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Der Stechlin/Siebentes Kapitel

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[95]
Kloster Wutz.
[97]
Siebentes Kapitel.


     Alle setzten sich denn auch wieder in Trab, mit ihnen Fritz, der dabei näher an die voraufreitenden Herren herankam. Das Gespräch schwieg ganz, weil jeder in Erwartung der kommenden Dinge war.

     Die Chaussee lief hier, auf eine gute Strecke, zwischen Pappeln hin, als man aber bis in unmittelbare Nähe von Kloster Wutz gekommen war, hörten diese Pappeln auf, und der sich mehr und mehr verschmälernde Weg wurde zu beiden Seiten von Feldsteinmauern eingefaßt, über die man alsbald in die verschiedensten Gartenanlagen mit allerhand Küchen- und Blumenbeeten und mit vielen Obstbäumen dazwischen hineinsah. Alle drei ließen jetzt die Pferde wieder in Schritt fallen.

     „Der Garten hier links,“ sagte Woldemar, „ist der Garten der Domina, meiner Tante Adelheid; etwas primitiv, aber wundervolles Obst. Und hier gleich rechts, da bauen die Stiftsdamen ihren Dill und ihren Meiran. Es sind aber nur ihrer vier, und wenn welche gestorben sind – aber sie sterben selten – so sind es noch weniger.“

     Unter diesen orientierenden Mitteilungen des hier aus seinen Knabenjahren her Weg und Steg kennenden Woldemar waren alle durch eine Maueröffnung in einen großen Wirtschaftshof eingeritten, der baulich so ziemlich jegliches enthielt, was hier, bis in die Tage des Dreißigjährigen Krieges hinein, der dann freilich alles zerstörte, [98] mal Kloster Wutz gewesen war. Vom Sattel aus ließ sich alles bequem überblicken. Das meiste, was sie sahen, waren wirr durcheinander geworfene, von Baum und Strauch überwachsene Trümmermassen.

     „Es erinnert mich an den Palatin,“ sagte Rex, „nur ins christlich Gotische transponiert.“

     „Gewiß,“ bestätigte Czako lachend. „Soweit ich urteilen kann, sehr ähnlich. Schade, daß Krippenstapel nicht da ist. Oder Tucheband.“

     Damit brach das Gespräch wieder ab.

     In der That, wohin man sah, lagen Mauerreste, in die, seltsamlich genug, die Wohnungen der Klosterfrauen eingebaut waren, zunächst die größere der Domina, daneben die kleineren der vier Stiftsdamen, alles an der vorderen Langseite hin. Dieser gegenüber aber zog sich eine zweite, parallel laufende Trümmerlinie, darin die Stallgebäude, die Remisen und die Rollkammern untergebracht waren. Verblieben nur noch die zwei Schmalseiten, von denen die eine nichts als eine von Holunderbüschen übergrünte Mauer, die andere dagegen eine hochaufragende mächtige Giebelwand war, dieselbe, die man schon beim Anritt aus einiger Entfernung gesehen hatte. Sie stand da, wie bereit, alles unter ihrem beständig drohenden Niedersturz zu begraben, und nur das eine konnte wieder beruhigen, daß sich auf höchster Spitze der Wand ein Storchenpaar eingenistet hatte. Störche, deren feines Vorgefühl immer weiß, ob etwas hält oder fällt.

     Von der Maueröffnung, durch die man eingeritten, bis an die in die Feldsteintrümmer eingebauten Wohngebäude waren nur wenige Schritte, und als man davor hielt, erschien alsbald die Domina selbst, um ihren Neffen und seine beiden Freunde zu begrüßen. Fritz, der, wie überall, so auch hier Bescheid wußte, nahm die Pferde, um sie nach einem an der andern Seite gelegenen [99] Stallgebäude hinüberzuführen, während Rex und Czako nach kurzer Vorstellung in den von Schränken umstellten Flur eintraten.

