Wilhelm Löhes Leben (Band 3)/Die innere Entwicklung der Diakonissenanstalt, Idee des Diakonissentums und Diakonissenideal nach Löhes Anschauung

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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Bildung und Fortbildung der Diakonissen »
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Die innere Entwicklung der Diakonissenanstalt, Idee des Diakonissentums und Diakonissenideal nach Löhes Anschauung.


 Von Anfang an betrachtete Löhe den Beruf der Gemeindediakonissin (nicht nach dem jetzigen Sprachgebrauch, sondern) im biblischen und altertümlichen Sinne, als höchstes und letztes Ziel alles Diakonissentums. Schon in dem Jahresbericht von 1856 heißt es: „Die Diakonissin sollte unserer Meinung nach eigentlich Gemeindedienerin sein, eine geistliche Person unter den Frauen.“ „Was ließe sich auch Herrlicheres denken, als neben und unter einem Pastor die Seelsorge und geistliche Beratung des weiblichen Geschlechtes auszuüben, und in der Würde und Arbeit jener heiligen Witwen[1] zu stehen, von denen das Altertum redet?“ „Solcher Art war jene Phöbe (Röm. 16, 1), die Trägerin und Überbringerin des größten aller paulinischen Briefe nach Rom, die Diakonissin der Gemeinde in Kenchreä, die strahlend, wie der Mond (Phöbe heißt Mond) aus der apostolischen Zeit herüberleuchtet in die Gegenwart und wie eine Herzogin vor den Diakonissen einhergeht.“| Solcher Art waren wol auch jene andern, Röm. 16 mit Auszeichnung genannten Frauen, eine Maria und Persis, eine Tryphäna und Tryphosa, denen der Apostel ihre – sehr im Gegensatz zu ihren auf Üppigkeit und Verzärtelung hindeutenden Namen stehende – hingebende Liebesthätigkeit (κοπιᾶν) nachrühmt. Solche Dienerinen der Gemeinden waren ohne Zweifel auch die Witwen, von denen 1 Tim. 5, 3–16 die Rede ist, eine Stelle, die seit uralten Zeiten auf das Diakonissenamt bezogen worden ist.[2]

 Löhe sagte sich ohne Zweifel, daß für solche Gedanken die Zeit ebenso wenig reif sei, als die Personen, welche an die Stelle jener Gemeindediakonissen des Altertums einrücken sollten. So blieb denn auch für ihn als eigentlicher Kern des Diakonissenberufs: der Dienst der Barmherzigkeit im weitesten Sinn des Worts, der Dienst der Elenden, Armen, Kranken, Gefangenen, die Pflege, Unterweisung und Erziehung der Kinder, kurz eine immerhin reiche Mannigfaltigkeit von Diakonissenwerken, von den niedrigsten Hausgeschäften bis zu den edelsten Frauenwerken. Denn so weit dachte er sich den Umfang des Diakonissenberufs, daß er nichts, was überhaupt auf dem Gebiet des weiblichen Berufs mit Ausnahme der Ehe liegt, von demselben ausgeschlossen sehen wollte. Er forderte von der Diakonissin, daß sie keines dieser Frauen- oder Mägdewerke für sich als zu gering, oder sich dazu für zu gut halte, und daß sie womöglich jedem derselben gewachsen sei.

 Wenn ich ein Maler wäre – schrieb er einmal – so malte ich die Diakonissin wie sie sein soll, in ihren verschiedenen Lebenslagen und Arbeiten. Es gäbe eine ganze Reihe von Bildern.| Malen würde ich die Jungfrau im Stall und – am Altar, in der Wäscherei und – wie sie die Nackenden in reines Linnen der Barmherzigkeit kleidet, in der Kirche und – im Krankensaal, auf dem Feld und – bei dem Dreimalheilig im Chor, und wenn sie den Kommunikanten das Nunc dimittis singt, ich würde alle Diakonissenberufe malen, in allen aber Eine Jungfrau, nicht immer im Schleier, aber immer Eine Person... Und warum? Weil eine Diakonissin das Geringste und das Größte können und thun, sich des Geringsten nicht schämen, und das höchste Frauenwerk nicht verderben soll. Die Füße im Kot und Staub niedriger Arbeit, die Hände an der Harfe, das Haupt im Sonnenlicht der Andacht und Erkenntnis Jesu – so würde ich sie aufs Titelkupfer der ganzen Bildersammlung malen. Darunter würde ich schreiben: „Alles vermag sie: arbeiten, spielen, singen.“
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 Gerade das Geringe und Unbedeutende, jene Kleinigkeiten, aus denen sich der weibliche, auch der Diakonissenberuf, zusammensetze, sagte Löhe, könne und solle geadelt und verklärt werden durch die Gesinnung, in welcher die Diakonissin ihre Berufswerke verrichtet: durch die Beziehung auf Jesum, durch die Absicht, Ihm in seinen Heiligen zu dienen. Diesen einfachen Satz, in dem doch der ganze himmelweite Unterschied christlicher und heidnischer Weltanschauung sich ausspricht, führte Löhe einmal schön in einer Aussegnungsrede durch, in welcher er die Frage beantwortete: „Was ist für ein Unterschied in dem Leben des Heidentums und des Christentums?“ Er gab darauf eine doppelte Antwort. Der eine Unterschied sei der, daß, was bei den Heiden außerordentlich war, bei den Christen ordentlich geworden sei. Schon die Alten haben gesagt, und angesichts des von Christen jeden Alters und Geschlechtes zur Zeit der schweren Verfolgungen bewiesenen Todesmutes ein Recht gehabt zu sagen: bei den Heiden gäbe es einzelne Beispiele von Heldenmut und Seelengröße, die Christen seien aber alle Helden, alle| seien bereit, in den Tod zu gehen, Martern zu erdulden, für einen großen Gedanken zu sterben.

