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Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben

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Textdaten
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Autor: Fritz Rödiger
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Titel: Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben
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aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[15]
Aus meinem Gefängniß- und Fluchtleben.
Auch eine Jubiläums-Erinnerung von Fritz Rödiger.


Wir befanden uns mitten im sonnigen Brachmonate des Jahres 1849. Die Mai-Ereignisse waren vorübergebraust. Einer oder der Andere hatte sich klüglicher Weise „gedrückt“. Viele „saßen“ oder waren „eingeschränkt“, nach jagdtechnischem Ausdrucke „eingekreist“, das heißt, sie durften ohne polizeiliche Erlaubniß ihren Wohnort nicht verlassen. Ich hatte nach Adorf, meinem alten Lieblingsstädtchen, Korn geführt und trank eben ein Glas echt bürgerlich-reihenschenkerischen Gerstensaftes, wie man es jetzt nicht mehr in den Schenken findet, als der „Wachtmeister“ des Amtes Adorf mit einem Getreuen am Horizonte des Schenkzimmers auftauchte und in der freundlichsten Weise Goethe’s Faust zu commentiren suchte, indem er mir lächelnd andeutete: „Liebes Herrchen, darf ich’s wagen, meinen Schutz und Geleit Ihnen anzutragen?“ Die Zeit war gefährlich geworden; es bedurfte zwei Mann zum Einheimsen eines Einzigen. Ich wurde vor einen kleinen dicken Actuar geführt, der mir lächelnd und äußerst höflich eine zierliche Standrede hielt und mich tröstete: „Jetzt sind wir wieder am Platze. Hätten die Demokraten gesiegt, so säßen Sie jetzt an meiner Stelle.“ – „Ich wäre also erster Actuar und Amtsverweser geworden,“ dachte ich, „hm! hm! und der kleine dicke Actuar … Hochverräther? Sonderbare Wandlungen!“

Der Herr Actuar, mit dem ich übrigens privatim auf ganz freundlichem Fuße stand, faßte sofort eine unüberwindliche Neigung zu meiner Persönlichkeit, lud mich ein, es mir einige Zeit „in seinem Hause“ gefallen zu lassen, und bot mir sogleich als gastfreundlich Quartier die „Wechselstube“ an. Diese Stube ist der Ort, wo „unbezahlbare“ Geschäftsleute, Banquerotteure, leichtsinnige Schuldenmacher, Wechselfabrikanten und dergleichen „noblere“ Verbrecher vor dem ungestümen Anprall ungeduldiger Gläubiger im amtlichen Essig und Oel aufbewahrt wurden. Das Zimmerchen war hell und freundlich, mit einer gewöhnlichen Thür ohne Fütterungsluke und gewöhnlichen, großen Fenstern mit leichten „Eisenvorhängen“ versehen – ein Beweis, daß Madame Gerechtigkeit weit artiger gegen Schelme von „Distinction“ ist, als gegen gemeine Diebe und Räuber, für die finstere und frostige Zellen mit brettervernagelten Pseudofenstern, zu denen später, wie wir sehen werden, auch die politischen Verbrecher „emporsanken“, mehr als genügen. Kurz und gut, die „Wechselstube“ war ein ganz manierliches Stübchen; dennoch wollte ich diesen Wechsel anfänglich nicht recht „acceptiren“. Half aber Alles nichts! Der Herr Actuar war Sieger und warf sein Gerichtsschwert in die Wagschale. Die beiden Gerichtsdiener, wahre Goliaths mir kleinem David gegenüber und Beide mit biblischen Weberschäften als Polizeistöcken in den Händen, nahmen mich in ihre Mitte, und so ging es hinaus zur neuerbauten Frohnveste des Amtes Adorf – zur Freude und Genugthuung aller „Gutgesinnten“ jener Tage, die aber zu jener Zeit im oberen Voigtlande sehr dünngesäet und noch dünner aufgegangen waren.

Die Behandlung war während dieser Untersuchung noch eine äußerst humane, und ich war der Einzige von allen Maiverdächtigen, der „saß“.

Der amtirende Actuar – Schmieder hieß derselbe – war ebenfalls ein humaner Mann; dies ging schon daraus hervor, daß er die Familienväter in Freiheit ließ und nur die Ledigen, allerdings die Haupträdelsführer, einsteckte – also auch meine Wenigkeit. Nach etwa sechs oder sieben Wochen stiller Zurückgezogenheit entließ er auch mich sogar wieder, auf „Ehrenwort“, das ich ihm, trotz aller Versuchung und Warnung, auch ehrlich gehalten habe.

[16] So war die Untersuchungsweise im Sommer 1849 im oberen Voigtlande in der That noch eine solche, die gegenüber derjenigen in anderen, weniger humanen Justizämtern, alle Anerkennung verdiente. So soll ganz besonders in jenen Tagen das Amt Voigtsberg gleich von vornherein seinem Namen von 1848, „Zwing-Voigtland“, alle Ehre haben zu Theil werden lassen.

Doch auch aus der Frohnveste des oberen Voigtlandes spülten die höher und höher steigenden Wogen der Reaction etwaige freundliche Rücksichten gegen politische Gefangene bald genug hinaus.

Es mochte Anfang September 1850 sein. Die Sonne warf lachend und lieblich den prachtvollsten Herbsttag auf die Erde. Es war Morgens fünf Uhr; da fuhr ein Steuerwäglein in das liebe heimathliche Dörfchen Schönberg am Capellenberge, in meine Residenz, herein, bespannt mit zwei etwas mageren Droschkenarabern, geführt von der kundigen Hand des damaligen königlichen Straßeneinnehmers Heckel zu Adorf. Hinten drinnen saß der neue Actuarius Longus, wie wir ihn gewöhnlich nannten – sein wirklicher Name gehört nicht in ein Blatt wie die Gartenlaube – eine lange, magere, etwas klapperige Corpsburschenpersönlichkeit, die man inzwischen mit der politischen Untersuchung des Obervoigtlandes betraut hatte, wahrscheinlich als Specialrichter, nachdem der freundliche Amtsverweser versetzt und endlich das Schwurgericht, das letzte Bollwerk freiheitlicher Errungenschaften, beseitigt worden war. An der Seite dieser Justizperson saß in milchkaffeefarbiger Uniform mit blauen silberbetreßten Aufschlägen und blanken Knöpfen, umgeschnalltem Schleppsäbel, einige Pistolen und die unvermeidlichen Handmüffchen (Handschellen) des eisernen Zeitalters in der Tasche, mein alter Bekannter, Adorfs Wachtmeister. (Der Mann hieß Uhlmann, wahrscheinlich ein Seitensprosse der nachmals so berühmt gewordenen Uhlanen.) Die Zeiten hatten sich sichtlich verschlimmert; unter Bedeckung von drei Mann und zwei Pferden, mit Waffen von allen Arten, wurde ich diesmal vom Hause abgeholt. Ich sah die Herren kommen und hätte langsam und bequem den Berg hinauf nach den böhmischen und bairischen Wäldern entfliehen und diesen vierzehnbeinigen Kelch an mir vorüberrasseln lassen können. Ich that es nicht.

Obgleich meine Mutter zum Tode krank darniederlag und mein Vater alle ihm zu Gebote stehende Bürgschaft anbot, mußte ich mit, „im Bunde der Vierte“, und so ging es

Durch die Wälder, durch die Auen
Flott im Morgenstrahl dahin.

Doch wurde ich am Abend desselben Tages gegen fünfzehnhundert Thaler Bürgschaft, die dem Actuarius Longus am Morgen wahrscheinlich nicht sicher genug waren, auf so lange entlassen, bis meine Mutter wieder gesund war, dabei aber dem Dorfrichter, einem alten lieben Manne, noch eigens zu genauer Ueberwachung und täglicher Visitation anempfohlen, was der Alte auch richtig bei einem guten Glase Bier regelmäßig und scherzend vollzog.

Mit den Fackel- und Laternenzügen und den Heimholungsmusiken des achtundvierziger Jahres war es nun freilich vorüber. Zeit und Leute waren traurig geworden. Dagegen schaukelte ich mich während dieser letzten Rückreise in’s heimathliche Haus stolz in unserer Landkutsche zwischen zwei frischen Sachsenkindern mit dunklen Haaren, hellem Sinn und blitzenden Augen, die mich als Hochverräther gar nicht so entsetzlich fürchteten. Die Eine ruht schon längst tief unter der Erde; die Andere freut sich weit unten in pommerschen Landen eines glücklichen Lebens und der wiedergekehrten deutschen Kraft und Einheit. Ich sah diese beiden freundlichen Begleiterinnen nicht wieder*[1]; denn bald darauf schloß sich das Gefängnißthor hinter mir auf’s Neue für viele Monate, die Pforte meiner Heimath für dreiundzwanzig Jahre.

Mit der gemüthlichen Wechselstube war es nun auch aus. Es ging diesmal zwei Treppen hoch und später, als die Reaction wie ein rauher Nordostwind immer schneidender durch’s Land pfiff, immer mehr Maikäfer davonsurrten und immer strengere Maßregeln decretirt wurden, da ging’s gar drei Treppen hoch in die Gefängnisse für gemeine Verbrecher. Es war von wegen der „Gleichheit.“ Seit 1849 war ich sonach bedeutend im Werthe gestiegen, vom Parterre bis unter’s Dach.

Jetzt saß ich also drin, mit mir nur noch Advocat Blankmeister. Obgleich Derselbe Mitglied der Zweiten Kammer und früher Bürgermeister von Mühltroff geworden war, campirte er dennoch unter mir. Ein höchst bedenklicher Vorrang! Ich könnte hier nun viel und Vieles erzählen von Gedanken, Gedichten, Gesängen, Briefwechsel und Telegraphenspiel nach außen und innen; dieses Capitel ist aber schon so allseitig erschöpft, daß ich nur einzelne einschneidende Erlebnisse mitzutheilen gedenke.

Ich hielt eine Zeitung, die ich meinem Schicksalsgenossen sendete und dann von ihm zurückempfing. Mit diesen Zeitungen trugen die Beamten unsere Correspondenzen emsig hin und her, in Zeichen, die kein Anderer verstand. Am Tage wurde, so lange die Untersuchung währte, Jeder einzeln in den Garten auf die Weide geführt, wie wir es nannten. Den Abend brachten wir dann und wann bei Wachtmeisters zu. Hier hätten wir öfter Gelegenheit zum Entspringen gehabt; allein ich wollte, wenn ich einmal den Entschluß zur Flucht fassen würde, des Wachtmeisters Familie, die stets zuvorkommend und freundlich gegen uns war, unbetheiligt lassen.

Die Flucht eines Gefangenen, der wegen Dieberei um seine Freiheit gekommen war und von dem der Wachtmeister zu sagen pflegte: „Es kam ’raus; er kam ’nein,“ hatte für mich und Blankmeister die scheinbar üble Folge, daß wir nicht mehr als die Löwen des Tages nach der Stadt in’s Verhör geführt wurden. Auch kamen wir von nun an monatelang nicht mehr auf die Weide. Es wurde die ehedem so gemüthliche Wechselstube in’s Verhörlocal umgewandelt, von uns scherzweise die Folterkammer betitelt. Just dies hatte aber für unsere künftige Flucht sehr glückliche Folgen. Blankmeister saß gerade über der Folterkammer. Dazu kam, daß die ganze große Frohnveste neu und, weil für die Zwecke eines Untersuchungsgefängnisses bestimmt, so leicht und leishörig gebaut war, wie eine Windmühle.

