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Wilhelm Heinrich Riehl (Die Gartenlaube 1893/18)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
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Autor: M. H.
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Titel: Wilhelm Heinrich Riehl
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 18, S. 300–301
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Wilhelm Heinrich Riehl.

Ein Gedenkblatt zu seinem siebzigsten Geburstag.

In unserer Zeit, wo die Trennung und Einseitigkeit auf allen Feldern menschlicher Arbeit sehr weit gediehen ist, erscheint es wohl erstaunlich, wenn ein Mann auf mehreren ziemlich entlegenen Gebieten gleichzeitig thätig auftritt; um so erstaunlicher, wenn die Ergebnisse dieser verschiedenen Thätigkeiten auch bei strengster Beurtheilung durchweg die Züge der Vollendung und der Meisterschaft aufweisen. Menschen mit engem Gesichtskreise sind sehr leicht zu der Behauptung geneigt, man müsse sich heutzutage auf Eines beschränken. Das gilt für Durchschnittsmenschen. Aber es sind nicht alle an diese Arbeitsregel gebunden; es giebt Naturen, die sich über dieselbe hinwegsetzen können. Diese auserlesenen Naturen erfrischen sich eben durch den Wechsel der Arbeit. Wo sie neben der Wissenschaft auch der Kunst dienen, erscheint ihnen nicht etwa das eine als Berufs- und das andere als Dilettanten-Arbeit, sondern sie nehmen die verschiedenen Seiten ihrer Thätigkeit ernst. Aber ihre künstlerische Weltanschauung gestattet ihnen, dasjenige, was sie auf wissenschaftlichem Gebiete leisten, zu verschönen, in elegantem Gewande zu bringen, dabei geistig frischer zu bleiben und in manches Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Kunst einzudringen, welches dem bloßen Gelehrten verschlossen bleibt. Und wo solche Männer dichterisch schaffend auftreten, da ist es die in anderen Zeiten von ihnen betriebene wissenschaftliche Thätigkeit, welche ihren dichterischen Werken jene Gründlichkeit und Gediegenheit, jenen Adel solider Geistesarbeit verleiht, welche die bloße Phantasie zwar nicht nothwendig verlieren muß, aber doch leicht verlieren kann.

Es muß eben immer begnadete Menschen geben, welche der Wahrheit und der Schönheit zugleich dienen, damit die Wahrheit und die Schönheit sich nicht fremd werden.

Einer dieser seltenen Menschen ist uns Wilhelm Heinrich Riehl, der in ungetrübter Geistesfrische und Schaffenskraft in diesen Tagen sein siebzigstes Lebensjahr vollendet. Geboren am 6. Mai 1823 in dem nassauischen Städtchen Biebrich, wandte er sich anfänglich dem Studium der Theologie zu, um bald zur Geschichte und Philosophie überzugehen. Der nothwendige Kampf ums Dasein warf ihn jedoch, obwohl er seiner ganzen Natur nach zum Universitätslehrer bestimmt war, zunächst in die journalistische Laufbahn.

Wie viele Menschen, selbst solche, die mit schönen Talenten begabt sind, in dieser Laufbahn von der Tagesarbeit tot gehetzt werden und zu Grunde gehen, ist bekannt. Riehl selber hat ja das wuchernde Litteratenthum in seiner „Bürgerlichen Gesellschaft“ genügend gezeichnet. Ihn aber konnten die journalistischen Wirbel nicht verschlingen, dazu war er von Hause aus zu stark und zu tüchtig angelegt. Von Frankfurt, wo er seit 1845 Mitredakteur der „Oberpostamtszeitung“ gewesen war, wandte er sich 1847 nach Karlsruhe als Mitarbeiter der „Karlsruher Zeitung“ und Herausgeber des „Badischen Landtagsboten“. Schon hier schrieb er Aufsätze von dauerndem Werthe, welche die Keime zu seinen späteren kulturgeschichtlichen Werken bildeten. Die politisch bewegte Zeit des Jahres 1848 verlebte er in Wiesbaden, wo er die „Nassauische allgemeine Zeitung“ gründete und redigierte. Hier, mitten in stürmischer Tagesarbeit, fand er doch noch Zeit zu den gründlichsten Studien über die Volksseele. Er studierte das Volk unmittelbar nach der Natur, indem er das Land durchwanderte, Volks- und Gemeindeversammlungen, Gerichts- und Landtagssitzungen besuchte. Im Frankfurter Parlament, wie von einzelnen seiner Biographen irrthümlich angegeben wird, saß er nicht; aber die aufgeregten Massen von Frankfurt, Mainz, Wiesbaden und Karlsruhe hat er genügend beobachtet, um sie meisterhaft schildern zu können.