 Aber man könne auch, um einen zweiten Unterschied des Heidentums und Christentums hervorzuheben, umgekehrt sagen, daß durch das Christentum das Ordentliche außerordentlich, das Gewöhnliche ungewöhnlich, das Gemeine ungemein geworden sei. Das Christentum habe die geringen und niedrigen Geschäfte des alltäglichen Lebens geadelt und zu eitel priesterlichem Werk und Opfer umgewandelt, vorausgesetzt, daß sie in Jesu Sinn und Geist, und Ihm zu Ehren vollbracht werden. Eine Ahnung davon finde sich schon im alten Testament, wo neben der Prophetin Debora, die eine hervorragende Gestalt im Reiche Gottes ist, auch jener andern Debora, die in der Welt keinen Namen hatte, die nichts weiter war, als die treue und fleißige (Debora heißt „Biene“) Amme Rahels vom h. Geist ein Ehrengedächtnis gestiftet werde (1 Mos. 35, 8). So seien auch im neuen Testament die Namen der frommen Frauen, die Jesu nachfolgten und ihm von ihrer Habe Handreichung thaten, im Buch der Bücher ausgezeichnet, und mit ihnen leben so unscheinbare Personen, wie der Bettler Servulus, der von seinen Almosen Wohlthat übte, wie die Dienstmagd Radegund, die in den Stunden, welche der Dienst ihrer Herrschaft ihr frei ließ, Kranke pflegte, unvergessen im Andenken der Kirche fort, nicht, weil sie Außerordentliches thaten, sondern weil ihre niedrigen und unscheinbaren Werke groß und ungemein wurden durch die Beziehung auf Jesum, dem zu Lieb und Ehren sie vermeint waren. Diese letztere Wirkung des Christentums (daß es das Gewöhnliche außerordentlich gemacht habe) sei nach des HErrn eigenem Urteil (Matth. 25, 35 ff) noch größer als jene erstere.

 Diese Anschauung vom Beruf, die auch die niedrigen Berufswerke zu adeln weiß durch die Beziehung auf Jesum, die den ganzen Diakonissendienst für nichts anderes ansieht, als für ein beständiges| Selbstopfer,[3] aus Liebe und Dankbarkeit dem Bräutigam der Seelen für sein heiliges Sühnopfer am Kreuze dargebracht; diese Gesinnung war es, die Löhe vor allem in die Seelen der Diakonissen zu pflanzen suchte. Ein Ausdruck dieser Gesinnung sind die schönen Worte, die er der Diakonissin als Antwort auf die von ihr an sich selbst gerichtete Frage: Was will ich? in den Mund legt. „Was will ich? Dienen will ich. Wem will ich dienen? Dem HErrn in Seinen Elenden und Armen. Und was ist mein Lohn? Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe; mein Lohn ist, daß ich dienen darf. Und wenn ich dabei umkomme? Komme ich um, so komme ich um, sprach Esther, die doch Ihn nicht kannte, dem zu Liebe ich umkäme, und der mich nicht umkommen läßt. Und wenn ich dabei alt werde? So wird mein Herz grünen wie ein Palmbaum, und der HErr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe mit Frieden und sorge nichts.“

 Oder jenes andre Wort:

 „Ich gäbe mein Leben und alles, was es in sich hat, für ein Glas Narde auf das Haupt meines HErrn. Da er mir aber entrückt und ferne weggezogen ist, so nehme ich mich und alles was ich bin und habe wie eine Traube, und presse es aus, um Seinen auserwählten Stellvertretern ein kleiner Labetrunk zu werden. Presse mit mir deine Traube auch aus, bringe dein Lebenskelchglas dem HErrn, und Seine Elenden sollen es ganz austrinken auf dein Wohl. Das ist schöner, als alles Glück der Erde.“

|  Gerne rief Löhe auch seinen Diakonissen ein fast evangelisch klingendes Wort des h. Bonaventura ins Gedächtnis: „Eine vollkommene und beständige Treue im Kleinen ist eine heroische Tugend.“ „Es ist – sagte er einmal in Ausführung dieses Gedankens – zwar eine verborgene Christenherrlichkeit, Treue im Kleinen, d. h. im Berufe üben, aber sie ist schwerer und herrlicher als Märtyrertum. Zum Märtyrertum hilft eine aufgeregte Zeit, ein bewegtes Gemüt, und es ist oft schnell gewonnen; es kostet einen kurzen Todesaugenblick. Bei der Treue im Kleinen aber trägt man die stille Langeweile eines einförmig ablaufenden Lebens geduldig, zum Preis des HErrn (bis ans Ende).“

 Aus dieser persönlichen Stellung zu dem HErrn fließend, ja mit ihr bereits gegeben ist jene barmherzige Liebe, welche die Seele des Diakonissenberufes ist, und ohne welche alle Diakonissenwerke tote Werke in Gottes Augen sind. Die Barmherzigkeit zu preisen, Sinn und Eifer für diese große Christen- und Diakonissentugend zu wecken war Löhe unermüdlich und unerschöpflich. Wir müssen uns hier mit einem Hinweis auf sein Schriftchen „von der Barmherzigkeit“ begnügen, in welchem er die ganze Geschichte des Reiches Gottes unter dem Gesichtspunkt der mit der göttlichen Gerechtigkeit ringenden Barmherzigkeit betrachtet und (mit seinen eigenen Worten in einer Predigt zu reden) nachweist, „wie durch die ganze Geschichte neben dem roten Faden der göttlichen Gerechtigkeit der blaue Faden seiner Barmherzigkeit läuft, bis auf dem Höhepunkt aller Geschichte, auf Golgatha, beide Fäden zusammenfließen und sich in Eins verweben, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sich nicht blos ausgleicht, sondern die Barmherzigkeit den Sieg und den Ruhm wider und über die Gerechtigkeit behält für immer und ewig.“ Man kann aus jenem Schriftchen nicht wol einen Auszug geben; dafür sei es uns gestattet, einen kleinen Abschnitt aus einem Diktat Löhes „von der seligen Übung der Barmherzigkeit“ hier mitzuteilen.

|  „Eine Diakonissin ist eine Dienerin der Barmherzigkeit; wie könnte sie anders als barmherzig sein, d. h. Liebe zu den Elenden haben und üben? Also, Dienerin Christi, erkenne die größte deiner Amtssünden in der Unbarmherzigkeit und die Form aller deiner Amtstugenden in der Barmherzigkeit.

 Sei barmherzig, d. h. erstens: Erkenne in allen Leidenden Gegenstände deiner heiligen brünstigen Liebe, und wie eine Mutter unter ihren Kindern immer dasjenige am brünstigsten liebt, welches leidet, so laß auch dir diejenigen die nächsten sein, die da leiden. Je mehr jemand leidet, je elender er ist, desto näher sei er deinem Herzen als das ähnlichste Bild des HErrn, der am Kreuze hieng.