Wenn Blankmeister sein Ohr zur Diele neigte, konnte er des Herrn Criminalactuars zürnende oder wohlmeinende Stimme ganz prächtig vernehmen. Ebenso das gewohnheitsgetreue Ja der drei Gerichtsschöppen, das uns immer lebhaft an das Ende der Pfeffel’schen Pfarrwahl erinnerte, wo die oppositionslustigen Bauern, gehörig angedonnert, in den tragikomischen Chorus ausbrechen: „Ach ja! Herr Amtmann, ja!“ Diese drei Zeugen bei dem alten Gerichtsverfahren bildeten das fünfte, sechste und siebente Rad am ohnehin schon allzu vielrädrigen Justizkarren. Sie hatten nur eine Verpflichtung, nämlich die „der süßen Gewohnheit des Daseins“, um mit Egmont zu reden. Das Gericht erkor sich diese Wache selbst und traf stets die rechten Männer, die nur dann den Kopf erheblich schüttelten, wenn ihnen Gott Morpheus schelmisch in den Nacken oder eine ungezogene Sommerfliege auf die Nase gerieth. Schließlich unterschrieben sie den Leviathan des Actenstoßes ungelesen, wie ihn auch der Gefangene nach angehörtem Vorlesen unterschreiben mußte. Was konnte Alles dazwischen liegen, wenn der Verhörrichter wollte! Und daß Viele wollten, werden Viele erfahren haben. Briefe wurden mir nur gezeigt; ich sollte anerkennen, daß dies meine Handschrift. That ich es, so war ich übel daran, da man in jener Zeit an Freunde viel Ueberschwängliches geschrieben hatte; that ich es nicht, so hätte ich meine unverkennbare Handschrift geleugnet, wie Alles. So wurde in jenen traurigen Tagen oft nach der Schablone inquirirt, und ich hatte keinen andern Genuß, als dabei die drei Zionswächter zu beobachten. Sie waren, nebenbei bemerkt, im bürgerlichen Leben wohlwollende Männer, und meine Bemerkungen gelten nicht ihren vielleicht längst begrabenen Persönlichkeiten, sondern der lächerlichen Einrichtung überhaupt, zumal man von Seiten der Rückwärtsmänner im deutschen Reiche auf’s Neue an Untergrabung der Schwurgerichte arbeitet und an deren Stelle ein Zwitterding einschieben möchte, dessen Name schon (Schöppengericht) alle Humoristen und Satiriker der Gegenwart zu brennenden Lobgesängen begeistern muß. Wir Männer von 1849 haben bitter erfahren, was die Unterdrückung der Schwurgerichte zu bedeuten hat. Man nehme sich ein ernstes Beispiel daran!

Blankmeister telegraphirte mir das im Verhörzimmer Gehörte sofort durch Pochen an die Wand herauf, das ich deutlich vernahm, obgleich ich einen Stock höher und nicht direct über ihm logirte.

[17] Endlich war der jüngste Tag gekommen. Wir wurden in der Wechselstube versammelt. Als ich eintrat, war Blankmeister schon da, und vorn am Ofen standen mit wahrhaften Armensündergesichtern die noch übrigen drei Hauptmitattentäter: der Stadtförster, der Tuchscheerer und ein Dorfschulmeister. Der Vorsitzende des hohen Gerichts räusperte sich feierlichst. Die drei Gerichtsschöppen übten sich in möglichst Bedauern und Mitleid andeutendem Mienen- und Geberdenspiel. Endlich ertönten zwischen langen und salbungsvollen Pausen die salomonischen Sprüche. Der Stadtförster bekam fünfzehn Jahre aufgeförstert, der Tuchmacher [18] gerieth in die achtjährige Zuchthauswolle, und der Schulmeister notirte dito acht Jahre Schulzwang. Blankmeister bekam zehn blanke und meine Wenigkeit gerade ein volles Dutzend Waldheimer Jahre, dazu noch eine kleine Knochenzulage wegen Preßvergehen in der von mir damals redigirten „Staats- und Hausbrille“, drei Monate Hubertusburg in vier Wochen Waldheim übersetzt.

Zwei der Attentäter am Ofen machten einen kühnen, aber mißlungenen Versuch, Thränen zu vergießen, der Stadtförster und der Schulmeister. Bei Blankmeister lief das kleine Häflein voll des Zornes brandend über; er wurde fuchsteufelswild und schlug ob des harten Urtheils auf den hölzernen Tischaltar der blinden Frau Justitia, so daß Actuarius Longus ebenfalls zornröthlich erglühte und mit ernster Miene und gebieterischer Stimme Blankmeistern daran erinnerte, daß er „vor Amte stehe“. Meine Erwartungen hatte dagegen das Urtheil nicht übertroffen; ich nahm ruhig ein Blatt Papier und schrieb nach Hause, daß ich nur zwölf Jahre erhalten hätte, was meinen Gleichmuth und meine gute Laune nicht im Mindesten unterbrach. In dieser Stunde reifte aber auch der ernste Entschluß zur Flucht, während alle Vorbereitungen, die ich bereits getroffen, mir mehr zur Unterhaltung gedient hatten.

Inzwischen war ich wieder einmal um eine beträchtliche Nüance dunkler, kühler und feuchter aus- und einquartiert worden, nämlich gegen Norden. Dies ging also zu: man hatte mir früher eine Eisensäge zugesteckt, allein dabei nicht ganz reinen Mund gehalten, und als ich bereits einen hoffnungsvollen Versuch gemacht und das Sägelchen die Eisenstangen am Fenstergitter zum Verwundern schön angeschnitten hatte, wurde plötzlich untersucht. Ich warf das Instrument hinaus, allein der Verdacht war erregt, obgleich ich den Anschnitt meisterhaft zu verdecken verstanden, und ich wurde dislocirt. So gerieth ich in eine sehr nachtheilige Lage, in eine Zelle, welche mit „Jalousien“, das heißt mit einem Holzkasten, vulgo Taubenschlag, vor dem ohnehin sehr angelaufenen Fenster, versehen war. Des Schreibzeuges war ich schon seit Langem beraubt. Ebenso war Rauchen und Singen streng verboten. Doch diese aus Gründen größerer Sicherheit hervorgegangene Uebersiedelung brachte mich der Ausführung meines Fluchtversuches um einen Schritt näher. Ich kam nun gegenüber von Blankmeister zu wohnen, der, wenn ich lethargisch und gleichgültig werden und bis zum Zuchthaus den Leidenskelch leeren wollte, mich durch sein Telegraphiren immer wieder auf’s Neue zu beharrlichen Studien anspornte, denn er wußte, daß meine monatelangen Vorbereitungen weiter nichts als der Entschiedenheit zur Ausführung bedurften, und da er Familienvater war, so lag ihm natürlich mehr an der Freiheit als mir, der ich mich wirklich mit echt deutscher Gemüthsruhe an’s Gefängniß gewöhnt hatte.

Herzlich lachen mußte ich dagegen oft, wenn der eifrige Wachtmeister allnächtlich zwischen zehn und zwölf Uhr Alles ängstlich untersuchte, namentlich die Fensterstäbe, wenn er an die stark mit Blech beschlagene, ohnehin dritthalb Zoll dicke Thür bedachtsam ein Schloß nach dem anderen anlegte, wenn der marmorkalte Amtmann, vulgo steinerner Gast, von Zeit zu Zeit unter der Thür erschien und nachsah, oder gar die ergötzliche Frage stellte, ob mir nichts fehle, oder wenn der Actuar Longus, nachdem irgendwo wieder Einer fort war, mitten in der Nacht mit dem Wachtmeister die Treppen heraufgestürmt kam und mit seinen mächtig dünnen Beinen eiligst hinauf an’s Guckloch (Schiffsluke) kletterte, um sich höchstselbst von der guten Gesinnung der Fensterstäbe zu überzeugen, während mein Tunnel der Freiheit längst schon fertig war.

Daß bei solchen Besuchen des steinernen Gastes oder des Untersuchungsrichters niemals von einem „Guten Tag“ oder „Guten Abend“, überhaupt von irgend einer Freundlichkeit die Rede war, verstand sich bei dem Charakter dieser beiden Herren und jener Zeiten von selbst. Ihnen war der politische Verbrecher das Nonplusultra aller Verbrecherlichkeit. Anders verhielten sich die übrigen Actuarien des Justizamtes, die manchmal im Falle der Noth und während der Abwesenheit der Oberen mir etwas mitzutheilen oder einen Besuch einzuführen hatten. Diese Herren pflegten stets Anstand und Höflichkeit, wie es unter Gebildeten in jeder Lage des Lebens deutsche Sitte ist. Ihnen noch heute die Hochachtung jedes redlichen Mannes!

Mit mir ging, nach ergangenem Urtheil, die Verhörplage noch einmal los, weil der Stadtförster, der nun auch schon seit Jahren im selbstgegrabenen Grabe liegt, seine Hasenhaut durch Bekehrung und Denunciation zu retten suchte. Jedoch durften von nun an Blankmeister und ich zusammenkommen und dann und wann selbander, wie zwei Lämmlein, auf die Weide gehen, aber unter steter Aufsicht zweier Hirten.

Am 28. Juli 1851 Morgens war es, als mir Blankmeister, der inzwischen auch um ein Stockwerk erhöht worden und mir gegenüber (im Corridor) eingezellt worden war, telegraphirte: „Wir werden einstweilen bis zur Rückkehr des Urtheils vom Oberappellationsgericht in’s Zuchthaus abgeführt. Wagen soll heute schon ankommen“. Dieselbe Nachricht wurde mir etwas später auch von dem Gehülfen mitgetheilt, und als Neuigkeit und mit aufrichtigem Bedauern erzählte mir des Wachtmeisters blondlockiges Töchterlein dasselbe, als sie Mittags das Essen durch die Futterluke, freundlich wie immer, hereinschob.

Blankmeister telegraphirte nochmals: „Heute Nacht, vorwärts!“

An demselben Nachmittag gab die Sonne eine ihrer solennsten Vorstellungen dieses Jahrhunderts. Es war große Sonnenfinsterniß. Zum letzten Mal sollten wir uns des Gartens und zwar des größeren, der Außenwerke erfreuen. Der Wachtmeister und sein Gehülfe Münch führten uns auf und ab. Durch angerußte Gläser betrachteten wir die Sonne gleichgültig, mit mehr Interesse das Publicum, das rings auf den Hügeln und um den Garten stand, saß und lagerte. Darunter manch’ gute, befreundete Seele; in nächster Nähe Blankmeister’s Kinder und sein treffliches Weib, das trotz aller Strenge im lebhaftesten Briefwechsel mit ihrem Manne stand und von unserm heutnächtigen Fluchtversuch unterrichtet war. Ich hatte mich nämlich nun fest entschlossen, mein Mauerbrecherlicht nicht ferner unter den Gefängnißscheffel zu stellen.

Es war ein toller Tag, dieser 28. Juli! Alles ergab sich dem süßen Nichtsthun. Voraussichtlich kam auch unser Wachtmeister heute Nacht mit einem Haarbeutel nach Hause. Wie ich später erfuhr, hatte er in der heitersten Stimmung verschiedene jener Tempel besucht, aus denen der liebe Gott den Arm heraushängt, und in heiterster Stimmung triumphirend ausgerufen: „Ja, meine Vögel sitzen fest; die kommen nicht ’raus!“

Am Abend telegraphirte ich Blankmeister. „Ich beginne. Auf Wache!“ Ich bereitete Alles vor. Weil ich den Ofen geöffnet hatte, um nochmals zu untersuchen, war die Diele zum Theil rußig geworden. Da ich Solches vorausgesehen, hatte ich mir für den Abend einen großen Krug voll Wasser bringen lassen. Ich schloß den Ofen wieder, wusch die Dielen, trotz der besten Stubenmagd, öffnete die Fenster zum Trocknen, legte mich auf mein Pritschenbett und erwartete nun des Wachtmeisters regelmäßige Nachtvisite. Punkt Mitternacht erschien er, wie Samiel im Freischütz, aber lustig und wohlgemuth. Er bot mir, wie immer, mit seinem feststehenden Sprüchworte: „Das sind Sachen, und wer’s nicht weiß, muß darüber lachen“ ein kernhaftes Kapuzinerfrühstück an, wie er die obligate Prise zu nennen beliebte, und trollte, ohne ängstliche Umschau zu halten, aber doch gewohnheitstreu in alle Winkel leuchtend, zum Tempel hinaus. Draußen hing er sorgfältiglich wieder Schloß um Schloß an die eisengepanzerte Thür, Jedes an seinen bestimmten Ort, besuchte hierauf noch, der Gleichheit wegen, die minderen Vögel und stieg dann allmählich, schlüsselklirrend und thürangelknarrend, wie man es in alten Ritter- und Räuberromanen zu lesen gewöhnt ist, die langen steinernen Treppen, geisterhaft schlürfend, hinab in sein Kämmerlein, um einen langen Schlaf zu thun.

