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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


grüngestrichene runde Tisch, auf dem Germaines Buch und Handarbeit lag, war zwischen ihnen.

„So sprechen Sie, obgleich ich gerade heute am liebsten nur schweigend Ihnen gegenüber gesessen hätte. Es beruhigt mich so, wenn ich Ihren flinken Fingern zusehe, die hurtig den Faden durchziehen. Denn gerade heute haben mich gute Freunde halb todt gemacht. Der Philister zu Hause ist nicht uninteressant; man kann, wenn man ihn aus sich selbst ein bißchen mit hübschen Farben koloriert, ihm sogar poetische und humorvolle Seiten abgewinnen; aber der Philister auf Reisen ist entsetzlich,“ sagte Alfred seufzend.

„Nun dies Beruhigungsmittel kann ich wirken lassen, auch wenn ich spreche,“ meinte sie und wickelte ihre Stickerei auseinander.

Während sie den farbigen Wollfaden in die Nadel fädelte, begann sie schon in ihrer ruhigen, gleichmäßigen und doch nicht eintönigen Sprechweise:

„Sie wissen, daß ich schon zwei Tage nach Mamas Begräbniß Anzeigen in den verschiedenen Blättern ergehen ließ. Doch scheint es, als wenn niemand eine Pflegerin oder Gesellschafterin brauche, denn niemand hat sich gemeldet. Da meine Geldmittel nur noch für wenige Wochen reichen, so wäre ich dann vis-à-vis de rien oder auf die Gnade der Familie Thomas angewiesen, die anzurufen meine Mutter mir verbot. Ich würde mich also in einer vollkommen hilflosen Lage befinden. Deshalb, denke ich, muß ich meine Ansprüche niedriger stellen und einige Stufen gesellschaftlich hinuntersteigen. In einem Laden, als Verkäuferin, denke ich, sollte es nicht so schwer sein, Stellung zu finden, und es giebt doch sehr feine Geschäfte, wo ein armes Mädchen arbeiten kann, in aller Anständigkeit und Bescheidenheit. Freilich fühle ich wohl den Schritt fernab von allem, was bisher den Gewohnheiten meiner Erziehung entsprach, aber da ich eben darauf erzogen worden bin, einmal vielleicht eine gute Hausfrau zu werden, oder eine Dame, die in der Gesellschaft ihre Stellung einnehmen kann, nicht aber darauf, Geld zu verdienen, so muß ich eben aus meinem bisherigen Kreise treten, wenn ich leben will. Meiner armen Mutter ist aus meinem Mangel an einer lohnenden Berufskenntniß kein Vorwurf zu machen. Als das Unglück kam, als wir verarmten, war Mama schon so leidend, daß mit ihrer Pflege mein ganzer Tag ausgefüllt war. Mama hätte eben eine fremde Pflegerin nehmen und mich in eine Lehre schicken müssen, und das – nein, das wäre zu hart für sie gewesen, die niemand hatte als mich.“

Alfred hörte ihrer Rede mit wachsendem Unbehagen zu.

„Niemals“, sagte er bestimmt, „gebe ich einen solchen Schritt zu. Sie werden eine Stellung finden, wo Sie keinen äußersten Demüthigungen ausgesetzt sind. Quälen Sie sich nicht über das ‚Wann‘. Ich bin da, im Namen meines Vaters für Sie zu sorgen. Ich werde Ihre Pension hier im Hause bezahlen, bis Sie eine Stelle finden.“

Germaine lächelte ein wenig, wie zu dem überspannten Einfall eines lieben Menschen.

„Ueber diesen Vorschlag hin und her zu reden,“ sprach sie, „ist vollkommen überflüssig. Seine Annahme ist aus äußeren Gründen unmöglich. Aber wenn diese äußerlichen Gründe auch nicht beständen, so giebt es noch innerliche, die mir verbieten, mich auf die Güte eines Freundes anstatt auf meine eigene Kraft zu verlassen. Ich bin gesund, ich bin jung, ich bin an angestrengte Thätigkeit gewöhnt, denn der Zustand meiner armen Mama erforderte Tag und Nacht Aufmerksamkeit, Handreichungen, Beschäftigungen jeder Art. Bald mußte man ihr Speisen bereiten, deren Zusammensetzung peinlich genau vorgeschrieben war, bald die fast Gelähmte umbetten, bald ihr vorlesen, bald ihr Gewänder und Kissen anfertigen, von denen sie sich für ihre Lage mehr Bequemlichkeit versprach. Und nun mit einemmal habe ich gar nichts zu thun! In den ersten Tagen fühlte ich wohl, wie überangestrengt ich gewesen war und wie gut mir das Ausruhen that. Aber nur in den ersten Tagen. Nun ertrage ich es täglich weniger, ein so pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung zu sein. Ich habe Arbeitskräfte, und wer solche besitzt und sie nicht ausübt, begeht beinahe eine Unsittlichkeit. Habe ich recht?“

Alfred war von ihrer Rede in eine so nachdenkliche Bestürzung versetzt, daß er kaum antworten konnte.

