Weinlese im Rheingau

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Autor: Ernst Lenbach
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Titel: Weinlese im Rheingau
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 780–783
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Weinlese im Rheingau.

Von Ernst Lenbach.0 Mit Bildern von H. Junker.

„Am Rhein, am Rhein, da wachsen uns’re Reben;
  0 Gesegnet sei der Rhein!“

Das köstliche Lied des alten Wandsbecker Boten, wer von uns hat es nicht schon mitempfunden, mitgesungen, wenn ihm des Rheines flüssiges Gold den Sinn erhob und die Zunge löste? Nirgends aber stimmt man doch so fröhlich, so überzeugungsvoll ein als auf einer Rheinfahrt selbst, nach welcher das Herz des Deutschen trachtet wie das des frommen Muselmanns nach der Pilgerfahrt gen Mekka. Da ist nichts als Freude: Freude an dem einen großen deutschen Vaterlande, dessen Ruhm und Herrlichkeit aus dem Kampfe um den Rhein sieghaft emporstieg, Freude an der Natur, Freude an dem Leben selbst, welches in buntschillernden Farben den Wallenden umspielt, Und der Winzer, der droben im Weinberg einen Augenblick von seiner mühevollen Arbeit wegschaut und herabspäht auf das bewimpelte Schiff, darf sich sagen, daß auch er und sein Pflegling, der Weinstock, ein wesentliches Verdienst um all das Vergnügen da unten haben.

Schön wie die ganze Landschaft erscheinen auch sie dem Auge des Wanderers, diese Rebengärten, die sich so keck an den steilen Berghängen emporwinden. Und zweifellos wird ihr Reiz wesentlich erhöht durch den Gedanken an das Köstliche, was sie spenden. Ob freilich der Weinberg so ganz in der Nähe betrachtet auch diese malerische Anmuth bewahrt? Da erkennt man doch zu deutlich die Spuren der unendlichen Mühe, welche nothwendig ist, um die rheinische Erde zu zwingen, daß sie ihren edelsten Schatz hergebe. Nicht als ein freies, üppiges Gewächs, lianenartig mit armdicken Aesten von Baum zu Baum sich schlingend, gedeiht hier die Rebe, wie z. B. in jenen Ländern an der Südküste des Kaspischen Meeres, von wo sie nach manchen Gelehrten ihren Siegeszug über die Erde angetreten hat. Recht kleinbürgerlich bescheiden läßt sie sich an Pfählen zu mäßiger Höhe aufziehen und ist herzlich froh, wenn der deutsche Winter ihren Erzieher nicht zwingt, ihr im Frühjahr als grausamer Arzt das Leben durch Amputation der erfrorenen Glieder zu retten.

Die Rebe ist eben kein einheimisches deutsches Gewächs. Durfte sich doch der Römer Tacitus die schnöde Bemerkung gestatten, daß die deutsche Erde vom Herbst weder den Namen noch Gaben kenne und daß dort niemals ein ordentlicher Obstbaum, geschweige denn ein Weinstock zu reifen vermöge! Und auch am Rheinstrom hat die Rebe von dem Gebiete, welches sie sich allmählich erobert hatte, gerade in unserer neuesten Zeit erhebliche Theile wieder eingebüßt. Bis ins Weichbild der Stadt Köln reichte zu Anfang dieses Jahrhunderts der Weinbau; jetzt mag das schon manchen Bürger der rheinischen Großstadt wie ein Märchen anmuthen, Allerdings bauen noch einige Dörfer nördlich von Bonn, am Abhange des fruchtbaren Vorgebirges, einen trinkbaren Rothwein, der sogar eines sehr berühmten Sohnes Vater ist – die vielgepriesenen Kapweine (vom Kap der guten Hoffnung) stammen großentheils von Reben her, welche die Holländer bei ihren Kriegszügen ins Erzstift Köln aus dieser Gegend mitnahmen. Immerhin aber bleibt die Nordgrenze des Weinbaus am Rheine heutzutage um einen ganzen Breitengrad hinter Schlesien zurück, wo die Rebe von Grüneberg nicht bloß Hunderten von Kranken Erquickung und Genesung in der Traubenkur bietet, sondern sogar einen vielberufenen Wein liefert, den einem bösen Spottliebe zufolge selbst der Teufel nur trinken könnte, wenn er ein geborener Schlesier wäre. Die welfischen Herzöge zogen sich vordem zu Hitzacker im Lüneburgischen ihren Mundwein, und die Kurfürsten zu Brandenburg sind beim Safte jener Reben, welche fleißige Dominikaner am Kreuzberg bei Berlin angebaut hatten, oftmals „sehr fröhlich gewest“.

