Zu Fuß um die Erde/Das Kloster des Chanbo-Lama am Gänsesee
Zu Fuß um die Erde.[1]
Noch auf russischem Gebiete, etwa hundert Kilometer von der
mongolischen Grenze entfernt, am Nordrande der etwa
700 m über dem Meeresspiegel belegenen Sselenginskischen
Hochebene, befindet sich der Gänsesee (Gussinoje osero). Nur nach
Nordosten wird er von einem terrassenförmig zu ihm abfallenden Ausläufer
des Chamar-Daban begrenzt, weist aber sonst so flache
Ufer auf, daß man sie füglich mit einer Tischplatte vergleichen
könnte. Eine ebene Steppe dehnt sich auf eine weite Entfernung
von den Südufern des Sees zur mongolischen Grenze aus und
diese mußte mir ja ein günstiges Terrain zu meinem Marsche
nach China bieten, also bedachte ich mich nicht lange, schwenkte
bei Udungá von der Kiachtaschen „Kaufmannsstraße“ nach links
ab, überstieg den 1300 m hohen Murtey und befand mich auf
dem Wege zum einsam am Seegestade daliegenden Lamaïtenkloster.
Es zog mich unsagbar dorthin, ich mußte den Sitz des
Chanbo-Lama, des Obergeistlichen aller Lamaïten Sibiriens,
mir ansehen.
Namtoy-Srat’-Zybakow, der augenblickliche Bandido-Chanbo-Lama oder Obergeistliche aller heidnischer Buriäten Sibiriens, steht unter direkter Vormundschaft des Kutuchtá in Urga, wenngleich er nicht von diesem, sondern vom russischen Kaiser durch ein besonderes Reskript im Amte bestätigt wird. Er gehört in die Zahl der sogenannten Gygeny: hohen Geistlichen. Nicht wie der Kutuchtá, oder vom Volke schlechtweg Bogdo-Lama genannte „Heilige“ in Urga, zählt er zu den Unsterblichen, deren Seele aus dem hinfällig werdenden Leibe stets in einen neugeborenen Säugling übergeht; sondern er ist ein gewöhnlicher Priester, und doch umgiebt ihn und seinen Wohnort alles das, was das Lamaïtentum so interessant werden läßt. Das also selbst kennenzulernen, war mein Ziel, daher „stiefelte“ ich munter „drauf los“ …..
Schon lange hatte der sibirische Urwald sich zu lichten begonnen und nur noch der kalte Herbstregen, der Gefährte all meiner letzten Wandertage, begleitete mich auch heute. Wie es mir um die Ohren pfiff, wie die Regentropfen mir ins Gesicht schlugen, als ich, aus einem Lärchenwäldchen tretend, die höchste Spitze des Murtey erreichte!
Vor mir zur Linken sah ich einen „Ombé“, als erstes Anzeichen des mir Bevorstehenden; auf ihn marschierte ich zu, und hier, auf jenem roh zusammengeschichteten Steinhaufen, wo die Opfer der Wanderer, kleine Stückchen Brot oder Zucker, kleine Zeugläppchen etc., umherlagen, sah ich eine mit mongolischen Schriftzeichen bedeckte Steinplatte und unter ihnen mit russischen Buchstaben die Worte: „Herr, erbarme Dich!“ eingegraben. Warum berührten mich diese Worte so eigentümlich? Ich blieb stehen und mußte nachdenken …..
Noch als unsere Vorfahren, die alten Germanen, heute das erste Volk der Welt, in rohen, finsteren Sitten fortlebten, als der Norden Europas noch keine Ahnung von dem ihm in weiter, weiter Ferne winkenden Kreuze zu Golgatha hatte, dämmerte nicht damals schon der rosige Morgen einer kommenden glücklicheren Zeit im fernen Indien auf? ….
