Ein römisches Modell
Wie jeder Fremde, der nach Rom gekommen, lustwandelten auch wir, einige Freundinnen, welche Liebe zur Kunst nach der ewigen Stadt geführt, gern und oft nach dem Monte Pincio. Hier entfaltet sich täglich in den Nachmittagsstunden das bunteste Leben. Das Militärconcert unter der Palme zieht unzählige Spaziergänger aller Stände und eine unabsehbare Reihe von glänzenden Equipagen hierher. Der Fremde sieht hier staunend den höchsten modernen Luxus zur Schau getragen, und in unaufhörlichem
Wechsel wogt die Menge in den schattigen Alleen hin und her, bis die Glocken Ave Maria ankündigen und die Schaaren den Heimweg antreten.
Das Spiel ist zu Ende; der Pincio wird geschlossen. Abendliche Schatten lagern sich über die weit ausgedehnte Stadt; die Kuppel des St. Peter’s glüht noch im Abendsonnengolde, und unvergleichlich schön breitet sich das Panorama der Stadt und Umgegend aus, begrenzt von den Linien der blauen Albaner Berge.
Ganz betäubt von solchen Eindrücken, kehren wir in die Stadt zurück und wählen wie Viele den Weg über die „spanische Treppe“. Welch ein Gegensatz zu dem eben Gesehenen bietet sich hier! Dort sahen wir den begüterten und vornehmen Menschen in Pracht und Herrlichkeit, die ihm Stand und Vermögen bieten, hier den ärmsten Erdensohn – und doch wie oft in Pracht und Herrlichkeit einer unverfälschten Natur, im angestammten Gefühl für Schönheit und Würde.
Auf der „spanischen Treppe“ ist der Ort, wo die Künstler die Modelle für ihre Werke suchen und oft auch finden. [804] Die Modelle sind die einzigen Leute, die des Geldverdienstes wegen sich noch in die malerische Landestracht kleiden, mitunter prächtige, charaktervolle Figuren.
Oben auf der Terrasse, an der breiten Brüstung des Treppengeländers sind die Männer in Gruppen versammelt von frühem Morgen bis zum Abend. Sie rauchen, plaudern, schmausen und warten in Ruhe, bis ein Künstler sie erwählt; dann ist Alles an ihnen Feuer und Bewegung. Eine Schaar lebhafter Knaben tummelt sich um sie herum und stürzt, sobald ein Fremder sich naht, diesem mit Frohsinn und Zuversicht bettelnd entgegen. Dem verwöhnten, vornehmen Reisenden ist dies ein lästiger, gräßlicher Eindruck; er sieht nur Lumpen und Verkommenheit, weil er nichts anderes von „solchen Volke“ erwartet, nichts anderes an ihm sehen will.
Wie anders wir! Lachend plaudern wir mit der lustigen Schaar. Schnell und gern greift die Hand in die Tasche, um durch eine kleine Gabe den fröhlichen Dank durch Wort und Blick einzuernten. Bald ist man Allen bekannt und weiß sie bei Namen zu nennen, und schon aus weiter Ferne sieht man den Gruß des „kleinen Cecco, il piccolo“, des drolligsten Kerlchens der Welt, im Schafpelzjäckchen, immer mit strahlendem, lachendem Gesichte die begehrliche kleine Hand entgegenstreckend oder winkend. Er ist unwiderstehlich komisch; man sieht es ihm an, Betteln ist ihm Lebensberuf, sein allerangenehmstes Handwerk; er wird nicht müde, einem entgegenzutrippeln und, mit einer Hand den Hut, damit er nicht herunterfällt, festhaltend, die andere zuversichtlich entgegenzustrecken, während sein Vater oder Pflegevater, der den Jungen nur zum Betteln engagirt hat, sich in behaglichster Stellung, eine Cigarre rauchend, hingestreckt hat und den Geber gnädig lächelnd anschaut, ohne die Stellung im Geringsten zu verändern. Der Kleine muß für die ganze Familie verdienen. Entweder steht er Modell in fast täglichem Wechsel der verschiedenen Ateliers der vielen Künstler, die ihn gebrauchen, oder er bettelt fleißig, ist wohlgemuth, wohlgenährt und kerngesund dabei, ein Liebling der Künstler, wie des Publicums, eine kleine Berühmtheit von Rom.*[1]
Auf den unteren Stufen der spanischen Treppe haben die Frauen ihren Platz. Sie ist ihr Daheim. Hier arbeiten, essen und vergnügen sie sich. Dabei entfaltet sich eine unerschöpfliche Fülle von „Motiven“ für den beobachtenden Künstler. Hier findet er Gestalt und Ausdruck für eine Mater dolorosa so gut wie für eine Bacchantin. Und welche Genrebilder! Wie sie sich gruppiren, die Spindel oder das Nähzeug in der Hand, ihr einfach Mahl verzehrend, Weißbrod, Obst und geröstete Kastanien den Kindern austheilend, die sorglos und fröhlich um sie herumspielen! Alles, was sie thun, hat „Art“ und ist fesselnd. Der Künstler findet oft die unmittelbare Anregung zu neuem Schaffen durch den Anblick und Eindruck der Wirklichkeit.