Bei der Lese.

Der Geschmack ist eben mit der Zeit immer anspruchsvoller geworden, und dem muß sich auch die Rebe fügen. Der Wein ist in Deutschland heutzutage weit davon entfernt, das tägliche Getränk des Volkes zu werden, wie es Fürst Bismarck einmal gewünscht hat. Sein älterer einheimischer Nebenbuhler, das Bier, hat ihm gewaltige Strecken abgewonnen, und seine Pfleger sind darauf angewiesen, in der Herausarbeitung der Qualität zu ersetzen, was er an Quantität eingebüßt hat. Und das gelingt ihnen auch, trotz aller Tücken und Nücken der nicht immer besonders gütigen Mutter Natur. Mehr Wein mögen die alten Ritter getrunken haben als wir heutzutage, wo der statistische Durchschnittsdeutsche sich mit knapp sechs Litern jährlich – man glaubt es kaum! – begnügt; aber solchen Wein, wie ihn heute der Winzer in den besseren Lagen am Rheine zieht, hat wahrscheinlich im Mittelalter nicht einmal der Kaiser getrunken.

Es zeigt sich das schon in der Unmenge von Sorten – besser „Lagen“ – die man heute unterscheidet, und zwar keineswegs bloß auf dem Zettel der Flasche. Eine frühere Zeit faßte schlechtweg alles als „Rheinwein“ zusammen, was von Bacharach, damals dem Hauptweinhandelsort am Rhein, zum Versand kam. Jetzt unterscheidet man anders; und wenn auch Rheinhessen, die [781] bayerische Rheinpfalz und weiter herunter so mancher Gau, das Nahethal, der Bopparder Hamm, die altberühmten vier Thäler: Bacharach. Steeg, Manubach und Diebach, die Thäler der Mosel und Ahr und unzählige andere, einen wahrhaft köstlichen Tropfen spenden – das Herz des Weinkenners schlägt doch am höchsten, wenn er die vornehmsten Lagen des Rheingaus nennen hört.

Da liegen sie zusammen – Rauenthal, Steinberg, Hochheim, Geisenheim, Johannisberg, Rüdesheim, Aßmannshausen, der Marcobrunner, der die Ironie besitzt, sich nach einem einfachen Wasserbrünnlein zu benennen, – alle zusammen auf einem Gebiet von kaum acht bis zehn Quadratmeilen. Der Wein ist es, der dort Leben und Fühlen der ganzen Bevölkerung beherrscht; ein guter Jahrgang ist das Glück des Volkes, ein böser sein Unglück – das äußert sich so lebhaft wie Landestrauer und Viktoriaschießen.

Man begreift das leicht, wenn man sich vergegenwärtigt, daß z. B. die eine Gemarkung Rüdesheim etwa 880 Morgen Reben baut, und daß man bei einem „vollen Herbste“ auf jeden Morgen ein Stückfaß, d. h. 1200 Liter besten Weines rechnet. Nun gehört allerdings ein solcher voller Herbst beinahe in die Reihe jener fabelhaften Vorstellungen, bei denen der Wunsch der Vater des Gedankens ist, aber auch ohne dieses Ideal zu erreichen, kann ein gutes Jahr den Ausfall von vier bis fünf mittelmäßigen, ja schlechten Jahren wett machen; und dann entfaltet sich zur Weinlese ein unendlich fröhliches, reges Leben, wie wir es heuer mitmachen durften.

