Ein parlamentarischer Abend bei Bismarck

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Autor: Hans Blum
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Titel: Ein parlamentarischer Abend bei Bismarck
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 312–318
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Ein parlamentarischer Abend bei Bismarck.

Die Ueberraschungen, die Bundesrath und Abgeordneter des norddeutschen Bundes, Regierungscommissar und Preßmensch zu Hause finden, wenn sie nach heißem Tagewerk und spätem Abendessen zu ihren Berliner Penaten pilgern, sind nicht übermäßig trostreich. Sie beschränken sich in der Regel auf ein umfangreiches Paket von Drucksachen, welches die nächste Tagesordnung des Reichstags und eine Ueberproduction von neuen „Verbesserungsanträgen“ zur Gewerbeordnung etc. enthält, – nicht selten auch Verschlechterungsanträge, zu denen sich ein Hochtory oder ein Socialdemokrat des Hauses ermuthigt fühlt und an denen das Beste ist, daß sie nur die Zeit des Lesens verschlingen und mit „sehr großer Majorität“ abgelehnt zu werden pflegen, wie der Präsident Simson jeweilig zu erhärten liebt. Auch Briefe, und namentlich Briefe von zu Hause, bilden nicht selten einen integrirenden Theil der geistigen Nachtmahlzeit.

Man mag sich daher unsere Ueberraschung denken, als jüngst aus einem der Nachts vorgefundenen Couverts sich folgende Einladung herausschälte: „Graf Bismarck-Schönhausen wird dankbar erkennen, wenn der Bundesrath, Abgeordnete, Geheime Regierungsrath so und so ihn vom 24. April d. J. ab Abends neun Uhr jeden Sonnabend während der Dauer der Reichstagssession besuchen wird.“ Die Einladung liegt uns im Urtext augenblicklich nicht vor, aber wir können beim Styx beschwören, daß dies der gastfreie und sinngetreue Inhalt ist.

„Was thun? spricht Zeus,“ fragte in diesem Falle nur der reine Socialismus. Alle anderen Parteien des Reichstags, auch der kleinste Bundesrath aus dem kleinsten Bundesstaate, waren sofort mit sich einig, der Einladung zu folgen. Das Verhältniß des Reichstags und Bundesraths zum Bundeskanzler ist ja dieses Jahr ein so überaus vortreffliches, so viel besser als die letzten Tage des April 1868 durch den bekannten Reichstagsbeschluß vom 22. April 1868 sich gestalteten. Damals die Bundesanleihe verclausulirt durch das Verlangen parlamentarischer Verwaltung und Controle, damals Flottentrüstungsterrorismus, und heute eine durch die vereinigten liberalen Parteien des Hauses so gründlich verbesserte Gewerbeordnung, daß dem Bundeskanzler im Stillen das Herz im Leibe lacht, eine Reihe von Antragen, auf Redefreiheit der Einzelkammern, auf verantwortliche Bundesministerien, auf Uebertragung des ganzen bürgerlichen Rechts an den Bund, die sammt und sonders trotz der widerstreitenden Auslegung der feudalen Zeitungen Preußens sich gezeigt haben als große und theilweise entschiedene Vertrauensvoten der norddeutschen Volksvertretung für die Politik der Bundesregierung. Giebt es einen natürlicheren Gedanken als den, daß der Kanzler die Vertreter der Nation, die ihn zum allergrößten Theil freudig begleiten und stützen auf dem steinigen Pfade deutscher Politik, den er einhergeht, bei sich am häuslichen Heerde versammelt, um einmal auch die Stunden fröhlicher Muße mit ihnen zu verleben, wie die der schweren täglichen parlamentarischen Arbeit; einmal in munteren Scherzen sich zu messen, statt in dem schweren Geschütz der stenographirten europäischen Reden im norddeutschen Parlament? Dasselbe Bedürfniß empfand fast jeder Abgeordnete und Bundesrath und sonstige Mitarbeiter an der Bundesgesetzgebung wohl in gleichem Maße.

