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Der Vampir (Reymont)/Siebentes Kapitel

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Siebentes Kapitel

Und dann nur noch den Tod,“ dachte er nach langem Schweigen und schlug die glühenden Augen auf.

Daisy war nicht mehr da, nur Bagh, der langsam am Rande des Bassins hinkroch, winselte sehnsüchtig, nur der aufgewirbelte Federbusch des Springbrunnens plätscherte mit einem ängstlichen, schluchzenden Geräusch; die Blätter der Palmen bewegten sich, und durch das grüne Gebüsch schimmerten Blumen, die stummen und so beutegierig lauernden Augen glichen, daß er schauderte und schnell die Orangerie verließ. Doch die Stimme Daisys sang immerfort in ihm; immer hörte er ihre Worte, die wie duftender, brennenden Tau auf seine Seele fielen; immer sah er ihre Augen, sie durchdrangen ihn wie Dolche, mit quälender, schmerzhafter Wonne. Es durchglühte ihn die furchtbare Glut der Ekstase, der Sturm glückseligen Wahnes schüttelte ihn, trug ihn empor zum Himmel und warf ihn in den Strudel eines unfaßbaren Grauens auf den dumpfen, toten Grund der Erschöpfung. Und in diesem Chaos von Gedankentrümmern wand sich durch ihn nur das eine starke und bewußte Gefühl, daß er ihrem Willen gehorsam sein müsse, daß er es müsse, und daß diese Notwendigkeit, sich zu opfern [194] und zu verderben, die unsagbare Wonne des Ersterbens berge.

„Aber vielleicht träume ich nur, vielleicht ist alles nur Halluzination?“ Er wurde wankend bei diesem plötzlich aufsteigenden Zweifel.

Durch die Fenster schaute der traurige, verregnete Tag herein, das Chaos der Stadt, die ganz in Strömen von Wasser, die unaufhörlich herabflossen, und im Nebel versunken war.

Plötzlich schaute er zum Spiegel hin, dessen leblose Fläche grau schimmerte und das ganze Zimmer und sein Gesicht widerspiegelte, das sonderbar blaß und verändert war.

„Aber bin das denn ich?“ Er kam sich so unfaßbar anders vor, so furchtbar fremd und unbekannt, daß er in ratloser Angst zurückwich.

„Ich bin doch da! Ich sehe, ich fühle es, ich überzeuge mich davon!“ dachte er, während er verschiedene Gegenstände berührte; er spürte die Kühle der Bronzen, die Weichheit der seidenen Überzüge, er unterschied Farben und Formen, er bemerkte die Unterschiede; und dadurch ein wenig beruhigt setzte er sich an das Klavier. Doch er war nicht imstande, seiner Herr zu werden, denn unter seinen Fingern hervor ertönten gleichsam stammelnde, verworrene Schreie. Er schlug die Tasten mit Kraft an, daß das Klavier ächzte, und es floß eine wilde Melodie dahin, die dem Stöhnen und Kichern rasender Tobsüchtiger glich.

„Ich bin heiter und glücklich, und doch weint etwas in mir, etwas ängstigt sich, aber was ist es? Was?“ fragte er hartnäckig und warf sich, da er keine Antwort [195] fand, auf die Ottomane; er bemühte sich, alles zu vergessen. Doch ehe er in Vergessen sank, erscholl gleichsam gerade über ihm die Stimme Daisys. Er sprang heftig auf, die Stimme tönte schon in einer gewissen Entfernung und wurde leiser.

„Wo bist du? Wo?“ rief er, die ganze Wohnung durchsuchend. Sie mußte doch irgendwo sein, denn er roch den Duft ihres Parfüms, hörte ihre Schritte; das Rauschen ihres Kleides war deutlich zu vernehmen.

„Daisy! O Daisy!“ schrie er plötzlich auf, die Hände zum Spiegel ausstreckend, in dem ihre Umrisse dämmerten, als wären sie aus Nebelperlen gewebt, ihre veilchenblauen Augen schimmerten, ein Lächeln spielte um ihren Mund, doch ehe er hineilen konnte, war alles verweht und verschwunden.

Er wartete lange, auf die leere Fläche wie auf eine zugefrorene Tiefe starrend, die neidisch ihre unglaublichen Wunder vor der Sterblichen Auge birgt. Dann fiel er in stilles, düsteres Sinnen, so daß er gleichsam in Kraftlosigkeit versank, und blieb so, frei von allem Aufbäumen, von aller Freude und allen Schmerzen, vergessend und vergessen, fern sogar von sich selbst und nur so viel wissend, wie Sterne von sich wissen können, die durch die Unendlichkeit rasen.

Ihn weckte erst wieder das Geräusch des Lebens, das mit wildem, brutalem Getöse an die Fenster stürmte, Angst schnürte sein Herz zusammen und füllte seine Augen mit Tränen einer unerklärlichen Traurigkeit. Seine Augen schweiften ängstlich in der Wohnung [196] umher, denn es schien ihm, als streckten sich von allen Seiten die reißenden Klauen des Löwens nach ihm aus, und als riefe seine eigene Stimme streng und befehlend.

„Nein, ich werde nicht mehr zu dir zurückkehren, nie mehr,“ antwortete er, auf irgend ein Gestade schauend, das immer schwächer in der Ferne schimmerte.

„Ich werde meinen eigenen Weg gehen, ich werde in den Traum von einem neuen Leben gehen …“ sann er.

Der Diener trat herein und meldete ihm einen unbekannten Herrn.

„Ich bin nicht zu Hause,“ rief er ungeduldig und ging durch die andere Tür nach oben zu Yoe.

Der Malaie vertrat ihm sehr entschieden den Weg.

„Es geht nicht.“

„Ist jemand da?“

„Es geht nicht.“

„Ach, vielleicht hat die Seance schon begonnen?“ fragte er hinterlistig.

„Es geht nicht,“ wiederholte jener hartnäckig und verstellte die Tür.

„Irgendwelche spiritistische Übungen,“ dachte Zenon verächtlich und ging in die Stadt.

„Aber vielleicht sind es wieder Geißelungen? Und vielleicht ist auch sie dort?“ Ein Blitz der Erinnerung glitt als eine Reihe schändlicher Bilder durch sein Gehirn.