Schon mehrere Wochen vor Beginn der Lese sind die Weinberge geschlossen worden, zum Schutze gegen menschliche Unachtsamkeit und Habgier. Den geflügelten und den vierfüßigen Traubenliebhabern muß man mit schärferen Mitteln zu Leibe gehen; die schlimmsten unter ihnen sind Reineke Fuchs, dem bekanntlich nur die besten, reifsten Trauben nicht „zu sauer“ sind, und sein noch gefräßigerer Neffe, Grimbart der Dachs. Wenn Goethe in seiner köstlichen Schilderung des St. Rochusfestes bei Bingen erzählt, wie die frommen Wallfahrer einen eben erwischten Dachs umbrachten, und sich dabei für das „arme schuldlose Thier“ ins Zeug legt, so diene dazu als heiteres Belegstück, daß dieses „schuldlose Thier“ gut und gern seine zwölf Pfund Trauben täglich vertilgt.

Das „Rappsen“.

Daß die Lese beginnen darf, wird durch Läuten einer besonderen Glocke verkündet, die auch wiederum ertönt, wenn die Lese unterbrochen werden soll, was der strengen Regel zufolge zu geschehen hat, sobald Regen eintritt; denn in der Nässe gelesene Trauben liefern selten Gutes, wie mancher nothgedrungen naß gelesene Jahrgang mit betrübender Deutlichkeit bekundet. Nun beginnt in den Weinbergen – über Reihenfolge, Anfang etc. der Lese entscheidet ein besonderer Ausschuß – jenes bunte, bewegte Treiben, welchem auch die gleichmacherische Neuzeit noch nicht alle Eigenart hat rauben können. Die Masse der Lesenden setzt sich freilich auf den weitläufigen Besitzungen, die jetzt den größten Theil der rheingauischen Weinberge umschließen, aus bezahlten Leuten zusammen; es mag erlaubt sein, zu erwähnen, daß eine Schnitterin außer Essen und Trinken durchschnittlich 1½ Mark, ein „Legelträger“, wie wir deren einen mit den echten ausgearbeiteten Zügen des älteren rheingauer Bauern links auf unserem Lesebild sehen, besseres Essen und 2½ Mark erhält. Aber auch jede freiwillige Hilfe ist willkommen.

Hat die Herrschaft, wie natürlich bei gutem Lesewetter, Besuch von auswärtigen Verwandten und Freunden, so legt auch die zarte Dame aus der Großstadt mit fröhlicher Begier Hand an und schreibt dann wohl, wie es eine schöne Leipzigerin heuer that, nach Hause: „Denkt Euch, wirkliche Trauben haben wir abgepflückt!“ Musik und Gesang, wohl auch ein Tänzchen erhöht Arbeits- und Lebenslust, dazwischen wird fleißig getrunken. Denn wie sagt doch der Alte von Weimar von den Rheingauern, die er vor der St. Rochuskapelle so schalkhaft belauschte? „Niemand schämt sich der Weinlust; sie rühmen sich einigermaßen des Trinkens!“ Weniger löblich ist, daß etwelche den höchsten Beruf der Traube verkennen und unter dem Lesen eine beträchtliche Menge davon – essen; der Wunsch, solches zu verhüten, mag immerhin mitwirken, wenn neuerdings manche Besitzer ihren Winzern während der Lese Pfeifen, Tabak und Cigarren freigebigst austheilen. Denn so ein kleines Rheingauer Rieslingträubchen – vier Fünftel der Weinreben im Rheingau sind Riesling – ist schneller verspeist als ersetzt. Wird doch in jenen feinsten Lagen, wo drei Lesen nacheinander sind, die erste, köstlichste „Auslese“ („Ausbruch“) aus einzelnen Beerchen gewonnen, die mit Nadeln aus der Traube ausgepickt werden!

An der Kelter.