Schikitmunni predigte eine neue Religion, von der Assoki d. Gr. später sagen konnte: „Eine prächtige Religion, sie schließt in sich den Begriff, nach Vermögen dem Bösen auszuweichen, viel Gutes zu stiften, sich Mitgefühl, Gnade, Gerechtigkeit und ein reines Leben zur Vorschrift zu machen.“
Dreihundert Jahre vor Christus hatte jener indische König das zu sagen vermocht, von Humanität durchdrungen, war er bestrebt gewesen, der Buddhalehre eine sichere Grundlage zu geben, dann kam im 14. Jahrhundert der Reformator Tsonchawá, schuf ein unnützes Ceremoniell, brachte Hierarchie und Disziplin in jenen Glauben, machte aus der Buddhalehre den Lamaïsmus, und was blieb noch? – Farbenprächtige Priestergewänder, Paukenklänge und Hornmusik während der „Churale“ (feierlichen Gebete), das scheint alles zu sein! So habe auch ich gedacht, so lange ich nicht persönlich mit Lamas verkehrte, so lange ich nicht das Seelenleben des schmutzigen, heidnischen Buriäten kennenlernte! Doch davon später, jetzt zu meinem Besuche des Klosters!
Immer regnete es noch in Strömen, als ich vom Gebirge zur Ebene hinabstieg. Links und rechts hatten sich Wasserlachen gebildet, auf welchen sich zahlreiche wilde Schwäne, Gänse und Enten während ihres Zuges nach dem Süden zur Ruhe niedergelassen hatten; allein das Lamaïtentum verbietet ja, einen Vogel zu töten, und daher wollte ich dieses Recht der geflügelten Reisenden nicht schmälern: ich senkte meine auf einen prächtigen Schwan gerichtete Büchse. Endlich langte ich am Dotzan (Kloster) an und stand vor dem recht stattlichen Tempel.
Trotz des Regens unterließ ich es nicht, einen Blick auf dieses von über zweihundert kleinen Holzhäuschen umgebene Gebäude (vgl. Abbildung S. 273) zu werfen, das, in seinen unteren Teilen [270] streng im schlichten tibetanischen Stil gehalten, nur durch sechs schlanke Säulen an der Hauptfront und seine chinesische Ueberdachung ein prunkvolleres Gepräge erhielt. Mehrere an ihm angebrachte melodische Metallglocken verursachten eine eigentümliche Musik; das über der ersten Galerie angebrachte Symbol der Buddhalehre, das „Churdé“, und die beiden „Tschalzans“ nebst dem „Handshir“ auf dem Dachfirste leuchteten bei ihrer reichen Vergoldung, trotz des Regens, weit in die Ferne hinaus. Was bedeuten diese Wahrzeichen?
Als der Buddha Schikitmunni sich in Baneres aufhielt, brachte ihm einer seiner Schüler ein goldenes Rad mit hundert Speichen und bat um ein Gebet, damit die Buddhalehre ebenso ausstrahlen möge, wie die Speichen des Rades nach allen Seiten hinweisen. Als der Buddha betete, kamen zwölf goldene Gazellen aus dem Walde, knieten vor dem Rade nieder und beteten mit. „Man muß glauben, weil ein unvernünftiges Tier es gethan,“ heißt es zum Schlüsse jener Ueberlieferung. Rad und Gazellen sind seitdem das Symbol des Buddhismus. „Tschalzan“ heißt „Zeichen des Sieges“, es ist ein Cylinder, gefüllt mit auf Papier geschriebenen Gebeten; „Handshir“ („voll Schätze“) ist eine umgestülpte Vase, welche denselben Zweck erfüllt. Erst nachdem ich das alles in Augenschein genommen, wandte ich mich dem Hause des Kanzleiverwalters zu, an den ich eine Empfehlung besaß. Allein ich fand ihn nicht zu Hause.
Nun stand ich bei strömendem Regen, angesichts von zweihundert leeren Wohnhäusern, faktisch „auf der Straße“, denn da die meisten Lamas kein Russisch sprechen, zum mindesten die mir zur Verfügung stehende Empfehlung nicht lesen konnten, so war ich unrettbar ihrem Mißtrauen preisgegeben. Endlich, nach längerem Hin- und Herreden, erbarmte sich meiner ein etatmäßiger Lama, und vor mir hergehend, führte er mich nach seinem Privathause, welches er eigens zur Aufnahme von Besuch erbaut hatte, woselbst er mich bestens aufnahm. Fast alle die zweihundert Häuschen in der Umgebung des Klosters sind Eigentum der zu den Festlichkeiten eintreffenden Buriäten, nur zehn von ihnen gehören Mönchen.
