Weihnachten zweier Glücklichen

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Textdaten
Autor: Rudolf Lavant
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Titel: Weihnachten zweier Glücklichen
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Herausgeber: Illustrirtes Unterhaltungsblatt für das Volk
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Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Druck und Verlag J.H.W. Dietz
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Erscheinungsort: Hamburg
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Weihnachten zweier Glücklichen.
Erzählung von Rudolf Lavant.

Die sengende Mittagsgluth eines Augusttages hatte die Bewohner des kleinen, hart an der Tyroler Grenze gelegenen Dorfes Rocca unter das Dach der gebräunten Holzhäuser gescheucht, die fast alle mit einer Veranda geziert und mit Szenen aus der Heiligengeschichte bemalt sind, oder wenigstens die Figur eines oder einer wunderthätigen Heiligen in oft fragwürdiger Wiedergabe zeigen, während auf der Gallerie der Veranda unabänderlich ein paar Nelkenbüsche prangen; will es doch die Sitte, daß jeder Bursch sich Sonntags von einem ihm wohlwollenden Mädchen eine rothe Nelkenblüthe schenken läßt, die er auf seinen Hut oder mit einer gewissen anmuthigen Koketterie hinters Ohr steckt. Die Stille und das Schweigen der Siesta brüteten über dem Ort, als sich demselben langsam zwei Bergsteiger näherten, von denen der Eine augenscheinlich ein Führer, der Andere einer jener Spitzeneroberer war, wie sie namentlich das mittel- und norddeutsche Flachland alljährlich in immer größerer Zahl hinabsendet in die grünen Thäler und wilden Schluchten und auf die silberhäuptigen, in einen blaugrünen Gletschermantel gehüllten Berge des schönen Tyroler Landes. Zwar die Kleidung und Ausrüstung der Beiden war dieselbe; die Füße staken in den schweren genagelten Bergschuhen, die graue Joppe mit dem verschossenen grünen Kragen hing wie ein Husaren-Dolman auf der rechten Schulter und das Wollhemd ließ den gebräunten Hals frei, während auf dem Rücken der grüne wasserdichte Rucksack hing und auf dem leichten Filzhut ein Sträußchen von Enzian, Edelweiß und Alpenrosen die muntere Farbenzusammenstellung der französischen Trikolore wiederholte. Aber wenn auch jeder Anklang an das bereits verdienter Lächerlichkeit verfallene renommistische Bergfexen-, wie an das ebenso komische Salontyrolerthum fehlte, wenn der Städter auch nicht minder breitschulterig und muskulös war als sein Führer, so verriethen ihn doch die goldene Brille und die zwar wettergebräunten, aber ersichtlich an den Glacéhandschuh und an die Führung der Feder gewöhnten Hände und der ganze Schnitt und Ausdruck des jugendlich-kühnen, aber nachdenklichen und von frühreifem Ernst leicht überschatteten Gesichts.

Die Beiden kamen aus der Sottoguda-Schlucht, also selbstverständlich über den Feddajapaß, und – was nicht so selbstverständlich ist – von der Bedretta Marmolada, jenem riesigen vergletscherten Winkelpfeiler, der die Grenze Tyrols und Italiens markirt. Sie waren am Abend zuvor von Campidello im Fassathal bis nach dem sogenannten Feddaja- Hotel gelangt, hatten hier übernachtet und vor Tagesanbruch die Besteigung der Marmolada ausgeführt, die zwar nicht zu den eigentlichen „Großthaten“ auf dem Gebiet der Besteigungen gehört, aber immerhin mühsam und beschwerlich ist und Kraft und Ausdauer, namentlich aber Kniefestigkeit und solide Fußgelenke zur Voraussetzung hat. Alles war nach Wunsch abgelaufen, die herrlichste Aussicht war reicher Lohn für alle Mühe gewesen, und schon war der Abstieg in der Hauptsache erledigt und die Steigeisen hatten abgeschnallt werden können, als Robert Hammer (der einzige Sohn eines reichen Hamburger Exporteurs, aber zu jedem andern Studium geneigter und besser beanlagt, als zu dem des Kurszettels) sich durch seine gehobene Stimmung zu einem Sprung in die Tiefe verleiten ließ, der ihm einen kleinen Vorsprung vor dem Führer verschafft haben würde und an sich völlig ungefährlich war, in den Bergen jedoch zu den Unvorsichtigkeiten gehörte, die eigentlich nur Neulingen passiren und sich regelmäßig, oft sogar empfindlich rächen. Er war wieder alles Erwarten auf einen locker liegenden Stein gesprungen, der rechte Fuß war umgeknickt und zugleich hatte es im Knie einen kurzen, schmerzhaften Riß gegeben, über dessen Bedeutung er sich als erfahrener Bergsteiger keinen Augenblick zu verblenden vermochte. In der That wurde ihm das Auftreten von Minute zu Minute saurer, das rechte Bein versagte mehr und mehr den Dienst und erwies sich zuletzt als so schwach, daß Robert wiederholt plötzlich zusammenknickte, trotz des umsichtig eingestemmten Bergstocks. Eine oberflächliche Untersuchung seitens des erschrockenen, aber auch mit solchen Zwischenfällen hinlänglich vertrauten Führers ergab zwar nur eine „Verknaxung“ des Knies und des Knöchels, also ein paar gedehnte oder angerissene Flechsen, es entstand aber nun die Frage, ob es Robert möglich sein würde, zu Fuße bis nach Rocca, dem nächsten nennenswerthen Orte, zu gelangen, der die Aussicht auf eine mehrtägige gezwungene Rast nicht von vornherein mit dem Fluch unsterblicher Langeweile belud. Robert erklärte sofort, daß er es versuchen würde und der Führer, der ihn schon seit einer Woche begleitete und seine Zähigkeit und Willenskraft kennen und schätzen gelernt hatte, hielt es ebenfalls für ausführbar und fand nur das Eine im Stillen „dickköpfig“, daß Robert sich sogar entschieden weigerte, ihm unter so veränderten Verhältnissen wenigstens den ziemlich schweren, obgleich mit nichts Ueberflüssigem beladenen Rucksack zu überlassen.