Aufgeregt sprang ich von der Pritsche herab und begann sofort meine Maulwurfsarbeit. Ich stellte mein Tischchen an die vordere Platte des viereckigen Ofenkastens, legte Rotteck’s Weltgeschichte darauf und nahm aus meinem einzigen Stuhle das längst dazu hergerichtete Stuhlbein heraus, um es als Hebel zu benutzen, von dem jener berühmte englische[WS 1] Naturforscher schon gesagt hatte: „Gieb mir einen Stützpunkt, und ich hebe die Welt aus ihren Angeln.“ Einen solchen Stützpunkt hatte ich; doch mein Heben galt nur dem obern Theile des eisernen Ofens mit Mittelplatte, welcher sinnreich nach hinten an die Mauer angeschlossen war, damit man ihn nicht einreißen sollte. So hob ich Alles mit Leichtigkeit, bis ich die vordere Platte herausnehmen konnte. Dann stellte ich Tisch und Stuhl zur Seite – natürlich [19] mußte dies Alles im Finstern und tastungsweise geschehen – steckte in den Stiel meines Zellenbesens ein längeres Stück Holz, das im Ofen aufbewahrt lag, und mein ganzer fürchterlicher Apparat zum Ausbruche aus dem Staatsgefängnisse des Obervoigtlandes war fertig. Ein Tisch, ein starkes Buch, ein Stuhlbein, ein Besen, ein Scheitchen Holz! „Ein geborener Künstler bedarf weniger Werkzeuge,“ pflegte Franklin zu sagen und hobelte mit der Holzaxt.

Die letzte Hülle hatte ich abgestreift, um bei allfälligem Mißlingen am Morgen kein verrußtes Nachthemd als Verräther zu besitzen. Auch war die Oeffnung sündhaft eng und ganz und gar nicht für eine behäbige Ausbrecherbequemlichkeit berechnet. Obgleich es Ende Juli war, fror es mich bald erbärmlich, als ich mich zwischen den eisernen Wänden des Oefchens eingekeilt hatte, um wacker drauflos zu arbeiteten. Ich klapperte anfänglich vor Frost und Aufregung.

Zuvörderst nahm ich den beweglichen Rost heraus und schob dann durch den Aschenbehälter, dessen Thürchen auf dem Corridor ich am Tage unbemerkt und mit Hülfe einer Kriegslist und zwar in Gegenwart beider Gefängnißwärter geöffnet hatte, meinen verlängerten Besen nach dem Corridor hinaus. Hierauf kam die erste Hauptschwierigkeit: das Herausnehmen des Ofenthürchens, dessen Rahmen so eng war, daß kein Kind hindurch gekonnt hätte. Ueber die Einrichtung desselben hatte mir Blankmeister schon einige Monate vorher telegraphische Mittheilungen gemacht, da er nach meiner Anweisung von seiner früheren Zelle aus gelegentlich eines Neubaues von Gefängnissen genaue Beobachtungen darüber gemacht hatte, wie diese Thürchen eingesetzt werden. Er telegraphirte mir klar und deutlich, wie ein Baumeister, die Auflösung des Räthsels zurück; es war sehr einfach. Ich rüttelte mit der Hand den Rahmen heraus und legte dann Ziegel um Ziegel zurück in die Zelle. Bald war die Oeffnung so groß, daß ich mit den Schultern hindurch konnte.

Zwischen dem Ofenthürchen und der Kaminthür, die auf den Corridor führte und nach innen, wie die Gefängnißthür, mit starkem Blech gefüttert und mit Nägeln beschlagen war wie eine Bergsandale, befand sich ein enger, etwa acht Zoll breiter Raum, der nach oben in das russische, ganz enge Kamin und nach unten in den Aschen- und Zugkasten ausmündete, in welchem mein verlängerter Besen lag. In diesen engen Raum mußte ich nachrücken, so daß ich den Kopf fest an das beblechte und benagelte Kaminthürchen anlehnen, die linke Wange auf den Granitsockel besagter äußerer Thür fest auflegen mußte, um den linken Arm durch den Zwischenraum hinab in den Aschengang zu zwängen. Dies gelang; ich stieß nun meine Besenlanze behutsam zum Thürchen des Aschenbehälters auf den Zwischengang hinaus, drückte den Ellenbogen fest auf den Boden des Aschenraumes und gewann in dieser Lage mit dem linken Vorderarme so viel Raum, um meinen Angriff, mittelst Handgelenk und Besen, auf die beiden an Kettchen befestigten Vorstecker der Kaminthür beginnen zu können, gleichwie erst dann zum Angriffe auf eine Festung vorgerückt wird, wenn die Laufgräben gehörig eröffnet sind. Diese letzte Kanonade, um Bresche zu schießen, vertrieb allen Frost aus den Gliedern, bald dagegen rann der Schweiß aus allen Poren. Es war eine Art Kampf um Sein und Nichtsein. Der untere Vorstecker flog sofort und laut klappernd heraus, aber der obere stellte alle meine Kunst, alle meine Kraft und Geduld auf eine einstündige, fürchterliche Probe; es war ein Uhr, als der erste wich; um zwei Uhr arbeitete ich noch vergeblich nach vielmaligem Ausruhen, fieberhaftem Wassertrinken und, als kein solches mehr vorhanden war, bei quälendem Durste. Die bei der anstrengenden Arbeit einzunehmende Stellung erzeugte öfters peinlichen Krampf, der mich ebenfalls zu unfreiwilligen Pausen nöthigte. Endlich glaubte ich, es sei eine reine Unmöglichkeit, diesen unbarmherzigen eisernen Wächter der „Gerechtigkeit“ mittelst Besenstiels hinwegzudisputiren, und wollte mich schon verzweifelnd zurückziehen und, in Gottes Namen, die Freuden und Segnungen der Zuchthaushalle erwarten, da rief ich mir noch einmal Muth und Beharrlichkeit zu.

Schon begann der Tag allmählich heraufzudämmern – noch ein Stoß – und laut klappernd rasselte der hartnäckige Steckkopf am Thürchen draußen herab. Rasch schlüpfte ich durch die geöffnete Thür auf den Gang hinaus, ein über und über schwarzer Adam. Ebenso rasch befreite ich die gegenüberliegende Kaminthür von ihren zwei Vorsteckern und riß das dortige Ofenthürchen auf, um Freund Blankmeister, der längst laut meiner Anweisung gelernt hatte, den innern Ofen zugänglich zu machen, heraus zu accouchiren. Ein kurzer Augenblick, und des Advocaten schwarzbuschiger Dickkopf tauchte aus seiner Höhle empor. Dem Herrn Collegen hatte die lange Haft gut angeschlagen; er war beleibt geworden. Doch hinten schoben die kurzen Beine sammt dringender Nothwendigkeit emsig nach, und vorn zog ich als Neger mit all der mir zu Gebote stehenden Naturkraft, und seine polizeiwidrige zweite Geburt war vollendet. Alles dies ging so rasch, aber auch so still als möglich vor sich. Immerhin war es wunderbar, daß unser unfern schlummernder denunciationslustiger Stadtförster, wie alle übrigen Gefangenen, von alledem nichts hörten. (Nachwirkungen der Sonnenfinsterniß, die viel Durst gemacht hatte.) Rasch holten wir aus einer leeren Zelle unsere Verhör- und Weidekleider. Ebenso rasch waren wir angekleidet, ich schwarz und nobel, aber in Strümpfen und ohne Hemd, Blankmeister in vom Ofen zerrissener Hose, grüner Wolljacke von mir, böhmischer Mütze mit schwarzrothgoldner Schnur und – Filzschuhen. Blankmeister hatte noch die glückliche Idee, die Uhr mitzunehmen. Ich ließ Alles in der Zelle, denn hier war meines Bleibens nicht mehr; jeder Augenblick war kostbar.

[28] Im Corridor lagen zwei Eßmesser, womit wir am Abend vorher Adorfer Knackwürste kunstgerecht secirt hatten. Diese Messer waren passabel scharf, stark und spitzig. Jeder steckte eins zu sich, damit es im Falle der Noth nach Schiller’s Tell ein „Bringer bitterer Schmerzen“ werden könne. Hierauf brach ich mit Leichtigkeit aus der nicht eben schwachen Gatterthür zum Dachboden einige starke Sprossen nur mit der Hand heraus – die Kraft dazu ist mir noch heute unerklärlich. Es prasselte ziemlich stark, allein der Gott des Schlafes, der Veranstalter der Sonnenfinsterniß und ihrer Folgen, war diesmal mit uns. Niemand hörte. Wir kamen auf den Dachboden; ich hatte auf die hier befindlichen Wäschleinen gerechnet; denn ich wollte sie neben dem unzuverlässigen und schwachen Blitzableiter zum Abstieg, wie die Bergsteiger sagen, benutzen. Ein unglücklicher Zufall oder Wachtmeisters Vorsicht hatte sie entführt – hinter uns waren die Schiffe verbrannt. Es wurde heller und heller. Der frühe Julimorgen suchte sich bereits im Osten Bahn zu brechen; einzelne Lerchen belehrten uns, wie dereinst den sentimentalen Romeo, daß die Stunden der Nachtigall vorüber seien. Ich stieg hinauf auf’s thauglatte Schieferdach, denn ich wollte zuerst hinab, da ich noch kein Weib und keine Kinder hatte; brach der Blitzableiter, so konnte Blankmeister zurück und ich hatte so ziemlich sicher nichts mehr nöthig. Dies waren so ungefähr meine Morgengedanken, als ich mit meinem Körper einen großen Bogen beschrieb, und zwar um den weit vorstehenden Dachsims gegen den Hof hin, am schwankenden, biegsamen und von der Mauer vielfach losgerissenen Blitzableiter hinab. Es war die gefährlichste Stelle. Nur von den Händen gehalten, [29] schaukelte ich da in frischer, freier Morgenluft zwischen Erde und Himmel. In weniger als zwei Minuten war ich mittelst eines kunstgerechten Turnergriffes im Gefängnißhofe angelangt, der, von oben gesehen, soeben noch „bergetief, in purpurner Finsterniß“ dalag.

Die ziemlich starke Thür nach dem größeren Garten war geschlossen. Ein Druck mit einem Klafterhobel aus dem Holzhause genügte, um den Schloßkloben aus der Wand zu sprengen. Inzwischen schwebte auch Blankmeister majestätisch zwischen Himmel und Erde, und sein Hemd flatterte siegverheißend durch die verwundeten Unaussprechlichen im Sommermorgenwinde. Niemand hatte uns gehört; es war ein Glück für uns; aber auch ein Glück für etwaige Verfolger, denn wir waren fest entschlossen, unseren Sieg zu vertheidigen bis auf’s Messer. Wie zwei Hirsche, die nach frischem Wasser lechzen, setzten wir durch den größeren Garten und hatten eben den Riesenschwung über den Zaun vollendet, als der dicke Schießhauswirth, der selige Klarner, der damalige Herbergsvater der Demokratenzunft, vom nahen Schießhause hergetrollt kam. Wir hielten es für besser, ihm heute keinen „Guten Morgen, Herr Klarner!“ zuzurufen, denn unter solchen Umständen gilt Schiller’s praktisch-poetische Anweisung:

 „– – Jeder treibt
Sich an dem Andern rasch und fremd vorüber
Und fraget nicht nach seinem Schmerz.“ –

Wir schwenkten kühn gerade gegen die Stadt zu, um noch zeitig genug das rechte Ufer der Elster, die Straße nach dem Städtchen Schöneck und somit den geraden Weg nach dem Innern von Sachsen zu gewinnen. Während des Dauerlaufs waren zwischen Blankmeister und mir zwei Hauptfragen entschieden worden. Er wollte in die Stadt, um seiner Frau Lebewohl zu sagen; ich ließ es nicht zu, denn dies hätte geheißen, sich wieder fangen lassen. Dann drang er darauf, direct die Flucht über die nahe böhmische und bairische Grenze zu nehmen. Auch diesen Vorschlag bekämpfte ich aus strategischen Gründen; denn wir hätten dort über zwei damals scharf besetzte Grenzen hinüber gemußt und Alles würde uns gerade dort zuerst gesucht haben, während uns auf den von mir geplanten Wegen kein Mensch vermuthete. Also hinein in die voigtländischen Wälder!