In Allem, was den Bund angeht, pflegen die Stunden mit militärischer Genauigkeit eingehalten zu werden. Von dieser bundestreuen Voraussetzung ausgehend, verfügte ich mich alsbald nach neun Uhr Abends nach dem bekannten unscheinbaren einstöckigen [313] Hause in der Wilhelmsstraße, das der preußische Staat seinem Minister des Auswärtigen als Amtswohnung anweist und das auch den Grafen Bismarck in seiner dreifachen Eigenschaft als Minister für Lauenburg, preußischen Ministerpräsidenten und Bundeskanzler beherbergt. Wenn einmal die Bundesverhältnisse auch äußerlich ausgebaut sind durch den projectirten prächtigen Bundespalast in der Wilhelmsstraße, wird wohl auch dem Kanzler des norddeutschen Bundes als solchem ebenso eine besondere Amtswohnung eingeräumt werden, wie dem Reichstag ein anderes Sitzungslocal als die Räume des preußischen Herrenhauses. Uebrigens befindet sich die Kanzlei des Bundeskanzleramtes schon jetzt nicht in Bismarck’s Hôtel. Hier ziehen sich im Erdgeschoß des langgedehnten schmucklosen Gebäudes die Arbeitsgemächer der preußischen Ministerialbeamten hin. In der ersten und einzigen Etage dagegen befinden sich die Arbeits- und Empfangsräume Bismarck’s und die Privatgemächer der Familie. Hinter dem Hause prangt einer jener wundervollen alten, tiefen und schattenreichen Parks, zu denen nie der betäubende Lärm der gewaltigen Stadt dringt, wie sie die Krone Preußen zwischen der Wilhelms- und Königgrätzer Straße und wieder zwischen dieser und der Leipziger Straße zusammen über hundert Morgen groß besitzt.

Am Eingangsthor standen die unvermeidlichen zwei Schutzleute, die Eintretenden ehrfurchtsvoll grüßend. Es war kaum ein Viertel auf zehn vorüber, als ich eintrat. Mir fiel ein, wie sehr das Wartenlassen in Berlin bei Einladungen zum guten Ton gehört, und mich befiel die Besorgniß, ich möchte dem Kanzler oder seiner Gemahlin als der erste Gast gegenübertreten. „Sind schon Herren da?“ fragte ich den Schutzmann. „Ja woll, viele,“ war die Antwort. Meine Garderobenummer war einhundertvierundsechszig! An zahlreichen Dienern in schwarz-weißer Livree vorüber führt die stattliche Freitreppe zum ersten Stockwerk. Man tritt in ein behagliches, fein meublirtes Empfangszimmer. Wer da der Audienz harrt, mag sich in Muße der schönen Harmonie der modernen rothseidenen Tapeten, Teppiche und Pfühle erfreuen und darüber nachdenken, in welchen merkwürdigen Beziehungen der ausgestopfte springende Hase auf dem Büffet mit der Familie Bismarck steht. Uns fesselte ein freundlicherer Anblick: die Gemahlin des Kanzlers. Eine hohe vornehme Gestalt, mit energischen, aber gefälligen Zügen, in modischer Toilette von gewählter Einfachheit stand sie, jeden Ankömmling mit tiefer Verbeugung bewillkommnend. Sie befand sich dicht vor der Draperie, an welcher vorüber der Blick in die Gemächer der Familie schweifte – äußerlich durch ihre Stellung an diesem Platze, an der Verbindungsthür der Familien- mit der Staatswohnung, schon die hohe Würde der deutschen Frau bekundend, der kein anderes Volk eine gleiche an die Seite zu stellen hat. Denn nur die deutsche Frau waltet so frei und schön im Hause, in der Familie, als deren Seele sie sich darstellt jedem Gaste gegenüber, nur die deutsche Frau nimmt zugleich hervorragenden geistigen Antheil an den Arbeiten, an dem Ringen und Streben des Mannes; nur sie vermag ihm die Stirn zu glätten, die des Lebens Widerwärtigkeiten ihm furchen; zumeist trachtet sie das alte homerische Wort zu erfüllen von der Bestimmung der Mutter, der Nachwelt ein Geschlecht von Kindern zu überliefern, das an edler Menschensitte und Arbeit womöglich noch Tüchtigeres leisten soll als die Eltern. Und wie treulich hat diese deutsche Frau ihrem Gatten zur Seite gestanden vom Anbeginn seiner politischen Laufbahn! Ich weiß nicht, auf welche Mittheilungen sich die Nachricht gründet, die eine mir eben zugehende Chicagoer Zeitung bringt, daß die Gräfin Bismarck der Geheimsecretair ihres Gatten sei. Aber das ist mir als oft wiederholte Erzählung einer bejahrten Schaffnerin des Hauses berichtet worden, wie die Gräfin ihren Gemahl immer mit neuem Muth und Trost zu erfüllen wußte, als dieser auf dem kleinen Gute Schönhausen in der trübseligsten Zeit, die Deutschland seit fünfzig Jahren gesehen, seine Tage mißmuthig dahinlebte, als verborgener preußischer Landjunker sich an seinen großen politischen Gedanken selbstverzehrend.