Uebrigens erwies sich das Vertrauen Beider zu der Energie und Widerstandsfähigkeit des Verunglückten zwar nicht als trügerisch, doch wurden diese Eigenschaften auf eine harte Probe gestellt und als man sich nach einer Rast, zu der eine Quelle in der schattigen, kühlen Sottoguda-Schlucht eingeladen hatte, wieder erhob, biß sich Robert mit einem unterdrückten Schmerzenslaut in die Unterlippen und hätte der Führer ihn nicht mit dem Arme aufgefangen, so würde er zu Boden gesunken sein. Der vollständig geöffnete Schnürschuh ließ deutlich erkennen, daß der Fuß arg geschwollen war, und ohne die Hülfe des derben Bergstocks wäre Robert wahrscheinlich gezwungen gewesen, sich von dem Führer unterstützen zu lassen, wogegen Stolz und jugendlicher Ehrgeiz sich heftig auflehnten. Jeder Tritt verursachte die empfindlichsten Schmerzen und der Aufmerksamkeit des Führers entging es nicht, daß sich allmälig eine fahle Blässe über das hübsche Gesicht mit dem dichten blonden Schnurrbart breitete. Nicht ohne Sorge überwachte er jeden Schritt des seiner Fürsorge Anvertrauten, den er bereits lieb gewonnen hatte; er zählte die Minuten, die sie noch von dem Dorfe trennten, wo der Verletzte Ruhe und etwas wundärztliche Pflege finden sollte, und stieß mit dem Bergstock sorgsam die Steine weg, die auf dem schlechten Feldweg nur zu dicht lagen. Einige barfüßige Kinder, wie sie in den Dörfern jenseits der Tyroler Grenze immer auf der Lauer liegen, um jeden durchkommenden Fremden nachdrücklich anzubetteln, waren ihnen entgegengelaufen und hatten in gewohnter Weise rechts und links des Wegs niederknien wollen, um mit erhobenen Händen in sklavisch unterwürfiger, aber malerischer Stellung ihr flehentliches: „Un soldo Signor!“ erschallen zu lassen, aber ein Blick in das bleiche, von verbissenem Schmerz verzogene Gesicht Roberts ließ sie davon abstehen und sie schauten ihm mit den weit offenen nachtschwarzen Augen unter dem zerzausten Kraushaar halb verblüfft, halb teilnahmsvoll nach, um ihm dann scheu und neugierig in einiger Entfernung zu folgen.

Es muß dahin gestellt bleiben, ob es Robert gelungen wäre, den Kampf mit Schwäche und Schmerz noch eine Viertelstunde länger fortzusetzen – jedenfalls meinte er in dem Augenblick, wo er auf der grünangestrichenen Bank vor dem „Albergo alla Stella bianca“ (Gasthaus zum weißen Stern-Edelweiß) zusammenbrach, daß er es nicht eine Minute länger ausgehalten haben würde und daß es Menschenkraft überschreite, die paar Schritte von der schattenlosen Bank über die Schwelle und in die Kühle der Hausflur zu thun. Unwillkürlich legte er die Hand vor die Augen – er kam so um einen Anblick, den in seiner vollen Lieblichkeit zu genießen der wackere Alois Micheler, sein Führer, doch nicht der rechte Mann war.

