Zwei Einsiedler

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Autor: N.
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Titel: Zwei Einsiedler
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 606
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[606] Zwei Einsiedler. Im baierischen Hochlande, wo die graue Zugspitze ragt, im Schatten der Partenkirchener Wälder, giebt es zwei Einsiedler, von denen jeder in seiner Weise die Aufmerksamkeit des Stadtmenschen erregt. Der eine ist ein Hirsch und heißt Molli, der andere ein Tagelöhner, Veitl genannt.

Reden wir zunächst vom Ersteren. Wir folgen dabei dem Berichte des Herrn Forstmeisters, welchem das bekannte Latein der Jäger fremd ist. Der Molli ist sein Liebling und seiner Gunst verdankt dieser absonderliche Hirsch offenbar die Abwendung manches Abenteuers, das sein Fell bedrohte. Seit etwa sieben Jahren kommt er alljährlich gegen Ende October mit Vorliebe zum Garten des Forstamtes in Partenkirchen. Er thut im Marktflecken, als ob er da zu Hause wäre. Während der Schußzeit sieht ihn Niemand; überhaupt erinnern sich die Jäger nicht, ihm draußen in den Wäldern begegnet zu sein. Auch in Gesellschaft anderer Hirsche wurde er noch niemals angetroffen. Er scheint die Menschen lieber zu haben, als seines Gleichen. Er gehört unter die Größten seiner Sippschaft. Man schätzt sein Gewicht auf drei Centner, und wenn er auch nicht unter die Sechszehn-, sondern nur unter die Zehnender gehört, so läßt sich doch nicht leicht ein Geweih an Höhe und Stärke mit dem seinigen vergleichen.

Wenn Molli aus seiner Zurückgezogenheit heraustritt, sucht er sofort die Gärten auf. Zwar ist Ende October außer Kohlstümpfen, Krautköpfen und abgefallenem Obst nicht mehr viel zu suchen – Obst habe ich selbst noch im December an manchen Bäumen Partenkirchens hängen gesehen, rothe Aepfel an entlaubten Aesten –, aber so lange es Grünzeug giebt, will er von nichts Anderem wissen. Auch die Blumentöpfe an den Fenstern sind vor seinen Zudringlichkeiten nicht sicher, und mehr als einmal hat er zur Entrüstung der Beschädigten Rosenstöcke abgefressen. Die Zäune, mit denen die Gärten eingefriedigt sind, übersetzt er springend. Bei seinen Unternehmungen wählt er meist die Nacht-, nicht selten indessen auch die Tageszeit. Vom Garten aus schaut er oft neugierig durch die Fenster in die Stuben hinein, wobei es öfters geschah, daß er mit seinem Geweihe die Scheiben eindrückte. – Zur Zeit des Festes Allerseelen, wenn die Gräber geschmückt werden, begiebt er sich auf den Friedhof und frißt die Blumen, Beeren und Kränze, die zur Zierde der Ruhestätten dort niedergelegt sind, weg.

So lange derlei frische Pflanzen und Früchte zu erreichen sind, rührt der Hirsch kein Heu an. Dazu veranlaßt ihn erst der Schnee, welcher Wald, Feld und Garten zudeckt. Dann geht er zu einem Reiserhaufen, der sich ganz nahe beim Forstamte befindet und auf welchen man ihm Heu hingelegt hat. Spürt der eigensinnige Einsiedler, daß andere Hirsche oder Thiere (was bei sehr tiefem Schnee und arger Kälte mitunter geschieht) vor Hunger ihre Scheu überwinden und zum nämlichen Futterplatze kommen, so hält er sich fern. Dann bekommt man ihn nicht eher wieder zu sehen, als bis die Thiere sich in den Wald zurückbegeben haben. Wenn er von dem Heu etwas verzehrt hat, so benutzt er den Rest als Bett, legt sich darauf nieder und rastet stundenlang.

Um Mitte Mai, wenn die Jagdzeit herannaht, ist der Molli urplötzlich verschwunden. Es ist, als ob er sich auf den Kalender verstünde. Ich weiß nicht, ob er geschont werden würde, wenn ihm ein Jäger begegnete. Er steht zwar, wie bemerkt, unter dem Schutze des Herrn Forstmeisters, aber es sieht aus, als ob mancher seiner Untergebenen weniger gut auf den Sonderling zu sprechen wäre. Undenkbar scheint es nicht, daß ihm aus Mißverständniß einmal etwas Schlimmes widerführe.

Bei der Zahmheit, die er zur Schau trägt, könnte man auf die Vermuthung gerathen, daß er einmal eingefangen und von irgend einem Liebhaber in Umfriedung gehalten worden, also ein entsprungener Internierter sei. Für eine solche Annahme fehlen indessen sämmtliche historische Anhaltspunkte und dürfte dieselbe, da man weit und breit nichts von einem ehemals eingefangenen Hirsche weiß, vor dem kritischen Scharfsinne unserer Leser nicht bestehen bleiben.

Unter solchen Umständen kann es nicht fehlen, daß die Leute sich allerlei Gedanken über den Hirsch machen. Am meisten Freude daran hat die Jugend, die ihn oft staunend und schreiend umsteht, ohne daß er sich von dem Lärme beirren läßt. Abergläubische meinen, es stecke in dem Thiere der Geist eines Verstorbenen, und die Spaßvögel unter ihnen haben hier und da die Vermuthung aufgestellt, der Molli sei Niemand anders als der frühere Forstmeister, der seinen Nachfolger besuche – eine Vermuthung, welche durch die Vorliebe, womit der Hirsch den Garten des Forsthauses aufsucht, ihre Begründung erhalten soll. Weder von diesem Hause noch von einem andern scheucht ihn das laute Sprechen der Inwohner oder das Bellen der Hunde fort. Vor den Letzteren hat er überhaupt keine Furcht. Kam ihm einmal einer zu nahe, so schleuderte er ihn mit seinem Geweihe weg, daß der Köter heulend die Flucht ergriff.