 Sei barmherzig, d. h. zweitens: Laß die Rauchwolke deines Gebets, deines Morgen- und Abendopfers immer wieder im Andenken der Elenden und Leidenden aufsteigen. – – – Gewöhne deine Seele an die Fürbitte und achte den Tag für verloren, an welchem du Gott dem Opfer der Fürbitte nicht gebracht hast.

 Sei barmherzig, d. h. drittens: Vergib alle Tage siebenmal siebenzigmal, wenn es sein müßte, dem Nächsten. Du sollst nicht blind werden für die Fehler deiner Brüder; ein reines Auge sieht die Sünde auch an andern und läßt sich nicht täuschen; aber du sollst die Sünde, die dir weh gethan, vergeben von Grund der Seelen und in der Kunst des Vergebens und Bedeckens immer gleichen Schritt halten mit deiner Fertigkeit, die Sünde anderer zu entdecken. Vergiß nicht, daß dein HErr und Heiland in der Bergpredigt nicht blos das Geben, sondern auch das Vergeben zur Barmherzigkeit rechnet.

 Sei barmherzig, d. h. viertens: Denke fleißig nach, ob es nicht Rat gibt, das Elend der Menschen zu mindern, für die du betest. Sei allerdings auch in deinem Rate vorsichtig und bescheiden; ein unnützer Ratgeber ist unleidlicher als der keinen Rat gibt, und wer immer mit der Miene der Erfahrung und des guten| Rates zu den Elenden tritt und am Ende doch nicht befriedigt, ist den Kranken beschwerlicher als Mücken und Ungeziefer; aber wenn du sicher weißt, daß dein Rat gut ist, dann gib ihn in der Form wie er am ersten und liebsten angenommen wird, und lege deinen goldenen Apfel auf eine silberne Schale.

 Sei barmherzig, d. h. fünftens: Widme dich, so viel du kannst, dem Dienst der Elenden persönlich. Ohne persönliche Bedienung der Elenden wirst du es in keiner Erweisung der Barmherzigkeit weit bringen. Es ist das für jeden Christen gesagt, für eine Diakonissin aber heilige, unerläßliche Amtspflicht, und obendrein darf der persönliche Dienst des Elends nicht zur Erleichterung in Leichtsinn eingehüllt, auch nicht verzweifelnd gethan werden, sondern mit jener unverwüstlichen Achtung und Liebe auch gegen den in seiner Krankheit vor dem Sterben Verwesenden, welche in ihm noch immer einen Gegenstand der erlösenden Liebe Gottes sieht. Wer eher von dem Elenden weicht als Gott und seine Engel, der weicht zu früh und überdies sich zum Seelenschaden.

 Sei barmherzig, d. h. sechstens: Erlasse dir unter keinen Umständen die heilige und selige Pflicht zu geben. Es ist niemand so arm, daß er nicht etwas habe, finde oder erwerben könne, womit er andern dienen kann. Es ist allerdings die gebende Barmherzigkeit geringer, als die anderen Erweisungen derselben Tugend; aber wenn sie fehlt oder im geringen Maße vorhanden ist, verwischt sie mit einem Male die andern alle. Die Barmherzigkeit kann keine ihrer Erweisungen entbehren, ohne selbst zu kranken und zu sterben.

 Sei barmherzig, d. h. endlich siebentens: bis in den Tod. Ehe du stirbst, beschließe die Arbeit deiner Barmherzigkeit nicht.“

 Das persönliche Lebensideal der Diakonissin sah Löhe in der „gottverlobten Jungfrau“ des Altertums. Einem Geschlecht von meist noch sehr jugendlichen Diakonissen jungfräulichen Standes| konnte er nicht „die alternde, heilige, thatkräftige Matrone,“ die Witwe, welche die Ehe und die Erfahrungen der Ehe hinter sich hat, und deren Bild 1 Tim. 5, 5–10 gezeichnet ist, zum Vorbild aufstellen. Seiner Neigung, sich an antike Gedanken und Lebensformen anzuschließen, bot sich dafür die „gottverlobte Jungfrau“ des Altertums als solches dar. Es gab in der ältesten Kirche Jungfrauen, die aus eigener Wahl ehelos lebten, als deren älteste neutestamentliche Vorgängerinen die weissagenden jungfräulichen Töchter des Evangelisten Philippus (Act. 21, 9) gelten dürfen. In späterer Zeit wurde solchen Jungfrauen unter feierlichen Gebeten von dem Bischof der Schleier überreicht, und sie hielten sich für Christo verlobt. Die Diakonissen des Altertums, wenn sie noch Jungfrauen waren, gehörten alle diesem Chor der gottverlobten Jungfrauen an. Dieser Institution des Altertums entlehnte Löhe wenigstens die Bezeichnung für das, was ihm als persönliches Lebensideal der Diakonissin vorschwebte, ohne damit das Irrige, was in der römischen Kirche der Idee einer gottverlobten Jungfrau anhaftet, billigen zu wollen. Denn Gottverlobtheit war ihm eine Tugend der Seele, nicht ein Stand des äußeren Lebens: Freiheit von unreinen Lüsten und Hingabe an den Freund und Bräutigam der Seele, an sich daher ebenso gut in als außer der Ehe möglich und nötig, bei Diakonissen aber freilich um ihres Berufes willen auch die Wahl des ehelosen Standes oder den Verzicht auf die Ehe – wenigstens während der Dauer ihres Diakonissendienstes – in sich schließend.