Doch eine Anzahl älterer Bekannten sammelte sich um die Gräfin. Jetzt war keine Zeit zur Vorstellung. Nach rechts strömte der Zug der Einwanderer in das Billard-Zimmer, dessen Fenster nach der Straße gehen. Nach links ist ein flüchtiger Blick in Bismarck’s Arbeitscabinet gestattet. Das Fell eines vom Grafen selbst erlegten Bären liegt vor dem Sopha des Billard-Zimmers. An einer der Wände steht die wundervolle Porcellanvase mit des Königs Bild und Schloß, die König Wilhelm dem Kanzler nach den Kämpfen des Jahres 1866 verehrte.

Die Versammlung und die Hitze wuchsen mit jeder Minute. Der Graf, sagt man, ist im großen Saal. Wir eilen dorthin. Hart am Eingang steht unser Wirth, in lebhaftem Gespräche mit seinen Gästen, doch aufmerksam jeden neuen Ankömmling freundlich grüßend; oft reicht er die beiden Hände zugleich nach rechts und links. Er sieht so wohl, so munter aus! Das ist immer der erste Gedanke, wenn man den Mann wieder erblickt, dem auch die Demokratie bedeutende Arbeitskraft und Thätigkeit niemals absprechen wird. Sein Gesicht hat mit seiner langen Villeggiatur in Varzin wieder Farbe gewonnen, die Augen sind nicht mehr so tief beschattet durch die Wolken der gefurchten Stirn und zugleich durch die außerordentlich langen Brauen wie voriges Jahr. Die historischen drei Haare sind freilich längst in’s Meer der Zeit gesunken, die Stirn ist fast ganz kahl, und namentlich das Hinterhaupt würde keinem mehr die volle Locke zeigen, an der Braun im constituirenden Reichstag gemahnte, das wandelnde Glück Deutschlands zu fassen.

Aber dafür ist sein Haar von jenem germanischen Aschblond, dem Niemand die Jahre des Trägers ansehen kann. Und seine Haltung ist stramm und fest bei seinen vierundfünfzig Jahren trotz des Jüngsten in der Versammlung. Er trägt auch an diesem Abend sein bequemstes Kleid, die Uniform, aber wohl schwerlich ganz vorschriftsmäßig. Moltke lächelt mit den feinen schmalen Lippen, als er des Grafen militairischer Decolletirung ansichtig wird. Denn der kurze Waffenrock steht offen, von Degengurt und Degen ist nirgends die Rede, und eine einfach schwarze Tuchweste bekleidet die Brust des Grafen. Auch nur gerade die unentbehrlichsten Orden sind aufgesteckt, darunter kokett einige kleinstaatliche. Sind die Herzen der eingeladenen kleinen Bundesräthe einzufangen? Wer Bismarck sich nach den Bildern denkt, die von ihm cursiren, oder selbst wer ihn im Reichstag hatte reden hören, wer ihm auf seinen Spaziergängen begegnet ist, kennt ihn nur von der officiellen Seite, als Staatssorgen- und Würdenträger. Aber hier, innerhalb seiner vier Wände, inmitten der behaglichen Muße, in einem Kreise berühmter und patriotischer Männer, die mehr oder weniger sein Werk berathen, bekämpfen oder fördern halfen, da lernt man den Menschen, den vortrefflichen Gesellschafter im Grafen kennen. Mir haben oft Besucher der Tribünen des Reichstags und Zollparlaments, wenn sie Bismarck sprechen gehört, erklärt, sie seien durch nichts so enttäuscht worden, wie durch die Klangfarbe seiner Stimme. Seine Höhe, seine Brauen, seine Stirn, seine Brustweite, Alles sei viel gewaltiger, als sie gedacht, aber diese Stimme habe auch bei der trockensten Darlegung und beim größten Affect etwas so ungewöhnlich Weiches und Einschmeichelndes. Die Bemerkung ist richtig. Man hört aus den Worten des Grafen, trotz der großen Mäßigung seiner Reden, immer am Klang der Stimme seine augenblicklichen Empfindungen heraus. Und niemals directer und unmittelbarer als an solche Abende! Jetzt tritt er an unsern Kreis heran.