Wir gingen gern, den Zauber dieser frischen Eindrücke zu genießen, den Weg. Aber so oft wir kamen, fesselte uns vor Allem der Anblick eines drei- bis vierjährigen kleinen Mädchens, welches nicht, wie die andern Kinder, sich herumtummelte und bettelte, sondern sich befangen zurückzog und an’s Knie der Mutter, einer schönen Frau, anschmiegte, wenn wir es begrüßten. Der Wunsch wurde rege, das ernste, schüchterne, schöne Kind, die „kleine Cäcilie“ zu malen, so, wie sie oft vor uns dastand, stolz und eigenartig, abgesondert von ihren Gespielen. – Die Kleine wurde bestellt, und die Mutter begleitete sie zu den Sitzungen. Bei der großen Beweglichkeit ihres Mienenspiels war es nicht möglich, eine Photographie der Kleinen anzufertigen. Noch verstand sie es nicht, Stellung und Ausdruck nach Wunsch des Künstlers festzuhalten; es war eben ein eigenes und dadurch unbeschreiblich anziehendes Kind, wie es nur unter dem milden Himmel Italiens gedacht werden kann. Bei ihrem Anblicke gedachte man unwillkürlich der Strophe „Aus dunklem Laub die Goldorange glüht“. Die Mutter unterhielt die Kleine, erzählte ihr Legenden und sang mit ihrem Lieblinge volksthümliche Weisen, welche uns völlig fremd waren; dabei leuchteten Cäciliens große Kinderaugen, und jeder Eindruck spiegelte sich in ihren Zügen.
Wer war schöner und anziehender in solchen Momenten, die Mutter oder das liebliche Kind? Man mußte sie zusammen sehen und sich ihrer freuen. Die Malerin ließ oft die fleißige Hand sinken, um staunend und bewundernd zu beobachten. Bald waren Beide die allerbesten Freunde, und je unbefangener die Kleine wurde, desto reicher zeigte sich die hochbegabte Kindernatur in Ausdruck und Bewegung.
Es war Osterfest und die Mutter mit dem Kinde zu Verwandten auf’s Land gegangen. Wenige Tage darauf kam Cäcilie und überreichte uns, strahlend vor Freude, zehn frische Eier, die sie uns mitgebracht hatte. Sie war überglücklich dabei, noch mehr als sonst, wenn sie durch Geschenk einer Puppe, bunter Bänder, Obst oder Naschwerk überrascht wurde. Dann schlang sie dankerfüllt und kindlich anmuthig die kleinen Arme um den Hals der Geberin; beim Geben aber war sie stolz und doch lieblich.
Aber ernst und großartig, wie der erste Eindruck war, den das Kind auf uns gemacht, sollte ja das Bild werden. Es wurde immer schwerer dies bei den immer neuen Anregungen durchzuführen, doch es gelang. Das Bild wurde in Rom vollendet und fand hier bald in goldstrahlendem Rahmen in einem Palaste seinen Platz. In herrlicher Umgebung erfreut es die Besitzer durch seine Schönheit – und Wahrheit.
Das Kind selbst aber saß nach wie vor auf den Stufen der spanischen Treppe.
Unwillkürlich fragten wir uns: „Was wird aus diesem Kinde werden? Wird es in Armuth und dem elenden Lebensberufe verbleiben, wie die Eltern und seine Geschwister?“
Möge ein gütiges Geschick es in bessere Bahnen führen!
Die spanische Treppe, der Schauplatz eines so regen bunten Lebens, ist jetzt leer. Die neue Regierung schafft Ordnung in der alten Roma; das Herumlungern ist verboten. Der verwöhnte Reisende wird nicht mehr von dem „faulen Gesindel“ durch Betteln belästigt werden – aber viele, viele weniger verwöhnte Fremde, besonders die Künstler, werden schmerzlich die bunte Gesellschaft vermissen, mit der sich so traulich verkehren ließ und bei welcher der Künstler so viele Eindrücke zu Studien und Bildern sammeln konnte.
Wie gern mochte man hier Rast machen! Am liebsten, wenn das Abendsonnengold Alles so schön und glücklich erscheinen ließ, wenn in der Carnevalszeit beim schwirrenden aufregenden Tone des Tambourins sich bunt maskirte Tänzer zur Tarantella unermüdlich einfanden, mit ihrer Fröhlichkeit die Vorbeigehenden festhielten und durch ihr Beispiel die Kinder anregten, ihnen nachzuahmen, was unvergleichlich komische Scenen bot.
Das Original-Oelbild der kleinen Cäcilie, gemalt von Helene Richter in Düsseldorf, wurde in Rom von mir photographirt und wird, wie es heute in diesem Blatte vorliegt, von denen, die in Rom waren, gewiß mit Freude begrüßt werden; giebt es doch Kunde von einer Zeit, wo alltäglich auf der Straße Eindrücke zu sammeln waren von einem Leben reich an Ursprünglichkeit und Schönheit. Möge das Bild, da es durch die Blätter der vielverbreiteten Gartenlaube den größten Kreisen zugänglich gemacht wird, Vielen eine liebe Erinnerung sein!
Düsseldorf.
- ↑ * Der kleine Cecco ist von derselben Künstlerin gemalt worden; das Bild wurde von der photographischen Gesellschaft vervielfältigt.