 Daß übrigens das evangelische Diakonissentum andererseits auch etwas so Neues, Eigenartiges sei, daß es nicht einfach in alte Schläuche d. h. in antike Formen kirchlichen Lebens gefaßt werden könne, daß mithin das Ideal einer evangelischen Diakonissin erst geschaffen, durch charaktervolle Persönlichkeiten im Diakonissenstande erst vorgelebt werden müsse, verkannte Löhe nicht.

|  In einer Einsegnungsrede verbreitete er sich darüber ausführlicher. Es sei – meinte er – mit dem protestantischen Diakonissentum ähnlich wie mit der religiösen Malerei der Protestanten im Unterschied von der der Römischen. Bei letzteren hersche eine sichere Tradition, die ihren religiösen Bildwerken einen bestimmten Charakter aufpräge und eine plastische Vollendung gebe, die den subjektivistischen, oft an Haltungslosigkeit leidenden Erzeugnissen protestantischer Kunst zu fehlen pflege. Ein fest begrenzter Begriff von dem was eine evangelische Diakonissin sei und sein solle, müße bei uns erst gewonnen, von der ersten Diakonissengeneration im Leben verwirklicht und so für die nachfolgenden Diakonissengeschlechter ein Vorbild und eine Tradition geschaffen werden, durch die denselben der Weg ihrer Vorgängerinen erleichtert werde. Für die letzteren sei das freilich eine schwere Aufgabe. Die katholische Ordensschwester oder gottverlobte Jungfrau werde von der Tradition getragen, von der Anerkennung ihrer Kirche geschützt, von der, ob auch irrigen Idee der Gottverlobtheit gehoben zu einem Hochgefühl, größer als das der Braut, die vom Traualtare weggeht, dahingegen die protestantische Diakonissin ihren Weg ohne Tradition, ohne den Halt eines Gelübdes, ohne Erziehung und Anerkennung von Seite der Kirche, ja oft unter Misverstand und Widerspruch der protestantischen Welt gehen müße. Aber wenn auch keine tragende Tradition, so habe doch die evangelische Diakonissin, die „gottverlobte Jungfrau“ im biblischen Sinn des Worts, einen festen Boden unter den Füßen: so klare Schriftworte wie 1 Cor. 7, und ihre Aufgabe sei es nun, als Kind der schriftmäßigen Kirche pur am Worte hangend, auf dem Weg der völligsten, stillsten und heitersten Freiheit, ohne den bindenden Zwang eines Gelübdes in täglicher Erneuerung ihres freiwilligen Entschlusses das zu werden, was die gottverlobte Jungfrau des Altertums durch Tradition, Erziehung und Anerkennung der Kirche wurde, und so einen Mangel| der lutherischen Kirche zu erstatten, die im einseitigen Ruhm der Ehe und in Geringschätzung der Ehelosigkeit von der Reformation an bis auf unsere Tage dahingehe.

 Es kann nach dem Gesagten nicht befremden, wenn Löhe etwas den bekannten drei römischen Ordensgelübden Ähnliches auch für die evangelische Diakonissin forderte. „Die drei Schlagwörter der römischen Orden: Armut, Keuschheit und Gehorsam sind auch die Schlagworte alles wahren Diakonissentums, und der Unterschied zwischen der alten Kirche und uns kann nur der sein, daß bei dieser der durch Gelübde gebundene, bei uns der völlig ungebundene freie Wille die drei edlen Früchte trägt. Der freie Wille ist der Boden, auf welchem das protestantische Diakonissentum erwachsen muß, und zwar der völlig ungebundene in seiner täglichen Erneuerung.“

 Es wird ja nicht nötig sein, Löhe gegen den Verdacht zu verteidigen, als hätte er jene römischen Ordensgelübde in römischem Sinne gefaßt. Er hat sich selbst dagegen bestimmt genug verwahrt. „Die Schwestern wissen, daß nicht die römische, sondern die evangelische Auffassung dieser Worte gilt, daß ihnen damit kein Joch über den Hals geworfen, wol aber Ziele vor Augen gestellt werden, die ein jedes Christenherz, sonderlich aber die Diakonissin mit einer größeren Macht anziehen sollen als der Magnet das Eisen anzieht“ – – sagt er einmal. Die Armut, die er für Diakonissen als geziemend erachtete, war ihm nicht zuerst Entäußerung des Besitzes, sondern innere Unabhängigkeit der Seele von demselben und eine heilige Bedürfnislosigkeit, die auch bei geringen äußeren Verhältnissen fröhlich und in Gott vergnügt ist. „Ob eine Diakonissin durch einfache Hingabe dessen was sie hat oder durch treue Verwaltung desselben im Sinne Jesu dem HErrn dienen soll, das sei ihrer Verantwortung überlassen, nur daß vor allen Dingen die arme Seele frei sei von Silber und Gold, ungeblendet von seinem Glanze, nicht angehaucht vom Mammon“| sagte er in seinem ersten Diakonissenunterricht. Das arme Leben Jesu und die Nachfolge des armen Lebens Jesu war ein Lieblingsthema seiner Reden vor und zu Diakonissen. „Eine Dienerin Jesu darf nicht weichlich sein, Leib und Seele bedürfen der Stählung, und diese wird am allerbesten erreicht durch heilige Selbsterziehung im Sinne des armen Lebens Jesu. Gibt es dabei Entwöhnungsschmerzen, so denke sie, daß an der Mutterbrust kein Held wird, sondern Stärke und Wachstum nur durch Entwöhnung kommt.“ Stellen wie die „apostolische Instruktion“ Luc. 10 oder der Rat des HErrn an den reichen Jüngling, dem er „die Armut als einen Höhepunkt der Vollendung“ zeigte, waren für Löhe Schriftgrund genug zu solcher Empfehlung. Dabei betonte er, daß der HErr, obwol selbst ein Gottesarmer – hierin ungleich Johannes dem Täufer – nicht in der Form der Weltentsagung, nicht in der äußeren Gestalt eines Asceten aufgetreten sei, daß daher jene zur Schau getragene Form der Armut, auf welche man in der römischen Kirche so sehr Gewicht legt und die man dort als ein vornehmstes Stück des „heiligmäßigen“ Lebens betrachtet, unwesentlich sei, und nicht minder hob er hervor, daß die Armut, die der HErr durch sein Beispiel empfohlen habe, nicht jene schmutzige Armut sei, in der so manche mittelalterliche Heilige eine besondere ascetische Leistung erblickten. „Nicht die cynische, sondern die liebende Armut ist groß bei Gott“ – lehrte er seine Diakonissen.
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 Wenn nun aber gleich Löhe als das Wesentliche jenes ersten römischen Ordensgelübdes, als den evangelischen Kern desselben die innere Unabhängigkeit vom Besitz und die fröhliche Bedürfnislosigkeit ansah und die Entscheidung betreffs Aufgabe oder Beibehaltung alles eignen Besitzes der Diakonissin selber überlassen haben wollte, so verhehlte er sich doch nicht, welche Versuchung der Dienerin der Barmherzigkeit drohe, die sich ihr Eigentum und die Verwendung| desselben vorbehält. „Der freie Wille einer protestantischen Diakonissin sollte zu der völligen Entschlossenheit kommen ein armes Leben zu führen und den eignen Besitz in den Dienst der erwählten Sache zu stellen. Die Einigkeit einer Congregation von Diakonissen kann nicht blühen und gedeihen, wenn Diakonissen sich ihr Vermögen reservieren und neben ihrem Diakonissensalär die Einkünfte desselben genießen wollen. Ist die Diakonissin fest entschlossen, ehelos und Diakonissin zu bleiben und ist sie alt und reif genug für solche Entschlüsse, so wird es ohne Zweifel das Richtige für sie sein, wie ihre Person, so auch ihr Vermögen ihrem Mutterhaus zu überlassen.“
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 Auch der Gehorsam galt ihm als große Diakonissenpflicht und Tugend. Das weit verbreitete protestantische Vorurteil, als sei nur der göttliche Wille zum Gehorsam verpflichtend und die Beobachtung menschlicher Anordnungen in das Belieben des Einzelnen gestellt, dazu die gerade bei dem weiblichen Geschlecht nicht seltene Eigenwilligkeit waren ihm Anlaß genug, diese Tugend immer wieder zu empfehlen und auf Grund von Stellen wie 1 Petri 2, 13 die verbindende Kraft auch pur menschlicher Anordnungen zu betonen. Aber so sehr Löhe wol mitunter über „das häßliche Benehmen protestantischer Schwestern, die um ihren eignen Willen und um ihre Selbständigkeit markten und nur gehorchen, wenn ihre eigene Überzeugung dabei ist“ sich ereifern und im Vergleich damit die Naivetät, mit welcher die römische Schwester ihrem Seelenführer ohne Forschen folgt, liebenswürdig finden konnte, so erkannte er doch in dem römischen Gelübde der unbedingten Hingabe des eignen Willens in einen fremden etwas nicht Schriftgemäßes, etwas nicht blos Unevangelisches, sondern „Unsittliches.“ „Dem Willen Gottes – sagte er im Diakonissenunterricht – kann ich blindlings folgen, dem Willen eines Menschen aber nur dann, wenn ich in jedem einzelnen Fall des Gehorsams die Überzeugung habe,| meinem Gott und HErrn zu gehorchen und seinen heiligen Willen zu vollziehen. Aber aus der Lehre von der Aufgebung des eignen Willens und fröhlicher Erfüllung des göttlichen Willens folgt auch die Lehre vom Gehorsam auch gegen jede menschliche Ordnung und gegen den Willen der Vorgesetzten bis an die Grenze, welche der Apostel mit den Worten bezeichnet: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Es ist jede Willensäußerung der Vorgesetzten in so lange als Gottes Wille anzusehen als der Wille der Vorgesetzten dem Willen Gottes nicht widerspricht.“ Er selbst hielt seine Diakonissen frei. Trotz seiner wol auch einmal hervorbrechenden imperatorischen Anlage pflegte er seinen Willen nicht in gebieterischer Form aufzulegen, sondern suchte auf dem Weg freier Verständigung die Zustimmung derer zu gewinnen, die seine Aufträge ausführen sollten, so daß man den Eindruck hatte, man thue nicht sowol Befohlenes als gemeinsam mit ihm Verabredetes. Darum konnte er auch die ideale Forderung an seine Diakonissen richten: „Ergebt euch zu einem Gehorsam, der eure Gebieter beschämt, daß sie nur mit Scheu euch zu gebieten wagen, der sie einlädt, selber Knechte der Knechte und Mägde zu werden. So muß euer Gehorsam strahlen, daß man es für die größte Verantwortung halten muß, euch zu gebieten.“