     „Ich habe dein Telegramm,“ sagte die Domina, „erst um ein Uhr erhalten. Es geht über Gransee, und der Bote muß weit laufen. Aber sie wollen ihm ein Rad anschaffen, solches wie jetzt überall Mode ist. Ich sage Rad, weil ich das fremde Wort, das so verschieden ausgesprochen wird, nicht leiden kann. Manche sagen ‚ci‘, und manche sagen ‚schi‘. Bildungsprätensionen sind mir fremd, aber man will sich doch auch nicht bloßstellen.“

     Eine Treppe führte bis in den ersten Stock hinauf, eigentlich war es nur eine Stiege. Die Domina, nachdem sie die Herren bis an die unterste Stufe begleitet hatte, verabschiedete sich hier auf eine Weile. „Du wirst so gut sein, Woldemar, alles in deine Hand zu nehmen. Führe die Herren hinauf. Ich habe unser bescheidenes Klostermahl auf fünf Uhr angeordnet; also noch eine gute halbe Stunde. Bis dahin, meine Herren.“

     Oben war eine große Plättkammer zur Fremdenstube hergerichtet worden. Ein Waschtisch mit Finkennäpfchen und Krügen in Kleinformat war aufgestellt worden, was in Erwägung der beinah liliputanischen Raumverhältnisse durchaus passend gewesen wäre, wenn nicht sechs an eben so vielen Thürhaken hängende Riesenhandtücher das Ensemble wieder gestört hätten. Rex, der sich – ihn drückten die Stiefel – auf kurze zehn Minuten nach einer kleinen Erleichterung sehnte, bediente sich eines eisernen Stiefelknechts, während Czako sein Gesicht in einer der kleinen Waschschüsseln begrub und beim Abreiben das feste Gewebe der Handtücher lobte.

     „Sicherlich Eigengespinst. Überhaupt, Stechlin, das muß wahr sein, Ihre Tante hat so was; man merkt doch, daß sie das Regiment führt. Und wohl schon seit lange. Wenn ich recht gehört, ist sie älter als Ihr Papa.“

[100]      „O, viel; beinahe um zehn Jahre. Sie wird sechsundsiebzig.“

     „Ein respektables Alter. Und ich muß sagen, wohl konserviert.“

     „Ja, man kann es beinahe sagen. Das ist eben der Vorzug solcher, die man ‚schlank‘ nennt. Beiläufig ein Euphemismus. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren und die Zeit natürlich auch; sie kann nichts nehmen, wo sie nichts mehr findet. Aber ich denke – Rex thut mir übrigens leid, weil er wieder in seine Stiefel muß – wir begeben uns jetzt nach unten und machen uns möglichst liebenswürdig bei der Tante. Sie wird uns wohl schon erwarten, um uns ihren Liebling vorzustellen.“

     „Wer ist das?“

     „Nun, das wechselt. Aber da es bloß vier sein können, so kommt jeder bald wieder an die Reihe. Während ich das letzte Mal hier war, war es ein Fräulein von Schmargendorf. Und es ist leicht möglich, daß sie jetzt gerade wieder dran ist.“

     „Eine nette Dame?“

     „O ja. Ein Pummel.“

* * *

     Und wie vorgeschlagen, nach kurzem „Sichadjustieren“ in der improvisierten Fremdenstube, kehrten alle drei Herren in Tante Adelheids Salon zurück, der niedrig und verblakt und etwas altmodisch war. Die Möbel, lauter Erbschaftsstücke, wirkten in dem niedrigen Raume beinahe grotesk, und die schwere Tischdecke, mit einer mächtigen, ziemlich modernen Astrallampe darauf, paßte schlecht zu dem Zeisigbauer am Fenster und noch schlechter zu dem über einem kleinen Klavier hängenden Schlachtenbilde: „König Wilhelm auf der Höhe von Lipa“. Trotzdem hatte dies stillose Durcheinander etwas Anheimelndes. [101] In dem primitiven Kamin – nur eine Steinplatte mit Rauchfang – war ein Holzfeuer angezündet; beide Fenster standen auf, waren aber durch schwere Gardinen so gut wie wieder geschlossen, und aus dem etwas schief über dem Sofa hängenden Quadratspiegel wuchsen drei Pfauenfedern heraus.