„Ich habe die Herren gern einmal bei mir sehen wollen. Man kann sich da so viel leichter sprechen und verstehen, als im Reichstag.“ Dabei gab er reihum die Hand. „Und außerdem, wenn Sie das Bedürfniß empfinden, mich oder einen Bundesrath oder Regierungscommissar zu interpelliren, so macht sich das hier meist in fünf Minuten in einer Ecke ab.“

Der Graf hatte Recht. Niemals noch in dem Maße wie in dieser Reichstagssession hatte sich die Nothwendigkat vertraulicher Verständigung herausgestellt. Den aus Anlaß des Twesten-Münster’schen Antrags auf verantwortliche Bundesminister waren die schreiendsten Dissonanzen zwischen Bundesregierung und Reichstag im Anzug gewesen, lediglich aus dem Grunde, weil jede Partei die Absicht der anderen nicht verstand. Bismarck war ärgerlich, weil er annahm, man wolle ihn durch die Zugabe des Herrn von der Heydt und seiner Collegen „abmeiern“, der Bundesrath, weil man durch das Verlangen nach einem Bundesministerium den Particularismus wider die Wolle streichelte, der Reichstag, weil er „auch gar nichts mehr kriegen“ sollte. Und schließlich, nach fünfstündiger heißer Redeschlacht, erklärte Bismarck unter anhaltender Heiterkeit des Hauses, er und Lasker seien ganz einer Meinung; sie hätten das leider nur bis dahin nicht gewußt.

[314] Der Graf wurde heute sofort beim Wort genommen. Durch die Reihen der Räthe und Abgeordneten drängte sich mühsam die umfangreiche Gestalt des tapferen „rothen Becker“, so roth an Haar wie an Gesinnung, aber ein lebendiger Beweis dafür, daß auch der geborene Demokrat und Agitator es zu einem höchst anständigen Leibesumfang bringen kann. Becker hatte sich heute im Reichstag selbst übertroffen. Er, der ständige Referent des Abgeordneten-Hauses und des Reichstags über Post-, Telegraphen- und Eisenbahnsachen, hatte den unglaublichen Mißbrauch drastisch geschildert, der Seiten der deutschen Fürstenhäuser mit der Paketporto- und Telegraphengebührenfreiheit getrieben wird. Er hatte geschildert, wie der ganze fürstliche Küchenzettel vom Koch telegraphisch gebührenfrei requirirt wird; wie endlose telegraphische Kleiderbestellungen zwischen den deutschen Höfen und Paris kostenfrei hin- und hergehen; wie der Bürgersmann, von dessen Depesche vielleicht Gut und Leben abhängt, warten muß, bis der fürstliche Koch für einen Thaler Petersilie durch den Telegraphen bestellt hat; wie dann all’ die umfangreichen bestellten Pakete portofrei an den Ort ihrer Bestimmung versandt werden müssen. Und schließlich hatte er zur großen Erheiterung des Hauses aus dem genealogischen Kalender nachgewiesen, daß in Lippe allein sechszig Prinzen und Prinzessinnen mit angeborener Portofreiheit existiren.

Jetzt pflanzte er sich vor dem Bundeskanzler auf, wie gewöhnlich die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, und sah ihn mit einem Gesicht an, auf dem geschrieben stand: Nun, haben Sie von all’ diesem fürstlichen Unfug mit der Telegraphen- und Portofreiheit schon eine Ahnung gehabt?

Aber Bismarck lachte herzlich und sprach: „Glauben Sie mir, ich weiß noch viel tollere Dinge.“

„Nun, so erzählen Sie doch, Excellenz,“ sagte der ‚rothe Becker‘ mit großer Behaglichkeit.

„Ja, das kann ich nicht,“ erwiderte Bismarck, „ich habe die Mittheilungen vom Generalpostdirector von Philippsborn – der weiß noch viel tollere Dinge als ich.“

Eine Gruppe Gäste drängte sich zwischen uns und die Sprechenden. Ein Diener reichte Thee, sonderbarer Weise ohne Rum; so wenig hatte Bismarck während seines langjährigen Aufenthaltes in Petersburg russische Sitte angenommen. Beim Zurücktreten nach der Wand wäre ich beinahe gestürzt. Ein ungewöhnlich großer Gegenstand lag am Boden: der Kopf und das Fell eines Elenthieres, das Bismarck gleichfalls selbst erlegt und als Teppich vor dem Sopha seines Salons ausgebreitet hatte. Die Wände zeigten gelbe Gobelins mit chinesischem Muster und entsprechendes Meublement.