„Der Verdacht allein ist schon Wahnsinn.“

Er irrte lange im geräuschvollen Strudel der Stadt umher, sah Mauern und Menschen aus einer unermeßlichen [197] Entfernung und gleichsam zum letzten Mal, als nähmen seine Augen Abschied für immer. Er fühlte sich schon fern von all dem Hasten und Treiben, in dem diese unzähligen Massen lebten und starben, so fern, daß ihm ihr ganzes Dasein traumhaft erschien, durchaus unverständlich und völlig fremd.

„Wer von uns phantasiert, ich oder sie?“ fragte er sich manchmal und bemühte sich, sein Verhältnis zu den andern zu begreifen, doch dann krochen die Erinnerungen an Daisy hervor, und jene ernüchternden Gedanken rissen in Fetzen, so daß er wieder in den Nebel unbeschreiblicher Träumereien und einer quälenden Sehnsucht versank. Und wieder ging er durch Gedränge und Lärm, gleichsam hypnotisiert bewegte er sich automatisch mit gewohnten Bewegungen, er irrte umher wie eine lebendige Leiche, schweigend und in einer unfaßbaren Öde. Erst in einem düsteren Winkel blieben seine Augen, die leblos über alles hinwegglitten, mechanisch auf einem weißen, grell leuchtenden Schilde haften.

„Hier werden russische Zigaretten verkauft,“ las er einige Male, und von einer dunklen Regung getrieben, betrat er den Laden. Eine alte Jüdin mit einer Perücke schlummerte hinter dem Ladentisch, eine Schar von Kindern in Lumpen balgte sich quietschend auf dem Fußboden in dem Nebenzimmer, das niedrig und furchtbar schmutzig war; die Maschinen ratterten, und einige Menschen, die über der Arbeit saßen, sangen langgedehnt ein unendlich trauriges Lied.

Doch als er eingetreten war, schlug ihm eine so verfaulte und gleichsam eiterige Luft entgegen, daß er [198] kaum imstande war, ein Wort herauszuwürgen, worauf die Jüdin von ihrem Platze sprang, die Maschinen leiser wurden und aller Augen sich zu ihm wendeten.

„Sie sind wohl aus Warschau selbst?“ fragte die Jüdin schüchtern, und ihr ausgemergeltes Gesicht wurde von stiller Freude erleuchtet.

„Ja, ja,“ antwortete er verwirrt, da alle die Leute ihn dicht umdrängten und ihn mit aufdringlichen Blicken musterten. Plötzlich fingen alle zu reden und durcheinander zu fragen an, es entstand ein unerhörter Lärm; einer schob ihm einen Stuhl zu, einer hielt seinen Hut, ein anderer reichte ihm Wasser, und von allen Seiten berührten ihn zart ihre Finger, und die geröteten Augen sogen sich gleichsam gefräßig an ihm fest.

Er antwortete mechanisch, denn eine mächtige Welle von Erinnerungen ergoß sich über seine Seele und rief in ihm Bilder ferner Jahre wach, längst verklungene Tage dämmerten in ihm auf, schmerzhafte Visionen vergangener Augenblicke und das Echo der fernen Heimat …

„Wo bin ich, was tun diese Leute hier? Warum?“ dachte er, sich ängstlich umschauend, denn das Elend, das aus jedem Winkel und jedem Gesicht hervorlugte, antwortete ihm mit mächtiger Stimme, warum und wozu. Da erfüllte ihn ein so tiefes Erbarmen, daß er den Widerwillen und Ekel vor ihrem Schmutz und ihren Lumpen überwand und ein längeres Gespräch mit ihnen anknüpfte. Sie klagten nicht, sie verwünschten niemand, doch jedes von ihnen entfaltete in einigen leise und ungeschickt hingeworfenen Sätzen [199] die furchtbare Litanei der Leiden, der Erniedrigung und der Ungerechtigkeit, das ganze Gehenna der Enterbten. Er lauschte wie auf eine phantastische Erzählung aus Tausendundeiner Nacht, daß ihm die Haare zu Berge standen und seine Seele sich krümmte in bitterer, brennender Scham. Einige Male wollte er schon fliehen, doch konnte er, von Staunen und Grauen gebannt, sich nicht von der Stelle rühren. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er aus den tiefsten Grund der Wirklichkeit geschaut, auf den tiefsten Grund menschlichen Elends.

„Furchtbar! Furchtbar!“ flüsterte er und bemerkte, als er sich von ihren geröteten Augen abwendete, ein kleines Mädchen, das unter dem Tische zusammengekauert saß und alle Augenblicke eine Puppe, die sie sich aus Lumpen gemacht hatte, mit ihren Fäustchen bearbeitete und ihr drohend etwas zuflüsterte.

„Was macht sie denn dort?“

„Sie müssen wissen, Herr, sie ist etwas schwach im Kopf,“ stotterte die Alte.

„Ist das Ihre Tochter?“

„Nein, nein!“ Sie schaute sich mißtrauisch um und flüsterte gleichsam, als wäre es ein Geheimnis: „Sie wissen, wie der Pogrom in Kischineg war, hat man ihren Papa totgeschlagen, ihre Mama ermordet und ihre ganze Familie, man hat ihr das Gesicht zerschlagen, alle Waren geraubt, und noch das Haus hat man angezündet. Wie das war, das kann man nicht einmal erzählen. Man fand sie unter den Leichen, kaum noch atmend. So ist sie Waise geworden, wir haben sie mitgenommen. Aber seit der Zeit hat sie [200] immer Angst, und wenn sie einen Soldaten sieht, weint sie gleich, schreit und läuft fort! Sie hat große Angst! Röschen komm zu uns, Röschen. Hab keine Angst, der Herr wird dir nichts tun!“

Und trotz heftigen Widerstrebens zog sie das Kind unter dem Tische hervor und führte es zu Zenon. Das erschrockene Mädchen zitterte und weinte, große Tränen rollten über sein blasses Gesicht, über das eine blutige Strieme lief, in den blauen Augen mit den goldenen Wimpern barg sich Wahnsinn und Entsetzen. Er wollte ihre roten Locken streicheln, aber sie schrie entsetzt auf und floh in das Innere der Wohnung.

Auch Zenon hatte genug davon.