„Aber das Leben bringt doch auch Feier- oder Ruhewochen, die man genießen darf!“ sagte er.

„So?“ fragte sie, ihn liebevoll ansehend, „und Sie – genießen Sie denn Ihre Ruhewochen, die sich zu machen Sie doch sicherlich herkamen? Weiß ich nicht von Ihnen selbst, daß Sie täglich mehrere Stunden an der Uebersetzung eines philosophischen Werkes angestrengt arbeiten?“

„Ich? Mein Gott, sprechen wir nicht von mir!“ bat Alfred. Ihm war es, als fasse ihn ein Schwindel. Wenn dies Mädchen wüßte, daß er auch eigentlich „ein pflichtenloser Mensch ohne geregelte Zeiteintheilung“ war, und daß er nur jetzt so schaffte, weil eine, eine gesagt hatte … o, nur nicht daran denken!

(Fortsetzung folgt.)




Eine zweischneidige Tugend.

Von W. Sonntag.

Was ist Höflichkeit? Vielleicht sagt es uns der Wiener Hauswirth, von dem einmal die Zeitungen erzählten. Er war mit einem seiner Miether in Streit gerathen und hatte sich in der Aufregung einige unfeine Ausdrücke entschlüpfen lassen.

„Hören S’,“ ruft ihm der Miether zu, „Sie könnten a bissel höflicher mit mir reden!“

„Was?“ erwidert der Wirth, „höflich? Ich mit Ihnen? Mit Ihnen brauch’ ich gar nicht höflich zu sein. Wenn ich mit Ihnen höflich bin, so ist das überhaupt a bloße Artigkeit von mir!“ – Nein, der biedere Wiener kann uns nicht sagen, was Höflichkeit ist.

Das Wort verweist uns an die Sitte und den Anstand eines fürstlichen Hofes. Allein ohne Zweifel gab es eine Höflichkeit, ehe es einen fürstlichen Hof gab: die Höflichkeit ist älter als die Höflichkeit, die Sache älter als das Wort. Immerhin aber bringt uns der Anklang an Hof, höfisches Wesen, höfische Sitte auf die richtige Fährte. Weil die Fürstenhöfe vorzugsweise die Stätten gewählter Umgangsformen waren, übertrug man die Bezeichnung „Höflichkeit“ auf alles, was mit dem Anstande und der Förmlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs zusammenhing. Alle Völker und Zeiten haben die Höflichkeit gekannt, alle Sprachen haben Namen dafür. Dieser Allgemeinheit gemäß hat die Höflichkeit ihre Geschichte, ihre Ueberlieferungen, ihre Moden, ihre Gesetze. Sie ist ein wesentliches Stück der menschlichen Kultur und der Geschichte dieser Kultur.

An erster Stelle gehören in das Kapitel von der Höflichkeit die Grußformen. Auf diesem Gebiete herrscht eine unabsehbare Mannigfaltigkeit. Wir wünschen uns einen „guten Morgen“ und „guten Tag“, die Rheinländer zum Ueberfluß noch einen „guten Nachmittag“. Männer berühren die Kopfbedeckung oder ziehen den Hut, kleine Mädchen knixen, Damen verneigen sich. Im Vorbeigehen rufen wir einander zu. „Wie geht’s?“ Wir bleiben bei einem Bekannten einen Augenblick stehen und wechseln kurze Rede und Gegenrede. „Haben Sie Ihren Reis gegessen?“ erkundigt sich der Chinese bei seinem bezopften Bruder. Je nach den Verhältnissen, in denen wir uns befinden, sagen wir: „Ich habe die Ehre“, „ergebenster Diener“, „ich empfehle mich Ihnen“. Viele dieser Formen und Formeln haben durch die tägliche Uebung etwas Mechanisches, Gedankenloses, um nicht zu sagen Automatenhaftes angenommen. Studenten und jüngere Offiziere haben das Vorrecht, den abgekürzten Gruß „guten Morgen“ noch zu verkürzen und zu allen Tages- und Nachtzeiten einander ihr „Moi’n! Moi’n!“ zuzurufen.

Die Anreden und Zeichen des Grußes drücken Ehrfurcht, Vertraulichkeit, Theilnahme aus. Am elegantesten sind in diesen Aeußerungen die Franzosen, am possirlichsten die Chinesen, am umständlichsten die Morgenländer. Wie unsere Bildung überhaupt aus dem Osten gekommen ist, so sind ohne Zweifel auch die meisten unserer Begrüßungsformen aus dem Orient zu uns gelangt, nur daß wir ihnen das Unterwürfige, Kriechende, Knechtische, das ihnen dort eigen ist, zum Theil abgestreift haben. Siebenmal verneigt sich Jakob vor seinem Bruder Esau, wobei nicht zu vergessen ist, daß einige dieser sieben Verbeugungen auf Rechnung seines

bösen Gewissens kommen, da er kurz zuvor den Esau um sein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_330.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2021)