Zu Anfang des Jahres 1851 folgte er einem Rufe an die hochangesehene „Allgemeine Zeitung“ nach Augsburg. Hier fand er wohlthätige ruhigere Tage in der stillen Stadt mit ihren lebendigen Erinnerungen an altreichsstädtisches Bürgerthum. Wie er in den hessischen Dörfern die Bauern, in den Rheinstädten die unteren Schichten der Arbeiterbevölkerung studiert hatte, machte er nunmehr seine Beobachtungen über den Adel und städtisches Bürgerthum. Die Frucht dieser Beobachtungen war sein berühmtestes Buch, die „Bürgerliche Gesellschaft“, heute noch mustergültig, obwohl es, wie Riehl selbst sagt, als Urkunde für den Geist einer vergangenen Zeit erscheint. Dieses Buch schildert das soziale Volksleben und verknüpft mit der Schilderung die Erörterung politischer Probleme.

Im Jahre 1853 ließ er ein verwandtes Werk folgen, „Land und Leute“, in welchem der Zusammenhang von Landschaftscharakter und Volksthum zur Untersuchung gelangt. Zahlreiche Erfahrungen, welche Riehl bei seinen Fußwanderungen durch deutsche Gaue gesammelt hatte, verarbeitete er in diesem Buche, um das organische Herauswachsen des Volksthums aus der Bodennatur nachzuweisen. Fast das nämliche Ziel verfolgt auch das später erschienene „Wanderbuch“. Zu den kulturgeschichtlichen Arbeiten Riehls gehört ferner die „Familie“ (1855), in welcher er jene Mächte schildert, welche die Begründung und den Zusammenhang der Familie im deutschen Volksleben beeinflussen, und daran schließt sich endlich noch „Die deutsche Arbeit“ als eine Summe von werthvollen Beobachtungen über das Erwerbsleben in Deutschland. Es ist dies kein nationalökonomisches Werk im landläufigen Sinne des Wortes, sondern ein Buch, welches über den Zusammenhang von Volkscharakter und Erwerbsleben Aufklärung giebt.

Während dieser fleißigen und fruchtbaren kulturgeschichtlichen Arbeiten hatte sich Riehls äußere Lebensstellung sehr zu ihrem Vortheil verändert. König Maximilian II. von Bayern, welcher damals eifrig bestrebt war, das geistige Leben seines Volkes zu heben und namentlich an der Universität München eine auserlesene Schar deutscher Gelehrter zu versammeln, hatte Riehl im Jahre 1853 als Professor nach München berufen. So vertauschte dieser das Redaktionsbureau mit einem Lehrstuhl der Kulturgeschichte und Sozialwissenschaft. Es war in den Jahren, als auch Männer wie Liebig, Sybel, Bodenstedt, Geibel, Heyse, Bluntschli, Carrière nach München gezogen wurden, als der König selbst an bestimmten Abenden einen Kreis von Gelehrten um sich versammelte, um mit ihnen Gedanken auszutauschen, sein Interesse an ihren Forschungen kundzugeben und selbst Arbeiten anzuregen. Aus einer Anregung des Königs erwuchs Riehls Buch „Die Pfälzer“; auch die „Bavaria“ ist hierher zu rechnen, eine umfangreiche geographisch-ethnographische Schilderung des bayerischen Staates, an welcher Riehl hervorragenden Antheil nahm.

Sein Lebensgang blieb nunmehr in dem ruhigen Fahrwasser des akademischen Lehrers. In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Forschungen erwählte ihn die Bayerische Akademie der Wissenschaften zu ihrem Mitglied; der König verlieh ihm den persönlichen Adel; auch die Rektorswürde an der Ludwig-Maximilians-Universität hat er schon bekleidet. Seine hervorragende Gewandtheit in künstlerisch durchgearbeiteten freien Vorträgen ward Veranlassung, daß von den verschiedensten deutschen Städten aus die Aufforderung zu Vorträgen an ihn erging. Seine alte Freude, im Wandern zu lehren und zu lernen, ließ ihn diesen Einladungen folgen, und so bilden diese Wandervorträge seit einer Reihe von Jahren einen Theil seiner Thätigkeit. Unter den Gelehrten, welche in Deutschland durch derartige Vorträge geistige Anregungen im Volke verbreiten, ist Riehl unbestritten der erste.