     Tante Adelheid hatte sich in Staat geworfen und ihre Karlsbader Granatbrosche vorgesteckt, die der alte Dubslav wegen der sieben mittelgroßen Steine, die einen größeren und buckelartig vorspringenden umstanden, die „Sieben-Kurfürsten-Brosche“ nannte. Der hohe hagere Hals ließ die Domina noch größer und herrischer erscheinen, als sie war, und rechtfertigte durchaus die brüderliche Malice: „Wickelkinder, wenn sie sie sehen, werden unruhig, und wenn sie zärtlich wird, fangen sie an zu schreien.“ Man sah ihr an, daß sie nur immer vorübergehend in einer höheren Gesellschaftssphäre gelebt hatte, sich trotzdem aber zeitlebens der angeborenen Zugehörigkeit zu eben diesen Kreisen bewußt gewesen war. Daß man sie zur Domina gemacht hatte, war nur zu billigen. Sie wußte zu rechnen und anzuordnen und war nicht bloß von sehr gutem natürlichen Verstand, sondern unter Umständen auch voller Interesse für ganz bestimmte Personen und Dinge. Was aber, trotz solcher Vorzüge, den Verkehr mit ihr so schwer machte, das war die tiefe Prosa ihrer Natur, das märkisch Enge, das Mißtrauen gegen alles, was die Welt der Schönheit oder gar der Freiheit auch nur streifte.

     Sie erhob sich, als die drei Herren eintraten, und war gegen Rex und Czako aufs neue von verbindlichstem Entgegenkommen. „Ich muß Ihnen noch einmal aussprechen, meine Herren, wie sehr ich bedaure, Sie nur so kurze Zeit unter meinem Dache sehen zu dürfen.“

     „Du vergißt mich, liebe Tante,“ sagte Woldemar. „Ich bleibe dir noch eine gute Weile. Mein Zug geht, [102] glaub’ ich, erst um neun. Und bis dahin erzähl’ ich dir eine Welt und – beichte.“

     „Nein, nein, Woldemar, nicht das, nicht das. Erzählen sollst du mir recht, recht viel. Und ich habe sogar Fragen auf dem Herzen. Du weißt wohl schon, welche. Aber nur nicht beichten. Schon das Wort macht mir jedesmal ein Unbehagen. Es hat solch ausgesprochen katholischen Beigeschmack. Unser Rentmeister Fix hat recht, wenn er sagt: ‚Beichte sei nichts, weil immer unaufrichtig, und es habe in Berlin – aber das sei nun freilich schon sehr, sehr lange her – einen Geistlichen gegeben, der habe den Beichtstuhl einen Satansstuhl genannt‘. Das find’ ich nun offenbar übertrieben und habe mich auch in diesem Sinne zu Fix geäußert. Aber andrerseits freue ich mich doch immer aufrichtig, einem so mutig protestantischen Worte zu begegnen. Mut ist, was uns not thut. Ein fester Protestant, selbst wenn er schroff auftritt, ist mir jedesmal eine Herzstärkung, und ich darf ein gleiches Empfinden auch wohl bei Ihnen, Herr von Rex, voraussetzen.“

     Rex verbeugte sich. Woldemar aber sagte zu Czako: „Ja, Czako, da sehen Sie’s. Sie sind nicht einmal genannt worden. Eine Domina – verzeih, Tante – bildet eben ein feines Unterscheidungsvermögen aus.“

     Die Tante lächelte gnädig und sagte: „Herr von Czako ist Offizier. Es giebt viele Wohnungen in meines Vaters Hause. Das aber muß ich aussprechen, der Unglaube wächst und das Katholische wächst auch. Und das Katholische, das ist das Schlimmere. Götzendienst ist schlimmer als Unglaube.“

     „Gehst du darin nicht zu weit, liebe Tante?“

     „Nein, Woldemar. Sieh, der Unglaube, der ein Nichts ist, kann den lieben Gott nicht beleidigen; aber Götzendienst beleidigt ihn. Du sollst keine andern Götter haben neben mir. Da steht es. Und nun gar [103] der Papst in Rom, der ein Obergott sein will und unfehlbar.“