Weinlese und Mostkeltern gehen neben einander her. Meist sogleich an Ort und Stelle werden die Trauben zu „Maische“ zermahlen, dann geht es hinab die Pfade und Straßen, mit Juchhei und Jubel; die stämmige Wagenlenkerin auf unserer Anfangsvignette mag sich vorsehen, daß sie über dem allgemeinen Vergnügen nicht die Herrschaft über ihr Gefährt verliere, denn auch die Fahrwege sind hier zu Lande steil. Die steilsten Pfade freilich vermag nur der Mensch zu erklimmen; in der Rüdesheimer Gemarkung giebt es Gefälle bis zu 40 Grad! Wer da draußen im Lande behaglich sein Schöppchen trinkt, sollte sich doch zuweilen vorstellen, was es heißt, diese harten, steilen Porphyrwände sommerlang im glühenden Sonnenschein, winters über glatten Reiffrost und Schnee Stufe um Stufe zu erklimmen, den Dünger hinaufzuschleppen und – noch schwerere Arbeit – hinabzugehen mit einem Legel Most auf dem Rücken, welches alles in allem seine 120 Pfund wiegt!

Gekeltert wurde vielfach noch bis weit in unser Jahrhundert hinein ganz nach biblischer Art, durch Stampfen mit den Füßen; die Stiefel, welche dabei zur Verwendung kamen, wurden [782] von Lese zu Lese sorgfältig bewahrt. Von da ist ein weiter Schritt bis zu der heutigen Vervollkommnung des mechanischen Kelterns, der Centrifuge und der hydraulischen Kraftverwendung; der Most, welcher unsern Künstler begeisterte, ist, wie Figura zeigt, noch unter einem richtigen „Kelterbaum“ älterer, einfacher Bauart herausgeflossen, wie sie im Rheingau noch viel im Gebrauch sind. Sobald der Most unter der Kelter herausfließt, wird sein Zuckergehalt bestimmt; das ist die erste und wichtigste Handhabe zur Beurtheilung des Jahrganges. Meist verwendet man die sogenannte Oechslesche Wage, wie sie der alte Herr und sein Genosse auf unserem Kelterbilde rechts eben handhaben; der Herr hat ein volles Recht, überlegen und selbstbewußt dreinzublicken, denn möglicherweise reicht seine Wage gar nicht: nicht alle Exemplare sind bis auf einen so hohen Zuckergehalt vorgesehen, wie er heuer in den besten rheingauer Lagen erzielt wurde – bis zu 120 Grad Oechsle, durchschnittlich bis zu 90, während das Ergebniß gewöhnlich von 75 bis höchstens 95 schwankt. Von der Kelter kommt der Most zur Gährung in offene Fässer in besonderen, bis zu 14 bis 16 Grad Reaumur erwärmten Gährräumen; je schneller, lebhafter er gährt, um so günstiger gestaltet sich die Hoffnung für den Wein.

Die rothen Weine, deren edelster Vertreter, der Aßmannshäuser, ja ebenfalls dem Rheingau angehört, kommen nicht sogleich zur Kelterung; sie müssen mit den Schalen (Bälgen) gähren, da diese den Farbstoff und zum Theil auch andere beim Rothwein geschätzte Stoffe liefern; Wein, der sogleich aus rothen Trauben gekeltert ist – wie z. B. ein großer Theil des für die rheinischen Schaumweine verwendeten Gewächses – wird weiß, höchstens leicht röthlich. Bei den rothen Trauben ist noch ein besonderes Verfahren nach der Maische zu beachten, das sogenannte Rappsen oder Rebbeln, welches wir auf einem unserer Bilder dargestellt sehen. Der Zweck dieses Verfahrens ist die Entfernung der Tranbenkämme (auch Rappen genannt, daher der Name) von der Maische, weil beim Mitkeltern der Kämme der Wein zu rauh und scharf gerathen könnte. Man bedient sich hierzu eines viereckigen Kastens, dessen Boden von einem scharfen Drahtsiebe mit Maschen von 1½ bis 2 cm im Quadrat gebildet ist. Dieser Siebkasten wird über eine Bütte gestellt, mit der Masse gefüllt und dann so lange hin und her geschüttelt, bis die gereinigte Maische unten durchgefallen ist und die leeren Kämme oben abgehoben werden können. Bei sehr feinen Weinen wird eine ähnliche Vorrichtung zuweilen angewandt, um bereits vor der Maische die reifen Beeren von den Kämmen zu lösen.