„Und trotz alledem haben sie noch Lust zu leben,“ dachte er, als er in seine Wohnung zurückgekehrt war; ziemlich lange konnte er den unangenehmen Eindruck nicht von sich abschütteln, lange noch erinnerte er sich an das Kindergesichtchen mit der blutigen Strieme, an die irren, verblödeten Augen und die ausgemergelten Gesichter jener Elenden.

Was geht dort vor? Sein Hirn wurde wieder von Erinnerungen an die Heimat erfüllt. Er versuchte sie auf den tiefsten Grund des Vergessens hinabzustoßen, doch sie ließen sich nicht ersticken, sie erhoben sich wie das Lied der Sehnsucht und lehnen wieder, in immer traurigerer Tonart. Er blieb vor dem Bücherschrank stehen und las mechanisch die polnischen Aufschriften, schon hatte er die Hand nach einem Band ausgestreckt, doch zog er sie eilig wieder zurück.

[201] „Nein, wozu Begrabenes von den Toten auferwecken? Ich bin für sie tot, dort denkt niemand mehr daran, daß ich einst unter ihnen lebte! Niemand!“ wiederholte er traurig und mit einer gewissen Bitterkeit.

„Auch ich erinnere mich an niemand und an nichts mehr!“ versuchte er sich mit aller Macht einzureden, denn gerade in diesem Augenblicke erinnerte er sich an alles.

„Ein schreckliches Land und schreckliche Menschen!“ Er wehrte die Sehnsucht ab, die sein Herz schmerzhaft umkrampfte.

„Alles wegen dieser Juden!“ Er wurde ärgerlich. „Zum Teufel, wozu bin ich dort hingegangen! Dumme Sentimentalität!“ warf er sich ungeduldig vor, doch erst am Abend beim Essen vergaß er unter den feurigen Blicken Daisys alles. Daisy war schweigsam und wie von Melancholie umwoben, nur Bagh kroch alle Augenblicke zu seinen Füßen, legte seinen Kopf auf seine Kniee und schaute fast lieb mit seinen grünen Augen zu ihm auf.

„Ich stehe bei Bagh heute ganz besonders in Gnade!“

„Er weiß sehr gut, wer seine Liebe verdient,“ entgegnete Daisy und umfing ihn mit einem langen Blick, der ihn doch nicht sah.

„Höchstens, weil wir derselben Herrin dienen,“ sagte er leise.

„Nein, aber weil wir alle drei dem ‚Einzigen‘ dienen.“

Er hatte keine Zeit, um eine Erklärung zu bitten, [202] denn man hatte sich erhoben, und Daisy war sogleich hinausgegangen.

Das Leben floß dahin, wie immer, wie jeden Tag. Wie immer, schleppten sich die Tage langsam und langweilig hin; der Morgen erhob sich schläfrig und neblig, der Mittag kam blaß heran, erschöpft und traurig, die Abende waren von Fieberluft und Nervosität durchschwängert, die Nächte aber dehnten sich ohne Ende und lauschten, gleichsam ganz versunken, dem unaufhörlichen Regen, dem Rauschen der Bäume; ein unendlicher Reigen vergessener Augenblicke, Tausende von Gesichtern, Tausende von zerstobenen Gedanken glitten wie in den Tiefen eines Spiegels durch Zenons Hirn, das keiner Sammlung mehr fähig war, und an seinen Augen vorüber, die blind waren für alles Äußerliche und nur immer angestrengt in eine geheimnisvolle, zauberhafte Ferne des Erwartens starrten. Er wartete auf das Zeichen von Daisy.

Auf das versprochene „morgen“, dort an jenen fernen, blauen Meeren. Er wartete ruhig, voll Vertrauen, bis sie käme und sagte: Komm!

Und Tag für Tag stand er auf mit dem glühenden Hoffen, daß es sogleich in Erfüllung gehen würde, daß sich heute die Pforten des erträumten Paradieses öffnen müßten, doch nach einigen Tagen voll ekstatischer Erwartung fuhr Daisy mit dem Mahatma auf einige Zeit nach Dublin. Er wurde unruhig, aber er begleitete sie zur Bahn, zusammen mit Yoe und vielen Anhängern. Im letzten Augenblick noch, ganz kurz vor der Abfahrt, versenkte Daisy ihre glühenden Augen in seine und flüsterte:

[203] „Bald … Denkst du daran?“

„Ich warte, warte …“ antwortete er mit stummen Lippen. Und er starrte so lange und hartnäckig dem Zuge nach, der langsam in der Ferne verschwand, bis Yoe, der seinen Zustand erkannt hatte, sein Handgelenk heftig preßte und ihm leicht in die Augen blies.

„Komm jetzt, es ist kalt,“ rief er befehlend. Zenon schüttelte sich wie im Fieber, und als erwache er, ließ er seine Augen fragend umherschweifen.

„St. Pancrace-Station! Erkennst du’s nicht?“

Zenon lachte sonderbar nervös aus.

„Es ist doch merkwürdig: ich habe wahrhaftig einen Augenblick nicht gewußt, wo ich bin, ich hatte das Empfinden, als führe ich im Zuge und unterhielte mich. Ich verstehe nicht, was mir war!“ Er strich sich über die Stirn, er versuchte die losen Trümmer irgendwelcher Erinnerungen zusammenzufügen.

„Das sind die Reste irgendeiner Krankheit, oder vielleicht ihr Anfang …“ sagte Yoe.

„Es kann sein, ich fühlte mich seit einigen Tagen unglaublich überreizt! Ich war sicher, es müßte mir etwas Außergewöhnliches begegnen.“

„Du solltest verreisen! Sogar unser Arzt sagte mir, ich sollte dir raten, das Klima und die Umgebung zu wechseln, vor allem aber die Umgebung.“

„Das ist wahr: unsere Pension ist etwas verrückt.“

„Und verschiedene Personen üben einen etwas sehr gefährlichen Einfluß auf dich aus.“

[204] „Du irrst dich …“ Zenon unterdrückte noch auf den Lippen ihren Namen.

„Ich glaub’ aber doch … Du kennst nicht die ganze Macht ihres Willens, weißt nicht, wer sie ist, du ahnst es nicht einmal!“

„Reden wir offen, du nimmst an, daß Daisy einen zauberischen Bann auf mich ausübt?“ lachte Zenon spöttisch.