     Czako, während Rex schwieg und nur seine Verbeugung wiederholte, kam auf die verwegene Idee, für Papst und Papsttum eine Lanze brechen zu wollen, entschlug sich dieses Vorhabens aber, als er wahrnahm, daß die alte Dame ihr Dominagesicht aufsetzte. Das war indessen nur eine rasch vorüberziehende Wolke. Dann fuhr Tante Adelheid, das Thema wechselnd, in schnell wiedergewonnener guter Laune fort: „Ich habe die Fenster öffnen lassen. Aber auch jetzt noch, meine Herren, ist es ein wenig stickig. Das macht die niedrige Decke. Darf ich Sie vielleicht auffordern, noch eine Promenade durch unsern Garten zu machen? Unser Klostergarten ist eigentlich das Beste, was wir hier haben. Nur der unsers Rentmeisters ist noch gepflegter und größer und liegt auch am See. Rentmeister Fix, der hier alles zusammenhält, ist uns, wie in wirtschaftlichen Dingen, so auch namentlich in seinen Gartenanlagen, ein Vorbild; überhaupt ein charaktervoller Mann, und dabei treu wie Gold, trotzdem sein Gehalt unbedeutend ist und seine Nebeneinnahmen ganz unsicher in der Luft schweben. Ich hatte Fix denn auch bitten lassen, mit uns bei Tisch zu sein; er versteht so gut zu plaudern, gut und leicht, ja beinahe freimütig und doch immer durchaus diskret. Aber er ist dienstlich verhindert. Die Herren müssen sich also mit mir begnügen und mit einer unsrer Konventualinnen, einem mir lieben Fräulein, das immer munter und ausgelassen, aber doch zugleich bekenntnisstreng ist, ganz von jener schönen Heiterkeit, die man bloß bei denen findet, deren Glaube feste Wurzeln getrieben hat. Ein gut Gewissen ist das beste Ruhekissen. Damit hängt es wohl zusammen.“

     Rex, an den sich diese Worte vorzugsweise gerichtet hatten, drückte wiederholt seine Zustimmung aus, während [104] Czako beklagte, daß Fix verhindert sei. „Solche Männer sprechen zu hören, die mit dem Volke Fühlung haben und genau wissen, wie’s einerseits in den Schlössern, andererseits in den Hütten der Armut aussieht, das ist immer in hohem Maße fördernd und lehrreich und ein Etwas, auf das ich jederzeit ungern verzichte.“

     Gleich danach erhob man sich und ging ins Freie.

     Der Garten war von sehr ländlicher Art. Durch seine ganze Länge hin zog sich ein von Buchsbaumrabatten eingefaßter Gang, neben dem links und rechts, in wohlgepflegten Beeten, Rittersporn und Studentenblumen blühten. Gerade in seiner Mitte weitete sich der sonst schmale Gang zu einem runden Platz aus, darauf eine große Glaskugel stand, ganz an die Stechliner erinnernd, nur mit dem Unterschied, daß hier das eingelegte blanke Zinn fehlte. Beide Kugeln stammten natürlich aus der Globsower „grünen Hütte“. Weiterhin, ganz am Ausgange des Gartens, wurde man eines etwas schiefen Bretterzaunes ansichtig, mit einem Pflaumenbaum dahinter, dessen einer Hauptzweig aus dem Nachbargarten her in den der Domina herüberreichte.

     Rex führte die Tante. Dann folgte Woldemar mit Hauptmann Czako, weit genug ab von dem voraufgehenden Paar, um ungeniert miteinander sprechen zu können.

     „Nun, Czako,“ sagte Woldemar, „bleiben wir, wenn’s sein kann, noch ein bißchen weiter zurück. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gern ich in diesem Garten bin. Allen Ernstes. Ich habe hier nämlich als Junge hundertmal gespielt und in den Birnbäumen gesessen; damals standen hier noch etliche, hier links, wo jetzt die Mohrrübenbeete stehen. Ich mache mir nichts aus Mohrrüben, woraus ich übrigens schließe, daß wir heute welche zu Tisch kriegen. Wie gefällt Ihnen der Garten?“

[105]      „Ausgezeichnet. Es ist ja eigentlich ein Bauerngarten, aber doch mit viel Rittersporn drin. Und zu jedem Rittersporn gehört eine Stiftsdame.“

     „Nein, Czako, nicht so. Sagen Sie mir ganz ernsthaft, ob Sie solche Gärten leiden können.“

     „Ich kann solche Gärten eigentlich nur leiden, wenn sie eine Kegelbahn haben. Und dieser hier ist wie geschaffen dazu, lang und schmal. Alle unsre modernen Kegelbahnen sind zu kurz, wie früher alle Betten zu kurz waren. Wenn die Kugel aufsetzt, ist sie auch schon da, und der Bengel unten schreit einen an mit seinem ‚acht um den König‘. Für mich fängt das Vergnügen erst an, wenn das Brett lang ist und man der Kugel anmerkt, sie möchte links oder rechts abirren, aber die eingeborene Gewalt zwingt sie zum Ausharren, zum Bleiben auf der rechten Bahn. Es hat was Symbolisches oder Pädagogisches, oder meinetwegen auch Politisches.“