Blankmeister erkannte die Richtigkeit meiner Folgerungen – denn ich vermied ja selbst meinen nahen Heimathsort –, und nun ging es um Adorf herum, beim Kirchhofe hinunter, ruhigen Schrittes, damit wir kein Aufsehen erregten, gegen die Elster-Brücke, allwo zwei einsame Schlagbäume mir Gelegenheit boten, dem damaligen Herrn Straßengeldeinnehmer, der mich im vorigen Jahre so liebevoll in’s Gefängniß kutschirt hatte, noch „ein stilles Adje“ zuzurufen. Unser Zweigespann gab diesmal aber kein Chaussee-, sondern nur brav Fersengeld.

Wir hatten Beide einen Höllendurst, wie wir wohl seit den Flitterwochen unserer Studentenzeit keinen empfunden hatten. Lockend lag das Adorfer Feldschlößchen vor uns, allwo Frau Becker (nun auch schon todt), als Wittwe eines der ersten obervoigtländischen Vorkämpfer für deutsche Einheit und Freiheit, ein Allerbestes ihren Gästen bot, aber – da war keine Zeit zum Durstlöschen. Fort ging es in angestrengtem Dauerlaufe die Bergstraße hinauf, Schöneck zu, dem alten freien Reichsstädtchen, hoch oben auf waldiger Höhe zwischen Ober- und Untervoigtland, zwischen Bauer und Stadtbürger mitten drin liegend. Hier und da begegnete uns ein früher Wanderer, allein wir zogen dann sofort Faust’s Zauberkäppchen in Gestalt eines Roggenfeldes über die Ohren und machten uns unsichtbar. Endlich – noch stak die Sonne hinter den Bergen, aber die Dämmerung hellte sichtlich empor – erreichten wir den Wald.

Ich habe den Wald unendlich lieb, aber so mit Inbrunst an’s Herz gedrückt habe ich ihn niemals wieder. Jeden Baum hätte ich umarmen mögen; waren es doch alle uralte Bekannte, die mit dem Knaben und Jüngling aufgewachsen waren und die ich so manches Mal besucht und begrüßt hatte, die lieben, dunkelgrünen Säulen meiner heimathlichen Berge!

„Sei gegrüßt, liebherz’ger Wald,
Sei gegrüßt viel’ Tausendmal!“

Und der alte liebe Kumpan nickte freundlich mit seinen Morgenwipfeln, flüsterte leise seinen Gegengruß und hüllte uns barmherzig in seinen schatten- und faltenreichen Mantel, wusch uns die rußigen Gesichter und Hände mit seinem plätschernden Waldbache, reichte uns im kleinen stillen Moosteiche einen krystallenen Spiegel zur nöthigen Morgentoilette und verstärkte unsere hausbackenen Dolche mit zwei kräftigen Wanderstäben aus des Bergwachholders urzähem Stamme, um etwaigen Widersachern ein bedeutsam Wörtlein von altvoigtländischer Kraft damit hinter die Ohren schreiben zu können. Der Wald credenzte aber auch den Halbverschmachteten kühlenden Labetrunk aus frisch-sprudelnder Quelle und deckte uns auf freier Haide gastfreundlich die Morgen-, Mittags- und Abendtafel mit köstlichem Gebeere von aller Art –

„Wie es der Wand’rer findet in den Bergen.“

Jetzt erst sahen wir einander an. Wir waren prächtige Kerle! Trotz erster und zweiter Mohrenwäsche waren wir immer noch „Ebenholz“, und Blankmeister mit seinem struppigen Vollbarte, in mächtigen Filzschuhen zu Ende Juli, in der Rechten den wuchtigen Wachholder, glich auf’s Haar einem riesigen Gnomen der Unterwelt, oder noch besser einem in der Umwandlung begriffenen Darwin’schen „Menschenwerder“. Betrachtete ich ihn und mich in irgend einem Wasserspiegel des Waldes, so glichen wir Beide vollkommen Dem, was wir waren – zwei soeben dem Zuchthause Entlaufenen.

Nach kurzer Zeit bogen wir um das Städtchen Schöneck herum, warfen dem idyllischen „Waldhaus“ und wohl mehr noch dessen frischem „Waldkeller“ einen freundlichen Blick zu und schlugen uns, wie Seume’s Indianer, rechtwärts in die Büsche, obgleich wir auf classisch-demokratischem Boden standen. Hier, auf weitem, waldumkräuztem Felde, hatten wir im Juni des Jahres 1848 die erste große Volksversammlung des Voigtlandes gehalten. Aus allen Thälern, weit und breit, ja selbst aus Böhmen und Baiern, hatten sich freiheitbegeisterte Männer eingefunden, und dort, am schattigen Waldhaus, wurde noch lange von den riesigen Bierfässern herab fortgerednert, bis die Sonne sich neigte vor dem unvergeßlichen Tage. Droben in der alterthümlichen Oberstube aber saßen, von da an, zu öfterem die Führer der voigtländischen Vaterlandsvereine zusammen und sahen hoffnungsreich hinab auf das blaugrüne, prachtvolle Waldmeer.

„Ganz wie Amerika!“ rief ich einst in jugendlicher Schwärmerei aus.

„Möcht’ es so sein!“ erwiderte mir ein alter, ehrlicher Fabrikant; „wird es aber wieder nichts, wie Anno 30, so schnür’ ich meinen Bündel und gehe noch in meinen alten Tagen hinüber in’s Land der Freiheit.“

Ich sah den Alten mitleidig an. Meine Jugend konnte die Möglichkeit eines Rückschlages gar nicht fassen, und nun, kaum drei Jahre später, stand ich barfuß, heimathlos, geächtet, verfolgt, ohne Obdach und ohne Kleider, zu zwölf Jahren Zuchthaus verurtheilt, vor demselben Hause, vor derselben wunderlieblichen Waldlandschaft, mich weislich in den Büschen bergend, auf unsicherer, dornenvoller Flucht nach – Amerika ober einem anderen freien Lande.

Sollte der alte Prophet von Auerbach noch leben, so sei er recht herzlich von der freien Schweiz aus gegrüßt, nach fünfundzwanzig Jahren! Ich habe seiner oftmals gedacht.

Hier hatten wir den nördlichen Chimborasso des Voigtlandes passirt. Eine Stunde weiter abwärts deckte uns Meister Jungwald geschäftig die Mittagstafel und servirte gastfreundlich seine saftigsten Heidelbeeren. Dann stiegen wir in ein enges, von Bergwassern ausgewaschenes Thälchen hinab und nahmen im sonnigblinkenden Waldbach, tiefverborgen und wohlversteckt, ein herzhaftes Bad, um uns den amtlichen Ruß des Gefängnißofens sowohl, wie dessen schornsteinfegerlichen Geruch – der aber trotzdem noch wochenlang meine Nase beleidigte – vom Leibe zu waschen. Der Erfolg durfte kein glänzender genannt werden.

Indessen waren meine Strümpfe auf den körnigen Granit- und den dornigen Waldpfaden den Weg aller Strümpfe gegangen, und Blankmeister’s sibirische Filzschuhe hatten ebenfalls des Daseins Zweck erfüllt. So stand ich, wie dereinst der deutsche Kaiser Heinrich der Vierte im Hofe zu Canossa, im Hofe der Natur, barfüßig, verbannt, vogelfrei, aber ohne Büßerhemd, weil ich im Drang des Augenblicks vergessen hatte, eins anzulegen.

Wir waren Beide des Gehens nicht mehr gewöhnt, [30] geschweige denn des Barfußgehens, und so machte sich denn in unseren Füßen allmählich ein heftiger Trieb zur Arbeitseinstellung geltend. Wir illustrirten sprechend ähnlich das alte Volksbild: „Er geht auf Eiern“. Dazu zwei Nächte nicht geschlafen, denn auch die vorhergehende war unruhvoll, dann die stete Aufregung! Daneben die Beeren und das Brod, die Waldkost, für die wir zwar äußerst dankbar waren, die aber trotz aller vegetarianischen Schwärmerei in solchen Fällen nicht genügt! Wir sehnten uns zu allererst nach des Schusters Rappen.

Doch die Sonne sank hernieder,
Und im Abendglockenklang
Tönte leis’ das Lied der Lieder,
Das so lieb die Mutter sang,
Von dem Schmerz des Heimwehs wieder.

In der Heimath heimathlos, saßen wir am Waldesrand und sahen hinunter in ein freundlich stilles Bergthal. Die Sonne vergoldete mit ihren letzten Strahlen die Kirchthurmspitze eines vor uns liegenden Dörfchens, das, fern vom Getöse der lauten Heerstraßen, der Eisenbahnen und Telegraphen, recht glückliche Menschen zu bergen schien. Ich kannte dieses bescheidene Dorf und hatte als Schüler, als Student und als Philister oftmals diese einsame Oase durchwandert. Mit welchen Gefühlen aber sah ich heute hinab auf die grauen Schindeldächer, mit den rothen oder weißen Schornsteinen, aus denen soeben der blaue Rauch gastlich emporkräuselte, der das einfache Nachtmahl verkündete! Auch unsere Alles bewegende Lebensmaschine sehnte sich dringend nach etwas Verdaulichem, aber Niemand lud uns freundlich zu Gaste; scheu wichen wir der Menschheit aus. Endlich, als die Dämmerung kräftiger herabstieg, stiegen wir empor zu dem Gedanken, alle Sentimentalität an den Nagel des Humors zu hängen, und recitirten aus den „Räubern“, denen wir ähnlich sahen, die trefflichen Worte:

„Heut’ kehren wir beim Pfaffen ein,
Bei reichen Pächtern morgen.“

Im lieben Dörflein Bergen lebte nämlich zur selbigen Zeit der uns wohlbekannte und werthe Pfarrer Röller, der nun auch schon längst in Walhallas Gefilden predigt. Ein Mann von seltenen Talenten, aber schon als Student politisch anrüchig, sintemalen er eifriger Burschenschafter und am Frankfurter Putsch betheiligt gewesen war. Er konnte sich auch noch als Candidatus die lichtere Anschauung der Welt und die Sehnsucht nach einem einigen, großen, freien und starken Deutschland nicht abgewöhnen und er hätte deshalb wohl auch das Schicksal vieler Zukunftspastoren von damals gehabt, das heißt: er wäre ohne Pfarre geblieben, und hätte als armer Hauslehrer oder als beneidenswerther Dorfschulmeister den Abend seines Lebens herbeimagistern können, wenn ihn nicht gerade das Jahr 1848 mit einem demokratisch gesinnten Patronatsherrn zusammengeführt hätte, der ihn ohne langes Federlesen auf die nicht ganz üble Pfründe zu Bergen versetzte. Dieser seltene Kirchenpatron war Wilhelm Adolph von Trützschler auf Falkenstein, Mitglied des deutschen Parlaments zu Frankfurt.

Hut ab! wir sprechen von Trützschler. Welchem Volksmann aus jener Zeit dränge dieser Name eines deutschen Märtyrers nicht durch Herz und Seele? Auch mich ergriff die Erinnerung an diesen grausam geknickten Stamm aus den Bergen des Voigtlandes tief, doppelt tief bei dem Anblick dieses lieblichen Dorfes, einer bescheidenen Stelle, die aber dennoch zu Trützschler’s stillem Wirkungskreise, zu seiner speciellen Heimath gehörte. Der Geist dieses edlen Todten umschwebte uns schützend im seinem Dörfchen. Hier galt es, Proviant aufzutreiben, Kleider und besonders Schuhwerk zu requiriren. Dazu eine Scheere, um unsere sehr überflüssigen Bärte zu beseitigen.