„Ich bin dessen sicher,“ entgegnete Yoe hart und entschieden.

„Wenn du’s weißt, dann könntest du mir mit gleicher Sicherheit erklären, weshalb sie das tut.“

„Betsy sagt, sie wäre verliebt in dich!“ begann Yoe ausweichend.

„Betsy? Woher sollte Betsy das wissen?“

„Sie ahnt es intuitiv.“

„Das fehlte noch, daß sie sich auch damit befaßt.“

„Aber ich denke mir, diese Liebe ist nur eine Lockspeise, nur Schein, denn Daisy geht es um etwas anderes …“

Zenon blieb stehen und schaute ihn fragend an.

„Um deine Seele!“ schloß Yoe ernst.

„Wollen wir die Zeiten der Teufelsverschreibungen auferstehen lassen?“

„Man kann nicht auferstehen lassen, was nie gestorben ist. Das Böse ist ebenso unsterblich wie Er.“

„Verzeih mir, was ich jetzt sage; aber ich sehe, ich muß wirklich auf einige Zeit meine Umgebung wechseln. Ich bemerke schon lange, daß ich unter Wahnsinnigen lebe. Vergib mir diese Offenheit; aber wenn ich dich und die anderen höre, und noch dazu [205] von deinen Zauberübungen weiß, könnte ich bald selbst einen Rappel bekommen. Ich bin zwar ziemlich nüchtern und widerstandsfähig, ich fühle aber, dieses mystische Fieber könnte ansteckend sein.“

„Du wirst erliegen, mit aller Sicherheit … Deine Widerstandsfähigkeit wird nichts nützen, Daisys Wille wird sie besiegen … Du wirst erliegen … Deswegen gerade rate ich dir zur Abreise. Zuweilen liegt in der Flucht der größte Sieg. Du weißt, mein Vater und Betsy planen eine Reise auf den Kontinent, fahr mit ihnen. Fliehe dieses Haus, solange es noch Zeit ist! Rette dich,“ bat Yoe inbrünstig und schaute Zenon flehend in die Augen.

„So droht mir also eine so schreckliche Gefahr?“

„Du scherzest, du glaubst es nicht, und ich sage dir: du stehst schon wankend am Abgrund und kannst jeden Augenblick hinunterstürzen.“

„Ich liebe Aphorismen und symbolische Anspielungen, aber ich höre nur auf mich selbst und meinen eigenen Verstand,“ entgegnete Zenon ziemlich kühl.

„Das glaubst du, und doch wirst du dem Geheiß eines mächtigeren Willens folgen.“

„Zum Glück unterliege ich nicht so leicht Suggestionen, und mediumistische Fähigkeiten besitze ich schon ganz und gar nicht.“

„Du bist die größte mediumistische Kraft, die ich kenne.“

Zenon mußte das nicht gehört haben; denn als er das Boarding-House betrat, war er zu sehr mit einer Depesche beschäftigt, die ihm der Portier überreicht hatte.

[206] „Du hast mir nichts auf den Plan einer Reise mit dem Vater geantwortet.“

„Ich werde morgen bei ihnen sein.“

Sie gingen ziemlich kühl auseinander.

Zenon öffnete ungeduldig das Telegramm.

„Wir warten seit zwei Tagen auf Dich. Komm oder antworte. Heinrich.“

Die Depesche war in polnischer Sprache, und er verstand ihren Inhalt trotz grober Schreibfehler, nur konnte er nicht begreifen, von wem sie käme?

„Offenbar ein Landsmann! Das Ende vom Liede wird sein, daß er mich um einige Pfund bittet,“ dachte er bitter, während er seine Wohnung betrat.

„Wir warten seit zwei Tagen. Sind Briefe da?“

„Es liegt alles auf dem Schreibtisch,“ erklärte der Diener.

„Sind die von heute?“

„Seit vier Tagen lege ich sie zusammen …“

„Ja … seit vier Tagen … richtig, ich habe vergessen, sie durchzusehen.“

Ganz oben leuchtete ein blaues Kuvert, welches mit nicht englischen Schriftzügen adressiert war. Er wog es in der Hand, besah es von allen Seiten, endlich riß er es auf, las den Brief in einem Atemzuge und war starr.

Da schrieb ihm sein Vetter, der vor einigen Tagen nach London gekommen war und ihn dringend zu sehen wünschte. Ganz unten war ein kurzer Nachsatz:

P. S. Ich bitte sehr und warte sehnsüchtig. Ada.“

„Ada! Ada!“ Er starrte auf die Reihe zierlicher, [207] vornehmer Buchstaben, aus denen sich gleichsam ein Duft längst verwelkter Erinnerungen erhob.

„Sie warten auf mich … Ada! Ich muß gehen, muß unbedingt.“ Er schwankte einen Augenblick, da er nicht wußte, was er tun sollte, doch es zog ihn etwas so mächtig, daß er es gar nicht merkte, wie er sich plötzlich in einem Cab befand und dem Kutscher befahl, ihn ins Cecilhotel zu fahren.

„Zehn Jahre! Gespenster jagen mir nach. Tote stehen auf!“ dachte er und erinnerte sich an ein Gesicht, das er längst vergessen hatte.

„Und doch ist das alles schon gestorben in mir, gestorben!“ wiederholte er, als wolle er den Erinnerungen wehren. Vergebens, der Nebel zerriß plötzlich, und unter den vielen Jahren des Vergessens, unter dem stürmischen Chaos des neuen Lebens hervor drang das Echo ferner Zeiten immer stärker, immer gewaltiger und lauter.

„Ich erinnere mich kaum jener Liebe, erinnere mich kaum,“ sagte er herausfordernd zu seinem eigenen Herzen und wartete voll Unruhe auf dessen Antwort, doch das Herz zuckte nicht einmal, es begann nicht heftiger zu schlagen, erzitterte nicht in Sehnsucht, nur die Erinnerung an furchtbare Augenblicke erwachte. Der letzte Tag vor der Flucht aus der Heimat kroch in sein Hirn und fraß mit scharfen Zähnen der Erinnerung an ihm.