Wie der nicht hoch, aber stämmig gewachsene Greis in seinem gelben, faltigen Gewande, mit der roten Schärpe über der linken Schulter, vor mir herschritt, seinen kurzgeschorenen Kopf ohne Umhüllung dem eiskalten Regen preisgebend, da mußte ich lebhaft an die Zeit der alten Griechen zurückdenken; genau so wie einer ihrer Priester kam mir mein Wirt vor. In dem aus zwei Zimmern bestehenden Häuschen wurde mir ein reichliches Abendbrot vorgesetzt, dann erhielt ich die Weisung, in Gegenwart des in einem Glasschranke dastehenden Götzen „Maidari“ keinen Tabak zu rauchen, und man ließ mich allein. Trotzdem das Quartier ungeheizt, ich aber naß zum Ausquetschen war, schlief ich vorzüglich, eingehüllt in mehrere Priestergewänder und vor dem Glasschrank auf dem Boden liegend. Dazu hatte ich die Erlaubnis erhalten. So war die Nacht dahingegangen und endlich der Zeitpunkt da, wo ich zum erstenmal im Leben einen Heidentempel betreten sollte.
Nach einer Verfügung der russischen Regierung hat die lamaitische Geistlichkeit in Sibirien aus dem Bandido Chanbo-Lama, also dem Obergeistlichen, aus 34 Klostervorstehern, 216 Lamas und 34 Schülern zu bestehen. Ein großer Teil derselben hält sich im Dotzan am Gänsesee auf. Zu jeder Tageszeit kann man mindestens zwei Priester im Tempel antreffen.
Jeder zum Lama erhobene Gläubige leistet das Gelübde, nie in den Ehestand zu treten, er darf weder Tabak rauchen (wohl aber schnupfen), noch geistige Getränke zu sich nehmen, und soll sich überhaupt in Duldsamkeit und Nächstenliebe üben. Letztere beiden Eigenschaften habe ich durchweg geradezu bis zu einer idealen Vollkommenheit ausgebildet angetroffen. Man hatte mich mit Mißtrauen begrüßt, das auch noch lange nicht gewichen schien, aber keiner meiner Wünsche blieb unberücksichtigt.
Von meinem Wirt und einem Dolmetscher wurde ich in den Tempel geleitet. Wir passierten den durch einen hohen, roten Zaun abgegrenzten Tempelhof, der nach Norden, Süden, Osten und Westen vier Thore aufweist. Von dort stiegen wir einige Stufen zum säulengeschmückten Vestibül empor, auf dem zwei aus Holz gefertigte, abscheulich ausschauende Figuren, die einen Tiger und einen Löwen vorstellten, die drei Eingänge bewachten. Durch den mittleren derselben traten wir ein.
Im prächtig dekorierten, durch 25 feuerrote Säulen geschmückten Saale, der zahlreiche parallel mit den Ost- und Westwänden hinlaufende mit flachen, farbigen Sitzkissen versehene Pritschen aufwies, waren etwa ein Dutzend Lamas und ebensoviele Schüler versammelt, die unter lautem Getöse von Pauken und Metallbecken ihre gottesdienstlichen Handlungen ausübten. Alle hatten ihre „Nom“ (Gebete) vor sich und mit näselnder Stimme sangen sie dieselben vor sich her. Ich trat schüchtern vor, allein eine wohlwollende Handbewegung des Lamas benahm sofort jenes Gefühl. Er führte mich überall umher, ja selbst hinter die Barriere, wo in einer langen Reihe die Götzen aufgestellt waren, durfte ich treten.
Den Hauptplatz unter allen Götzen nahm der Burchan „Maidr“ oder „Maidari“, wie die Buriäten ihn nennen, ein, der von Schikitmunni, nach dessen Lehren im Tuschit (Himmel) zurückgelassen wurde, als jener zur Erde herabstieg. Er krönte ihn zuvor mit einem heiligen Kopfschmuck, in dem er auch hier abgebildet war. Im „Maidari“ verehrt der Lamaismus den zukünftigen Weltbeherrscher.
