichnungen wie: Kakophonie, Retortenmusik, die ja teilweise schon in Vergessenheit geraten sind, oder wie solche neueren Datums, wie die der Linearität, des Konstruktivismus, der Neuen Sachlichkeit, der Polytonalität, der Maschinenmusik etc., vermehren. Alle diese in einzelnen speziellen Fällen vielleicht treffenden Bezeichnungen unter einen Hut gebracht, ergeben heute den Scheinbegriff der „atonalen“ Musik, an welchem von denen, die die Berechtigung dieser Musik negieren, mit großer Beharrlichkeit festgehalten wird und zwar mit dem Endzweck, auf diese Weise mit einem Wort der neuen Musik alles abzusprechen, was, wie gesagt, bisher Musik ausgemacht hat und damit ihre Existenzberechtigung zu leugnen.

Opp.: Da sehen Sie zu schwarz, Herr Berg! Vielleicht hätten Sie mit dieser Behauptung vor nicht langer Zeit noch zur Gänze recht behalten können. Heute weiß man ja, daß atonale Kunst für sich genommen fesseln kann, ja in bestimmten Fällen sogar fesseln muß. Dort nämlich, wo echte Kunst ist! Es handelt sich nur darum, zu zeigen, ob atonale Musik wirklich in jenem gleichen Sinn als Musik zu bezeichnen ist wie alles frühere Schaffen. Das heißt, ob – wenn sich, wie Sie behaupten, nur das harmonische Fundament geändert hat – alle anderen Elemente der bisherigen Musik auch in der neuen vorhanden sind.

Berg: Das behaupte ich allerdings und könnte dies an Hand einer modernen Partitur in jedem Takt nachweisen. Vor allem nachweisen – um mit dem Wichtigsten zu beginnen –, daß dieser Musik, wie jeder anderen, die Melodie, [5] die Hauptstimme, das Thema zugrunde liegt, beziehungsweise ihr Verlauf dadurch bedingt ist.

Opp.: Ja, ist denn innerhalb dieser Musik Melodie im herkömmlichen Sinn überhaupt möglich?

Berg: Ja natürlich, sogar eine gesangliche.

Opp.: Nun, was den Gesang betrifft, Herr Berg, so befindet sich die atonale Musik ja doch auf neuen Wegen. Hier gibt es unbedingt bisher Ungehörtes, ja, ich möchte fast sagen, vorläufig Unerhörtes.

Berg: Aber doch nur in Bezug auf das Harmonische; darüber sind wir uns ja einig. Es ist aber ganz falsch, dies im Hinblick auf die sonstige Eigentümlichkeit der melodischen Linienführung als einen neuen Weg, wie Sie behaupten, oder gar als Ungehörtes und Unerhörtes zu bezeichnen. Auch bei einem Gesangspart nicht, auch wenn er sich, wie unlängst zu lesen war, durch instrumental chromatische, verkrauste, verzackte, weitsprüngige Intervalle auszeichnet, ebensowenig, wie damit allen gesanglichen Notwendigkeiten der Menschenstimme widersprochen wird.

Opp.: Das habe ich auch nicht behauptet, aber ich kann mir nicht helfen, eine solche Behandlung der Gesangsmelodie und der Melodie überhaupt erscheint mir doch noch nicht dagewesen.

Berg: Das ist es ja, wogegen ich mich wehre. Ich behaupte im Gegenteil, daß die Gesangsmelodie, so wie sie mit diesen angeführten Worten charakterisiert, ja karikiert wurde, immer da war, besonders in der deutschen Musik, und ich behaupte weiter, daß diese sogenannte atonale Musik, soweit sie wenigstens von Wien ausging, sich natürlich auch in dieser Hinsicht an die Meisterwerke der deutschen Musik gehalten hat und nicht etwa – bei aller Verehrung - an die italienische Belkantooper. Eine Melodie, die sich an eine stufenreiche und, was fast gleichbedeutend ist, kühne Harmonik anschließt, kann natürlich, solange man diese harmonische Ausdeutung nicht versteht, leicht „verkraust“ erscheinen, was ja von einer mit Chromatik durchsetzten Schreibweise nicht minder der Fall ist, und wofür es hunderte Beispiele bei Wagner gibt. Aber hören [6] Sie lieber eine Melodie von Schubert aus dem berühmten Lied „Letzte Hoffnung“. – Ist Ihnen das verkraust genug? Oder folgende, ohne die harmonische Grundlage kaum verständliche Phrase aus dem Lied: „Wasserfluth“ (Takt 11/12)?