Das Cab rollte langsam dahin, von einer unendlichen Kette von Wagen, Omnibussen und Automobilen eingeengt. In den Straßen wogte es geräuschvoll. Die Stadt dämmerte in grauem, kaltem Nebel. Im Innern [208] der Läden schimmerten Lichter, die schwarzen Menschenwogen strömten wie Flüsse ohne Zahl und Ende.

„Wie sie wohl aussehen mag? Wie wird sie mich empfangen?“ sann er, in die Erinnerung an Tage versunken, die immer deutlicher emporstiegen. Alle längst gestorbenen Worte erklangen in seinen Hirn, alle ihre Blicke glitten an ihm vorüber wie ein Blitzknäuel und erweckten die vermoderten Erinnerungen an Leiden, an Stunden heftiger Krämpfe, Stunden des Zweifels und der Verzweiflung, Augenblicke übermenschlicher Qual; das ganze Golgatha jenes Lebens ergoß sich über ihn wie eine bittere, giftige Welle. Und wenn sie auch vorüberglitten wie ein Reigen von Gespenstern, wenn sie auch nur quälenden Träumen glichen, die, in farbloses Grau gehüllt, zu Staub zerfallen, so erfüllten sie doch seine Seele mit einer Trauer vergeblicher Reue.

„Jedes ‚heute‘ ist ein Grab für das ‚morgen‘! Das ist eine sehr kluge Notwendigkeit.“ Er seufzte jedoch traurig auf und beschloß, als er das Hotel betrat, sich auf keinen Fall aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen und dem Zauber der Vergangenheit bestimmt nicht zu unterliegen.

„Ich bin ihnen fremd und werde ihnen fremd bleiben. Zehn lange Jahre liegen zwischen uns. Aber was will diese marmorkalte Dame von mir? Habe ich es nicht teuer genug erkauft?“ fragte er, und Unwille, Empörung und Ärger kochten in ihm. Doch als er das Vorzimmer betreten hatte und der Diener gegangen war, ihn anzumelden, empfand er plötzlich ein heftiges Verlangen, fortzulaufen. Es war schon [209] zu spät, jemand kam eilig herbei, die Tür ging auf, und Ada stand vor ihm. Sie streckte ihm die Hände entgegen, mit einer heftigen Bewegung der Freude. Er vermochte gleichfalls kein Wort hervorzubringen, nur ihre Hände umschlossen sich, ihre Augen versanken ineinander, sie standen beinahe besinnungslos da, in einer sonderbaren Rührung.

„So kommt doch,“ wurde eine Stimme in der Tiefe der Wohnung laut.

Sie zog ihn weiter, ein Mann kam ihnen, auf einen Stock gestützt, entgegen. Zenon konnte ihn im ersten Augenblicke nicht erkennen. Der Fremde warf sich in Zenons Arme.

„Heinrich!“ rief dieser unangenehm überrascht.

Der andre umarmte ihn noch einmal und flüsterte äußerst herzlich:

„Endlich! Wir haben so gewartet.“

„Seit zwei Tagen zählen wir jede Stunde,“ sagte Ada mit leiser, erstickter Stimme.

Zenon begann sich zu rechtfertigen, doch Heinrich, der seine Hand nicht losließ, zog ihn zu einem Fauteuil und rief freudig:

„Entschuldige dich nicht, jetzt ist ja alles gleich. Du bist bei uns, das übrige lassen wir ruhen. Wie viel Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen?“

„Beinahe zehn,“ flüsterte Ada ganz leise und schloß die Augen.

„Eine furchtbar lange Zeit. Aber ich habe nicht angenommen, daß wir uns in London treffen würden.“

„Ich war sicher, Sie würden in die Heimat zurückkehren.“

[210] „Ja, die Sehnsucht nach dem teuren Vaterlande ist noch nicht in mir erwacht!“ bemerkte Zenon ironisch, er war schon ganz ruhig und hatte Gewalt über sich.

„Was, du hast dich nie nach der Heimat gesehnt? Nie?“

„Niemals, denn hier habe ich alles gefunden, wonach ich in der Heimat vergeblich verlangte.“

„Auch die Ruhe?“ fragte sie, die Augen zu ihm erhebend.

„Ja, auch die Ruhe,“ entgegnete er mit Nachdruck.

„Und Sie haben nie etwas bereut?“

Er schwankte einen Augenblick und sagte kühl:

„Nein, ich habe mit der Vergangenheit völlig gebrochen, und das übrige habe ich in mir getötet. Übrigens, was könnte mir leid tun? Das Schicksal Polens? Nicht einmal der Teufel könnte uns darum beneiden, wenn es auch sein Einfall ist, – Verzeihung, ich berühre diese Frage ganz überflüssigerweise.“

„Und du begehst eine grobe Ungerechtigkeit gegen deine Freunde.“

„Ich habe in der Heimat keine Freunde und hatte nie welche.“

„Also auch wir zählen nicht?“

„Ich dachte jetzt nicht an die Familie.“

„Ada kann es dir bestätigen, wie schmerzhaft wir deine Abreise empfunden haben.“

„Natürlich, es war ein Partner weniger da zum Whist.“

Heinrich räusperte sich unangenehm berührt.

„Und Ihr habt es nicht einmal fertig gebracht, ein Wort an mich zu schreiben!“

[211] „Haben Sie uns denn ein Lebenszeichen gegeben?“

Eine tiefverborgene Klage klang in Adas Stimme.

„Also ist es meine Schuld?“ Zenon schaute sie herausfordernd an.

Sie neigte den Kopf und ging in das andere Zimmer.