Im Antlitz stets gelb oder in Gold und Bronze prangend, dabei in allen Nachbildungen, die mir zu Gesicht gekommen sind, ein ganz eigentümliches Lächeln zur Schau tragend, bietet er sich dar – bald klein und handlich geformt, bald zu einem Koloß aufgebaut, der ein ganz besonderes Gebäude für sich beansprucht. So gab es auch hier hinter dem Haupttempel einen besonderen Pavillon, wo der Gott Maidari auf einem von Scheusalen getragenen Thron in einer Höhe von mindestens 35 bis 40 Fuß abgebildet saß. Vor dieser aus Cedernholz gefertigten und mit wohlriechenden Gräsern gefüllten Statue wird kein besonderer Gottesdienst abgehalten; dem Maidari dient man im Tempel sowie in zwei besonderen Festlichkeiten, welche unter freiem Himmel abgehalten werden. Dieselben bestehen in einem großen Umzug des Götzenbildes auf einem eigentümlichen Prunkwagen und in der einige Wochen später folgenden Ceremonie „Tsamm“, einem Maskentanze.
Die Vorbereitungen zum Umzug der Statue beginnen schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Festtag. Erstens gilt es ja, zahlreiche Gäste aufzunehmen, an welche zuvor Einladungen erlassen werden, dann wird der Wagen in Ordnung gebracht, neu angestrichen, und auch das große gleichfalls auf Rädern stehende Pferd vor demselben erhält ein neues grasgrünes Gewand. Sonstige noch vorhandene Pferde sind von Privatpersonen gestiftet.
Der Wagen ist von allen Seiten mit Gittern umgeben, in deren Mitte nachher ein Bildnis des Götzen Aufstellung findet, die Räder sind rot, das übrige gelb, blau, rot und grün angestrichen; das Ganze wirkt außerordentlich originell und durchaus nicht unschön, um so mehr, als große Mengen prächtigen Seidenzeuges beim Ausschmuck Verwendung finden. (Vergl. die Abb. S. 269.)
Am festgesetzten Tage[2] beginnt unter Trompeten-, Pauken- und Metallbeckenmusik der Gottesdienst im Tempel schon um fünf Uhr morgens, worauf gegen Sechs sich alle Einwohner des Klosters nebst einer großen Zuschauermenge auf dem Hofe einfinden. Die Klostergeistlichen haben sich nach Rang und Ordnung aufgestellt. Die Prozession eröffnet der Bandido-Chanbo-Lama mit zwei bis drei Assistenten, indem er eigenhändig eine Statue des Maidari trägt und sie auf den Wagen setzt, worauf weitere Lamas fünf Bände der heiligen Schrift über jenen Götzen herbeitragen und nebst ihnen wohlriechende Lichter, Räucherfäßchen, Blumen etc. zum Bildnis legen. Dann beginnt der Marsch.
Voraus gehen zwei Lamas mit zusammengewickelten Pantherfellen in den Händen, mit denen sie um sich schlagend das zudringliche Volk abwehren, und in dieser Pflicht werden sie durch zahlreiche Kollegen mit Peitschen in den Fäusten unterstützt. Dann kommen zwei Mönche, die auf großen Seemuscheln blasen, dann solche mit anderen Musikinstrumenten, die einen Höllenlärm verursachen, und dem gelben Schirm des Maidari, dann Wagen und Pferd, die von Lamas gezogen werden, und schließlich Hunderte von angereisten Geistlichen, die alle bemüht sind, nach Möglichkeit viel Spektakel zu machen. Hohe Geistliche werden in Sänften getragen.
[271] Auf dem Klosterhofe bleibt man stehen und betet: „Maidari als Befehlshaber aller siegreichen Buddhas möge seine Anbeter fähig werden lassen, sich an der Größe seiner Lehren zu ergötzen, wenn sie die Betmühle drehen etc.“ Die Lamaïten benutzen verschiedene Bet-Automaten; es werden entweder Wind- oder Wassermühlen verwandt, arme Leute lassen über ihren Häusern Flaggen, bedruckt mit Gebeten, sogenannte „Chij-morin“ (chij heißt Wind, morin Pferd), wehen und Wohlhabende sind sogar neuerdings darauf verfallen, ihre Betmaschine durch Uhrwerke in Bewegung zu erhalten.