 Gerade in der freudigen Übung dieses Gehorsams sah Löhe mit Recht eine Schule der christlich-sittlichen Vollendung der Diakonissin. „Eine rechte Diakonissin – sagt er – tötet alle Tage in ihrem Eigenwillen den alten Adam und erweckt den neuen Menschen, indem sie Gehorsam leistet. Jede Bindung des Eigenwillens ist eine Einladung zur wahren Freiheit, und durch Aufgebung des eignen Willens und Eingehen in den untadeligen Willen der Vorgesetzten reift der Mensch zu jener seligen Willensstärke, für welche die dritte Bitte eine Lust ist und zu einem Lobgesang wird.“

|  Ähnlich wie unter der Armut verstand Löhe auch unter der Keuschheit, die von der Diakonissin gefordert wurde, nicht zuerst einen äußeren Stand, sondern vielmehr eine Beschaffenheit der Seele „eine innere Freiheit von geschlechtlichen Banden, ein Fertigsein auch mit der unbestimmten weiblichen Wehmut und Sehnsucht, die geistliche Gabe eines reinen und unbefangenen Herzens, einer gottverlobten, jungfräulichen Seele.“ Natürlich war es ihm dann weiterhin etwas Selbstverständliches, daß das Diakonissentum die Ehelosigkeit fordere, so sehr, daß ihm auch Brautstand und Diakonissenstand nicht einmal vorübergehend mit einander verträglich schienen. An dem Diakonissentum und dessen Erfordernissen gieng ihm die Bedeutung des ehelosen Stands für den Dienst des Reiches Gottes auf und erschloß sich ihm das praktische Verständnis von 1 Cor. 7. Wenn er demgemäß jungfräulichen Diakonissen gegenüber den ehelosen Stand pries und in der Verherrlichung desselben soweit gieng, als es sich mit der Rücksicht auf die gottverliehene Würde der Ehe und die gottgebotene Wertschätzung derselben vertrug, so wird das niemand auffallend oder tadelnswert finden können. Hat man ja doch, im Hinblick auf das genannte Kapitel, auch von dem Apostel Paulus ein Gleiches mit Recht gesagt. Auf Grund jenes Kapitels, das er gegenüber protestantischen Misbräuchen und Übertreibungen in Betreff der Ehe und der Ehelosigkeit seine „feste Burg“ nannte, lehrte er seine Diakonissen, daß obwol Ehe und Jungfrauschaft an sich gleicher Würde seien und je nach Umständen beide Lob und Preis verdienten, doch ganz offenbar nach St. Pauli Sinn der ledige Stand der nützlichere, dienlichere sei, weil in Verfolgungszeiten die Ehe die Treue gegen Christum zu erschweren geeignet sei, weil die eheliche Sorge so oft dem Menschen eine Ursache zur Untreue gegen Christum, der Lauigkeit in der Andacht und im Dienst des Herrn werde und weil der jungfräuliche Stand im Gegenteil schön, wohlanständig und geeignet| sei unverhindert dem HErrn zu dienen. – Es ist zuweilen gesagt worden, daß durch den Gegensatz gegen die herschenden protestantischen Anschauungen über Ehe und Ehelosigkeit, nach welchen die Ehe die einzige Form weiblichen Lebensberufes, das Leben im ehelosen Stand als ein verfehltes, als ein Unglück betrachtet zu werden pflegt, Löhe sich hie und da zu Äußerungen treiben ließ, die manchem als „harte Rede“ erschienen, auch über die Linie des richtigen Maßes hinausgiengen, bei denen er aber gewißlich nicht die Absicht hatte, der Ehe als göttlicher Stiftung zu nahe zu treten, die vielmehr nur der „gemeinen Auffassung und Führung der Ehe“ galten, von der, wie er klagte, leider die Welt voll sei. Es war Wahrheit, wenn er in seiner Verteidigung auf die Angriffe gegen die Rosenmonate sagte: ihm sei eine Wahrheit des göttlichen Worts so teuer als die andere, er schäme sich nicht, je nach Umständen, für die Freiheit zur Linken und zur Rechten (für die Freiheit des Gebrauchs wie der Entsagung auf dem Gebiet des Erlaubten) zu eifern; er freue sich, wenn er ledigen unbescholtenen Bräuten seiner Pfarrei den Ehrenkranz reichen dürfe; aber mit derselben Freude würde er auch sterbenden Diakonissen die Krone eines glücklichen, jungfräulichen Lebens aufsetzen.
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 Daß den Diakonissenstand aus innerem Triebe als Lebensberuf wählen sich für den ehelosen Stand entscheiden heiße, verhehlte er nicht, aber dieser Entschluß sollte zu jeder Zeit Sache des frei sich bestimmenden Willens sein; deshalb schloß sich Löhe der Praxis anderer Diakonissenhäuser, welche die Freiheit ihrer Diakonissen bezüglich des Ehelichwerdens wenigstens für einen bestimmten Zeitraum durch eine Art Gelübde auf Zeit binden, grundsätzlich nicht an. Er ersetzte dieses Gelübde durch das jedenfalls evangelischere Versprechen der Aufrichtigkeit, wodurch die Diakonissin sich verpflichtete, jede wahrgenommene Annäherung eines Mannes, die auf die Absicht einer Werbung um ihre Hand schließen| ließe, beichtweise dem Seelsorger des Mutterhauses anzuvertrauen. Ihm freiwillig angebotene Gelübde der Ehelosigkeit von seinen Diakonissen anzunehmen weigerte sich Löhe, trotzdem er in solchen Gelübden an sich, falls man nur darin nichts Verdienstliches, nicht seine Seligkeit suche, nichts Unevangelisches sah.
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 In einer Stelle eines Jahresberichts, die ihm allerdings sehr verdacht wurde, sprach er sich darüber folgendermaßen aus: „Es ist nicht abzusehen, warum in ganz freiwilligen Gelübden der Ehelosigkeit etwas dem Wort und Heilsweg Gottes Widersprechendes gesucht werden müßte. Lutherische Casuisten der vergangenen Jahrhunderte haben ja dergleichen Gelübden dadurch Ehrerbietung gezollt, daß sie die Auflösung derselben möglichst erschwerten, und da kein Protestant mehr in der Ehelosigkeit ein eigenes Verdienst der Seligkeit oder eine Beschränkung des allerheiligsten Verdienstes Jesu suchen kann und wird, die Ehelosigkeit aber nach 1 Kor. 7 unwidersprechlich für kirchliche Dienste als förderlich und für das Reich Gottes nützlich bevorzugt wird: so kann man durch ein hyperprotestantisches Zurückdrängen erwünschter Gelübde im Grunde genommen keine konfessionelle Treue bezeugen. Dennoch aber ist es bedenklich, wenn sich der Vorstand eines Diakonissenhauses zur Empfangnahme und damit doch auch gewissermaßen zur Billigung von Gelübden der Ehelosigkeit hergeben soll. Es ist einmal so, daß die Menge der Protestanten, obendrein mit Einschluß sehr einsichtsvoller Männer, wenn nicht gar wider alle Gelübde, so doch wider die Gelübde der Ehelosigkeit stehen.