Alois hatte in dem wie ausgestorben daliegenden Hause sofort Lärm geschlagen und die dicke Wirthin hatte sich zwar nicht aus dem Sorgenstuhl erhoben, in dem sie ihr Mittagsschläfchen hielt, aber dafür mit so durchdringender Stimme „Felice!“ gerufen, daß die Gesuchte es hören mußte, in welchem entlegenen Gelaß sie sich auch gerade befinden mochte. In der That klapperten sofort ein Paar zierliche Pantöffelchen über die Steinfliese der Hausflur und ein schlankes Mädchen von fremdartiger, vornehmer Schönheit, deren Gestalt durch die malerische Tracht der Gegend auf’s Vortheilhafteste hervorgehoben ward, erschien auf der Schwelle. Ueberraschung und Schreck ließen sie zurückfahren, reinstes, schönstes Mitgefühl trieb sie zu dem Leidenden hin, und da beide Impulse einander lahm legten, so stand sie wie gebannt und heftete einen forschenden, fragenden Blick auf den Fremden und dann auf den ihr bekannten Führer, an den nun die schlimme Aufgabe herantrat, alle seine italienischen Brocken zusammenzusuchen, um dem Mädchen einen Ueberblick über die Sachlage zu geben und ihr den Verletzten angelegentlich zu empfehlen.

Die tiefe Erschöpfung, welche sich jetzt, wo er nach der verzweifelten Anstrengung des Abstiegs endlich Rast gefunden, Robert’s bemächtigt hatte, raubte ihm die Fähigkeit, dem Gespräch, dessen Gegenstand er war, zu folgen, ließ ihm jedoch die, den Wohllaut der sonoren Altstimme des Mädchens, wenigstens traumhaft, wie eine Liebkosung zu empfinden. Die Hand sank von den Augen und das tiefe Erröthen, welches das fast klassisch regelmäßige und doch ungemein gewinnende, fast rührende Gesicht des Mädchens überfluthete, als ihre Augen den seinen begegneten, gab ihm auch die Sprache wieder, wenngleich das Bewußtsein, selbst zu erröthen, ihn mit einer ungewohnten Befangenheit erfüllte. Er war des Italienischen völlig mächtig und das Mädchen würde ihn ja verstanden haben, auch wenn seine Sprachkenntniß noch mangelhafter gewesen wäre, als die des braven Micheler. Wenige Minuten reichten hin, den Knäuel zu entwirren, den Letzterer in gut gemeintem Eifer zu Stande gebracht hatte; die Wirthin, der die Aussicht auf einen gut zahlenden Gast urplötzlich Beine machte, betheiligte sich mit einem von Robert kaum beachteten Redestrom an der Verhandlung, und dieser hatte Mühe, sich der Dienstbeflissenheit zu erwehren, mit welcher sie ihm bei Ersteigung der Treppe behülflich zu sein suchte. Felice war vorausgeeilt, um das einzige Stübchen, welches in Frage kommen konnte, im Handumdrehen noch etwas wohnlicher zu machen, und hatte dabei auch noch Zeit gefunden, einen Knaben hinüber nach Caprile zu senden und den Arzt zu bestellen. Als Robert die niedrige, aber steile Treppe erklommen hatte, wobei ihm der Schmerz wider seinen Willen ein leises Stöhnen abpreßte, öffnete ihm Felice selbst die Thür des saubern und freundlichen Stübchens, dessen Fenster eine entzückende Aussicht auf die Berge gewährte, und als er auf den Holzstuhl am Bett sank, kniete das Mädchen vor ihm nieder und entfernte, trotz seines Abwehrens, mit geschickter [3] und vorsichtiger Hand den Schuh von dem verschwollenen Fuß, während Alois den Stock in die Ecke lehnte und den Rucksack so behutsam an einen Nagel hing, als sei er mit Eiern gefüllt, und in demselben nach den weiten, weichen Hausschuhen suchte, die zu dem eisernen Bestand jedes Bergsteiger-Rucksacks gehören. Felice lief dann nach einer Flasche Terlaner und frischem Wasser, während Robert die Neugierde der mit südlicher Lebhaftigkeit auf ihn hineinredenden Wirthin mit lakonischen Auskünften abspeiste. Der schon nach einer Stunde eintreffende Arzt, der keine nennenswerthe Verletzung zu konstatiren hatte, aber eine mindestens achttägige unbedingte Ruhe für nothwendig erklärte, die mehr thun müsse, als die Einreibungen, welche er verordnete, hatte groß Lust, den „Signor straniero“ in seinem Wägelchen mit hinüber nach Caprile zu nehmen, wo er im Hotel bessere Verpflegung und mehr Zerstreuung finden würde, aber Robert lehnte das Anerbieten ab. Nicht einmal der blaue Spiegel des Alleghe-Sees vermochte ihn zu reizen, und als der Arzt den dunklen, dankerfüllten und seltsam beredten Blick auffing, mit dem das Mädchen, ihr selber unbewußt, den Entscheid belohnte, war er sich mit der Weltkenntniß des Arztes darüber klar, daß alles weitere Reden überflüssig sei und daß sich zwischen den beiden schönen jungen Menschen eine jener Neigungen entspann, die freilich oft genug in Herzeleid und selbst Schande enden, die aber dennoch für den Beobachter immer ein interessantes und selbst verhärtete Gemüther mit Anwandlungen von Rührung heimsuchendes Bild bieten – ein Bild voll stiller Lieblichkeit, das mit Heimweh erfüllt nach den Tagen der eigenen illusionsfähigen Jugend.