Nach obigem Gebete wird der Wagen des Maidari zuerst zur Nord-, dann zur Westpforte des Tempelhofes gefahren. Nun erholen sich die Lamas und speisen, worauf man zur Süd- und Ostpforte sich begiebt und schließlich wieder am Tempeleingange ankommt, womit die Feierlichkeit ihr Ende erreicht.
Das andere Fest, der „Tsamm“, besteht in einem pantomimischen Tanze der als Dokschiten (böse Götter) verkleideten Lamas. Auch hier dauern die Vorbereitungen etwa zwei Wochen, denn es müssen alte Masken ausgebessert, neue angeschafft und Gäste eingeladen werden. Dann haben aber auch die Lamas die Aufgabe, im Traume zu sehen, wie sie sich maskieren und wie sie tanzen sollen, um den betreffenden Gott getreulich kopieren zu können. Auch der „Tsamm“, den wir auf S. 273 im Bilde wiedergeben, wird nur im Klosterhofe gefeiert.
Zunächst wird derselbe gründlich gesäubert, dann wird dem Eingänge zum Tempel gerade gegenüber auf vier Säulen ein Baldachin aus Seide errichtet, der in blau-rot-gelb prangt. Ueber den vier Ecken dieses Zeltes, in das die Opfergaben zu bringen sind, wehen Fahnen. Das ist der Mittelpunkt der Feierlichkeit. Nun werden um das Zelt herum durch ausgestreutes Mehl oder pulverisierte Kreide mehrere Kreise gezogen, und zwar zunächst zwei Kreise, in denen die Dokschiten, und dann weiter gleichfalls zwei, in denen die Schanaken (nicht verkleidete Personen) tanzen; dann markiert man in derselben Weise einen Weg bis zum Tempeleingange und in seiner halben Länge noch einen Kreis, in dessen Grenzen sich die Masken während der Ruhepausen aufhalten. Das Tischchen, auf welches unter dem genannten Baldachin die Opfergaben gestellt werden, wird vorher mit einem Pantherfell und dann mit einem seidenen Tuche bedeckt.
Der Gottesdienst hat um Fünf unter dem üblichen Lärm aller vorhandenen Musikinstrumente begonnen, um Sieben ist er beendet, und bis zehn Uhr erholen sich alle Teilnehmer an demselben oder bringen ihre Maskenanzüge in Ordnung. Letztere sind stets aus prachtvollem Seidenzeuge gefertigt, meistens ist es einfarbiger Atlas, aus dem sie bestehen. Sie sind sehr breit, namentlich die Aermel, denn es heißt ja, daß die Dokschiten in ihren Händen Pfeil und Bogen verborgen halten, um die Feinde der Religion zu vernichten. Die Kopfmasken bestehen aus Papiermaché und sind in Form und Farbe genau dem Götzen, den sie darstellen, nachgebildet; man sieht verzerrte Menschengesichter, Köpfe von Löwen, Ochsen, Elefanten etc. Auf einigen Masken unserer Abbildungen (S. 272 und 273) sind fünf Totenköpfe, das Zeichen eines der Dokschiten, sichtbar.
Die aktiven Festteilnehmer kommen aus dem Tempel – voran mehrere Lamas in ihrer prächtigen gelben Kleidung mit der feuerroten Schärpe über der Schulter, Lampions in den Händen tragend, ihnen folgen Amtsbrüder mit Räuchergefäßen, Musikinstrumenten etc. Alle haben sich in gebührender Ordnung aufgestellt und nun beginnt die Musik, worauf die beiden ersten Masken erscheinen. Es sind zwei in enganschließende, weiße Kleider gehüllte Gestalten mit Totenköpfen als Maske und Stäben in der Hand, man nennt sie „Dürtott“. Ferner erscheint ein als Rabe verkleideter Mönch, „Chré“ genannt.