[4] Was hilfts dann, wenn ein einsamer Diakonissenführer, seiner Einsicht und seinem Gewissen folgend, solche Gelübde annimmt und eben damit befördert,| wenn er damit zugleich die Geloberinen in ein Meer von Widerspruch hineinwirft, damit möglicher Weise in ein Meer von Anfechtungen und in die Not der Reue des Guten. Die Mitwissenschaft um das Gelübde der Ehelosigkeit ist wertlos, wenn sie blos einer oder ein paar Menschen übernehmen. Die Mitwissenschaft muß bei der Kirche sein und mit der Kraft der Übereinstimmung aller auf die Seele der Geloberin wirken, dann wird sie ein mächtiger, starker Halt der Schwachen. So lange daher aus 1 Cor. 7 keine kirchliche Überzeugung geworden ist und die Annahme eines wohlerwogenen Gelübdes kein öffentlicher kirchlicher Akt sein kann, muß es auch der Einzelne oder die einzelne Genossenschaft gehen lassen und (darf) keine Gelübde annehmen. Gäbe uns Gott nur vor allen Dingen viele Jungfrauen, die Gott ergeben, Ehestand und ehelosen Stand der himmlischen Führung überließen, mit freiem und gutem Gewissen sich dem Diakonissendienste in so lange widmeten, als es Gottes Wort und ihrer Seelen Notdurft nicht anders fordert, die fröhlich der Hochzeit ihrer Schwestern beiwohnen und dabei selbst fröhlich ehelos sein und auf diese Weise die gleiche Würde beider Stände im eigenen Fall durch ihre Praxis und ihr Leben zu bekennen und zu ehren vermöchten. Es ist ein Elend, wenn der Haufe der Ehelosen unwillig aufschreit, so oft eine unter ihnen ehelich wird, während sie vielleicht im eignen Herzen gar nicht fertig sind. Dies Elend ist so groß als das andere, wenn der Haufen der Eheweiber, seien sie in der Ehe glücklich oder nicht, nichts lieber hat als wenn eine nach der andern unter den Ledigen ihnen gleich wird, und keine Jungfrauen übrig bleiben. Der Grundsatz sollte gelten, daß rechte Ehefrauen nur neben rechten Jungfrauen und rechte Jungfrauen nur neben rechten Ehefrauen werden. Die Ehrerbietung und Liebe der beiden Stände vor und zu einander würde uns lauterere und ehrwürdigere Frauen und Jungfrauen erziehen helfen als jede Übertreibung zur Rechten und zur Linken.“
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|  Und ähnlich, doch mehr einlenkend, sprach er sich ein andermal in einer Aussegnungsrede über denselben Gegenstand aus: „Gelübde sind eine gewaltige Erleichterung aller Genossenschaften, auch des Diakonissentums, und es ist wahr, daß wir dadurch, daß wir die Wandelbarkeit (der Willensentschließungen) nicht durch Gelübde binden können, unsern Weg uns gewaltig erschweren. Aber auf der andern Seite kann man auch wieder sagen, daß der HErr und der Kreis von Männern und Frauen, die sich um ihn sammelten – das Vorbild aller geistlichen Genossenschaften – Gelübde nicht kannten, sondern daß die Liebe zu Seiner heiligen Person, das Wohlgefallen an Seiner Schule und der Eifer des Strebens zum Ziele diese Gesellschaft verbunden hat ohne Gelübde. Daß bei unserem Weg solche Massen (von Schwestern) sich nicht finden, wie in der römischen Kirche, versteht sich von selbst. Wir wandeln den Weg des HErrn nicht leichter, sondern schwerer – ohne Gelübde, aber auch evangelischer und geistlicher.“
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 Es ist vielleicht hier, wo wir von Löhes Diakonissenideal sprechen, der schickliche Ort, eine Schrift von ihm zu erwähnen, die zwar nicht speziell für Diakonissen, aber doch für evangelische Frauen und Jungfrauen mit dem ausgesprochenen Zweck geschrieben war, in denselben den Sinn der Nachfolge der in dem Buch ihnen aufgestellten Vorbilder zu wecken. Wir meinen die „Rosenmonate“, jenes viel verschrieene Buch, das bei seinem Erscheinen im Jahr 1860 so starken Widerspruch erregt hat. Der erste Vorwurf, der gegen dasselbe erhoben wurde, der Mangel an historischer Kritik, ist nicht unberechtigt, wenn man auch entschuldigend sagen könnte: es war Löhe gar nicht um kritisch gesichtete Darstellung von Heiligengeschichten, sondern um den ethischen Gehalt eines Heiligenlebens zu thun, der ja wie z. B. bei dem h. Martin von Tours oder der h. Elisabeth gerade in manchem legendenhaften Zug, den die absichtslos dichtende Sage in die Geschichte eines Heiligen eingewebt| hat, in charakteristischer Weise durchscheint. Zu beklagen ist freilich, daß Löhe auch solche Wundergeschichten, die sich offen als geschmacklose Erfindungen darstellen, nacherzählt hat. Schwerer würde, wenn er begründet wäre, der andere Vorwurf des Mangels eines nüchternen, evangelisch gegründeten Urteils wiegen. Für eine gerechte Würdigung der Rosenmonate ist indessen fest zu halten, daß Löhes Zweck bei Abfassung jenes Buchs ein durchaus praktisch-ascetischer war. Er wollte den herkömmlichen Heiligenkalender beleben („das Gedächtnis der Hingeschiedenen Heiligen fruchtbar machen“ wie er in der Vorrede sagt), und dadurch das uns Protestanten so sehr geschwundene Bewußtsein der communio sanctorum, der Gemeinschaft der streitenden mit der triumfierenden Kirche, wecken und zur Pflege dieser Gemeinschaft ermuntern. Sodann war es seine Absicht, dem weichlichen Geschlecht der Christen von heute zur Beschämung und Ermunterung Beispiele sittlicher Kraft aus der Heldenschaar der christlichen Kirche vorzuhalten, für deren Tugenden nicht nur, sondern auch für deren Fehler, wie er zu sagen pflegte, die Menschen der Gegenwart zu klein seien. Sittliche Impulse wollte er geben durch Vorhalt in ihrer Art großer, wenn auch keineswegs unbesehens zur Nachahmung geeigneter Beispiele ernster Selbst- und Weltentsagung aus dem kirchlichen Altertum. Bei