Von dieser Erkenntniß waren natürlich die beiden Menschen, die der Zufall in seiner Laune zusammengeführt hatte, weit entfernt. Wohl entspann sich zwischen ihnen während der zehn Tage, die Robert’s Wiederherstellung zur Marschfähigkeit erforderte, ein beinahe trauliches Verhältniß, aber es überschritt nie die feine Grenzlinie, welche die Freundschaft von der Liebe scheidet, und die Plauderei, zu der Beide mit größter Erfindungsgabe immer wieder einen Anlaß herbeizuführen wußten, trug nie den Charakter der zärtlichen Werbung und sehr oft den der ernsthaftesten Unterhaltung. Die Bedienung des Rekonvaleszenten lag ganz in den Händen des jungen Mädchens, das sich öfter nach seinen Wünschen erkundigte, als durch dessen Pflichten bedingt war, und Robert entdeckte in sich eine Anlage zur Verstellung, von der er noch acht Tage vorher keine Ahnung gehabt hatte und die er heftig und entrüstet bestritten haben würde, wäre sie ihm Schuld gegeben worden. Er kämpfte nicht gegen seine Schwäche, sondern überließ sich derselben, um Felice recht oft rufen, sie recht oft um einen kleinen Dienst bitten, sich ihrer flinken und doch so geräuschlosen und gelassenen Bewegungen freuen und sie in eine Unterhaltung verwickeln zu können, der in der Regel erst ein gellender Ruf der Wirthin ein Ende setzte. Dabei war eine befremdliche Beobachtung zu machen. Während nämlich diese Rufe anfänglich erst nach längerer Zeit erfolgten, erschallten sie nach und nach fast unmittelbar, nachdem Felice Robert’s Zimmer betreten, und selbst einem so arglosen Gemüth wie dem seinen mußte das zuletzt auffallen, und er mußte auf den Gedanken kommen, daß hinter diesem Wechsel der Taktik seitens der auch sonst mürrischer werdenden Wirthin eine bestimmte Absicht stecke. Er fragte das Mädchen endlich geradezu, und diese erwiderte ihm, mit einem matten Versuch, zu lächeln, daß er sich beeilen möge, gesund zu werden, da man ihm sonst am Ende das Zimmer noch unter irgend einem Vorwand aufsagen werde. Robert sah erstarrt auf – die Augen des sonst so tapfern und in Wort und That so sichern schönen Geschöpfs waren feucht und ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie mit plötzlichem Entschluß fortfuhr: „Sie können nicht wissen, was im Werke ist. Sie wissen nur, daß ich eine entfernte Verwandte, eine Waise seit meinem zehnten Jahre bin, die man um Gottes Willen aufgenommen und erzogen hat. Sie haben mich’s bitter genug fühlen lassen, daß ich dafür in ihrer Schuld bin, aber ich würde ihnen trotzdem dankbar sein und unermüdlich und unverdrossen, wie früher, dienen, wenn sie mir nicht ihren einzigen Sohn, den Alberto, zum Manne geben wollten. Ich mag ihn nicht – er ist der hübscheste Bursch im Dorfe, aber jähzornig und hinterlistig, er hat weder für Menschen noch für Thiere ein rechtes Herz, und wenn er auch vor mir kriecht und mir schmeichelt – wie kann ich ihm trauen? Ich habe mir Mühe gegeben, meine Abneigung zu überwinden, um der Eltern willen, die mich auf den Händen tragen würden, wenn ich „ja“ sagte, ich bin schon mehr als einmal nahe daran gewesen, einzuwilligen, aber ich habe das entscheidende Wort immer wieder verschluckt und bin dann jedesmal froh gewesen, es nicht ausgesprochen zu haben. Er steht jetzt bei den Versaglieri – nächstens kommt er zurück und dann muß ich sprechen. Sie sind so viel klüger als ich, Sie kennen die Welt und die Menschen besser als ich, und wenn Sie auch ein Lutherischer sind – ich habe mehr Ver-trauen zu Ihnen, als zu unserem Kaplan. Wenn man ihn hört, sind die Lutheraner schlimmer als die Heiden; seit ich Sie kenne, weiß ich, daß das nicht wahr ist, und wie soll ich ihm nun glauben? Er dringt auch unablässig in mich, den Alberto zu nehmen, aber eine Stimme in mir ruft Tag und Nacht: ,Du kannst nicht!’ – sagen Sie mir nun, was ich thun soll. In Ihre Hände will ich mein Schicksal legen.“