„Hören wir auf mit Vorwürfen!“ schlug Heinrich vor. „Ärgern wir uns nicht, machen wir einen Strich durch die beiderseitige Schuld. Zu meiner Rechtfertigung will ich dir sagen, daß ich erst vor einigen Jahren erfahren habe, daß du lebst. Ada hat nie daran gezweifelt, und erst seit einem Jahre bin ich im Besitze deiner Adresse.“

„Mein Pächter muß sie dir verraten haben.“

„Nein. Wir haben ihn oft gequält, aber er wollte sie uns nicht sagen. Dein Rechtsanwalt aber versuchte immerfort, uns zu überzeugen, du wärest gestorben; und als wichtigsten Beweis dafür führte er an, du hattest dein ganzes Vermögen gemeinnützigen Zwecken vermacht. Wir mußten es schließlich glauben, nur Ada ließ es sich nicht einreden. Sie allein ahnte die Wahrheit. Vor einigen Jahren lernten wir in Kairo Herrn W. P. Grey kennen.“

„Den Dichter? Meinen Freund? Und er hat es euch gesagt?“

„Er verschnappte sich und bedauerte es dann sehr; er beschwor uns, niemand etwas davon zu sagen.“

„Also man weiß in der Heimat von mir?“

„Nein, niemand weiß, wer sich unter dem englischen Pseudonym Walther Brown verbirgt. Ada [212] behauptete, wir hätten kein Recht, dein Geheimnis zu verraten.“

„Ich bin euch unendlich dankbar!“

„Doch sie hat noch mehr getan, sie hat einige deiner Bücher übersetzt, und du bist in der Heimat bekannt, mein lieber Herr Walther Brown.“

„Ich besitze diese Übersetzungen sogar, sie sind hervorragend, aber es kam mir nicht in den Sinn, Ada im Verdacht zu haben. Das ist eine Überraschung.“

„Sie hat nur zu diesem Zweck englisch gelernt. Und seitdem wir wissen, wer Walther Brown ist, wissen wir alles von dir. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir uns über deine Erfolge gefreut haben, wie stolz wir waren.“

Zenon schwieg, von widerstreitenden Gefühlen erfüllt.

„Und wir warteten immer auf deine Rückkunft, aber es vergingen Jahre, und meine Krankheit machte solche Fortschritte, daß ich aufhörte, mit deiner Heimkehr zu rechnen. Ich hätte sie wohl nie erlebt?“

„Ich dachte nie an Heimkehr,“ flüsterte Zenon düster.

„Ich habe das schließlich geahnt. Du erinnerst dich: ich war immer kränklich, aber seit einigen Jahren begannen Herz und Nieren immer schneller an mir zu fressen. Vergebens suchte ich überall in der Welt meine Gesundheit wieder zu erlangen; endlich gab ich es auf, doch um so mehr wollte ich dich sehen. Deswegen sind wir ja nach London gekommen.“

[213] „Meinetwegen?“

„Ja, und weißt du auch, daß man einem Sterbenden nichts versagen darf?“

„Ich verstehe nicht, was das mit dir zu schaffen hat.“

„Ich habe eine große, letzte Bitte an dich.“

„Du scherzest wohl. Du übertreibst deinen Zustand.“

„Leider kenne ich ihn besser als die Ärzte und weiß, daß ich jeden Augenblick sterben kann. Deswegen bin ich hier, und ich bitte dich, wie ein Sterbender bitten kann: nimm dich meiner Frau und Tochter an.“

„Ich? Deiner Frau und Tochter?“ Zenon sprang verblüfft auf.

„Nach meinem Tode nimm dich ihrer an,“ wiederholte Heinrich voll Kraft und schaute ihn mit einem herzlichen, tränenfeuchten Blick an. „Denk doch, nach meinem Tode werden sie niemanden außer dir haben. Bedenke!“

„Du scheinst nicht zu wissen, was du sagst,“ schrie Zenon auf, er konnte seinen eigenen Ohren noch nicht trauen.

„Ich habe lange darüber nachgedacht! Was siehst du so Außergewöhnliches darin?“

„Ja, in der Tat, aber es kam mir so unerwartet.“

„Setz dich zu mir, wir wollen ausführlicher darüber reden. Hab nur keine Angst wegen der Mühe, – ich habe alles geregelt. Gib mir die Hand, als Zeichen, daß du einverstanden bist. Ja, ich wußte, du wirst es mir nicht versagen, ich danke dir von ganzem Herzen, ich darf es nicht aufschieben.“ Heinrich [214] küßte ihn herzlich und begann ihm leise mit gequälter Stimme seine Sorgen um die Zukunft Adas und des Kindes anzuvertrauen.

Zenon hörte zu und schaute ihn mit einer Art Entsetzen an. Wie, er empfahl Ada seinem Schutze? Ada! Ihr eigener Mann. Jetzt, nach so vielen Jahren, wo alles in ihm tot war. War es eine scheußliche Rache oder eine Ironie des Schicksals? Die Gedanken rasten wie blendende Blitze durch sein Hirn, und Gefühle jagten sich, die so verworren und unklar waren, daß er zeitweise glaubte, er unterliege einer quälenden Halluzination! Doch nein, Heinrich saß ganz nahe neben ihm, er hörte seine Stimme, er schaute ihm ins Gesicht, er fühlte es, fühlte die Hand Heinrichs in der seinen, – sie war kalt und feucht. Er schüttelte sich heftig. Er war jetzt mit allem einverstanden, sagte zu allem Ja, er wagte nicht mehr zu widersprechen. Unter dem Einflusse von Heinrichs Worten, die voll eines grenzenlosen Vertrauens waren, bemächtigte sich seiner eine brennende Scham, er fühlte sich furchtbar gedemütigt.

„Ich wußte nicht, daß ihr eine Tochter habt!“ unterbrach er ihn, in der Hoffnung, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben.

„Ich werde sie gleich rufen! Wanda!“

„Wie alt ist sie denn?“ fuhr Zenon in der gleichen Absicht fort.

„Sie ist jetzt im zehnten! Sie ist einige Monate nach deiner Abreise geboren!“ Heinrich umfing Zenon mit einem sonderbar rätselhaften Blick.

Zenon zog die Brauen zusammen, als blende ihn [215] ein plötzlicher Blitzstrahl, und zündete sich schnell eine Zigarette an. Da trat Ada mit einem schlanken Mädchen ein, dessen Gesicht ganz von hellblonden Locken umrahmt und überaus reizend war.

„Wanda, das ist dein Onkel!“

Das Mädchen tauchte seine großen, blauen Augen in die seinen.

„So begrüßt euch doch!“ kommandierte Heinrich.

Das Mädchen überwand seine Schüchternheit und umarmte ihn. Er küßte es mit erzwungener Zärtlichkeit und etwas allzu ostentativ, um eine sonderbare Rührung zu verbergen.

„Sie ist sehr schön; das typische polnische Kind!“

„Sie sieht dir außerordentlich ähnlich.“

„Ein ganz anderer Typ!“ Zenon fühlte sich unangenehm berührt.