diesem Zweck war zur Bekämpfung des Irrigen an den antiken und mittelalterlichen Lebensidealen nicht mehr Anlaß, als es die Wahrung des eigenen evangelischen Standpunktes und die Rücksicht auf die Leser erforderte, für welche Löhe nicht versäumte bei abschüssigen Stellen der Lebenspfade so mancher Heiligen Warnungstafeln zu errichten. Er meinte damit um so eher sich begnügen zu dürfen, als er die Wahrnehmung gemacht hatte, daß bei vielen Heiligen der alten und mittelalterlichen Kirche, so fremdartig uns ihre Lebensformen, so unevangelisch, ja unnatürlich uns ihre asketischen Leistungen oft erscheinen, doch – bei aller Unklarheit ihrer Begriffe –| nicht das Vertrauen auf eigne Werke, sondern neben einem gewaltigen Heiligungsernst eine wahrhaft innige Liebe zu Jesu als das eigentliche Motiv und die Kraft ihrer Frömmigkeit hervortrete. Gewiß unterschied Löhe zwischen den Märtyrern und Bekennern der Heldenzeit der christlichen Kirche in den ersten Jahrhunderten und den Heiligen der späteren Zeiten, jene – sagte er – schienen uns mehr anzugehören, bei diesen hätten wir mehr zu überwinden, die Lebensläufe der ersteren glichen den frischen Blumen des Feldes, die der letzteren den getrockneten Pflanzen des Herbariums; doch aber überwinde bei beiden Klassen das Gemeinsame und Gleichartige die Verschiedenheiten; denn wie einesteils nicht zu leugnen sei, daß „die Pfade selbsterwählter Heiligung bis weit hinauf in die ersten Jahrhunderte reichten, so sei es doch auch umgekehrt wahr, daß von jenen uralten Zeiten bis tief in das Mittelalter hinein ein Strom des Glaubens und der Liebe zu Jesu Christo sich erstrecke, den man deshalb nicht verleugnen oder gar ableugnen dürfe, weil er sich durch so viele fremdartige, ja wol auch giftige und verwerfliche Pflanzen und Gewächse dahin drängen müße.“
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 Uns scheint, daß Erwägungen wie die vorstehenden vielen Anstoß, den das Buch erregte, heben können. Zuzugeben ist ja, daß vereinzelte Äußerungen in demselben sich finden (wie z. B. in dem Leben der h. Paula), die einer Retraktation bedürften. Doch nicht sowol diese Einzelheiten, als vielmehr der Gesammtcharakter des Buchs, die ganze Stellung, die der Verfasser in demselben zu dem kirchlichen Altertum, seinen Lebensformen und Anschauungen einnahm, war es was den Widerspruch der Gegner „vom Standpunkt des evangelischen Bewußtseins aus“ herausforderte. Es ist aber erlaubt zu zweifeln, ob alles was damals und heute als echt protestantische Anschauung sich gibt, so einfach und durchweg mit der evangelisch-schriftmäßigen Wahrheit sich deckt. Löhe bestritt es. Wenn er den Grund der Differenz zwischen ihm und seinen Gegnern| in der Verschiedenheit des beiderseitigen historischen, kirchlichen und ethischen Urteils fand (siehe Konferenzvortrag in Betreff der Rosenmonate h. Frauen), so war er allerdings der Überzeugung, daß er in manchen Stücken von der protestantischen Tradition abgehe, mit der Schrift aber in Übereinstimmung sei. Für ihn war die communio sanctorum nicht blos ein theoretischer Satz, sondern etwas, darin er lebte, was ihm für sein religiöses Leben teuer war. Er „konnte sich in der viele Protestanten so fremdartig anmutenden Gesellschaft der Heiligen heimatlich fühlen, er freute sich auf den Himmel unter anderm auch deshalb, weil er sie dort finden werde.“ Herkömmliche protestantische Weise ist es nicht, sich mit den Heiligen Gottes in einem solchen inneren persönlichen Zusammenhang zu wissen und zu fühlen. Ist es aber richtig, wenn die heutigen Protestanten zu denselben sich so stellen wie es Luther vorhergesagt hat: „Wo der Nutz und Hilfe, beide leiblich und geistlich, nicht mehr zu hoffen ist, werden sie die Heiligen wol mit Frieden lassen, beide im Grabe und im Himmel. Denn umsonst oder aus Liebe wird ihr niemands viel gedenken, achten und ehren?“ Art. Smalc. p. 305 ed. M.
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 Ebenso gieng die in den Rosenmonaten sich nirgends verhehlende Bewunderung der sittlichen Kraft, die sich auch in den Verirrungen mittelalterlicher Askese offenbarte, insonderheit die Wertschätzung und Empfehlung des jungfräulichen Lebens, die einem Diakonissenvater wahrlich nahe lag, der herschenden protestantischen Denkweise, die allzusehr gewohnt war, „nur eine Freiheit des Gebrauchs der Welt, nicht aber auch der Entsagung“ anzuerkennen, wider den Strich. Aber es fragt sich, ob nicht diese Denkweise an der Schrift, sonderlich an Stellen wie 1 Cor. 7 u. a. sich eben berichtigen lassen muß. Uns scheint, es hat sich schon eine Korrektur der hergebrachten Anschauungen in gewissem Maß vollzogen, seitdem das Diakonissentum zu allgemeinerer Anerkennung gelangt und an| demselben die Notwendigkeit und der Segen des jungfräulichen Standes offenbar geworden ist. Man ist nun wol doch behutsamer geworden, die Verzichtleistung auf erlaubten Weltgebrauch und Genuß, jeden abseits von der gewohnten Heerstraße verlaufenden Lebensweg, sofort zum „selbsterwählten Weg“ zu stempeln. An den Erfahrungen des Diakonissentums und ihren Erfahrungen mit demselben wird sich die luth. Kirche ein durch Thatsachen begründetes Urteil darüber bilden können, ob die Matth. 19 und 1 Cor. 7 etc. unleugbar gegebenen Ratschläge in der luth. Christenheit unanwendbare Lebensformen, und ob die aus ihnen hervorgehenden Bestrebungen prinzipiell oder nur in ihrer römischen Ausartung mit dem evangelischen Glaubensbewußtsein unvereinbar sind. Vielleicht wird dann ein milderes Urteil über die Rosenmonate gefällt werden als es vor 30 Jahren bei ihrem Erscheinen geschah und teilweise noch heute geschieht, wie wenn z. B. auch Dr. v. Stählin in den Rosenmonaten eine Verherrlichung „einer in der Kirche früh aufgekommenen Werk- und Entsagungslehre“ sieht, welche „mit protestantischer Grundanschauung sich prinzipiell und auf die Dauer nicht verträgt.“