Um bei Schubert, diesem Melodiker par excellence zu bleiben, was sagen Sie zu einer solchen Behandlung der Singstimme aus dem Lied „Der stürmische Morgen“ (Takt 4/8)? – Sind das nicht typische Beispiele für eine reichlich verzackte Singstimme? Und dies für eine besonders „weitsprüngige“?

Ähnliches, quasi Instrumentales finden Sie in der Stimmführung Mozarts. Es genügt ein Blick in die Don Juan-Partitur. Zum Beispiel folgende für Streicher wie geschaffene Gesangsstelle der Donna Elvira (Takt 1) oder die verkappte Klarinettenstelle der selben Arie (Takt 5) oder die instrumentale Stelle des Leporello-Zerlinen-Duetts (Takt 30/31) oder die ganze Donna Anna-Partie oder, um schließlich einen besonders deutlichen Fall aufzuzeigen von einer verzackten, weitsprüngigen, den Umfang von zwei Oktaven überschreitenden Melodie, die folgende Gesangsstelle aus „Cosi fan tutte“ (1. Akt, Arie der Fiordiligi, Takt 9-13)!

Sie sehen, daß es also doch noch eine andere Behandlung der Singstimme gibt als die, die man uns immer als Vorbild vorhält, und die sich im Grunde nur durch gehäufte Verwendung langgezogener Töne in der oberen Quint der jeweiligen Singstimme auszeichnet, sondern daß, wie die Klassiker gezeigt haben, die Singstimme unter Umständen auch ein durchwegs bewegliches, in allen Lagen ausdrucksvolles, beseeltes und noch dazu der Deklamation fähiges - allerdings ideales - Instrument darstellt. Sie sehen aus diesen klassischen Beispielen aber auch, daß es gar nichts mit der Atonalität zu tun hat, wenn einer Melodik, und dies auch in der Opernmusik, die schwelgerische Weichheit italienischer Kantilenen abgeht. Sie werden übrigens dies auch vergeblich bei Bach suchen, und dem wird doch hoffentlich niemand melodische Potenz absprechen.

Opp.: Zugegeben. Aber es scheint noch ein anderes Merkmal zu sein, wodurch sich die Melodik dieser sogenannt [7] atonalen Musik von der bisherigen unterscheidet. Ich meine die Asymmetrie der melodischen Gliederung.

Berg: Sie vermissen bei unserer Musik wohl die Zwei- und Viertaktigkeit, wie wir dies bei der Musik der Wiener Klassiker und der gesamten Romantiker inklusive Wagner konstatieren können. Da haben Sie richtig beobachtet, aber vielleicht übersehen, daß gerade diese Geradtaktigkeit eine Eigentümlichkeit nur dieser Epoche darstellt und bei Bach zum Beispiel schon nur in seinen homophoneren Werken und in den an die Tanzmusik angelehnten Suiten zu finden ist. Aber auch in der Epoche der Wiener Klassiker und besonders in den Werken Mozarts und Schuberts finden wir immer wieder, und zwar gerade in den Schöpfungen ihrer höchsten Meisterschaft, das Bestreben, diese Bindungen einer geradtaktigen Symmetrie zu sprengen: ich zitiere der Einfachheit halber nur einige berühmte Partien aus dem „Figaro“. So die Cherubin-Arie: „Neue Freuden, neue Schmerzen“, wo den ersten zwei Viertaktern gleich vier Dreitakter folgen, dann wieder zwei Zweitakter, dann aber gar zwei fünftaktige Gebilde. Weiters den Marsch des Hochzeitszugs aus dem II. Akt, in dessen normale Viertaktigkeit ganz gegen alles Marschmäßige plötzlich zwei Dreitakter eingeschoben sind. Schließlich die „Rosenarie“, deren Gliederung völlig aus dem Rahmen des geradtaktigen Periodenbaus fällt, und wo sich aus einer Reihe von Dreitaktern an sechster Stelle ganz frei eine Erweiterung zu fünf Takten ergibt.