Die Versammlung hatte sich nach und nach fast ausschließlich in dieses Gemach gezogen. Abgeordnete, vortragende Räthe, Minister, Admiräle, Bundesräthe, Alles wogte durcheinander. Nichts von der Reserve und Etikette, mit der sonst die Excellenzen dem Volksvertreter gegenüber sich zu umgeben lieben, nichts von der Absonderung nach Landsmannschaften und Parteien, die sonst im Reichstag überall zu Tage tritt. Nur wenige Uniformen sind in der Versammlung sichtbar. Alle die Ecken, in denen nach Bismarcks Wort die großen Staatsactionen in fünf Minuten abgethan zu werden pflegen, waren mit eifrig flüsternden Gruppen von Abgeordneten und Bundesräthen oder den Führern verschiedener Parteien besetzt. Die Gespräche in unserer Nähe wurden laut und ohne Rückhalt geführt. Denn hier lauert nicht wie hinter jeder Thür und in jedem Erholungszimmer des Reichstags und Bundesraths meuchlings das Ohr des gedungenen Preßknechts, dessen schwierige Aufgabe es ist, die Entenzucht künstlich zu betreiben und die Saure-Gurkenzeit der Welt womöglich zu vertuschen. Hier hätte er sich auf Jahre mit Stoff versorgen können! Mit einem Male wäre hier von seiner sündigen Seele der Fluch wahrheitswidriger Anekdotenbildung genommen worden.

„Wer ist der dicke Herr hier mit der blühenden Wäsche, dem blauen Frack mit den goldenen Knöpfen, dem pfundgroßen nagelneuen Adlerorden dritter Classe und dem mühsam verhüllten morgenländischen Typus?“

„Den kennen Sie nicht? Diesen Mann, den der Sohn Bismarck’s in seiner jüngsten Stilübung als den größten seines Jahrhunderts feierte, diesen Vater von Millionen – Eisenbahn-Actien, den kennen Sie nicht? Wohlan, Sie sehen vor sich den Dr. Strousberg, geborenen Baruch Hirsch Strausberg, in Firma Dr. Ujest, Herzog von Strousberg und Comp. Soll ich Sie vorstellen?“

Aber der Geschilderte hatte sich dem argen Spötter v. Unruh-Magdeburg, dem Präsidenten der constitutionellen preußischen Nationalversammlung von 1848, schon genähert.

„Ich weiß ein hübsches Geschäft für Sie, College,“ sagte Unruh. „Kaufen Sie sich den Abgeordneten für die große Seestadt X. zu dem, was er werth ist, und verkaufen Sie ihn zu dem, für was er sich hält.“

„Werd’ ich verdienen neunundneunzig Prozent,“ lachte Strousberg.

Das finanzielle Alterego des großen Eisenbahnbarons, der Herzog von Ujest, war jetzt auch in die Nähe getreten; er ist Vicepräsident des Reichstags, fünf Stimmen waren bei seiner Wahl aus Versehen auf den Dr. Strousberg gefallen.

Jetzt tauchte neben ihm auch das ehrwürdige Haupt Simson’s auf, des ewigen Präsidenten aller deutschen Parlamente.

„Kennen Sie das beste Mittel, den Franzosen Respect einzujagen?“ fragte mein Nachbar. Ich dachte an die Million unserer Krieger. Er aber fuhr fort: „Sie brauchen den Franzosen nur das Eine zu sagen, daß unsere drei Präsidenten Simson, Ujest und Bennigsen zusammen siebenundzwanzig Kinder haben, jeder neun.“

Inzwischen war zur Erfrischung der Gäste Maitrank und aus prachtvollen silbernen Humpen schäumendes Bier geschenkt worden. Aber die Hitze wurde immer empfindlicher. Freund Lasker brachte zuerst das Amendement ein, die weißen Handschuhe auszuziehen, und wie die meisten Lasker’schen Anträge fand der Vorschlag zahlreiche Unterstützung unter den Abgeordneten, diesmal sogar unter den Bundesräthen. Nun luden auch die näheren Freunde und Verwandten des Kanzlers zum Eintritt in das letzte der Reihe von Gemächern, die man bis dahin durchschritten hatte, in den Speisesaal des auswärtigen preußischen Ministeriums. Dieser Saal, ein längliches Rechteck, stößt im rechten Winkel auf den zuletzt geschilderten Salon; nur seine Schmalseite geht nach der Straße. Die äußere Ausstattung dieses Speisesaals weicht von derjenigen aller übrigen Wohnräume des Grafen erheblich ab. Dieser Saal nämlich ist unverändert so gelassen, wie Bismarck ihn von seinem Vorgänger überkommen hat; und wohl seit fünfzig Jahren ist dieser Raum unverändert geblieben. Da hängt noch derselbe schwerfällige Kronleuchter mit achtundvierzig Kerzen, da ziert ringsum an den Wänden noch dasselbe weiße Getäfel mit Goldleisten, dieselben muschelförmigen Lichtspiegel, dieselben gelben Marmorwände, wie unter Hardenberg und Manteuffel und Schleinitz. „Das letzte Mal war ich unter Manteuffel hier,“ sagte der ehrliche alte Graf Schwerin, der Minister der „liberalen Aera“, zu mir, wie immer die Hände in den Hosentaschen.