Ständchen der Winzer und Winzerinnen.

Es versteht sich, daß beim Keltern mit dem Trunke nicht gekargt wird; denn wie ein alter Winzerspruch sagt:

„So lang der Kelterbaum umgeht,
Darf sich freuen, was drum steht.“

Und nach der Lese giebt es natürlich noch eine besondere Lustbarkeit mit Schmaus, Trunk und Tanz, wo auch die Herrschaft mit ihren Gästen erscheint, das Erntefest des Weines. Vordem waren dabei noch allerlei Bräuche im Schwange; die hübscheste und bravste (wo das zusammentraf!) Winzerin brach die letzte Traube und wurde dann, zu Roß, zu Esel oder auf dem Ochsengespann, in weitem Kleide, phantastisch mit Reblaub und anderen Kränzen umwunden, von der gleichfalls bekränzten Schar der Winzer und Winzerinnen in feierlichem Zuge vor die Herrschaft geleitet – als „Herbstmucke“; dem Scharfsinn der Sprachforscher und Mythologen muß es überlassen bleiben, den Ursprung dieses Namens ausfindig zu machen. Ganz nach alter Art wird die Sitte unseres Wissens nur noch in Laubenheim vereinzelt geübt. Wohl aber sorgen besonders die großen Privatbesitzer des Rheinngaues dafür, daß die Schlußfeste mit Musik, Schmaus und Lustbarkeiten aller Art nicht aussterben, und das anmuthige Ständchen, welches uns der Künstler aus dem Verlauf eines solchen Festes vorführt, wird hoffentlich noch lange nicht das letzte seiner Art im Rheingau gewesen sein. Neben den privaten Großbesitzern und der Domäne, die in der Nähe der auf unserem Lesebilde sichtbaren Burg Ehrenfels bei Rüdesheim besonders geschätzte Lagen baut, giebt es auch noch heute viele kleinere bürgerliche Besitzer, welche selbst keltern.

Zu dem Verschwinden mancher alten, fröhlichen Lesebräuche haben abgesehen von dem sogenannten Geist der Zeit auch noch besondere Umstände mitgewirkt. Vordem wurde die Lese durchschnittlich früher angesetzt als in unseren Zeiten, wo es als Regel gilt, nicht vor Allerheiligen anzufangen. Eine so frühe Lese wie die heurige ist seit vielen Jahren nicht dagewesen. Wenn es nun zur Lesezeit schon friert und schneit, so wirkt das naturgemäß auf die allgemeine Lustbarkeit im Freien stark abkühlend. Was aber die alten Bräuche am meisten geschädigt hat, das war die große Zahl von schlechten oder doch nur mittelmäßigen Weinjahren seit dem letzten „großen“ Jahre, 1868. Gottlob hat das Jahr 1893 diesen Kummer wieder in etwas beseitigt, und angesichts des heurigen Ergebnisses darf der Winzer schon mit gefaßterem Gemüthe an ältere schöne Weinjahre zurückdenken.

Das berühmteste unseres Jahrhunderts, vielgepriesen in Goethes und kleinerer Dichter Werken, war das Jahr 1811. Es war der Quantität nach ein reiches Jahr und zugleich an Qualität hervorragend; der Winzer hat für solche gesegnete Herbste den Ausdruck, daß „auch der Wein an den Hecken“ gut war, d. h. an den nicht sonnigen Stellen. Eine Flasche „Elfer“ ist heutzutage ein Schatz, der mit schwerem Golde bezahlt wird. Es ist aber ein gutes Theil Raritätenliebhaberei dabei im Spiele. Denn auch der Satz, daß guter Wein mit den Jahren immer besser werde, hat seine Grenze. Der Wein hat wie ein lebendes Wesen seine Entwicklungsjahre, in welchen er seinen Charakter ausbildet, auch ab und zu wie jeder Mensch seine Anfälle von Untugenden durchmacht, bis er sich dann eines Besseren besinnt. Allmählich aber erreicht auch er wie der Mensch eine Lebenshöhe, jenseit derselben wird er greisenhaft, mürrisch, kalt, und zuletzt ist er tot. Alsdann ist er ein guter Wein – gewesen. Und nur sehr selten braucht er bis zu diesem Punkte die biblische Lebenszahl von 70 bis 80 Jahren.