Robert war bestürzt und schmerzlich erregt, aber gewissenhaft genug, keine übereilte Antwort zu geben. Ernst und nachdenklich erwiderte er, daß er ihr am nächsten Tage sagen werde, was sie nach seiner Ueberzeugung thun müsse – er wolle die Verantwortung auf sich nehmen, die sie ihm zuschiebe, aber dem entscheidenden Wort müsse ein reifliches Nachdenken vorausgegangen sein. Sein Herz sträubte sich ja dagegen, sich das schöne, im besten Sinne des Wortes vornehme Geschöpf, das ihm der süßesten Liebesleidenschaft fähig schien, als in einer Ehe ohne Liebe verkümmernd zu denken, aber er war ehrlich genug, sich gegenwärtig zu halten, daß keine Regung der Selbstsucht und des Neides sein Urtheil beeinflussen dürfe, daß er vor Allem kein Recht zur Eifersucht habe, da er ja nicht daran dachte, sie sich selbst zum Weibe gewinnen zu wollen. Unruhig und schlummerlos warf er sich bis zum Morgengrauen auf seinem Lager hin und her, bald berauscht von dem Gedanken, diesem aparten Menschenkind den rechten Weg zu zeigen und ihre Seele retten zu dürfen, bald erdrückt von dem Gedanken an die Verantwortung, die er damit auf sich nahm. Dennoch durfte er ihr schönes Vertrauen zu ihm nicht zurückweisen; er durfte sie, die er so gern Schwester genannt hätte, nicht allein lassen zwischen den Bestürmungen eines leidenschaftlichen Bewerbers, den Bitten seiner Eltern und den Einflüsterungen eines Priesters, der sich vielleicht von den allerweltlichsten Rücksichten leiten ließ und der als Priester (und obendrein als zur Ehelosigkeit verdammter Priester) wohl der schlechteste Rathgeber für ein bedrängtes Mädchenherz war, wenigstens für ein Herz, wie es in der Brust dieses instinktiv nach Wahrheit und Klarheit und reinen Verhältnissen ringenden und strebenden Mädchens pochte. [2] Erst am Abend des nächsten Tages war den beiden Menschen in der Dämmerstunde ein so langes Alleinsein gegönnt, daß Robert seinen schiedsrichterlichen Spruch abgeben konnte, Er wartete die Frage des sichtlich erregten Mädchens nicht ab, sondern begann von freien Stücken:

„Ich habe eine ganze Nacht lang nachgedacht, Felice – jetzt bin ich mir klar. Sie dürfen den Menschen nicht heirathen, um keinen Preis. Sie gehören nicht zu den alltäglichen Naturen, von denen zwölf auf’s Dutzend gehen – es wird Ihnen nicht genügen, geliebt zu werden und bei Ihnen wird sich die Liebe nicht in der Ehe finden. Sie haben weniger Aussicht, glücklich zu werden, als hundert andere Mädchen, aber wenn Sie glücklich werden, wenn Sie den Mann finden, der Sie liebt und den Sie lieben, dem Sie sich schenken müssen, so wird Ihr Glück tausendmal schöner, süßer und reiner sein, als das jener seichten und stumpfen Seelen, die sich mit jedem Verhältniß abzufinden wissen. Für Sie liegt der Fall sehr einfach: Wollen Sie sich selber treu bleiben oder wollen Sie auf die Stufe der Mädchen sinken, die sich für Geld verkaufen? Ob das für eine Stunde oder für ein ganzes Menschenleben geschieht, macht doch wahrlich keinen Unterschied, und der Segensspruch des Priesters, Chorgesang und Orgelspiel können an der Thatsache nichts ändern, daß Sie sich preisgegeben haben. In den Augen der Welt sind Sie natürlich eine achtbare Frau, vor dem Richterstuhl ihres eigenen Gewissens aber stehen Sie tiefer als das arme „gefallene“ Mädchen, das sich aus reiner, schrankenloser, unbesieglicher Liebe dem Geliebten ergeben hat. Wie ich Sie kenne, würde Ihnen das früh genug zum Bewußtsein kommen, und Sie sind eine zu ehrliche Natur, sich über den Sachverhalt mit Trugschlüssen hinwegzutäuschen und ihm ein Mäntelchen umzuhängen. Sie würden den Riß, der durch Ihr tiefstes Wesen ginge, nicht zu verkleistern vermögen und sich grenzenlos elend, entwürdigt und gesunken vorkommen, und davor möchte ich Sie bewahren.“