„Im Gegenteil, es ist ganz der Familientyp! Früher, vor der Krankheit, war Heinrich Ihnen doch auch sehr ähnlich,“ sagte Ada, den Kopf des Kindes an sich schmiegend, und in ihren Augen glomm etwas Rätselhaftes, ihre Lippen umspielte ein nicht zu entzifferndes Lächeln; auch Heinrichs Gesicht hatte den traurigen Ausdruck der Resignation, nur die kleine Wanda, die sich an ihre Mutter schmiegte, warf Zenon heitere, belustigte Blicke zu.

Das Gespräch stockte immerfort, es schleppte sich schwer weiter und sprang unaufhörlich von Gegenstand zu Gegenstand, ohne bei einer Sache bleiben zu können. Denn es lag zwischen ihnen die Trennung so vieler Jahre, und es verbanden sie nur Erinnerungen von früher her, die schon ein wenig verwischt waren, und [216] die man nur hin und wieder, doch gleichsam voll Scheu, berührte. Beide waren sie überaus herzlich zu Zenon, doch er wahrte immer einen gewissen Abstand und speiste sie mit kurzen, kühlen Antworten ab. Er fühlte sich allen den Angelegenheiten, die man berührte, so fern und fremd wie diesen Leuten selbst gegenüber. Ermüdet schaute er auf die Uhr, doch Heinrichs Augen trafen ihn mit einer stummen und so glühenden Bitte, daß er noch blieb und versuchte, ein Interesse an ihnen zu gewinnen und die Langeweile zu verdecken, die sich seiner immer hartnäckiger bemächtigen wollte.

Plötzlich fragte ihn Heinrich mit der ganzen Aufrichtigkeit eines Landedelmannes:

„Sag uns offen und ehrlich: weswegen hast du die Heimat verlassen?“

Er war darauf vorbereitet, denn er entgegnete lächelnd:

„Ich hatte Polen satt, ich wollte mich als Europäer fühlen.“

„Bei uns sprach man anders davon, ganz anders …“

Zenon fühlte sich gereizt durch sein dummes, zweideutiges Lächeln.

„Wie sprach man denn. Das kann ja interessant sein.“

„Vor allem sagte man dir eine unglückliche Liebe nach. Viele behaupteten auch, ein amerikanisches Duell hätte dich aus der Heimat vertrieben. Aber es gab auch Leute, die weniger harmlose Gründe annahmen …“

[217] „Mord oder Diebstahl! Ich erkenne darin die üppige Phantasie meiner Kollegen von der Feder.“

„Etwas Ähnliches; meistens aber sprach man von einem Selbstmord infolge von unglücklicher Liebe.“

„Der dümmste Beweggrund, aber dafür ist er romantisch. Bei uns dahein erklärt man sich so etwas gern mit Liebe oder irgendeiner Schurkerei.“

„So ist es ja auch meistens.“

„Es kommt vor, ich geb’ es zu, aber es kommen auch viele andere Anlässe vor. Es kann Gründe geben, die tausendmal tiefer und wichtiger sind.“

Ada hatte sich abgewandt, eine flammende Röte übergoß ihr Gesicht.

„Die Leute erklären sich’s lieber mit Sachen, die sie besser verstehen.“

„Ganz recht. Hätte ich gesagt: Ich reise fort, weil mir das Leben unter euch zu langweilig geworden ist, dann hätte mir niemand geglaubt. Das wäre zu einfach gewesen.“

„Und er hätte recht gehabt?“

„Wenn ich dir aber versichere, daß dies allein der Grund meiner Abreise gewesen ist!“

„Ich würde es glauben, selbstverständlich, ich müßte es glauben, aber …“

„Was bedeutet der Grund gegen die Tatsache selbst,“ bemerkte Ada.

„Die Tatsache war von Bedeutung, ich bestreite es nicht, aber nur für mich allein!“ warf Zenon unwillig hin, doch da er sah, daß ihr Gesicht sich plötzlich umwölkte, begann er scherzend: „Ihr müßt mir einmal allen Klatsch erzählen, der nach meinem Verschwinden [218] im Umlauf war. Und wie man mich bedauerte. Die Trauer muß allgemein gewesen sein über diesen unersetzlichen Verlust!“

„Du spottest, und alljährlich lassen deine Verehrer einen Trauergottesdienst für deine Seele abhalten.“

„Soweit geht es? Das sind wohl meine Verleger, die mir aus Angst, ich könnte wieder lebendig werden und meine Rechte geltend machen, den Himmel sichern wollen?“

„Früher konnten Sie nicht über alles spotten.“

„Der Mensch lernt immer etwas Neues, immer wieder was zu …“

Ada hatte sich erhoben und begann im Zimmer umherzugehen, wobei sie alle Augenblicke durchs Fenster schaute. Er konnte seine Augen nicht losreißen von ihr. Sie war hochgewachsen, schön und stolz, wie einst. Manchmal trafen sich ihre Blicke und stoben wieder auseinander, wie gescheuchte Vögel. Zuweilen blieb sie am Fenster stehen, ihre Brauen bäumten sich, wie zornige Schlangen, und ihr wunderbar gezeichneter purpurroter Mund nahm einen boshaften Ausdruck an. Es schien, als höre sie nicht auf das Gespräch, das sie führten, nur manchmal hob sie ihre klugen, forschenden Augen zu Zenon, und dann schwellte ihre Brust ein tiefer Seufzer.

Zenon blieb zum Essen, denn die Stimmung wurde, nachdem das Eis gebrochen war, immer freier und angenehmer. Alle waren sie lebhafter geworden, und die Mahlzeit verlief sehr heiter. Zenon hatte ihr Gesicht vor sich, die vollen schwarzen Haare beschatteten es wie eine Wolke, unter der hervor große, abgrundtiefe [219] Augen funkelten, und die tiefe, wunderbare Stimme erweckte in ihm eine ganze Reihe von Erinnerungen und ließ die Vergangenheit mit unerhörter Macht auferstehen.

„Zuweilen habe ich den Eindruck, als säße ich bei euch auf dem Lande … vor Jahren. Sogar der Diener erinnert mich an den alten Valentin …“

„Du wirst heimkommen, und alles wird wieder beim alten sein. Bei uns zu Hause hat sich nichts verändert. Du wirst gar nicht merken, daß du so lange fortgewesen bist.“

„Ich könnte nicht mehr zum früheren Leben zurückkehren.“

„Sie lieben die Vergangenheit nicht?“ Ada lächelte melancholisch.