Seine unermüdliche Arbeitsthätigkeit hatte es ihm ermöglicht, sich in München ein bescheidenes aber behagliches Heimwesen zu begründen, wo er im Kreise seiner Familie lediglich seinem [301] Schaffen lebte, als das Unglück über den verdienstvollen Mann hereinzubrechen drohte. Ein schweres Augenleiden stellte sich ein. Aber noch fast am Erblinden blieb Riehl rastlos thätig, bis zu Anfang des Jahres 1893 eine Staroperation nothwendig wurde. Sie gelang in so glücklicher Weise, daß das Augenlicht Riehls heute besser ist als jemals und der scharfe Blick des Kulturhistorikers nunmehr wieder hell und klar durch die Landschaft zu schweifen und durch die Seele des deutschen Volkes zu dringen vermag. Um die Mittheilungen über seine äußeren Lebensverhältnisse zu vollenden, muß noch mitgetheilt werden, daß Riehl in den letzten Jahren auch den Titel eines Geheimraths erhielt und daß er seit 1885 zum Direktor des Bayerischen Nationalmuseums und zum Generalkonservator der Kunstdenkmäler und Alterthümer Bayerns ernannt wurde, eine Stellung, durch welche glücklicherweise seine schriftstellerische und seine Lehrthätigkeit nicht wesentlich beeinträchtigt wird.

Wir haben bisher nur einen Theil der Arbeiten Riehls genannt: die kulturgeschichtlichen. Sie wurden absichtlich vorangestellt, weil Riehl in erster Linie immer als der hervorragende Kulturhistoriker erscheinen wird. Kulturgeschichte und Gesellschaftswissenschaft sind die breite Grundlage jener Stellung, die er in der deutschen Wissenschaft und Litteratur stets einnehmen wird. Es ward schon oben angedeutet, worin der besondere Werth von Riehls Arbeiten auf diesem Gebiete liegt; sie sind getragen von dem Grundsatze, daß, wer das Volk schildern will, wandern muß, und zwar zu Fuß und allein, ausgerüstet mit mehr Kenntnissen über des Landes Geschichte und Zustände, als die Einwohner der zu durchforschenden Gegenden selber haben. Nur der einsame und geübte Wanderer vermag rastlos zu beobachten. Tiefste Wanderpoesie und strengste Schulung des Forschers ist das Selbstsuchen. So sehen wir aus Riehls kulturgeschichtlichen Schriften, wie sie überall aus unmittelbar Geschautem herporgegangen sind, wir sehen aus ihnen, wie der unermüdliche Forscher sucht und entdeckt, wie er die Menschen der verschiedenen Bildungsgrade zum Reden bringt und das findet, was er eben beobachten will.

Wilhelm Heinrich Riehl.
Nach einer Photographie von Franz Hanfstaengl in München.

Diese Bücher enthalten kein System einer Gesellschaftslehre. Ein solches System hat Riehl nur in seinem Kolleg über „Die bürgerliche Gesellschaft und die Geschichte der sozialen Theorien“ zusammengestellt, welches er seit 1860 an der Münchener Universität alljährlich liest. Aus diese Universitätsvorlesungen nur ist Riehls wissenschaftliche Erkenntniß vom Wesen und Aufbau der Gesellschaft, vom modernen Begriff der Stände, vom Verhältniß der Gesellschaft zum Staat und zum Erwerbsleben zu beurtheilen. Riehl gehört auch, wo er in seinen Werken das Treiben der modernen Parteien streift, keiner bestimmten Gruppe an. Er war niemals ein Mann der herrschenden Parteien und der herrschenden Schulen, wie er selbst betont. Das hat seinen Büchern anfangs geschadet, später genützt, weil sie ihren Werth über die Dauer der Parteien und der Schulen hinaus bewahrten. Auch in das Treiben der Tagespolitik hat Riehl, seit er aus der Redaktionsstube trat, sich nicht mehr gemischt. Der feine Kenner des Volkes, der vorzügliche Redner blieb der politischen Tribüne fern, und mit Recht. Denn was er in der dämmerstillen Schreiberzelle seines Häuschens an der Kaulbachstraße in München geschaffen hat, ist von weit höherem Werthe als das, was er hätte leisten können, wenn er sein politisches Denken in die Schablone einer Partei hätte pressen müssen, wenn er genöthigt gewesen wäre, seine Zeit mit fruchtlosen Debatten zu vergeuden. Ein gewisser konservativer Zug ist ihm allerdings eigen; aber er ist konservativ in des Wortes edelstem Sinne; er will die Erhaltung des Bestehenden nur, wo das Bestehende seine geschichtliche und sittliche Berechtigung hat. Da aber vertheidigt er es mit inniger Herzenswärme und überlegenem Humor gegen die Bestrebungen gedankenloser Gleichmacherei, gegen Oberflächlichkeit und Gefühllosigkeit, gegen Roheit wie gegen die Fäulniß und Zersetzung der Ueberfeinerung,