     Unter diesem Gespräche waren sie, ganz nach unten hin, bis an die Stelle gekommen, wo der nachbarliche Pflaumenbaum seinen Zweig über den Zaun wegstreckte. Neben dem Zaun aber, in gleicher Linie mit ihm, stand eine grüngestrichene Bank, auf der, von dem Gezweig überdacht, eine Dame saß, mit einem kleinen runden Hut und einer Adlerfeder. Als sich die Herrschaften ihr näherten, erhob sie sich und schritt auf die Domina zu, dieser die Hand zu küssen; zugleich verneigte sie sich gegen die drei Herren.

     „Erlauben Sie mir,“ sagte Adelheid, „Sie mit meiner lieben Freundin, Fräulein von Schmargendorf, bekannt zu machen. Hauptmann von Czako, Ministerialassessor von Rex… Meinen Neffen, liebe Schmargendorf, kennen Sie ja.“

     Adelheid, als sie so vorgestellt hatte, zog ihre kleine Uhr aus dem Gürtel hervor und sagte: „Wir haben noch [106] zehn Minuten. Wenn es Ihnen recht ist, bleiben wir noch in Gottes freier Natur. Woldemar, führe meine liebe Freundin, oder lieber Sie, Herr Hauptmann, – Fräulein von Schmargendorf wird ohnehin Ihre Tischdame sein.“

     Das Fräulein von Schmargendorf war klein und rundlich, einige vierzig Jahre alt, von kurzem Hals und wenig Taille. Von den sieben Schönheiten, über die jede Evastochter Verfügung haben soll, hatte sie, soweit sich ihr „Kredit“ feststellen ließ, nur die Büste. Sie war sich dessen denn auch bewußt und trug immer dunkle Tuchkleider, mit einem Sammetbesatz oberhalb der Taille. Dieser Besatz bestand aus drei Dreiecken, deren Spitze nach unten lief. Sie war immer fidel, zunächst aus glücklicher Naturanlage, dann aber auch, weil sie mal gehört hatte: Fidelität erhalte jung. Ihr lag daran, jung zu sein, obwohl sie keinen rechten Nutzen mehr daraus ziehen konnte. Benachbarte Adlige gab es nicht, der Pastor war natürlich verheiratet und Fix auch. Und weiter nach unten ging es nicht.

     Adelheid und Rex waren meist weit voraus, so daß man sich immer erst an der Glaskugel traf, wenn das voranschreitende Paar schon wieder auf dem Rückwege war. Czako grüßte dann jedesmal militärisch zur Domina hinüber.

     Diese selbst war in einem Gespräch mit Rex fest engagiert und verhandelte mit ihm über ein bedrohliches Wachsen des Sektiererwesens. Rex fühlte sich davon getroffen, da er selbst auf dem Punkte stand, Irvingianer zu werden; er war aber Lebemann genug, um sich schnell zurecht zu finden und vor allem auf jede nachhaltige Bekämpfung der von Adelheid geäußerten Ansichten zu verzichten. Er lenkte geschickt in das Gebiet des allgemeinen Unglaubens ein, dabei sofort einer vollen Zustimmung begegnend. Ja, die Domina ging [107] weiter, und sich abwechselnd auf die Apokalypse und dann wieder auf Fix berufend, betonte sie, daß wir am Anfang vom Ende stünden. Fix gehe freilich wohl etwas zu weit, wenn er eigentlich keinem Tage mehr so recht traue. Das seien nutzlose Beunruhigungen, weshalb sie denn auch in ihn gedrungen sei, von solchen Berechnungen Abstand zu nehmen oder wenigstens alles nochmals zu prüfen. „Kein Zweifel,“ so schloß sie, „Fix ist für Rechnungssachen entschieden talentiert, aber ich habe ihm trotzdem sagen müssen, daß zwischen Rechnungen und Rechnungen doch immer noch ein Unterschied sei.“

     Czako hatte dem Fräulein von Schmargendorf den Arm gereicht; Woldemar, weil der Mittelgang zu schmal war, folgte wenige Schritte hinter den beiden und trat nur immer da, wo der Weg sich erweiterte, vorübergehend an ihre Seite.