Das Opfer „Ssor“ liegt noch nicht auf dem Tischchen inmitten der Kreise, sondern ist irgendwo im Hofe aufgestellt. Der Rabe stürzt sich auf dasselbe, um es zu stehlen, während die beiden Dürtott bestrebt sind, ihn von dort mit Hilfe ihrer Stäbe zu vertreiben. Dieser einige Zeit währende Kampf ist die Einleitung zu der eigentlichen Handlung der Pantomime.
Ein stattlicher Lama erscheint mit zwei heiligen Gefäßen: dem Gabalu und dem Mandal in Händen; in ersterem befindet sich Blut, in letzterem Getreide, und unter einem lauten Aufschrei schüttet er den Mandal über dem Gabalu aus. Dann wird das Opfer unter den seidenen Baldachin getragen und im selben Augenblick beginnen die Totenköpfe einen wilden Tanz um dasselbe, werfen ihre Knüttel in die Luft und fangen sie wiederum auf, verrenken ihre Glieder etc., laufen sechsmal um die Opfergabe und bleiben schließlich neben derselben stehen. Ihre Rolle ist zu Ende gespielt, nur von Zeit zu Zeit sieht man sie noch den gefräßigen „Chrévogel“ davonjagen.
Wieder steigert sich die Musik zu einem Höllenspektakel, es erscheinen zwei imitierte Einwohner des Hindostan, gewöhnliche, allerdings braungefärbte Menschengesichter, doch karikaturenhaft verzerrt. Auch ihre Kleidung ist braun. Ihre Aufgabe besteht eigentlich nur darin, dem ihnen folgenden Fürsten, Tschakrawarting-Chan, ehrerbietig entgegenzugehen, im übrigen jedoch stürzen sie sich auch mitunter unerwartet auf das zuschauende Volk, was viel Heiterkeit erregt. Nun folgt der letzgenannte mit Gemahlin und Sohn, hinter der ehrwürdigen Familie laufen zwei kleine Trabanten mit entblößten Schwertern auf den Schultern einher. Auch diese Herrschaften spielen keine glänzende Rolle, nur werden sie – wie schon gesagt – von den beiden Hindus begrüßt, wobei man ihnen Blumen auf den Weg streut, und dann zu einem Diwan geleitet, wo sie sich gemütlich hinpflanzen. Ihre Trabanten stellen sich zu beiden Seiten auf.
Ein lautes Blasen auf Seemuschelhörnern lockt nun noch eine Familie hervor, und zwar Hasching-Chan mit sechs Söhnen, von denen der ältere stets um einen Fingerbreit größer ist als sein jüngerer Bruder. Alle tragen Musikinstrumente, Glocken, Tamtams, Metallbecken, in Händen. Von Hasching-Chan meldet die Ueberlieferung, daß er einst jeden vorüberziehenden Buddha besonders herzlich aufnahm, daher ihm hier der Zutritt freigestellt ist. Auch diese musikalische Familie verhält sich mehr passiv zur Festlichkeit, ihre verzerrten Mongolenmasken aber wirken außerordentlich komisch ihres bodenlos gutmütigdummen Ausdrucks halber.
Kaum haben diese Ankömmlinge sich gleichfalls gesetzt, so folgt ein heftiges Dröhnen auf zwei Metallbecken und es erscheinen zwei dunkelgelbe, zwei braune, zwei blaue und zwei grüne abscheuliche Maskenfratzen, denen Mehl auf den Weg gestreut wird und die längere Zeit plump umherhüpfen. Sie bleiben so lange in Thätigkeit, bis zwei Schamas (Zauberer), der eine mit einem Kuh-, der andere mit einem Hirschkopf, den Tempel verlassen und, nachdem ihnen Blut auf den Weg gegossen worden ist, sie im Tanzen ablösen. Nun folgen sich die übrigen Masken ziemlich rasch aufeinander.