Das Mädchen hatte ihn mit keinem Wort unterbrochen, aber ihre Augen hatten unverwandt an seinen Lippen gehangen und als er geendet, sagte sie ernst und fest: „Ungefähr so habe ich mir’s auch gedacht; nun bin ich mir klar und gegen meine Ueberzeugung und Ihr Wort soll die ganze Welt nichts vermögen. Verlassen Sie sich darauf – ich sterbe eher, als daß ich mich in eine Ehe ohne Liebe hineinzwingen lasse.“ Es war, als schwebe noch ein Wort auf ihren Lippen, aber sie schluckte es hinab, drückte ihm herzlich die Hand, riß sich mit einer gewissen Gewaltsamkeit los und verließ hastig das Zimmer, als wolle sie sich die Möglichkeit nehmen, Geständnisse zu machen, die sie vielleicht später gereut hätten, und Robert ließ sie, wenn auch nicht ohne innern Kampf, gehen. Aber der Sieg über sich selbst war ihm so schwer geworden, daß ihm fortan der Boden unter den Füßen [3] brannte, und am nächsten Morgen stand er, obgleich noch immer größeren Strapazen nicht gewachsen, in voller Marschausrüstung vor Felice, um Abschied zu nehmen. Sie verstand ihn ohne Zweifel, denn sie war weder überrascht, noch machte sie einen Versuch, ihn zu halten. Als er ihr beide Hände hinhielt und ihr für alle ihm erwiesene Güte und Freundschaft, die er nie vergessen werde, mit ein wenig bebender Stimme dankte, schimmerte es feucht in ihren Augen, aber sie begnügte sich, seinen Händedruck mit schmerzlicher Innigkeit zu erwidern, sie sah ihm wie eine Statue nach, bis er auf dem Wege nach Santa Lucia, dem Monte Giacu und Cortina d’Ampezzo ihren Blicken verschwunden war, und sie brach erst dann in heiße, schier unstillbare Thränen und krampfhaftes Schluchzen aus, als sie auf dem Tisch seines Zimmerchens den Strauß von Edelweiß, Alpenrosen und Enzian fand, den Robert bei seiner Ankunft auf dem Hute getragen hatte, und unter demselben eine Bleistiftzeichnung, eine saubere Skizze des Landschaftsbildes, das er täglich von seinem Fenster aus vor Augen gehabt. Unter derselben stand: „Seiner lieben, tapfern jungen Freundin Felice, als Unterpfand unvergänglichen treuen Angedenkens gewidmet von ihrem Kameraden Robert.“

*          *          *

Es war Winter geworden in den Bergen, und die Schleppe der Schneemäntel, in die sich alle die zackigen, zerklüfteten Dolomitenriesen gehüllt, schleiften bereits die Thalsohle und Nachts heulte der Sturm, als käme alles Leid und aller Grimm und Zorn der Erde in ihm zu Wort. Von den Almen herab tönte nicht mehr das melodische Geläut der Herdenglocken, die zauberisch klaren Fernsichten des Spätsommers und Herbstes waren wie ausgelöscht und kein Bergsteiger hätte mehr seine Rechnung gefunden. Dennoch trat am Christabend um die Mittagszeit ein Wanderer, der trotz der Gebirgstracht nicht gut ein Sohn der Berge sein konnte, aus der Sottoguda-Schlucht und schritt in ungeduldigstem Tempo [4] dem Dorfe Rocca zu. Es war unser alter Bekannte Robert, aber diesmal war er ein Bild fast übermüthiger Jugendfrische und die leicht gerötheten Wangen und das blitzende Auge, die kecke Art, den Bergstock über die Schulter zu werfen und die rasche Marschmelodie, die er vor sich hinsummte, Alles bewies, daß er sich in der glücklichsten und angeregtesten Stimmung befand. Ein wirres feines Schneetreiben lag in der Luft und puderte ihm Bart und Kopfhaar und hinderte die Fernsicht, aber es war, als würde ihm der wildeste Tumult der Elemente ein Fest sein, so lebte jeder Nerv an dem jugendlich-elastischen Körper. Plötzlich blieb er stehen und legte die Hand vor die Augen, um schärfer hinsehen zu können und – „Felice!“ brach es wie ein Schrei von seinen Lippen und er warf den Bergstock weg und lief wie ein Reh auf eine Mädchengestalt zu, die ihm entgegengekommen und plötzlich, wie in den Boden gewurzelt, stehen geblieben war. Als er sie erreichte, war sie bleich wie eine Wand und zitterte am ganzen Körper, aber als er seine Arme um ihren Nacken schlang und seine bärtigen Lippen auf ihren schönen frischen Mund preßte, jauchzte sie auf: „Robert!“ und hielt sein Gesicht zwischen beiden Händen von sich, um ihm tief in die Augen sehen zu können, und ein wunderbar glückseliges Lächeln blühte in dem sich wieder färbenden Gesicht auf.