Ich hatte mich mit gutem Vorbedacht nach diesem Dörfchen gewendet. Hier war ich sicher, das Allernöthigste zu erhalten. Die Frau Pfarrerin war meine erste und wärmste Schulliebe und eine wackere Cameradin meiner Knabenzeit gewesen, welches freundliche Verhältniß sich noch in die ersten Jünglingsjahre hineinzog. Frau Pfarrerin war ruhig, fest und entschlossen. „Sie wird gewiß Rath schaffen,“ dachte ich. Die einzige Schwierigkeit war, wie wir in unseren nicht eben modernen Anzügen in’s Pfarrhaus gelangen wollten, ohne Aufsehen zu erregen, denn zu unserer halben Verzweiflung wollte es gar nicht dunkel werden, und außerdem wollten wir das Pochen aus dem Schlafe wohlweislich vermeiden.

Kurz entschlossen, ließ ich Blankmeister im Walde zurück, da seine Gestalt immer noch weitaus die verdächtigere war. Ich sah nach beiderseitigem Urtheile noch leidlich aus, knöpfte den schwarzen Rock über die unbehemdete Brust und wandelte herzhaft auf den Pfarrhof los. Barfüßige Handwerksbursche, die um einen Zehrpfennig und um ein Nachtlager anhielten, waren in jener Gegend gewiß auch nichts Seltenes, und außer der Pfarrfamilie kannte mich Niemand im Dorfe.

Mariens Mutter begegnete mir im Hofe mit einem Kinde auf dem Arme. Sie erkannte mich sofort; allein sie hatte Geistesgegenwart genug, da fremde Leute um uns herum waren, mich nicht zu kennen, und wies mich, wie wahrscheinlich noch manch andern Handwerksburschen, an den Herrn Pfarrer. Der Herr Pfarrer aber, der von jeher etwas ängstlich gewesen war und dem man außerdem zu jener Zeit einen politischen Proceß an den liberalen Hals zu hängen beflissen war – was ich natürlich nicht wissen konnte –, verlor bei meinem nicht ganz gewöhnlichen Anblicke beinahe den Kopf. Glücklicher Weise war er mit mir allein im Zimmer.

„Fritz,“ rief er fast entsetzt aus, „Du machst mich unglücklich. Fort – fort!“

„Ich will nichts von Dir als Brod,“ antwortete ich, „und was ich sonst brauche. Ich rathe Dir, zu geben und zu schweigen, oder ich stecke Dir den rothen Hahn auf’s Dach. Wir sind eine ganze Bande.“

Selbstverständlich brauchte ich diese Drohung, um dem Pfarrer im Falle des Verrathes meiner Einkehr die kräftige Entschuldigung zu ermöglichen, als sei er durch meine fürchterliche Drohung gezwungen worden, mir zu willfahren.

Das Beste war jedoch, daß der Herr Pfarrer verschwand und die Frau Pfarrerin mich ohne langes Besinnen zur Hand nahm. So war ich denn in die rechten Hände gerathen. Sie fürchtete den tollen Jungen von ehedem nicht, der heute als eine Art Räuberhauptmann in ihr Haus gefallen war. Sie schaffte rasch einen Laib Gerstenbrod zur Stelle, schnitt ihn auf und brachte nach voigtländischer Bauernsitte ein gehöriges Stück Butter in ein ausgehöhltes Loch, das hiermit wieder ordnungsgemäß verschlossen und somit transportabel gemacht wurde, brachte zwei Paar Stiefel, zwei Hemden, ein Paar „Unaussprechliche“ für meinen Exbürgermeister, eine flotte Scheere und ein paar Thalerchen Geld – „Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“ – führte mich im tiefsten Zimmer- und Abenddunkel noch zu ihrer Schwester, die krank im Bette lag und sich über meine Flucht beinahe gesund freute; dann ging es, ohne den Herrn Pfarrer noch einmal zu besuchen, das Bündel auf dem Rücken, über einen langen dunkeln Heuboden hinweg, und nach einem kurzen Abschiede, nach einem tiefherzigen „Leb’ wohl, Marie!“ – „Leb’ recht wohl, Fritz, und denke zuweilen an uns!“ – stand ich mit Einem Satze unten im Baumgarten und huschte durch Häuser und Büsche, über Hecken und Zäune wie ein echter und gerechter Zigeuner

Zum Wald, zum Wald,
Zum frischen, grünen Wald.

Dort wurde zuvörderst ernhaft und mit einem echt obervoigtländischen Appetit Gerstenbrod und Butter getafelt. Dann ging es an die Toilette; Hemden und Stiefel wurden mit Wonne angezogen, und zum Schluß schoren wir uns, soweit es der helle Abend noch gestattete, gegenseitig die Bärte aus dem Gesicht, wenn auch nur im Gröbsten. Adieu, mon Henri quatre

Nun wurde der übrige Brocken sorgfältig eingepackt, und vorwärts ging es wieder auf Schusters Rappen und auf geistlichen Sohlen durch das thauige Thal hinab, in die Nacht und in die Fremde hinein

Bei Sturm und Wind marschiren wir,
Der Wald ist unser Nachtquartier,
Der Mond ist uns’re Sonne.

Bei allem Criminalhumor entwickelte sich jedoch immer fühlbarer eine ziemliche Müdigkeit. Ohne uns lange zu besinnen, huschten wir in einen Kornacker und verschwanden in diesem uns vertraut gewordenen Zauberkäppchen. Allein – trotz 29. Juli – Erde und Nacht war kühl. Mein dünner Rock [31] und Blankmeister’s wollene Jacke waren keine Soldatenmäntel, und Brod allein vermochte die Feldflasche nicht zu ersetzen. Wir konnten nicht schlafen. Da trabte noch zum Ueberfluß ein Reiter zu Pferd nahe an uns vorüber. Wir hörten so Etwas wie einen Säbel rasseln, und unsere noch immer aufgeregte Phantasie sah natürlich sofort einen leibhaftigen reitenden Gensdarm, der wie der Erlkönig durch die weißen lichten Nebel des kleinen erlengespickten Thales dahinsprang, und da wir ja doch nicht schlafen konnten, so spornten wir unsere flüchtigen Beine ernstlichst zur Weiterbeförderung an und passirten so gegen Mitternacht das gut demokratische Städtchen Treuen, um hier den letzten königlich sächsischen Nachtwächter und dessen harmonischen Stundenruf zu genießen, der mit dem bekannten vormärzlich diplomatischen Zuruf schloß:

„Bewahrt das Feuer und das Licht,
Damit Niemandem kein Schaden geschicht!“

Wir beiden achtundvierziger und neunundvierziger Lichtaufstecker begriffen Dies. Schweigend durchschritten wir die alten Gassen, grade und krumme, und suchten so rasch wie möglich den schützenden Wald zu erreichen, in dessen Dunkel bei friedlichem Wipfelrauschen wir uns in’s weiche Moos betteten, um uns zum letzten Male in der engeren Heimath, „auf der Flur, wo wir als Knaben spielten“, eine Spanne Nacht lang in der lieblichen Wiege des Traumes zu schaukeln.

Während wir hier so harmlos in des Waldes Armen schlummern, sei mir ein kurzer Rückblick auf die von uns so treulos Verlassenen gestattet. Das Scheiden von der traulich düsteren Frohnveste war uns nach der Parodie des Chamisso’schen Zopfliedes:

’s war Einer, dem’s zu Herzen ging,
Daß man ihn für das Zuchthaus fing –
Er wollt’ es anders haben!

sehr zu Herzen gegangen.

[62] Nach dem Tage der Sonnenfinsterniß stand selbstverständlich Jedermann spät auf; so auch Amtmanns, Actuariusens, Kanzlistens und Copistens, Wachtmeisters und Hülfsgeisters. Ja, unser zarter Freund, der Actuarius Longus, soll in jenen Tagen sogar an den Folgen eines unfreiwilligen Falles in die Elster bedenklich erkrankt gewesen sein. Als uns nun unser guter Rabe das übliche Morgenfutter an den Thürbarren zu bringen gedachte, hatten die beiden leichtsinnigen Vögel, die gestern Abend noch so fest saßen, ihre Käfige ohne alle Aufkündigung verlassen. Statt ihrer – ein buntes Gemengsel von Ziegeln, Holz, Kohlen, Asche, Kalk, Ofenthüren, zerbrochenen Thürlatten, Besen, wie in einem verlassenen Pfahlbau! Die beiden Kamine von Nr. 12 und 13 starrten dem starren Auge des treuen Wachtmeisters entgegen wie zwei ausgebrannte Krater eines Vulcans, die sein ganzes Glück, all seinen Stolz und all seine Freude auf immerdar verschlungen hatten.

„Hört’ ich das Pförtchen nicht gehen?
Hat nicht der Riegel geknarrt?“

Nichts von alle Dem. Auch keine Spur mehr als die zersplitterte Thüre nach dem Oberboden! Kein Seil? kein Dietrich? kein Brecheisen? Nichts! nichts!

Kurz darauf war das ganze Städtchen alarmirt. Zuerst vernahmen die Officiellen die Schreckenskunde. „Sie sind fort!“ Dann brandete die entsetzliche Nachricht an das Ohr der Officiösen: „Die Kerle sind fort!“ Hierauf aber jubelte es durch alle Gassen, in allen Häusern, auf allen Wegen und Stegen, wo Freunde sich begegneten. „Gottlob! sie sind fort!“

Gleichzeitig durchflogen Beamtencolonnen und Depeschen das ganze Land, und in Adorf selbst wurden die Häuser aller Verdächtigen vom Giebel bis zum Keller durchsucht und weder das Lager kranker Frauen noch die Hutschachteln unschuldiger Handelshäuser waren sicher vor den aufgeregten Argusaugen der Hermandad.

Die noch gegen Caution entlassenen „Maikäfer“ mußten sofort die vacant gewordenen Plätze für uns einnehmen, und sie summten und brummten zornschnaubende Reden herab auf das Pflaster gegen die entflohenen Collegen und Rädelsführer. Die Verzweiflung, uns, die Verführer, fort, sich, die Verführten, in Banden zu wissen, hatte ihnen für den Augenblick den Kopf verdreht. Kurz, wurde gestern zu Ehren der Sonnenverschleierung ein halber Tag den Göttern Bacchus und Bummelius geopfert, so gab es heute unter den Demokraten des Obervoigtlandes einen ganzen Tag „Ausflugfeier“. Auch hob eine gewaltige Untersuchung wegen Fluchtbegünstigung sofort und allen Ernstes an, welcher aber einzig mein frühester Jugendfreund, Schneidermeister Franz in Adorf, zum Opfer fiel, der wegen der Unthat, mir bei einem früheren Fluchtgelüste eine famose Eisensäge zugesteckt zu haben, sechs oder acht Wochen lang in der so gastlichen Frohnveste Aufenthalt zu nehmen gezwungen wurde.

Draußen aber ging es an jenem 29. Julius ganz furibund zu. Wie ich vorauscalculirt hatte, wurde die böhmische und baierische Grenze mit wahren Perlen der Grenzaufseherkunde besetzt, alle gutgesinnten Waldheger, Polizeidiener, Dorfwirthe, Straßenreiter und Dorfrichter mußten „auf Deck“. Wiederfangungsnachrichten durchkreuzten die Luft, und bis nach Friedrichshafen und Lindau hinauf, an die wohlbekannten Ausladungshäfen jener Zeit am schwäbischen Meer, gingen Fahndungsagenten ab; ja der ehedem so gemüthliche Wachtmeister bedauerte unsere Abreise so sehr, daß er einige hundert Thaler auf unsere Köpfe aussetzte. Wohl mehr Blitzableiter für ihn, als Blitz für uns.

In dem bömischen Städtchen Asch, dessen Turnlehrer uns heraus geholt haben sollte und sich der That vielfach selbst rühmte, in dem bairischen Städtchen Selb und nach vielen andern Himmelsgegenden hin wurde gesucht, allein, wie wir wissen, auf falscher Fährte.