Diese Kunst des asymmetrischen Melodienbaues hat sich im weiteren Verlauf des folgenden Jahrhunderts immer weiter entwickelt (denken Sie nur an Brahms, und schauen Sie auf das hin nur seine berühmten Lieder an, etwa das „Vergebliche Ständchen“, oder „Am Sonntagmorgen“ oder „Immer leiser wird mein Schlummer“), und wenn auch bei Wagner und seinen Epigonen der viertaktige Periodenbau vorherrscht (diese Primitivität wurde eben zugunsten anderer Neuerungen, besonders auf harmonischem Gebiet, beibehalten), so ist doch auch zu dieser Zeit die Tendenz besonders deutlich, das Festhalten an dieser Zwei- und Viertaktigkeit aufzugeben. Es geht hier eine gerade Linie von [8] Mozart über Schubert und Brahms zu Reger und Schönberg. Und da ist vielleicht nicht uninteressant zu erwähnen, daß sowohl Reger als Schönberg, wenn sie auf den unsymmetrischen Bau ihrer melodischen Linienführung zu sprechen kamen, darauf hinwiesen, dass diese etwa der Prosa des gesprochenen Wortes gleichzusetzen wäre, während die streng geradtaktige Melodik mehr der gebundenen Rede (der Versform) entspräche. Aber ebensowenig wie die Prosa, ist die unsymmetrische Melodik weniger logisch gegliedert, als die symmetrische. Sie besitzt ebenso wie diese ihre Halb- und Ganzschlüsse, Ruhe- und Höhepunkte, Zäsuren und Übergänge, einleitende und abschließende Momente, die man infolge ihrer zielstrebigen Tendenz ohne weiters mit Modulationen und Kadenzen vergleichen kann. All dies zu erkennen ist gleichbedeutend damit, sie als Melodien im wahrsten Sinne des Wortes zu empfinden...

Opp.: ... und sie vielleicht sogar für schön halten.

Berg: Ganz richtig! Aber gehen wir weiter: Mit dieser Freiheit der Melodiegestaltung geht natürlich auch die der richtigen Gliederung einher. Damit, daß die Rhythmik solcher Musik eine Auflockerung erfahren hat, sagen wir: durch Verkürzung, Verlängerung und Ineinandergreifen der Werte sowie Verschiebung der Schwerpunkte, wie dies wieder ganz besonders bei Brahms zu konstatieren ist, sind noch nicht die Gesetze der Rhythmik aufgehoben, und es ist ebenso unsinnig, ein solches Verfahren, das doch nur eine Verfeinerung der Kunstmittel darstellt, „arhythmisch“ zu nennen, wie die Bezeichnung „amelodisch“. Diese Rhythmik wird ja noch besonders bedingt durch die Vielstimmigkeit der neuen Musik, und hier wäre es nicht unangebracht zu konstatieren, daß wir uns scheinbar in einer Zeit befinden, die der Bach'schen sehr ähnlich ist. So wie sich nämlich damals in der Erscheinung Bachs selbst die Umwandlung der reinen Polyphonie und des imitatorischen Stils – und des Begriffs der Kirchentonarten – zu der auf das Dur- und Mollgeschlecht gestützten harmonischen Schreibweise vollzogen hat, so gelangen wir jetzt aus der harmonischen Zeit, die eigentlich die ganze Wiener Klassik und deren Jahrhundert beherrscht hat, langsam aber unaufhaltsam in [9] eine Epoche mit vorwiegend polyphonem Charakter. Mit diesem Hinweis auf die Polyphonie ist in der sogenannt atonalen Musik ein weiteres Merkmal jeder echten Musik aufgezeigt, das nicht dadurch hinfällig gemacht werden kann, daß ihm der Spitzname „Linearität“ beigelegt wird.

Opp.: Da sind wir, glaube ich, bei einem springenden Punkt.

Berg: Ja, beim Kontrapunkt.

Opp.: Ganz richtig. Das Wesen der Vielstimmigkeit besteht ja in der Bei- und Unterordnung der Stimmen, solcher Stimmen nämlich, die ein Eigenleben haben. Die Gesichtspunkte dabei sind wohl auch harmonischer Natur; ich meine: das Eigenleben aller Stimmen ergibt ein zweites, ein neues Leben, das des Zusammenklangs. ...

Berg: ... das natürlich kein zufälliges, sondern ein bewußt Gestaltetes und Gehörtes ist.

Opponent: Nun, eben dieser Einwurf wundert mich eigentlich. Ist denn jenes elementar wirkende Zusammenströmen der atonalen Stimmen, die mir alle innere Gegensätzlichkeit zu entbehren scheinen, von der ein großes Innenleben bewegt ist, auch eine Angelegenheit des bewußten Gestaltens oder das Spiel eines von, zugegeben höchster Inspiration beschworenen Zufalls?