„Wie gut, daß Du heute kommst!“ sagte sie dann, „denn morgen hättest Du mich nicht mehr getroffen und ich hätte Dich nicht noch einmal gesehen, ehe ich hinausgehe in die weite Welt. Und doch ist mir der Abschied von Rocca nur schwer geworden, weil ich nun nicht mehr stundenlang in dem Zimmer sitzen kann, in dem Du gewohnt hast, um hier Deutsch zu lernen und an Dich zu denken.“

„Ja, hast Du nicht gedacht, daß ich einmal wiederkommen würde?“

„Nein – nie, ich würde das für eine eitle, wahnsinnige Hoffnung gehalten haben.“

„Aber wozu dann Deutsch lernen, mein lieber, allzuvernünftiger Schatz?“

„Ich wollte mich in die deutsche Art, zu fühlen, die mir an Dir so gut gefallen hatte, noch tiefer hineinleben und dazu mußte ich wohl Deine Sprache lernen. Du hattest mich ja dem Geiste nach zu einer Deutschen gemacht.“

„Und wenn Du gedacht hättest, daß ich wiederkäme, hättest Du Dich nicht mutterseelen allein mit der Grammatik abgeplagt, sondern lieber bei mir Stunde genommen?“

Sie lächelte und erröthete: „Ich glaube wohl. Immer von Dir lernen zu können, muß ja wunderschön sein und ich weiß so wenig, daß Du –“

„Nicht Langeweile bekommen wirst. Das glaube ich auch und ich werde sehen, was ich als Schulmeister leisten kann. Aber darüber reden wir später. Jetzt sollst Du mir zunächst sagen, wohin Du gehst.“

„Zunächst nach Vigo im Fassathal, zu einer alten Base, die mich wohl ein paar Tage behalten wird – dann weiter, recht weit fort, denn in Rocca ist’s für immer aus. Alberto ist wiedergekommen, als Du kaum fort warst, und nun hat’s Tag für Tag Sturm gegeben – Bitten, Thränen, Versprechungen, Drohungen, Vorwürfe, und weil ich heute Abend mein Jawort habe geben sollen, bin ich davon gegangen, mag daraus werden was will. Siehe, ich hab’ nur das Allernöthigste von Wäsche in dem Bündelchen mitgenommen und die Paar Gulden, die ich mir erspart, denn ich mußte heimlich fort, sonst hätten sie mich am Ende mit Gewalt zurückgehalten.“

Robert lachte trotzig auf. „Das werden sie nun schon bleiben lassen. Jetzt bin ich bei Dir und ich habe auch einen harten Kopf – glaubst Du das?“

„Ja, jetzt bist Du noch bei mir, aber Du gehst doch nicht meinen Weg.“

„Doch – wenn Du mich nämlich mitnimmst. Wir gehen zusammen nach Vigo, dann nach Tiers und Blumau und von dort fahren wir immer nach Norden, bis wir am Meer und in Lübeck sind, bei lauter Protestanten, die lange nicht solche Heiden sind, wie Euer Kaplan behauptet.“

Dem Mädchen, das sich seiner Zärtlichkeit nur deshalb so willenlos überlassen hatte, weil es sich dieses Wiedersehen, dem die Trennung für immer folgen mußte, nicht verkümmern und verkürzen mochte, kam jetzt die erste Ahnung davon, daß Robert gekommen sei, sie sich heimzuholen, und sie sah ihn an, als müsse sie in seinen untrüglichen ehrlichen Augen lesen, ob er im Ernst oder im Scherz gesprochen. Sie fragte stockend, mit brennenden Wangen:

„Robert, ich soll Deine –?“

„Meine Frau werden, natürlich – ist denn das so wunderbar, daß es Dir nicht in das kluge Köpfchen will? Als ich Dich verließ, da hab’ ich’s freilich noch nicht gewußt, da hab’ ich gemeint, daß unsere Lebenswege nun für immer auseinandergingen. Aber als ich erst wieder daheim war und die Tage so träge dahinschlichen, und die Sehnsucht nach den Bergen, d. h. nach Dir, immer brennender und unstillbarer wurde und ich Tag und Nacht an Dich und Deine ernsthaften Augen denken mußte, da hab’ ich mich kurz gefaßt und den Eltern rund heraus gesagt, daß ich wieder fort müßte nach Tirol, um mir meine Frau zu holen. Nach ihrem Sinn war’s freilich nicht und durch manches gehätschelte heimliche Plänchen hat’s einen dicken Strich gemacht, aber sie haben sich drein ergeben und wollen nicht eher ein entscheidendes Wort sprechen, als bis sie Dich gesehen haben. Laß es drauf ankommen, Liebste; wenn ihr euch vertragt und Gefallen aneinander findet, soll mir’s von Herzen lieb sein, ist’s damit nichts, so gehen wir fort, irgendwo hin, wo Dir’s gefällt. Ich werde doch nicht der Thor sein, Dich wieder herzugeben, nun ich Dich endlich habe.“ Und er legte seinen Arm um ihren Leib, zog sie sanft an sich und küßte ihr jedes einzelne Wort übermüthig von den Lippen.

„Was wäre das aber für eine Geschichte geworden, wenn ich Dich nicht mehr angetroffen hätte, oder Du den Alberto geheirathet hättest und ich unverrichteter Sache wieder heimgekommen wäre – ich wäre ja blamirt gewesen bis in die Knochen.“

Je gesprächiger Robert ward, desto tiefer ward die Stille, die über das Mädchen kam. Sie ging an seiner Seite, hörte ihm fast andächtig zu und ein träumerisches Lächeln irrte um ihre vollen Lippen, während ihre Augen wie in eine endlose, liebliche Ferne sahen. Ihre hohe, schlanke, fast stolze Gestalt schien unter der Last des Glückes zu erliegen, denn ihr Haupt war gesenkt, aber ihre Hand schmiegte sich in die des Geliebten, als könne sie den lieben Platz selbst im Schlafe nicht aufgeben, und als sie in Vigo in das niedrige Stübchen der Base traten, die ihnen verwundert gegenüberstand und dem fremden Mann sein Geheimniß abfragen zu wollen schien, da lag keine Spur von Triumph und Stolz, keine Spur auch nur der herkömmlichen „jungfräulichen Verschämtheit“ in den Worten, mit denen sie ihn vorstellte, sondern es war, als sage sie träumerisch und mechanisch eine Lieblingsstelle aus einem Gedicht her und berausche sich an dem Klang der halb mystischen Worte.

Die alte Base, die sich schneller in die Lage zu finden verstand und rasch ein großes Wohlwollen für den blonden Nordländer faßte, der so bescheiden, aufmerksam und zärtlich war und dem die „reellen Absichten“ an die hohe, freie Stirn geschrieben waren, schüttelte über die wunderliche Braut den Kopf, die ihr lauter verkehrte Antworten gab, während sie sich mit dem Geliebten durch ein Nicken und einen Blick zu verständigen wußte. Robert aber ruhte nicht, bis ein kleiner Tannenbaum herbeigeschafft war, den er, über das eigene Ungeschick wie ein Kind sich freuend, über und über mit Lichtern besteckte und mit den zierlichen und werthvollen Geschenken behängte, die er seinem Rucksack entnahm. Und als der Duft der Nadeln und der Wachskerzchen das kleine verräucherte Gemach erfüllte und das schöne Mädchen mit thränenverschleierten Augen die märchenhafte Bescheerung angestaunt hatte, die ihr am Abend desselben Tages in den Schooß fiel, der sie heimath- und obdachslos gemacht hatte, da stand auch sie auf und holte aus dem Bündelchen, mit dem sie aus Rocca wie eine Landstreicherin geflüchtet war, die deutsche Grammatik, die schon ordentlich zerlesen war, und die sauber geschriebenen Uebungshefte und endlich, in Seidenpapier eingeschlagen, den Bergstrauß und die Landschaftsskizze, die am Scheidetage ihr bittersüßer Trost gewesen waren und die sie mit hatte nehmen wollen in die fremde Welt jenseits der Berge.

„Das ist Alles, was ich Dir geben kann, Robert – aber ich gebe Dir meine ganze Seele damit, denn jetzt fühle ich, daß ich mich Dir geben, daß ich Dich lieben muß und daß ich also nach Deinen eigenen Worten unendlich glücklich sein werde, die glücklichste Frau auf Erden.“

Und sie legte den Kopf an seine Schulter und wußte nicht, daß zwei schwere helle Thränen des reinsten Glücks über ihre Wangen rollten und auf die Hände des geliebten Mannes tropften, dessen Blicke wie verzaubert an dem rührenden Bilde hingen.