Alle elf bis zwölf Jahre, so rechnet man im Rheingau, giebt es einen besonders guten Treffer. Die Rechnung stimmt zunächst: 1822 war ein sehr schönes Jahr, 1834 brachte wenig (etwa Einviertelherbst) aber hervorragend guten Wein; 1846 war wieder ein großes Jahr, 1848 kam noch eine reiche, aber in der Qualität nur mittelmäßige Ernte, und dann, wieder elf Jahre nach 1846, gab es die berühmten großen drei Jahre 1857, 1858, 1859, den Glanzpunkt in der Geschichte des rheingauer Weinbaues. „Garibaldi“ nennt man den 1860er: er kam reichlich und vielversprechend, [783] blieb aber unreif. 1862 gab wieder sehr guten Wein, aber meist nur Einviertelherbst. Dann folgen noch zwei Sterne erster Ordnung, 1865 mit einem in der Qualität hervorragenden, besonders süßen Dreiviertelherbst, begünstigt durch herrliches Wetter während der Lese – es war so warm, daß die in der Sonne stehenden Bütten undicht wurden – und 1868, ein vorzüglicher Wein, vielfach voller Herbst. Von da an aber blieb die Natur, die sich in den letzten elf Jahren so freigebig gezeigt hatte, sehr karg. Es gab Mißjahre wie 1869, 1871, 1872, ferner 1873, wo die Trauben erfroren, 1877, berüchtigt durch seine Säure, 1887 und 1888 gering; einzelne Jahre wie 1870 und 1874 gaben viel, aber von schwacher Qualität, andere wie 1880, 1884, 1886, 1890 und 1892 gaben Besseres (1884 auch besonders schöne Auslesen), aber meist nur kleine Mengen. Dann kam das Jahr 1893: im Frühjahr viel Frostschaden, dann ein ganz ungewöhnlich heißer, trockener Sommer, welcher trotz des Frühjahrsfrostes den üppigsten Hoffnungen Raum gab, aber – zu lange anhielt; der Regen, längst ersehnt, trat endlich zur Unzeit ein, rief vielfach eine unnatürlich frühe Edelfäule hervor und zwang die Leute, zumal in der Befürchtung vor einem andauernd nassen Herbste, weit vor der Zeit zu lesen. Daher ist die Meuge in diesem – wie auch in vielen der vorhin besprochenen Jahre – in den einzelnen Gauen ganz verschieden: im mittleren Rheingau, von Oestrich bis Rüdesheim, glaubt man, von einem guten Halben-, ja Dreiviertelherbste sprechen zu dürfen, weiter stromabwärts, z. B. in Lorch, lautet das Urtheil viel ungünstiger, man geht bis zu einem Achtelherbst herunter. Durchweg sehr befriedigt aber ist man von der Güte; man vergleicht sie mit dem Weine von 1868, ja man wagt sogar hier und da die köstlichen Ergebnisse von 1865 zum Vergleiche heranzuziehen, hinweisend auf den riesigen Zuckergehalt des Mostes, die rasche Gährung, den gesund bitteren, nicht säuerlichen Nachgeschmack des „Federweißen“ (d. h. des gährenden Mostes). Immer bleibt noch abzuwarten, wie sich der junge Wein beim ersten Abstich, im Februar vorstellt.

Möge er halten, was er versprochen hat, zum Heile fröhlicher weinkundiger Zecher, vor allem aber des fleißigen, ausdauernden, wahrhaftig nicht auf Rosen gebetteten Winzervolkes! Möge er helfen, daß „Rhein“ und „Wein“, dieser köstliche Reim, auch ferner seinen alten goldenen Klang bewahre!