Ein ganz anderes Feld, auf welchem Riehl gleichfalls höchst erfolgreich aufgetreten ist, bildet die Theorie und Geschichte der Musik. Und so entlegen dieses Gebiet auch von dem vorgenannten scheint, Riehls Arbeiten auf demselben sind doch derart, daß er heutzutage zu den besten Kennern der musikalischen Theorie gezählt wird. Als Ergebnisse seiner musikalischen Studien sind zu nennen die „Hausmusik“, 1855, sowie die drei Bände „musikalische Charakterköpfe“, 1853, 1860 und 1878. In dem letztgenannten Werke verfolgt er das Ziel, das geschichtliche Studium der musikalischen Kunstwerke zu fördern und die Entwicklung der Tonkunst in ihrem organischen Zusammenhang mit der gesamten Kulturgeschichte zu fassen. Dabei ist er getragen von dem pietätvollen Willen, auch die Männer der Vorarbeit, der Uebergangsstufen, die kleineren Meister neben den großen Sternen der Musikgeschichte zu würdigen. So wurden die drei Bände der musikalischen Charakterköpfe ausgesponnen zu einem überaus werthvollen und gediegenen Stück Kunst- und Sittengeschichte, welches geeignet ist, eine fühlbare Lücke auszufüllen, und welches Riehl als den Mann erscheinen läßt, der mehr als irgend ein andrer berechtigt und befähigt wäre, eine zusammenfassende Geschichte der Musik zu schreiben,

Das dritte Gebiet, auf welchem Riehl sich glänzende Lorbeern errungen hat, ist die Prosadichtung. Eine Reihe von Novellenbänden gehören dieser Gruppe an: „Kulturgeschichtliche Novellen“, „Geschichte aus alter Zeit“, „Neues Novellenbuch“, „Aus der Ecke“, „Am Feierabend“, „Lebensräthsel“. Es sind fünfzig Novellen, welche Riehl im ganzen geschrleben hat. Man würde aber irren, wollte man in ihnen bloß Kulturgeschichte suchen. Sie sind zugleich echte Dichtungen, voll Liebenswürdigkeit, Lebenswahrheit, psychologischer Tiefe und feinem Humor, keine oberflächliche Unterhaltungslektüre, sondern vollendete Kunstwerke.

So ist es eine stattliche Bibliothek geworden, welche wir der nie ermattenden Lebensarbeit dieses einen Mannes verdanken. Der Stil, welchen Riehl in allen diesen Büchern schreibt, zeichnet sich aus durch edelste Einfachheit und durchsichtige Klarheit. Als Stilist ist Riehl im Ausland weit richtiger gewürdigt worden als in Deutschland; einzelne seiner Werke sind in verschiedene fremde Sprachen übertragen worden; manche derselben erscheinen dort sogar als Volksausgabe und werden zum deutschen Sprachunterricht verwendet.

In seiner äußeren Erscheinung zeigt Riehl noch nichts von den sieben Jahrzehnten, die auf ihm lasten. Er ist körperlich und geistig frischer als mancher Fünfundzwanzigjährige. Seine Regsamkeit und Elasticität sind wahrhaft bewunderungswürdig. Was diese geistige Kraft uns noch zu schenken berufen ist, wissen wir nicht; aber daß es nur Mustergültiges sein wird, dürfen wir in froher Zuversicht hoffen. Und in dieser Zuversicht möge das deutsche Volk einem seiner besten Geisteshelden zu seinem siebzigsten Geburtstag den wohlverdienten Lorbeer zum Kranze winden! M. H.