Werther

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Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Werther
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 114
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Suizide in Paris
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[114] Werther. Der in Deutschland gestorbene, begrabene, und mit seinem zahlreichen Gefolge fast vergessene Werther ist in Frankreich wieder erstanden, hält in Paris, im sinnlich-frivolen Paris seinen Umgang und holt sich tagtäglich seine Opfer. Es ist aber nicht der deutsche Platoniker, der für die Natur schwärmt, die Odyssee liest und sich in Ossian’s Nebelgebilden berauscht, nicht der schmachtende poetisirende und philosophirende, nicht einmal der gebildete Werther, der hier umgeht und die Herzen bestrickt; nur seine alte sinnliche Glut und das Ziel seiner Fahrt hat er bewahrt, sonst aber hat er sich in Zeit und Ort gefügt und ist ein ächtes Pariser Stadtkind geworden, dessen Augen niemals über jene Hügel hinauszustreifen begehrten, die den breiten Seinekessel mit den umzäunten Gärten, Parks, Städten, Dörfern und der immensen Häusermasse umgürten, die man Paris nennt. Zehnstündige eintönige Arbeit trocknet das Herz nicht aus, und der Arbeiter, dessen Gefühle für das Allgemeine gewaltsam erstickt wurden, hat oft nur noch Einen Gedanken, Eine Empfindung, die ihn ganz erfüllt und ihn bald auf die Triumphpforte führt, die Apotheose des französischen Ruhms, bald auf die Julisäule, die Verherrlichung der Freiheit, (deren Genius bedeutsam genug schon bei der Errichtung entfliegend gedacht wurde,) um von dort aus der Liebe wie dem Leben zu entfliehen. Ein ächt französischer Tod mit Eclat, der aber nicht selten auch mit dem langsamen Ende neben der Kohlenpfanne in stillen unbelauschten Stübchen abwechselt. Und es vergeht fast kein Tag, wo die Liebe, seltener die Noth der Zeit, ein und mehrere solche Opfer fordert. Gestern war es ein braves Dienstmädchen, das den Tod der Ertragung seines Kummers vorzog.

Charlotte ist einundzwanzig Jahre alt, hübsch und fleißig, ihrer Herrschaft werth wie Allen, die sie kennen. Sie hat ihren Dienst gekündigt, denn sie ist Braut eines wackeren tüchtigen Arbeiters, der sich so viel erspart hat, um ein eignes Geschäft zu beginnen. Zur Fastnacht soll schon Hochzeit sein und das Mädchen erhält die Erlaubniß, zu ihrem Geliebten zu gehen, um mit demselben noch einiges Hausgeräthe anzuschaffen. Sie geht ein Lied trällernd frohen Sinnes weg, sie kommt nicht so zurück. Sie hatte in der Zwischenzeit ihren Bräutigam gesehen, aber Einkäufe hatte sie nicht mit ihm gemacht. Denn als sie in sein Zimmer trat, lag er vom Schlage gerührt auf dem Bette, von Freunden umgeben, sterbend. Er erkannte sie nicht mehr, in deren Armen er aus dem Leben schied. Schweigend geht Charlotte heim und erhält die Erlaubniß sich zurückziehen zu dürfen. Als sie andern Morgens zur gewohnten Stunde nicht erscheint, wird man besorgt um sie, man dringt in ihr Stübchen und findet sie kalt und starr, die ausgebrannte Kohlenpfanne neben dem Lager, in den Händen einen Brief an ihren Geliebten in der Ewigkeit, den sie am Abend geschrieben. Auf dem Tische lag ein Zettelchen, worauf stand, man möchte ihr den Brief mit in den Sarg legen. – Das ist eine Liebe, welcher die feine Welt nicht mehr erliegt, die die Forderungen des Herkommens durch Vernunftheirathen zu befriedigen und die innere Leere durch kostspielige femmes entretenues auszufüllen sucht.

Ein anderer rührender Fall kam jüngst vor. Einem Arbeiter stirbt sein liebes Weib, mit dem er seit einem Jahre verehlicht war. Er läßt ihr ein Denkmal auf dem Montmartre setzen, und bringt jeden Sonntag frische Kränze hin. Seine freien Stunden an den Arbeitstagen bringt er damit zu, das Denkmal der Geliebten im Kleinen nachzumachen und es mit allen ihm gebliebenen Erinnerungen der Hingeschiedenen zu verzieren. Als dasselbe fertig ist, ladet er seine Freunde zu einem festlichen Mahle ein, dem er in der heitersten Stimmung beiwohnte. Es war sein Abschiedsmahl, am nächsten Morgen fand man ihn vom Kohlendampf erstickt. Ist das nicht rührend?

Doch nicht blos der Schmerz über den Tod oder die Untreue der Liebe fordert Opfer, auch der Ehrgeiz, die Eitelkeit, was im französischen Nationalcharakter erst recht begründet ist. Da wohnte ein ehrsamer Schneider in der rue Moudar, der von einem seiner Hauptkunden einen bedeutenden Auftrag erhielt, unter der Bedingung, daß die Kleider bis zu einer bestimmten Stunde fertig sein sollten. Der Schneider sagte zu, konnte aber die Zeit nicht einhalten. Der Kunde wurde ihm nun untreu; das ging aber dem Kleiderkünstler so zu Herzen, daß er sich das Leben nahm. Er verließ das Diesseits mit der Bitte, daß man ihm im Sarge einen Paletot anziehen solle, den er für sein Meisterwerk gehalten. Der Erfüllung dieses Wunsches stand eine Verordnung entgegen und der Meister kann nun nicht vor St. Petrus in seinem Musterpaletot paradiren. Er wurde begraben wie ein Anderer.