Die erste Scheu vor dem Zulangen nach den lieblichen Rehrücken und Filets, Mayonnaisen und italienischen Salaten, die auf der Mitteltafel prangten, war bald überwunden. Auch der ehrliche sächsische Geheimerath, der noch vor drei Minuten die Einladung mit den Worten: „nee, ich danke scheene,“ und einer gemütlichen verneinenden Rückwärtsbewegung vom Buffet abgelehnt hatte, war jetzt dem Kriegspfad der Pioniere des Essens gefolgt. An ein Sitzen während der Mahlzeit war nicht zu denken. Man ergriff einen der Teller, die auf der Tafel über einander geschichtet waren, und das nöthige Handwerkszeug und machte sich stehend mit den verschiedenen Herrlichkeiten vertraut. Nur einer Anzahl sächsischer und rheinischer Particularisten war es gelungen, sich an einem Tische seßhaft zu machen und sich hier gegen die annexionistischen Tendenzen des norddeutschen Bundesappetits zu verschanzen. Sie ließen sich ihren Mundvorrath nur durch den bundesstaatlich-constitutionellen Apparat der Bismarck’schen Dienerschaft reichen.

Indessen, ich habe immer gesagt, der Rehrücken ist der größte Verführer zu Jagdgeschichten; und das bestätigte sich auch diesmal. Mein verehrter Freund, Apotheker Neubronner aus dem vormaligen Herzogthum Nassau, den gewiß Niemand für einen mordsüchtigen Jäger von Profession halten wird, hatte, als er Bismarck vorgestellt wurde, daran erinnert, wie sie weiland, als Bismarck Bundestagsgesandter in Frankfurt gewesen, zusammen in der Nähe Frankfurts gejagt hatten.

„Ach, ja wohl,“ erwiderte Bismarck und schilderte nun den umstehenden, meist der annectirten Provinz Nassau angehörigen Abgeordneten die ihnen bekanntesten Persönlichkeiten Nassau’s und [315] Frankfurts jener Tage mit einer Lebendigkeit und Lustigkeit, daß die Heiterkeit dieser süddeutschen Gruppe die allgemeinste Aufmerksamkeit erregte. Namentlich war es die Schilderung des „dicken Daumer“ mit seiner kolossalen Todesfurcht, welche die Söhne des jetzigen preußischen Regierungsbezirks Wiesbaden entzückte. Dann fuhr Bismark fort:

„Mit diesem ‚dicken Daumer‘ war ich eines schönen Herbstmorgens in der Nähe von Frankfurt auch auf der Jagd gewesen. Als wir uns am Rande des Waldes hoch im Gebirge zur Rast niedersetzten, entdeckte ich zu meinem Schrecken, daß ich kein Frühstück mit hatte. Der ‚dicke Daumer‘ dagegen zog eine mächtige ‚Wurscht‘ hervor, die für mich allein gerade ausgereicht hätte und von der er mir edelmüthig die Hälfte offerirte. Das Mahl begann; ich sah das Ende meines Wursttheils herannahen. Ich hätte vor Wehmuth frankfurterisch reden mögen. Da frage ich den ‚dicken Daumer‘ von ungefähr: ‚Ach sage Sie mir, Herr Daumer, was is doch das Weiße da unne, was aus de Zwetschebaim herausschaut?‘

‚Gott, Exellenz, da möchte Eim ja der Appetit vergehn – das is der Kirchhof.‘

‚Aber, lieber Herr Daumer, da wollen wir uns doch bei Zeiten ein Plätzchen suchen, da muß sich’s wunderbar friedlich ruhen.‘

‚Nu, Exellenz, nu leg i awer die Wurscht weg.‘

Der dicke Daumer blieb bei diesem Entschlusse, und ich hatte mein ordentliches Frühstück.“ Ringsum anhaltende Heiterkeit.

„Warum sieht man Sie niemals mehr im Hause?“ frage ich einen der Thüringer, der als Staatsanwalt und Schöngeist einen gleich bedeutenden Ruf hat.

„Ich bin jetzt täglich im europäischen Charpie-Congreß.“

„Was ist das?“

„Ja, wissen Sie noch nicht, daß der Berliner Witz die internationale Vereinigung über die Behandlung und Verpflegung verwundeter Krieger also bezeichnet?“

Neben mir stehen zwei der größte Juristen der Welt im tief durchdachten Gespräch. Alle Viertelstunden wird ein Wort eines Paragraphen des zukünftigen norddeutschen Strafgesetzbuches fertig. Da tritt Braun-Wiesbaden dazu und hört das Problem der Aufhebung der Todesstrafe erörtern. „Heben Sie die Todesstrafe ruhig auf, meine Herren,“ sagt er.