Um Mittag herum wälzte sich endlich auch eine Untersuchungscolonne gegen meinen Wohnort, gegen das wunderschöne, wie ein heller Maimorgen am südlichen Abhange des Capellenberges hängende Dörfchen Schönberg in der äußersten Südspitze des königlichen Sachsenreiches. Eben wollten die Meinigen daheim, nach alter Väter Sitte, zu Tische sitzen, als ein Actuarius (jedoch nicht mein viel gerühmter Leibcriminalist!), merkwürdiger Weise gerade jener, der schon im Jahre 1848 zu Voigtsberg mein Revolutionsfieber in erste Behandlung genommen hatte, feierlichst hineintrat. Hinter ihm der gute Wachtmeister, der aber heute, nach seinem Lieblingssprüchworte, nicht „lachen mußte“, trotzdem er’s „nicht wußte“. Eine halbe Compagnie Gerichtsschöppen, Richter und Oberrichter durften nicht fehlen. Meine Mutter hatte sich in jenen Zeitläufen an die Haussuchungen gewöhnt. Unberührt von der etwas unbefangenen Situation ihrer Gäste, lud sie alle scherzweise zum Mittagsessen ein. Da schüttelte der Actuar trauernd das Haupt und sprach mit hohler Stimme: „Ihr Sohn ist entsprungen.“

Das überraschte meine alte um mich schwer besorgte Mutter so, daß sie Messer und Gabeln fallen ließ, und mit dem Rufe, der das ganze Haus alarmirte: „Der Fritz ist fort“ stürzte sie zur Thür hinaus, über den Hof, in die nahe Dorfkirche, um dort am Altare ein heißes Dankgebet zum Herrn der Heerschaaren emporzusenden für meine aufgegebene Rettung.

Die Gerichtsbeamten ließen sie ruhig gewähren, und als mein Vater bald nach Hause kam, begann die Hausdurchsuchung. Der Herr Actuarius begriff wohl, daß der Fritz nicht so einfältig war, sich in’s väterliche Haus zu setzen, dennoch wurde jedes Winkelchen (das sie fanden) pflichtgetreu durchstöbert. Die Arbeit muß gethan werden, dazu ist sie da.

Von all den officiellen und nicht officiellen Pfiffici vermuthete, ganz nach meiner Berechnung, kein Einziger unsern wirklichen Fluchtpfad. Erst nach vierzehn Tagen erfuhr man aus einem „natürlich“ aufgefangenen, das heißt von der Post ausgelieferten Briefe eines unvorsichtigen Freundes, bei dem wir logirt hatten, die Gegend, in welcher wir waren. Kein Einziger glaubte auch an unsere Flucht, wie sie sich wirklich einfach zugetragen. Erst nachdem ich aus der Schweiz dieselbe heimgeschrieben, und mein Brief überall sehr rasch bekannt geworden war, mußte sie ein kühner Kaminfegergehülfe für einen blanken Thaler nachexerciren, und erst als dieser kleine Waghals uns richtig nachausgebrochen war, beruhigte sich Mutter Justitia einigermaßen und stellte die Jagd auf Fluchtgehülfen allmählich ein.

Noch heute glauben manche Bewohner jener Gegend – wie die Franzosen von 1870 – nicht die Kraft habe gesiegt, sondern der Verrath, und der Verdacht heftete sich leider auch an die Familie des alten Wachtmeisters, was mir recht in der Seele leid that. Besagte Familie behandelte uns recht freundlich, aber von einer Pflichtverletzung konnte bei Uhlmann’s strengem amtlichem Pflichtgefühl und seiner starken Familie nicht die Rede sein. Diese Erklärung bin ich dem Manne im Grabe, nach dreiundzwanzig Jahren und unter dermalen ganz ungefährlichen Verhältnissen, zu geben schuldig. –

Es war Morgens gegen drei Uhr, als uns die Kühle aus den „Waldflaumen“ aufjagte. Gerade etwa vierundzwanzig Stunden nach unserm Ausbruch. Schon belebte sich die Straße; Krämer, nach Gespräch und Körben zu urtheilen, suchten einen Markt;

Denn hier war keine Heimath! Hier ging
Der sorgenvolle Kaufmann und der leicht
Geschürzte … Flüchtling.

Ich wußte nicht zu fern eine einsame Waldschenke. Diese Aussicht war für uns romantisch und praktisch zugleich. Wir sehnten uns nach etwas Wärmerem als Waldeshauch. Bald standen wir vor der niedrigen Pforte dieser sehr bescheidenen Osteria des mittleren Voigtlandes. Wir klopften leise. Eine nicht mehr ganz im Flügelkleide rosiger Jugend sich befindende Walddame, barfuß, im leichteren Nachtgewande, als die schwere Zeit erlaubte, ein wenig schiefwinkelig gebaut, die Haare etwas morgenlich unwirsch, öffnete die Pforte. Statt zu brummen, wie wir nach dem ersten Anschauungsunterricht erwartet hatten, war das Mütterchen äußerst artig. Es lud uns zuvorkommend [63] „in die Stube“ ein, und uns erging es, wie es so manchmal geht im Menschenleben; ein allzu schlichter Band umfing ein freundlich Buch, an das man gern denkt sein Lebtag.

„Ihr werdet zum Markt wollen?“ eröffnete sie das Gespräch.

„Ja, ja, Mutter? Wir kommen von Schöneck und sind schon die halbe Nacht auf dem Wege –“

„So, so Weber! Ist ein Glas Branntwein gefällig?“

„Ein Kaffee wär’ uns lieber!“

„Je nun, den könnt Ihr auf der Stelle haben. Geht gar nicht lang’!“ sagte sie und verschwand im dunklen Raum der Küche.

In kaum fünfzehn Minuten brachte uns die „Frau Wirthin“ wirklich einen landesüblichen Mocca mit Butter, Brod und Handkäse, wie ihn der stolzeste Fuhrmann, alten Datums, Land auf Land ab, nicht stattlicher hätte verlangen können,

„in Anbetracht der Stunde und des Zweckes.“

Hungrige Husaren auf Commissariatseilvormärschen, die vierundzwanzig Stunden lang im Sattel standen, können nicht toller einhauen, als wir es thaten. „Waldmütterchen“ schaute uns schmunzelnd zu, sichtlich erfreut über die Ehre, die wir ihrer Kochkunst angedeihen ließen. Sie unterbrach uns nur einmal mit der Frage: „Ihr sucht wahrscheinlich Arbeit?“ denn für einen ehrlichen Marktkrämer schien ihr denn doch unser Appetit allzu en gros.

„Ja, Mutter, wir haben unsern alten ‚Schütz‘ quittirt, um uns auf die ‚Walze‘ (Wanderschaft) zu begeben.“

Endlich fragten wir nach der „Schuldigkeit“. Sie lautete auf ganze drei Neugroschen vier Pfennige. In unsern dermaligen Zeitläufen ein wahres Waldmärchen!

Dies war wieder der erste Verkehr mit einem vaterländischen Wirthshaus, mit einer menschlich fühlenden Brust. Heiter und wohlgemuth, von den besten Wünschen der geraden Seele unter gekrümmtem Rücken begleitet, verließen wir die edle Waldschenke, deren Schild ich leider nicht erkannte. Sie heiße „Zur Heimath“.

Auf mir wohlbekannten Wald- und Feldwegen schlugen wir nun die directeste Linie nach Greiz ein, um die Grenzen eines zweiten deutschen Großstaates gelassen zu überschreiten. Nicht lange, und wir huschten zwischen zwei Wärterhäuschen über die bairisch-sächsische Eisenbahn, unter dem Telegraphendraht hinweg, der gestern und heute gewiß etwas Weniges von uns zu erzählen gewußt hatte; dann hinab in das Göltzschthal und hinüber auf den gegen die Residenzstadt vorspringenden Waldhügel, dessen Stirn damals noch das unverkennbare Merkzeichen „höherer“ Gerichtspflege trug, einen sichtlich wohlgepflegten Galgen. So waren wir dem Zuchthaus entsprungen, um am Galgen Anker zu werfen. Da wir es nicht für rathsam hielten, in der Hauptstadt Greiz mit ihren schwarz-roth-goldenen Schlagbäumen und Verbotstafeln am hellen Tage unsern Triumpheinzug zu halten, so wurde das letzte Marienbrod aus der Bergner Pfarre verzehrt und hierauf im warmen duftigen Waldschatten „ein Schläfchen unterm Galgen“ draufgesetzt.

Als es dunkelte, sagten wir unserem Galgenberg fröhlich Adieu und stiegen guter Dinge hinab in die civilisirten Staaten der später noch berühmt gewordenen Carolina.

Kurz wurde die weithin bekannte Hellmund’sche Liqueurfabrik sondirt und hierauf bei Papa Berg, dem damaligen unumschränkten Beherrscher unzähliger geistreicher Fässer, eingefahren – wie der Drache in der Volkssage. Hier, im Hinterhause, besorgt und aufgehoben, genossen wir wieder das erste christmenschliche Nachtessen in der Freiheit. Suppe! Braten! Bier! Herz und Mund ging über und unsere Seelen flammten empor zu einem verzehrenden Hymnus an die Küche der liebenswürdigsten deutschen Hausfrau. – Auch die erste Zeitung kam uns hier in Sicht; es war die gute alte „Leipziger“; an ihrer Brust das urgemüthliche königlich sächsische Wappen, auf ihrem Rücken eine Masse Concursanzeigen, Edictalladungen, Verlobungs-, Geburts-, Todesnachrichten und unsere solennen – – Steckbriefe! – Unsere Freude war groß bei einem Glase echt fürstlichen Schloßbieres, uns von sachverständiger Hand so recht Schwarz auf Weiß abconterfeit zu lesen. Blankmeister’s Bildniß, ebenso bezaubernd schön wie das meinige, ging mir verloren. Das letztere habe ich für die Unsterblichkeit und meine spätesten Nachkommen gerettet. Die „Tante“ aber drückte ich noch einmal zärtlich an’s Herz. Dann lullte sie mich ein in lieblichen Schlummer.

Selbstverständlich interessirt ein größeres Publicum nicht Alles, was den Flüchtlingen damals und heute noch Herz und Erinnerung erfreut, und so werde ich von nun an nur die wichtigeren „Augenblicke“ hervorheben, „wo uns der Weltgeist näher stand als sonst“.

… In kurzer Zeit trug uns ein zweispänniger Fiaker durch die landstädtischen Thore der großherzoglich weimarischen Kreishauptstadt Weida. Das genannte Großherzogthum schwamm damals, wie später und früher, nicht mit in dem dicken Schlammstrome der Reaction. Wir waren in diesem Ländchen ein gut Theil sicherer, als auf jedem anderen Stückchen deutscher Erde. Dazu kam, daß ich von Jena her, burschikosen Angedenkens, eine ziemliche Anzahl Freunde in der „Kümmeltürkei“ besaß. In Weida selbst residirte und regierte einer meiner intimsten Jugend- und Universitätsfreunde, als wohlbestallter und gestrenger Herr Bürgermeister, und so rief ich Blankmeister zu:

„Zu ihm laß mich mit Dir, Geliebter, ziehn!“

Zum Tyrannen von Weida!

Kutsche und Kutscher schwammen wie ein Staubwolkenkomet in’s Greizer Ländel zurück. Wir zogen stolzen Schrittes, wie zwei Spanier, in Weidas Mauern ein. Mitten unter den Vätern der Stadt saß August, der lebensfrohe Kämpe, und sonnte sich in den Strahlen seiner Macht. Ich winkte ihm. Er nahm mich in das Nebenzimmer. Ein flotter Kuß und: „Ich habe Dich erwartet, Junge, laut Steckbrief. Ich kann die Stadtverordnetenversammlung nicht aufheben. Hier der Schlüssel zu meinem Bureau! Dort ruht aus. Ich komme nach.“

Wir besetzten das Bureau und ebenso eilig benutzten wir die schöne Stunde und entnahmen dem ziemlich umfangreichen Paß- und Paßkartenvorrath das Nöthigste. Blankmeister reiste von nun an als simpler Müller und ich als „jebildeter“ Tapetenhändler Fischer. Alles in Ordnung, ohne August’s Mithülfe.

Sobald es tief Abend geworden war und selbst Freund August nicht zu uns sagen durfte: „Herr, bleibe bei uns!“ verließen wir aus naheliegenden Nützlichkeitsgründen auch diese Metropole deutschen Gewerbfleißes selbdritt und hoch auf Schusters Rappen, um auf’s Neue die Nacht, die rabenschwarze Nacht, auf unsere Pfade zu streuen.