Es erscheint Otschir-Wani, mit einer Schlinge in der Hand, mit der er die Feinde der Religion fängt, dann der Gonbo mit schwarzem Gesicht, hernach Hlamá mit seiner blauen Menschenmaske, der Löwenkopf Sengey-don-shan und der ein mythisches Ungeheuer darstellende Tschus-rin-don-shan, Namsarai mit einem Netze in der Hand, Gonbo-Guru mit den acht Assistenten des Tschamssaran und schließlich dieser selbst: die schrecklichste Maske, die es geben kann. Er besitzt zwar ein Menschenantlitz, doch unsagbar verstümmelt, in der einen Hand hält er ein feuriges Schwert, in der anderen ein blutiges Herz. Ganze Ströme von Blut hat man vor ihm ausgegossen, in den Reihen der Zuschauer regt sich ein Gefühl des Grauens.
Der Tanz aller genannten Persönlichkeiten ist schwerfällig und träge, sie nutzen die Geduld der Zuschauer nach Möglichkeit aus und daher ist eine heitere Abwechslung nötig. Dieselbe wird bewirkt, indem Tsagan-Ebugèna, jener famose Greis mit dem ungeheueren Kopf, dem weißen Schlafrock und langen Bart, erscheint. Er schreitet nicht wie andere Darsteller gravitätisch einher, sondern wird, in einen großen Teppich gehüllt, auf den Schauplatz getragen. Nachdem er einige Zeit regungslos gelegen, erhebt er sich, ordnet seinen Schnurrbart und die Augenbrauen, hält die Hand über die Augen und sieht sich die Gesellschaft an, geht bald auf eine, bald auf die andere Seite, dann giebt man ihm einen ordentlichen Branntwein und nun „legt er los“, daß die Hacken in der Luft blinken! Er tanzt wie ein schwer Bezechter, bis er vor Müdigkeit hinstürzt. Einige Zeit liegt er still da, dann marschiert er langsam aus dem Kreise hervor, setzt sich auf den Boden und beginnt ein Schafsfell zu krauen. Ein fröhliches Gelächter hat sein Auftreten begleitet. Auch bei diesen religiösen Tänzen geht es also nicht ohne Hanswurst ab.
[272] Nun erscheinen noch 32 Darsteller: die Schanaken (nichtverkleidete Lamas) und endlich, zum Schluß der Feier, Tschoitschshila mit einem großen blauen Ochsenkopfe, der, während sich alle übrigen zurückziehen, allein auf der Scene zurückbleibt und dem letzten Akte: der Zertrümmerung der Figur des Linká, (symbolische Figur) beiwohnt. Dann folgt ein Schluß-„Chural“: ein feierliches Gebet. – – –
Doch kehren wir zurück in den Tempel!
„Maidari“, der zukünftige Weltbeherrscher, der zweite Buddha aus der Zahl der tausend buddhistischen Weltregierer, der Gelbleibige, nach dem man den Lamaismus auch die „gelbe Religion“ nennt, war im Tempel am Gänsesee zur Zeit meines Besuches mehrfach und in verschiedener Größe vertreten.
Im ganzen waren über 40 Götzenbilder – einige doppelt – im Tempel vorhanden, wozu noch einige Modelle des „Tuschit“ (Himmelreiches) in Form von Häuschen, das Bildnis des Reformators Tsonchawá und mehrere andere heilige Abbildungen hinzugerechnet werden müssen. Ueberall, der ganzen Götzenreihe entlang, standen in kleinen blanken Schälchen Opfergaben: Quellwasser, Getreide, Fett, Butter, Naschwerk etc., umher, zwischen welchen Gegenständen Pauken, Trommeln, Becken, Trompeten und Glocken, die Attribute des Gottesdienstes, aufgestellt waren. Da außerdem die Götzen teilweise in Seidenzeug der eigentümlichsten und buntesten Färbung gehüllt waren, so daß nur ihre Fratzen hervorsahen, und außerdem überall der Rauch von wohlriechenden Kerzen und Räucherstäbchen emporstieg, so erhielt das Ganze einen auf Nichtgewöhnte überwältigend wirkenden Eindruck. Nichts Feierliches war eigentlich vorhanden, nur die grelle Buntheit, der Höllenlärm um mich her, sie waren die effektschaffenden Mittel, die auf den schlichten, biederen und auf so niedriger Kulturstufe stehenden Buriäten besonders kräftig einwirken müssen.