  1. Die Geschäfte dieser im Dienst der Gemeinde stehenden Witwen waren z. T. geistlicher Natur. Es lag ihnen die Pflege der Armen und Kranken ob, der Katechumenenunterricht bei dem weiblichen Geschlecht, die Seelsorge der Frauen, Dienstleistungen bei der Taufe weiblicher Personen, Besuch der Gefangenen, Confessoren und Märtyrer, eine gewisse Aufsicht über die Sitten des weiblichen Teils der Gemeinde etc.
  2. Es sind ja nicht viele Stellen des N. T., die von Diakonissen und Diakonissentum handeln. „Aber – sagt Löhe schön – die Diakonissin steht eben in der Bibel, wie im Garten das bescheidene Veilchen, kenntlich durch seinen Geruch, lieblich vor Gott und Menschen, in einer Verborgenheit, die Gott selbst gewollt hat.“
  3. Oft hob Löhe hervor, daß die Schrift von der Berufsarbeit der Diakonissin (wie des Geistlichen) das Wort κοπιᾶν gebrauche, welches eine mühevolle, anstrengende und aufreibende Thätigkeit bezeichne. Das Licht, das, indem es andern leuchtet, sich selbst verzehrt, sagte er, sei ein schönes Symbol auch für die Diakonissin.
  4. Vilmar dürfte von namhaften neueren Theologen – meines Wissens – der einzige sein, der sich nicht unbedingt gegen Zulässigkeit eines Gelübdes der Ehelosigkeit, aber auch nur im reiferen Alter, ausspricht.


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Wilhelm Löhes Leben (Band 3)
Bildung und Fortbildung der Diakonissen »
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