Berg: Auf diese Frage kann ich Ihnen – will ich nicht zu weitschweifig und theoretisch werden – nur mit einer aus der Erfahrung gewonnenen Wahrheit antworten. Aus einer Erfahrung, die ich nicht nur aus dem eigenen Schaffen schöpfe, sondern auch aus dem von Künstlern, denen die Kunst so heilig ist wie mir (so unzeitmäßig sind wir von der Wiener „atonalen“ Schule nämlich!): Kein Takt – und sei er von der kompliziertesten harmonischen, rhythmischen und kontrapunktischen Faktur – steht in dieser, unserer Musik, der nicht der schärfsten Kontrolle des Gehörs, des äußeren und des inneren Gehörs, unterworfen wäre, und für dessen Sinn, an sich sowohl als in der Stellung zum Ganzen, nicht ebenso die künstlerische Verantwortung übernommen wird, wie für die auch dem Laien sofort einleuchtende Logik eines ganz primitiven Gebildes, etwa eines einfachen Motivs oder einer simplen Harmoniefolge.

[10] Opp.: Diese Erklärung erscheint mir ganz wesentlich. Trifft sie zu, dann möchte es mir fast scheinen, als würde das Wort „atonal“ sinnstörend für die ganze Kunstrichtung sein.

Berg: Ja, davon rede ich doch die ganze Zeit und versuche, es Ihnen klarzumachen.

Opp.: Dann müßten Sie, das heißt Ihre Musik, doch aber auch zu den formalen Elementen früherer Musik in irgendeiner Weise in Beziehung stehen? Wenn ich recht vermute, so strebt gerade die – das Wort will mir nun nicht mehr recht zum Mund heraus – atonale Musik eine Heranziehung der älteren Formen an?

Berg: Der Form überhaupt, und ist es da verwunderlich, daß man da auch auf die älteren zurückgreift? Ist das nicht vielmehr ein weiterer Beweis, wie sich gerade die heutige Kunstübung des ganzen Reichtums der Musik bewußt ist? Wir haben ja eben konstatiert, daß dies in allen Belangen ernster Musik der Fall ist. Und daß sich dieser Reichtum, in allen Belangen offenbart, gleichzeitig offenbart – ich meine also im Hinblick auf ihre harmonische Entwicklung, ihre freie Melodiebildung, ihre rhythmische Mannigfaltigkeit, ihre Bevorzugung der Vielstimmigkeit und der kontrapunktischen Schreibweise überhaupt und schließlich ihre Heranziehung aller in der Musikentwicklung von Jahrhunderten gegebenen formalen Möglichkeiten … daß also ein solcher Reichtum in dieser Musik hier zutage tritt, kann man ihr doch nicht zum Vorwurf machen und sie dafür mit dem fast schon zum Schimpf gewordenen Kennwort „atonal“ belegen.

Opp.: Sie haben, Herr Berg, jetzt eben ein wichtiges Positivum ausgesprochen. Ich selbst bin gewissermaßen von einem Alpdruck befreit, weil sogar ich der Meinung war, daß das von irgendwoher dahergekommene Wort „atonal“ den Anlaß gebildet hat, daß eine musikalische Justament-Theorie entstanden ist, die außerhalb der Linie eines natürlichen Werdeganges stehen würde.

Berg: Das würde den Gegnern dieser neuen Musik wohl [11] so passen, denn dann hätten sie sämtlich recht mit dem, was hinter dem Wort „atonal“ eigentlich steckt und was so viel heißen soll, wie musikwidrig, häßlich, einfallslos, mißklingend und destruktiv, und hätten weiter berechtigten Grund, über die Ton- und Klanganarchie, über die Zertrümmerung des alten Musikgutes und über unser hilfloses Entwurzeltsein wehzuklagen. Ich sage Ihnen, daß dieser ganze Schrei nach der Tonalität nicht so sehr dem Bedürfnis nach einer Bezogenheit auf einen Grundton entspringt, sondern vielmehr dem Bedürfnis nach bekannten Zusammenklängen, sagen wir es offen, nach dem Dreiklang, und ich glaube behaupten zu können, daß eine Musik, wenn sie nur genügend solche Dreiklänge enthält, nicht Anstoß erregt, auch wenn sie sonst noch so sehr den heiligen Gesetzen der Tonalität widerspricht.

Opp.: So ist sie Ihnen also doch noch heilig, diese gute alte Tonalität?

Berg: Wäre sie es mir nicht, wie brächte unsereins – aller Ungläubigkeit der Mitwelt zum Trotz – den Glauben auf, zu einer neuen Kunst, für die der leibhaftige Antichrist keinen Namen hätte ersinnen können, der teuflischer wäre als dieses Wort: „Atonal“!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Der Wiener Journalist Julius Bistron
  2. Tonika