Ein verhängter Glasschrank, der sich durch die Freundlichkeit meines Gastgebers vor mir erschloß, enthielt den Genius: die Beschützerin des Klosters Ochin-Tengri, eine fratzenhafte Frauengestalt zu Pferde, die in der einen Hand ein Kind, in der anderen als Schale (Gabalu) den Schädel eines Menschen hielt. Vor dieser Gestalt waren besonders viele Opfergaben und wohlriechende Räucherstäbchen aufgestellt.
Wir traten hinter der Barriere, welche die Götzen gegen den Tempelraum abschließt, hervor, und nun fiel mein Blick auf zahlreiche, von der Decke und den Wänden herabhängende, prachtvoll in Seide gestickte Verzierungen, welche, von Privatpersonen gestiftet, einen wahrhaften Schmuck bildeten. Entweder waren es riesenhafte, 15 bis 20 Fuß lange, in den buntesten Farben prangende Cylinder, die, obgleich sie keine Gebete enthielten, gleichfalls „Tschalzan“ genannt wurden, oder es waren flaggenartige Seidenstücke, die senkrecht herabhingen und oben durch einen nachgebildeten Fischkopf gehalten wurden. Auch buntfarbige Schnüre mit den kunstvollsten Knoten in ihnen, sogenannte Schemá, auf Seide gestickte Wirtschaftsgeräte und Reiseutensilien hingen überall herab, eine schreiend bunte Dekoration abgebend.
Im vorgenannten besonderen Pavillon des Maidari öffneten sich vor mir noch acht Schränke, in denen die heiligen Bücher, der 108 Bände enthaltende Ganshur und der 225 Bände starke Danshur, aufbewahrt werden, die in tibetanischer Schrift Aufschluß über Sitten- und Glaubenslehre geben, aber auch Abhandlungen über Medizin, Mathematik und namentlich astrologische Weisheit enthalten. – Nun hatte ich den Heidentempel gesehen, mein Zweck war erreicht und ich konnte weiterziehen. Ich war meinem Gastgeber, dem Lama, kein bequemer Gast gewesen, vielleicht hat er sich durch mich nach Rückkehr des Bandido-Chanbo-Lama einen Verweis zugezogen, aber so lange ich in seinem Hause weilte, wahrte er mir gegenüber den Takt eines Weltmannes, er behandelte mich mit der ganzen Herzlichkeit eines Menschenfreundes. Auch unter der gewöhnlichen mongolischen und buriätischen Landbevölkerung, diese und jene sind vorwiegend Lamaïten, habe ich bis heute wohl eine kaum glaubliche Armut, doch nirgends Geiz, Habsucht und namentlich ein feindseliges, intolerantes Benehmen gegen mich, den fremden einsamen Wanderer, bemerkt.
[273]
- ↑ Vor etwa drei Jahren haben wir unseren Lesern mitgeteilt, daß Herr K. v. Rengarten den Plan gefaßt habe, den Erdkreis zu Fuß
zu durchwandern, und daß er uns von Zeit zu Zeit Berichte über seine Erlebnisse senden werde. Zwei Beiträge aus der Feder des rüstigen Fußwanderers sind im Jahrgang 1895, S. 304 und S. 754, erschienen, heute lassen wir ihnen einen dritten folgen. Herr v. Rengarten hat bereits
den größten Teil seiner Aufgabe gelöst; von seinem Wohnort Riga ist er nach dem Kaukasus gewandert und hat von dort das asiatische Festland
durchquert; nachdem er Japan besucht hatte, schiffte er sich nach Amerika ein und trat von San Francisko aus seine Wanderung zu Fuß durch die Neue Welt an. Im Februar d. J. schrieb er uns aus Chicago, daß er bis dahin 21087 km zu Fuß zurückgelegt habe und in New York
sich nach Europa einzuschiffen gedenke, um dann seine Fußreise nach Riga fortzusetzen. D. Red.
- ↑ Vgl. Posdnejews Werk über Lamaïtische Klöster (in russischer Sprache).