Bei der Scheu, die manche Leute vor dem Molli haben, ist es schon zu lächerlichen Auftritten gekommen. So stieg einmal ein Mann von Partenkirchen auf den Berg, an dessen Hang sich der Kreuzweg und die Capelle des heiligen Antonius befinden, um Schafe zu suchen, die sich dort im Gestrüpp herumtrieben. Eben wollte er eine steile Felsplatte hinaufklettern und tastete, um nicht abzurutschen, im dichten Busche nach irgend einer Wurzel oder einem Zweige, woran er sich festhalten könnte. Als er sich über die Platte mit Hülfe einer solchen Handhabe emporgeschwungen hatte, stand er dicht vor dem hier ruhenden Hirsche und entdeckte nun, daß, was er für einen Ast gehalten hatte, in Wirklichkeit der Fuß des Molli gewesen war. Der aber richtete sich ruhig auf und betrachtete mit unverwandten Augen seinen Mann. Solche Kaltblütigkeit des Hirsches erschreckte den Schafsucher. Er rannte geraden Weges den Berg hinab, wobei er sich öfters überschlug und stürzte, so daß er mit zerrissenen Kleidern und blaß vor Angst im nächsten Hause ankam, dessen Insassen er zurief, daß der Hirsch ihn verfolge.

Auch dem Nachtwächter begegnete der einsiedlerische Vagabund einmal mitten in der Hauptstraße des Marktes. Der Hirsch blieb stehen und machte keine Miene auszuweichen. Das kam dem Wächter bedenklich vor, und er suchte sein Heil in der Flucht. Nichts Seltenes ist es auch, daß der Hirsch des Morgens in irgend einem Holzschuppen mitten im Markte gefunden wird, worin er furchtlos während der Nacht geschlafen hat.

Kommen wir nunmehr zu dem andern Einsiedler.

Bei Graseck oberhalb der Partnachklamm, dort, wo man prächtig zur Dreithorspitze und zur Schachenplatte hinaufschaut, sieht eine gewaltige Buche am steilen grasigen Bergabhange. Das Wurzelwerk dieses Baumes bildet zum Theile die obere Wölbung einer Höhle, in welcher ein Mensch von mittlerem Wuchse aufrecht zu stehen vermag. In dieser Höhle haust seit vielen Jahren ein nunmehr siebenzigjähriger Greis, der Veitl. Er lebt von seinem Verdienste bei der Holzarbeit im Walde, beim Wegbauen und ähnlicher Hantirung. Das finstere Loch unter der Buche hat er sich durch Bretter, Latten und Baumstämme so gut wie möglich gegen das Wetter gesichert, wobei ihm, während des Winters wenigstens, zu statten kommt, daß der Abhang gegen die warme Südseite geneigt ist und der Nordwind zu ihm keinen Eingang findet. Wer diese Wohnung sehen will, muß den Veitl, weil er erst am Abend von seiner Arbeit heimkehrt, vorher durch den Grasecker Förster benachrichtigen lassen und ihm billiger Weise seinen Tagelohn vergüten. Dann empfängt ihn der alte Einsiedler mit einem brennenden Spahne in der Hand und zeigt ihm sein Schlafcabinet, das sein Licht unter den Wurzeln hindurch nur durch ein einziges Fensterscheibchen erhält, das vom Rauche nach und nach rothgelb gefärbt worden ist. Hart daneben befindet sich das „Bett“, ein Haufen alter Tuchfetzen und Lumpen. Die Wände sind so dicht mit Ruß belegt wie ein Kamin. Zwei Menschen vermögen sich darin nur dann zu rühren, wenn der eine sich auf’s „Bett“ legt, weshalb der Veitl mit seinem Spahne vor der Oeffnung stehen bleibt, die er Thür nennt. Außerhalb des Kämmerleins, zwischen der Thür und den Latten, welche die äußere Mauer der Behausung bilden, ist eine Art Vorhof mit allerlei Gerumpel, Wilddecken, Tüchern, Lederfetzen, Werkzeugen etc. Eigenthümliche Werkzeuge stecken auch in den Holzscheiten, welche das Kämmerlein aufgeschichtet, wie es vor vielen Berghäusern Gebrauch ist, als wärmende Wand umgeben.

Seit sechsundzwanzig Jahren ist der Veitl nicht mehr aus seinen dauerhaften Gemslederhosen gekommen. Dieselben haben deshalb auch einen eigenthümlichen Glanz angenommen, eine Niederschlagsschicht, an welcher die analytische Chemie verzweifeln dürfte. Aber es fehlt ihm nichts zu seiner Zufriedenheit – er freut sich seiner Wohnung, der Aussicht in den Abgrund des Rainthales und auf die Ahornauen des Berges. Die Winterstürme lassen ihn behaglich in seinem Bett unter den Wurzeln schlafen. So stellt uns der Veitl ein Zeugniß aus, wie verschieden die Ansprüche sind, welche das Menschengeschlecht an die Gaben Fortunas stellen kann.
N.