„Ja, haben Sie ein Surrogat?“

„Ja, gewiß.“

„Nun?“ – – ruft die zünftige Jurisprudenz mit ungläubiger Spannung.

„Gott, lassen Sie den Delinquenten in die norddeutsche Gewerbeordnungscommission wählen.“

„Apropos,“ sagt der schlimme Hennig zum schlimmen Ziegler, der außer dem rothen Becker und dem trefflichen Löwe heute allein hier die Fortschrittspartei vertritt, „wissen Sie denn, warum unser Garten-Telegraph, der die Abgeordneten aus dem Reichstagspark zum Abstimmen ruft, heute eine Viertelstunde lang fortwährend klingelte, als gälte es dem Umsturz der Bundesverfassung oder einem Extrazug nach Bremen?“

„Nein.“

„Ja, der alte Patow war während seiner Rede von der Tribüne auf dem Drücker des Telegraphen eingeschlafen.“ Die beiden Bösewichte nahmen ruhig eine Prise.

Ihr nichtsnutzigen Collegen, die ihr Eure Mitmenschen so herabsetzt und Eure arge Freude nicht verhehlt an den boshaften Reichstagscaricaturen des Abgeordneten Blum, wenn er Blankenburg auf dem Veloeipede zeichnet, wie er ausruft: „Ich sehe keinen Stillstand – ich galoppire nach rechts!“ oder auf einem andern Blatte „Die Naturwunder der Gewerbeordnung!“ nämlich Grumbrecht und Wagener (Neustettin) als siamesische Zwillinge, verbunden durch das Band des Zunftzwangs, und von Blankenburg in der Wiege, auf dessen Rücken Miquel als „Schievel’sche Geburt“ sich entwickelte; oder „Ziegler’s Stellung zur Frage der Sonntagsarbeit,“ d. h. in tiefen Schlaf auf feinem Parlamentssitze versunken, oder noch einmal Grumbrecht „auf den Trümmern seiner durch die Aufhebung der Bürgerrechtsgelder zerstörten Vaterstadt.“

Seht Euch diesen Deutschen und Abgeordneten hier als Muster an! Seinen Namen werdet ihr freilich auf das erste Mal nicht aussprechen können, den er heißt Jan ten Doornkat-Koolmann, ist aus Norden in Ostfriesland und so bedeutender Genever-(Wachholder-)Branntweinfabrikant, daß sein Fabrikat unter dem Namen „Doornkat“ in die ganze Welt geht. Aber gleichwohl plaidirt er eben lebhaft für die Branntweinsteuer gegen den Zuckersieder und Melassenbrenner Sombart und einige schnarrende pommersche Branntweinjunker. Jetzt greift er nach seiner Fracktasche und die Gruppe zieht sich nach einer der Ecken, in denen in fünf Minuten Weltgeschichte gemacht wird. Doornkat, Doornkat, das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, daß Sie die Ginflasche, die Sie unsern blauen Montagskatern so freundlich im Hotel Schmelzer reichen, auch hierher mitnehmen, um sie gelegentlich als Bundesgenossen der Bismarck’schen Steuerpolitik aufmarschiren zu lassen. Bismarck kann zwar nach seiner eigenen Erklärung im Reichstag die Angemessenheit der Branntweinsteuer auch als Praktiker beurtheilen, denn er treibt neben seinen amtlichen Functionen auch die Branntweinbrennerei schon über zwanzig Jahre.

Da höre ich des Kanzlers Stimme wieder hinter mir. „Stoßen wir auf die alten Farben Blau-Roth-Gold der Hannovera in Göttingen an, Herr Corpsbruder!“ ruft er seinem alten Verbindungsbruder, dem Oberbürgermeister Fromme aus Lüneburg, zu. Und die beiden „alten Herren“ gedenken in einem vollen mit einem Zuge geleerten Glase Maiwein der schönen Jugendstunden. Schon damals antwortete Bismarck auf die Frage, was er studire: „Diplomatie.“ Er war damals ein äußerst schmächtiger, hoch aufgeschossener feiner Studio, mit keimendem Schnurrbart, berühmt durch seinen prachtvollen Neufundländer, weithin gefürchtet durch seine Klinge, mit der er schon als Fuchs sämmtliche Mitglieder eines feindlichen Corps abgeführt hatte. Freilich auch seine linke Wange giebt vernarbte Kunde von dem treulosen Wechsel des Waffenglücks. Der böse Feind, der ihm diese Quart „hineingebracht“, genießt sogar das Vertrauen eines Bruchteils der norddeutschen Bevölkerung in dem Maße, daß er in den constituirenden Reichstag gewählt ward. Als er hier Bismarck sich vorstellen ließ, rief dieser mit bezeichnendem Hinweis auf seinen „Schmiß“:

„Sind Sie der?“

„Ja wohl, Excellenz.“

„Aber das war doch ein Sauhieb.“

„Ja, Excellenz, das haben Sie schon damals gesagt, aber das Paukbuch beweist das Gegentheil.“

Die diplomatischen Studien von Göttingen haben sichtbarlich Früchte getragen. Schade, daß die vielfachen Geschäfte in seinem Amte als dreifacher Minister, Kanzler und Branntweinbrenner dem Grafen nicht verstatten, als Privatdocent der praktischen Diplomatie aufzutreten. Ich vermuthe, manch' ein Lehrstuhl der „praktischen“ und „theoretischen“ Politik in Deutschland würde eingehen. Die diplomatische Vorlesung, die der Graf an diesem Abend zum Besten gab, behandelte das Thema der „Blaubücher“, das er Tags zuvor, durch Lasker veranlaßt, schon im Reichstag besprochen hatte. „Wenn Sie absolut ein Blaubuch bei mir bestellen, werde ich versuchen im nächsten Jahre etwas Unschädliches zusammenzustellen,“ hatte er dort unter großer Heiterkeit des Hauses erklärt. Hier erläuterte er an einem schlagenden Beispiel den trügerischen Werth dieser Depeschensammlungen:

„Da kommt z. B. Lord Loftus (der englische Botschafter in Berlin) zu mir und fragt mich, ob ich geneigt sei, einen Privatbrief seines Ministers, Lord Clarendon, anzuhören. Er liest mir nun ein kleines eigenhändiges Manuscript des edlen Lords vor, wir unterhalten uns ungefähr eine Stunde darüber, und – nach fünf Tagen läßt er sich wieder melden. Diesmal hat er ein großes amtliches Schreiben des großbritannischen auswärtigen Amtes bei sich. Er fängt an zu lesen.

‚Bitte um Vergebung, Excellenz,‘ sage ich, ‚das haben Sie mir ja schon am Montag einmal vorgelesen.‘

‚Ja, aber jetzt soll die Depesche ins Blaubuch.‘

‚Da soll ich Ihnen nun wohl auch noch einmal dieselbe Antwort für Ihr Blaubuch geben?‘

‚Gewiß, wenn Ew. Excellenz nichts dagegen haben, wird dies gar nicht zu umgehen sein.‘

‚Na, da haben Sie die Antwort noch einmal.‘

Und nun brauche ich noch einmal eine Stunde, nur um des Blaubuchs willen, und dabei muß ich sehr oft dem Engländer noch sagen: ‚aber diese Stelle meiner Erklärung bringen Sie nicht in Ihr Blaubuch‘ – zum Beispiel die, daß ich das Blaubuch [318] überhaupt für ein sehr zeitraubendes und überflüssiges Institut ansehe.“

Doch bereits war es elf Uhr geworden, und in immer größerer Anzahl verabschiedeten sich die Gäste beim Kanzler. Auch ich reichte ihm die Hand zur Empfehlung. Er sagte Allen „auf Wiedersehen“. Der Saal hatte sich erheblich gelichtet. Die letzten Dialoge, denen ich auf meinen Etappen zum Rückzuge begegnete, waren der des Hamburger Hinrichsen, des hochgebildeten Vertreters seines heimathlichen Freihandels, mit dem Präsidenten des Bundeskanzleramts Delbrück, diesem, wie wenige, freisinnigen, klaren, liebenswürdigen preußischen Bureaukraten, wobei Hinrichsen die Segnungen des Entrepôtsystems mit großer Beredsamkeit enthüllte, während Delbrück seiner Miene nach den dereinstigen Zollanschluß Hamburgs nicht gerade als ein Unglück zu betrachten schien; – und dieser Gruppe gegenüber eine neugewählte Landratte im Zwiegespräch mit dem stets lächelnden Admiral Jachmann, diesem Seehelden an einem Glase Maitrank die Bewegungen der See und die Kriegstüchtigkeit der Minitors erläuternd. Der Waldmeister spielte die Rolle des Monitors mit Erfolg.

Vor den Gemächern der Gräfin Bismarck, wo unsere freundliche Wirthin mit ihrer Tochter und Verwandten im häuslichen Kreise saß, traten wir, uns verbeugend, vorüber und saßen eine Viertelstunde später im Hôtel Petersburg bei einem echten Schwechater in der „Exkneipe“.