     „Wie glücklich ich bin, Herr Hauptmann,“ sagte die Schmargendorf, „Ihre Partnerin zu sein, jetzt schon hier und dann später bei Tisch.“

     Czako verneigte sich.

     „Und merkwürdig,“ fuhr sie fort, „daß gerade das Regiment Alexander immer so vergnügte Herren hat; einen Namensvetter von Ihnen, oder vielleicht war es auch Ihr älterer Herr Bruder, den hab’ ich noch von einer Einquartierung in der Priegnitz her ganz deutlich in Erinnerung, trotzdem es schon an die zwanzig Jahre ist oder mehr. Denn ich war damals noch blutjung und tanzte mit Ihrem Herrn Vetter einen richtigen Radowa, der um jene Zeit noch in Mode war, aber schon nicht mehr so recht. Und ich hab’ auch noch den Namenszug und einen kleinen Vers von ihm in meinem Album. ‚Jegor von Baczko, Sekondelieutenant im Regiment Alexander.‘ Ja, Herr von Baczko, so kommt [108] man wieder zusammen. Oder doch wenigstens mit einem Herren gleichen Namens.“

     Czako schwieg und nickte nur, weil er Richtigstellungen überhaupt nicht liebte; Woldemar aber, der jedes Wort gehört und in Bezug auf solche Dinge kleinlicher als sein Freund, der Hauptmann, dachte, wollte durchaus Remedur schaffen und bat, das Fräulein darauf aufmerksam machen zu dürfen, daß der Herr, der den Vorzug habe, sie zu führen, nicht ein Herr von Baczko, sondern ein Herr von Czako sei.

     Die kleine Rundliche geriet in eine momentane Verlegenheit, Czako selbst aber kam ihr mit großer Courtoisie zu Hilfe.

     „Lieber Stechlin,“ begann er, „ich beschwöre Sie um sechsundsechzig Schock sächsische Schuhzwecken, kommen Sie doch nicht mit solchen Kleinigkeiten, die man jetzt, glaub’ ich, Velleitäten nennt. Wenigstens habe ich das Wort immer so übersetzt. Czako, Baczko, Baczko, Czako, – wie kann man davon so viel Aufhebens machen. Name, wie Sie wissen, ist Schall und Rauch, siehe Goethe, und Sie werden sich doch nicht in Widerspruch mit dem bringen wollen. Dazu reicht es denn doch am Ende nicht aus.“

     „Hihi.“

     „Außerdem, ein Mann wie Sie, der es trotz seines Liberalismus fertig bringt, immer seinen Adel bis wenigstens dritten Kreuzzug zurückzuführen, ein Mann wie Sie sollte mir doch diese kleine Verwechslung ehrlich gönnen. Denn dieser mir in den Schoß gefallene ‚Baczko‘… Gott sei Dank, daß auch unsereinem noch was in den Schoß fallen kann…“

     „Hihi.“

     „Denn dieser mir in den Schoß gefallene Baczko ist doch einfach eine Rang- und Standeserhöhung, ein richtiges Avancement. Die Baczkos reichen mindestens [109] bis Huß oder Ziska, und wenn es vielleicht Ungarn sind, bis auf die Hunyadis zurück, während der erste wirkliche Czako noch keine zweihundert Jahre alt ist. Und von diesem ersten wirklichen Czako stammen wir doch natürlich ab. Erwägen Sie, bevor es nicht einen wirklichen Czako gab, also einen steifen grauen Filzhut mit Leder oder Blech beschlagen, eher kann es auch keinen ‚von Czako‘ gegeben haben; der Adel schreibt sich immer von solchen Dingen seiner Umgebung oder seines Metiers oder seiner Beschäftigung her. Wenn ich wirklich noch mal Lust verspüren sollte, mich standesgemäß zu verheiraten, so scheitre ich vielleicht an der Jugendlichkeit meines Adels und werde mich dann dieser Stunde wehmütig freundlich erinnern, die mich, wenn auch nur durch eine Namensverwechslung, auf einen kurzen Augenblick zu erhöhen trachtete.“

     Woldemar, seiner Philisterei sich bewußt werdend, zog sich wieder zurück, während die Schmargendorf treuherzig sagte: „Sie glauben also wirklich, Herr von… Herr Hauptmann…, daß Sie von einem Czako herstammen?“

     „So weit solch merkwürdiges Spiel der Natur überhaupt möglich ist, bin ich fest davon durchdrungen.“