Es wurde Vielerlei geplaudert, und wir gedachten einen langen Marsch zu thun; jedoch der Mensch denkt – der Bürgermeister lenkt, und auch in Großebersdorf war das Wirthshaus nicht umsonst an die Straße gebaut, wenigstens nicht für ehemalige Studenten, die heute zum letzten Male miteinander kneipen sollten:

„So zogen die Bursche wohl gegen den Rhein,
Bei einer Frau Wirthin da kehrten sie ein;
Die hatte ein schönes Töchterlein.“

Ja wahrhaftig, die hatte ein schönes Töchterlein, und uns kam die uralte heitere Studentenstrophe in den Sinn:

„Des Landes Töchter an das Herz zu pressen,
Des Dorfes Bier und seine Stärke messen,
Ist praktische Geographie.“

Hier wollten wir nun geographische Studien, wenigstens im Betreff des zweiten Capitels, beginnen, während andere, nicht vom Schicksale so wie wir hinausgerüttelte und ‑geschüttelte Menschenkinder längst schon auf dem Ruheohr lagen. Der Wirthin Töchterlein führte uns auf einen Wink des gestrengen Herrn Bürgermeisters in das matterleuchtete Hinterstübchen; aber so hold und süß auch diese letzte Rose das Voigtlandes dareinsah, so sauer war leider das neue Schenkbier, vermuthlich eine traurige Folge der vorgestrigen Sonnenfinsterniß, so daß uns von solch fürchterlicher Sauertöpferei das Töchterlein selbst besorgt und ernstlich abrieth. Meine beiden Bürgermeister dagegen („Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitte“), die von Alters her einem gespürlichen Tropfen gar nicht abhold waren, ließen sich von dem hübschen Kinde, der Königin Agnes, wie sie sie nannten, einen steifen Grog brauen. Ich blieb, der fortzusetzenden Waldnachtwanderung wegen, beim prosaischen Zuckerwasser und Mädchengeplauder. Die beiden Verfechter der menschlichen Gerechtigkeit geriethen nur allzubald in eine gewaltige Aufregung und seltene Schwerhörigkeit, so daß sie unsere Fahrt so leise und geheimnißvoll behandelten, daß man es deutlich vor den Fenstern hätte vernehmen können, weß Geistes [64] Kind die späten Wanderer waren. So wurde denn der Wirthin Töchterlein wohl oder übel zur gewissenbeladenen Mitwisserin zweier flüchtiger Hochverräther. Es hat ihm das Herz nicht gebrochen, denn so viel ich aus den sagenhaften Klängen vergangener Tage erlauschen konnte, credenzt unsere jugendliche Wirthin von damals noch heute munter und frisch die Becher der wandernden, wie der stabilen Menschheit.

Mühler’s „Grad’ aus dem Wirthshaus’ komm’ ich heraus etc.“ wäre nicht übel angebracht gewesen, allein – die Scheidestunde hatte uns betrübt gemacht. Wir drückten uns warm an die Brust. Ein letzter Kuß, ein letzter trauter Druck der Hand! Es war der allerletzte![2]

August und der Wirthin Töchterlein hatten fürsorglich für uns gedacht; der „Nachtwächter von Großebersdorf“, ein ernstes Exemplar seiner nun halbverschollenen Zunft, begleitete uns für ein angemessenes Trinkgeld und im altgermanischen Ornate, mit Horn und Pike, bis an die Marken seiner Staaten, allwo uns am rauschenden Walde die breite, mir wohlbekannte Straße aufnahm. – Noch ein letzter Blick hinab zur freundlichen Herberge, in welcher das Licht soeben erlosch – und wir standen wieder allein „auf weiter Flur“. Wem wäre da wohl nicht die bittersüße Strophe eingefallen:

Auch Keinem hat’s den Schlaf vertrieben,
Daß ich am Morgen weiter geh’.
Sie konnten’s halten nach Belieben –
Von Einer nur, da that mir’s weh.

Etwa anderthalb Stunden später, Morgens nach drei Uhr, schwangen wir uns im Städtchen Münchenbernsdorf über den Gartenzaun des damals dort wohnenden Apothekers Becker, ebenfalls eines alten Universitäts- und Herzfreundes von mir. Auch in diesem stillen Wirkungskreise der alten Firma Mercur und Aesculapius war „der Steckbrief als Vorreiter“ bereits galoppirend eingetroffen. Wir ruhten in diesem Hafen um so sicherer.

[102]

Ueber Jena, Dornburg, Camburg,
Zogen die Hussiten vor Naumburg;

Ueber Rohda, Lob’da, Wöllnitz – zogen wir, in sothanen prosaischen Stunden aus dem Reim fallend, vor Jena, das unvergeßliche Saal-Athen. In Wöllnitz mußte Halt gemacht werden, um von diesem bekannten strategisch wichtigen Punkte aus die Laufgräben weiter zu eröffnen. In Wöllnitz kamen wir in frühester Stunde an, die grünbelaubten Weinberge, von denen der Student so erbarmungslos singt –

daß sie uns den Magen zwicken
und den Strumpf zusammenflicken –

hoben sich lachend aus dem Morgengrauen heraus, das die alten Exkneipen, Burgen und Bierstaatsresidenzen noch in gemüthlichen Nebel hüllte. Hoch droben liebäugelte schon mit den ersten Sonnenstrahlen der weltberühmte Paukplatz, wo ich gar manchmal mitgewaltet als Zuschauer, Zeuge, Secundant oder als Paukant, und wo wir öfter von dem „verfluchtesten Kerl“ unter allen Pedellen, dem dicken Kahle, im Schweiß unseres Angesichtes noch weiter aufwärts getrieben wurden, umpanzert von unbefriedigtem Blutdurst und Paukwichs. – Beim Burgvogt aller Burgvögte jener Zeiten, „bei Häring“ (ein wahrer Häring für alle Katzenjammer der Herren Studenten) – stiegen wir ab. – Von da holten uns am Abend, nachdem wir dem berühmten Wöllnitzer, das zwischen Reben aus Malz und Hopfen als Broyhan trefflichst gedeiht, alle Ehre angethan hatten, einige mir befreundete Burschenschafter nach Saal-Athen. In der alten, ewig jungen Musenstadt hielten wir uns vom 3. bis zum 10. August auf, theils bei den Germanen, theils bei den Teutonen, deren alter Mitbegründer ich war, versteckt, aber nicht sonderlich, denn bald wußte es fast die ganze Studentenschaft, daß abermals sächsische Maikäfer herumschwirrten. Hier erwartete ich, um studentisch zu reden, vom väterlichen Hause meinen Reise-„Wechsel“, um nach Einnahme dieser Ladung sobald wie möglich mich aus dem verführerischen Hafen hinaus bugsiren zu lassen auf die weite, unbekannte See des Lebens. Wir waren hier nur allzu sicher, so daß Blankmeister sogar unter der Maske eines Vehmrichters einen Umzug durch die Stadt mitmachte. Die hohe Stadtpolizei selbst, ein alter Commilito, hatte uns zugesichert: sie würde sofort einen väterlichen Wink geben, wenn „Etwas los wäre“. Hier nahm ich auch von treuen und lieben Seelen, die meine Sturmjahre zu allen Zeiten lieblich umblühen werden, wie wunderbare Märchenrosen aus „Tausend und einer Nacht“, schwerbeklommenen Abschied. „Es war bestimmt in Gottes Rath!“ – So schwanden die Tage rasch dahin, und als ich mich gehörig herausstaffirt hatte und Tags zuvor der berühmte Polizeianzeigermann Eberhardt von Dresden, laut Polizeibericht eines alten Jenensers, in Saal-Athen angekommen war, ohne etwas von uns zu merken, nahm ich von meinem Genossen Blankmeister Abschied, dessen beflügelter Kiel mit einigen Mecklenburgern hinab in die Ostsee segelte, um in Amerika sagenklangartig wieder aufzutauchen. Seine weiteren Abenteuer und Lebensläufe sind mir bis auf den heutigen Tag unbekannt geblieben. Er hat mir, seinem Befreier, nicht eine einzige Nachricht zukommen lassen.

In der Nacht vom 10. auf den 11. August wanderte ich mit dem Germanen Ferdinand Becker, stud. med., durch das Thor der alten Musenstadt.

„Bemooster Bursche zog’ ich aus, Adje!“

An der Oelmühle und an andern Mühlenrädern „im kühlen Grunde“ vorüber, wo Anno 1844 ein liebliches Röschen und Bäschen gewohnt hat, die berühmte Schnecke empor auf das classische Ilm-Athen los. Es war eine freundliche Sonntagnacht. In den Schenken an der Heerstraße „tönte Geig’ und Clarinette“, wie Lenau singt, allein wir kehrten nicht beim nächsten und nicht bei einem Wirthshaus ein.

Wir pilgerten ruhig unsere Straße; auf meine Seele lagerte sich eine ganze Welt von Erinnerungen, denn wir wandelten auf historischem Boden, in doppelter Beziehung. War ich auch Voigtländer von ganzer Seele, so war doch Thüringen, das schöne, sagenreiche und classische Thüringen, das Land meiner Väter. Viele Dörfer und Namen dieser Gauen wanden sich wie Blumenkränze um die Erinnerungen meiner frühesten Jugend. In Thüringen, welches ich heute durchzog, flüchtigen Fußes und vaterlandslos, wohnte als stattlicher Bauer vor etwa zweihundert Jahren mein ältester durch Kirchenbücher erreichbarer Ahnherr auf freiem Hofe; ihm folgte manch kräftiger Stammhalter bis herab zu meinem Vater, der abermals in Tiffurth und Zwätzen seine Lehrjahre bestanden, in Jena seine Studien gemacht hatte und 1813 auch von hier aus, als freiwilliger Reitersmann, für das deutsche Vaterland

Mit Friedrich Wilhelm’s Macht
Gezogen in die Leipz’ger Schlacht –

und noch in manche Schlacht und in manch Scharmützel von 1813 bis 1850 für Freiheit und Einheit des deutschen Vaterlandes. Meine Mutter war die älteste Tochter Klinger’s, des Hofgärtners der Großherzogin Amalie in Tiffurth bei Weimar, der unsterblichen Mutter des unsterblichen Herzogs Karl August. Ueber sie waren, als achtjähriges Kind, die furchtbaren Kriegsdrangsale von 1806 bis 1812 dahingebraust, mit fürchterlicher Wucht vor Allem die Folgen der Schlacht bei Jena, auf deren Schauplatz wir soeben dahinschritten. Ihr Vater gehörte zu den Freunden Frankreichs jener Tage, die dem verführerischen Rufe: „Krieg den Palästen, Friede den Hütten!“ vertraut hatten, bis sie dreimal geplündert, verarmt und elend, ohne Hütte, dem Kriegs- und Hungertyphus unterlagen, um mit Heine, dem Bewunderer jener Tage, ausrufen zu können:

„Du hast mich zu Grunde gerichtet –
Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“

Meine Mutter hatte aber auch noch die Abendsonnentage der glorreichen Dichterheroenzeit Ilm-Athens und Tiffurths gesehen und konnte sich recht wohl an die meisten hervorragenden Persönlichkeiten, selbst an Schiller, noch erinnern, und Wieland wohnte eine Zeit lang in ihres Vaters Hause; ebenso an Goethe, Herder, kurz an alle die Günstlinge der Musen ihrer Zeit, sowie vor Allem an Karl August, den Herzog ohne Furcht und Tadel. Sie sämmtlich waren Zeitgenossen und unvergängliche Bilder ihrer Kindheit. Sie sah noch die zauberischen Schäferspiele und Komödien im Parke zu Tiffurth mit eigenen Augen an, in denen die Gnomen und Bergmännlein durch die goldglänzenden Büsche und Wipfel schlüpften, Elfen und Wassernixchen sich auf den krystallenen Fluthen der Ilm schaukelnd wiegten, Sirenengesänge, Aeolsharfen und Zaubermusik aus weiter, weiter Ferne die lauschende Seele durchhauchten, Blitze zuckten, Donner rollten, Bauer, Edelmann und Prinz in Eintracht mit Prinzessin, Edelfräulein und Bauerdirne auf dem grünen Plane dahinwalzten. Diese Erlebnisse ihrer Kinderjahre durchwoben wie lichte und liebliche Blumensterne ihr ganzes, langes Leben, und all diese hundert Erzählungen und Erinnerungen hatten sich auch in meine Seele tief eingeprägt, denn „auch ich war in Arkadien geboren“. Auch ich hatte als Knabe und als Student unter dem Schatten flüsternder Riesenlinden den Manen jener unsterblichen Sänger des deutschen Volkes gelauscht, indeß die Wellen des Dichterflusses zu meinen Füßen dahinrollten, die eine große Zeit und deren Träger geschaukelt, gespiegelt und gebadet hatten. –