     In diesem Moment, nach abermaliger Passierung des Platzes mit der Glaskugel, erreichte das Paar die Bank unter dem Pflaumenbaumzweige. Die Schmargendorf hatte schon lange vorher nach zwei großen, dicht zusammensitzenden Pflaumen hinübergeblickt und sagte, während sie jetzt ihre Hand danach ausstreckte: „Nun wollen wir aber ein Vielliebchen essen, Herr Hauptmann; wo, wie hier, zwei zusammensitzen, da ist immer ein Vielliebchen.“

     „Eine Definition, der ich mich durchaus anschließe. Aber, mein gnädigstes Fräulein, wenn ich vorschlagen dürfte, mit dieser herrlichen Gabe Gottes doch lieber bis [110] zum Dessert zu warten. Das ist ja doch auch die eigentliche Zeit für Vielliebchen.“

     „Nun, wie Sie wollen, Herr Hauptmann. Und ich werde diese zwei bis dahin für uns aufheben. Aber diese dritte hier, die nicht mehr so ganz dazu gehört, die werd’ ich essen. Ich esse so gern Pflaumen. Und Sie werden sie mir auch gönnen.“

     „Alles, alles. Eine Welt.“

     Es schien fast, als ob sich Czako noch weiter über dies Pflaumenthema, namentlich auch über die sich darin bergenden Wagnisse verbreiten wollte, kam aber nicht dazu, weil eben jetzt ein Diener in weißen Baumwollhandschuhen, augenscheinlich eine Gelegenheitsschöpfung, in der Hofthür sichtbar wurde. Dies war das mit der Domina verabredete Zeichen, daß der Tisch gedeckt sei. Die Schmargendorf, ebenfalls eingeweiht in diese zu raschen Entschlüssen drängende Zeichensprache, bückte sich deshalb, um von einem der Gemüsebeete rasch noch ein großes Kohlblatt abzubrechen, auf das sie sorglich die beiden rotgetüpfelten Pflaumen legte. Gleich danach aber aufs neue des Hauptmanns Arm nehmend, schritt sie, unter Vorantritt der Domina, auf Hof und Flur und ganz zuletzt auf den Salon zu, der sich inzwischen in manchem Stücke verändert hatte, vor allem darin, daß neben dem Kamin eine zweite Konventualin stand, in dunkler Seide, mit Kopfschleifen und tiefliegenden, starren Kakadu-Augen, die in das Wesen aller Dinge einzudringen schienen.

     „Ah, meine Liebste,“ sagte die Domina, auf diese zweite Konventualin zuschreitend, „es freut mich herzlich, daß Sie sich, trotz Migräne, noch herausgemacht haben; wir wären sonst ohne dritte Tischdame geblieben. Erlauben Sie mir vorzustellen: Herr von Rex, Herr von Czako… Fräulein von Triglaff aus dem Hause Triglaff.“

     Rex und Czako verbeugten sich, während Woldemar, [111] dem sie keine Fremde war, an die Konventualin herantrat, um ein Wort der Begrüßung an sie zu richten. Czako, die Triglaff unwillkürlich musternd, war sofort von einer ihn frappierenden Ähnlichkeit betroffen und flüsterte gleich danach dem sein Monocle wiederholentlich in Angriff nehmenden Rex leise zu: „Krippenstapel, weibliche Linie.“

     Rex nickte.

     Während dieser Vorstellung hatte der im Hintergrunde stehende Diener den oberen und unteren Thürriegel mit einer gewissen Ostentation zurückgezogen; einen Augenblick noch und beide Flügel zu dem neben dem Salon gelegenen Eßzimmer thaten sich mit einer stillen Feierlichkeit auf.

     „Herr von Rex,“ sagte die Domina, „darf ich um Ihren Arm bitten.“

     Im Nu war Rex an ihrer Seite, und gleich danach traten alle drei Paare in den Nebenraum ein, auf dessen gastlicher und nicht ohne Geschick hergerichteter Tafel zwei Blumenvasen und zwei silberne Doppelleuchter standen. Auch der Diener war schon in Aktion; er hatte sich inzwischen am Büffett in Front einer Meißner Suppenterrine aufgestellt, und indem er den Deckel (mit einem abgestoßenen Engel obenauf) abnahm, stieg der Wrasen wie Opferrauch in die Höhe.