[103] Die alten Buchen des Webichtwäldchens bei Weimar mit allen ihren gemeinen, Silber- und Goldfasanen, ein Bild der Welt, grüßten mich als alten Bekannten, denn auch „in diesen heil’gen Hallen“ hatte ich als Knabe, an der Hand meines Onkels und meiner Tante frisches Waldleben genossen und zum ersten Male ein Hoftheater und darin das „Tausendschönchen“ gesehen, eine Zauberoper aus älterer Zeit, dieselbe würde mir längst entschwunden sein, wenn nicht darin der Hauptheld, ein zwerghafter Jägersmann, die kleinen „Gernegroße“ aller Zeiten in Wort und Bild auf’s Trefflichste persiflirt hätte. Er und nur er hatte Alles gedacht, vorausgehen, erfunden und gethan, und mit hoher Selbstbefriedigung sang er der Welt sein schönstes Lied mit dem ewigen Refrain:

„Denn in der Stadt
Nennt man mich nur
Den Riesen Goliath.“ –

In Weimar verließ mich mein treuer Begleiter, und ich besuchte Tante, Vettern und Bäschen. Die treue Tante und zwei Bäschen – ich hatte sie, wie so viele herzige Freunde meiner Jugend, zum letzten Male gesehen. Die Tante war eine dichterische, ideale Seele, von kleinbürgerlichen Verhältnissen in eine Lebensbahn gedrängt, die sie hohen Muthes wandelte, doch war sie, als Spiegelbild und spätes Echo jener frühen Dichter- und Künstlerzeiten ihrer Heimath, zu Höherem geboren. Ob sie glücklicher geworden wäre? – Sie ruhe sanft auf jenem weiten Friedhofe Weimars, auf welchem eine große Zeit begraben liegt. Sie, die stille, bescheidene Frau, gehörte ihr geistig an wie Wenige.

Bald jedoch drängte mich ein lieber freundlicher Verwandter, ein Hofbeamter der vierziger Jahre, möglichst rasch „zum Städtle hinaus“. Er hatte nicht ganz Unrecht, denn leicht konnte es dem Telegraphen einfallen, mich auf der Vetternstraße zu überraschen. Wir wanderten selbander hinaus auf ein einsames Dörfchen, das schon in der Nähe von Erfurt, dem Gärtnerparadiese, liegen mußte, denn es war gewürzig reich umkränzt von langen und breiten Feldern, von Coriander, Hirse, Mohn, Raps, Hanf, Flachs, kurz von einem wahren Meere von Handelspflanzen. Hier suchten wir bei einer freundlichen Lehrerfamilie behagliches Nachtquartier. Ich galt als ein Verwandter meines Vetters, als irgend ein Jäger aus Kurpfalz – – aber statt allein zu bleiben, trafen gleichzeitig noch mehrere Lehrer ein. Es mußten Ferien sein. Unter Anderen war auch ein redseliges Haus dabei, der, alle Hochachtung vor seiner Pädagogik vorbehalten, ein ganz vorzügliches Jägerlatein sprach.

Dieser Herr Lehrer erzählte uns beim Morgenkaffee mit allen möglichen Ausschmückungen meine Fluchtgeschichte, da er soeben aus dem obern Voigtlande ankam. Im Anfange glaubte ich, er kenne mich und wolle sich einen Spaß mit mir machen; allein bald erkannte ich, daß er auf eigene Faust fabelte. Man hatte uns in tiefer Nacht mittelst langer Himmelsleitern, die man an die Frohnveste gelegt, herausgeholt. Wer die „Man“ waren, wußte er nicht, wahrscheinlich ein Corps Böhmen aus den böhmischen Wäldern. Bei alle dem Eindringen über Gärten und Hofmauern und bei allem Einbringen von fürchterlich langen Feuerleitern – denn das Dach war sehr hoch – hatte Niemand etwas gehört. Der gute Dichter ahnte nicht, daß er dem Helden seines Romanes gegenüber saß; denn er fügte mir noch die Versicherung bei, daß er den Rödiger von Jena her ganz gut kenne. Mir machte dies natürlich viel Spaß; mein Hofmann saß dagegen sichtlich auf Kohlen.

Die Gesellschaft begleitete mich noch eine Strecke hinaus in die bäuerlichen Gewürzparadiese; dann wandelte ich allein zum Vetter Anton nach Gebesee, und von dort ließ mich der Vetter mit zwei fetten Ackergäulen nach dem 1866 so viel genannten Langensalza kutschiren. Meine Mutter hatte als Jungfrau einige schöne Jahre in dieser Stadt zugebracht, Grund genug, ihr ebenfalls einige Stunden zu widmen. Dort sah ich auch zum ersten Male Ulanen, jene preußische Reiterschaar, die in dem Kriege von 1870 und 1871 eine so glänzende Rolle gespielt hat.

Ein Langensalzaer Fiaker rumpelte mich glücklich nach Eisenach hinein. Ich war von Jena aus in den „Rautenkranz“ gewiesen. Dort sollte ich alte und sichere Freunde treffen. Ja wohl! Alte Freunde traf ich dort schon, allein mit der Sicherheit schien es mir so, so.

An der Speisetafel erschienen zu meiner Rechten und Linken zwei alte gute Freunde von ehedem, dermalen aber total umgesattelte Burschenschafter, der eine davon, Schmid von Jena, vulgo Flez – noch hängt sein sprechendes Portrait über meinem Clavier – Polizeisecretär und aus puren Reactionsgelüsten katholisch geworden. Beide kannten mich natürlich, wie ich sie, auf der Stelle. Von dem Andern, Förster mit Namen, fürchtete ich nichts. Von Flez merkwürdiger Weise Vieles; obgleich ich gerade in Jena mit Flez, wo er eine bedeutende Rolle in unserem Verbindungsleben spielte, sehr intim war und ihm in Kneipe, Versammlung und Mensur stets auf’s Tapferste secundirt hatte. Allein mir kam dabei der verflixte Becker aus Chemnitz nicht aus dem Sinn, der seinen ehemaligen Studiengenossen Heubner ja auch verrathen hatte, und dabei erschien mir Flez merklich unruhig und unangenehm berührt zu sein; kurz, ich zog mich so rasch wie möglich zurück, durchschlenderte aber doch noch einige Gassen, da ich mich ja doch so wie so in Flezens Hand gegeben sah; sobald ich aber auf einen öffentlichen Platz heraustrat, stand merkwürdiger Weise Freund Flez, gar nicht fern, mir gegenüber. Und doch – es ist zum Lachen heute – wagte Keiner den Anderen anzureden. Ich sah Gespenster, und ihn hinderte seine Stellung, und wahrscheinlich mehr noch seine Wandlung, sich mir zu nähern. Darauf besuchte Flez die Schweiz und erzählte daselbst einem unserer gemeinsamen Freunde selbst dieses Abenteuer und lachte, wie ich heute, über unser „kindliches“ Benehmen. Der Mann soll längst schon „zur großen Armee“ einberufen worden sein.

Es scheint, daß es, wie damals, so auch heute noch, wie ein Beispiel im reformirten Zürich andeutet, zur Taktik der Ultramontanen gehört, auch auf protestantischen Universitäten Proselyten zu suchen und zu machen; denn neben Schmid sind noch zwei „Burschenschafter“ jener Tage und jenes engeren Kreises von Jena her mir bekannt geworden, die heute zu den Säulen der Unfehlbarkeit zählen.

Bald genug schüttelte ich den Eisenacher Staub von den Füßen und zog mich, wieder zu Fuß, unter der Wartburg herum, hinein in tiefe und frischgrüne Waldreviere, dann durch prächtige Walddörfer und über fruchtbare Waldwiesen, bis ich nach einigen Stunden abermals in der Nähe einer meiner Vetterstationen anlangte.

Lange und freundlich blickte mir durch enge Waldthäler und neugierig durch die hohen Baumwipfel herab die alte ehrenfeste Wartburg nach. Sie hat im Laufe vieler Jahrhunderte viele Tausende deutscher Patrioten und Flüchtlinge kommen und gehen sehen und hat manch wackeres deutsches Herz bewirthet und beherbergt. Ihr Name ist mit den Kämpfen für Deutschlands innere Befreiung schon seit Luther’s Tagen auf’s Innigste verwachsen. Ich winkte ihr herzlichen Gruß hinüber und meine beste Entschuldigung, daß ich sie diesmal nicht besuchen könne. Sie schien dem alten gesinnungsverwandten Burschenschafter recht glückliche Reise zu wünschen. Hierauf verklärte die Sonne noch einmal auf’s Freundlichste ihr faltenreiches Antlitz und vergoldete weithin das rauschende und brausende Waldmeer, aus dem die alte deutsche Burg wie ein Zaubereiland glühend emporragte.

Bald zeigte mir ein reitender Gensdarm meinen Vetter „Förster“, denselben, den ich in jenem Lehrerkränzchen bei Erfurt vorzustellen die Ehre gehabt hatte. Den guten Reiter hielt ich im ersten Augenblicke für einen Sendling meines Polizeifreundes Flez, doch auch hierin hatte ich mich getäuscht. – Nach einiger Rast kutschirte mich der joviale „Vetter“ mit des Gensdarmen Gaul abermals zu einem lustigen Vetter und dessen Schwester, zur letzten Vetterschaft in deutschen Landen.

Ich verlebte im einsamen Dorfe Dermbach einige fidele Tage. Meine strategische Idee war – und fünfzehn Jahre später haben mir die Preußen das exact nachgemacht –, von hier aus durch Hessen oder Baiern gegen Frankfurt am Main vorzudringen, um sodann den Rhein, von Mainz aufwärts, zur Grundlage meiner nächsten Operationen gegen Frankreich zu benutzen und vor allen Dingen – Straßburg zu gewinnen.

Und dem geschah also. Von meinen nicht uninteressanten Erlebnissen in Frankfurt und auf dem Vater Rhein, der mich einen vollen Tag und eine ganze Nacht lang auf seinem geduldigen Rücken schaukelte, vielleicht ein anderes Mal.

[104] Frankreich war 1851 gerade eine solche Republik wie heutzutage. Am Hause des Präfecten von Straßburg flatterte die Tricolore blau, weiß und roth. Daß zwanzig Jahre später schon von dem berühmten Dome jener alten Stadt die deutsche Tricolore mit ihren Reformfarben wehen werde und das romanische Gelb von der Sonne der Zeit in ein germanisches Weiß umgewandelt sein würde – das hätte ich mir, gerade so wie alle anderen Leute, nicht träumen lassen, als ich beim Frühstücke im „Holländischen Hofe“ als flüchtiger Prätendent deutscher Freiheit und Einheit das erste Sendschreiben an meine Lieben und Getreuen im Heimathlande ergehen ließ, gegeben zu Straßburg, am 19. August 1851.



  1. * Vor zwei Jahren, als ich einige Artikel in die Gartenlaube schrieb, wurde mir die große Freude zu Theil, von der noch lebenden Seele ein freundliches Lebenszeichen durch dieses Blatt zu erhalten.
    D. V.
  2. August Berg, der damalige Bürgermeister von Weida, starb vierzehn Jahre später in Weimar als Director einer Versicherungsgesellschaft in seinen kräftigsten Jahren. Ich sah ihn seit meiner Flucht nicht wieder.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: griechische; siehe Berichtigung (Die Gartenlaube 1874/4)