„Denn ich hatte nie einen Augenblick, den ich mir zurückersehnen könnte.“

„Nicht einen einzigen Augenblick?“ fragte sie schnell.

„Und wenn einer da war, so ist er ertrunken in einem ganzen Meer von Bitterkeit.“

Zenon fühlte sich plötzlich gereizt, Bitterkeit hatte sich auf seine Lippen gesetzt und seinen Blick geschärft, und das alte Leid wühlte so in seinem Herzen, daß er, als sie sich kaum vom Tische erhoben hatten, sofort gehen wollte.

„Wir haben eine Loge für die Oper, und wir hofften diesen Abend zusammen mit Ihnen zu verleben! Können Sie’s uns denn abschlagen?“

Wieder diese sonderbar süße, berauschende Stimme, wieder diese Augen, die bittend befahlen, dieses entwaffnende [220] Lächeln … Nein, nein, er konnte keine Ausrede finden und fuhr mit ihnen ins Theater.

Die Aufführung hatte bereits begonnen.

Zenon saß hinten in der verdunkelten Loge und schaute Ada nur mit kühlen, prüfenden Augen an, diesen wunderbaren Kopf mit dem scharfen Adlerprofil. Sie hatte das Gesicht einer Muse und der Sünde zugleich. In dieser Halbdämmerung und so nah, so verlockend nah, prangten ihre roten Lippen, diese beunruhigenden, gleichsam ewig durstigen Lippen. Er sah sie an wie ein Kunstwerk, sättigte seine Augen an ihrer Schönheit, freute sich mit der reinen Freude des Künstlers an ihr und bemerkte daher mit einer gewissen Unruhe, daß sie ein wenig zugenommen hatte, und daß ihr prachtvoller Busen die Fülle reifender Trauben annahm. Sie schien weder die Vorstellung, noch seine Augen zu sehen, denn ihre Blicke irrten irgendwohin, weit fort, gleichsam zu fernen Erinnerungen.

Ob sie sich erinnerte? Ob sie es immer noch mit derselben Gleichgültigkeit duldete, daß man sie vergötterte? Hatte sie auch anderen die Brosamen ihrer königlichen Gnade zum Geschenk hingeworfen? War sie immer noch ebenso kalt und gleichgültig?

Auf der Bühne sang man „Romea und Julia“.

Das Theater war überfüllt. In den Logen leuchteten weiß die entblößten Schultern, begeisterte Augen glänzten, und aufhörlich rauschten leise die Fächer. Die Luft war von Parfüm- und Blumenduft durchtränkt.

Im Saale war es halbdunkel, und auf der beleuchteten Bühne sangen heuchelnde Liebende von einer [221] geheuchelten Liebe. Aus süßen Kantilenen sickerte das Gift des Sinnenreizes und weckte eine wahnsinnige Sehnsucht nach Küssen und die Schauer eines leidenschaftlichen Verlangens. Das Verlangen sang das schamlose und nie gestillte Lied der Wollust.

Und in einem Augenblick, als die Liebenden auf der Bühne sich in die Arme fielen, ließ Ada den Fächer fallen und flüsterte, als er ihn ihr reichte, kaum hörbar:

„Erinnerst du dich?“

In ihm war gerade die Erinnerung an diesen einzigen und nie erfaßten Augenblick erwacht, darum erzitterte er bei ihren Worten und schaute sie erstaunt an. Sie saß ruhig und kalt, als wäre sie aus Marmor.

Wie erinnerte er sich jetzt an jenen Abend des Grauens und der Leidenschaft!

Es war bei ihnen auf dem Gute.

Der Frühlingssturm brauste über die Erde dahin, zuweilen goß es in Strömen, der Wind heulte um die Mauern, der Park stöhnte, der Donner rollte und Blitze zuckten. Die ganze Gesellschaft spielte Karten im Nebenzimmer, und er spielte in dem großen, dämmrigen Saal auf dem Harmonium Bach; er spielte wie immer für sie und sang wie immer von seiner hoffnungslosen Liebe.

Sie kam, von den Klängen angelockt, und glitt durch den Saal dahin wie ein weißer, stiller Blitzstrahl. Die Nacht wurde immer furchtbarer, der Donner rollte drohend, als stürze die ganze Welt zusammen. Sie starrte in das Gewitter und in die blendenden Blitze, [222] ohne Furcht, ruhig wie immer, erhaben, schweigend und so tot, so gleichgültig, daß ihm wie immer die Worte eines Geständnisses auf den Lippen erstarben und seine Seele Tränen hoffnungsloser Verzweiflung erfüllten.

An diesem Abende sprachen sie kein Wort miteinander.

Er blieb über Nacht bei ihnen, denn es war unmöglich, in dem tobenden Sturm nach Hause zurückzukehren.

Und als er in seinem Zimmer war, die Kerzen gelöscht hatte und anfing darüber nachzudenken, daß er dieses Haus verlassen müsse, daß er sofort und für immer gehen müsse … da ging die Tür auf … es war jemand mit bloßen Füßen hereingekommen … und ehe er sich erheben und fragen konnte, fiel ihm jemand auf die Brust … es umarmte ihn jemand … küßte ihn mit gierigen, hungrigen Lippen … er hörte eine gedämpfte Stimme … die Stimme der Verheißung … die Stimme der Leidenschaft, der Verzückung …

Er konnte jetzt nicht mehr ruhig daran denken, er sprang ganz unbewußt von seinem Platze auf, er rang nach Luft, und ein wahnsinniges Verlangen dehnte seine Arme …

Zum Glück war der Akt zu Ende, der Vorhang fiel, der dröhnende Beifall gab ihm sofort die Besinnung wieder.

Sie gingen beide ins Foyer hinaus, denn Heinrich wollte lieber in der Loge bleiben.

„Ich weiß, woran Sie gedacht haben!“ begann sie, ohne ihn anzuschauen.

[223] „Könnte ich denn an etwas anderes denken?“

Ein eindringliches, rätselhaftes Lächeln huschte über ihre Lippen.

„Wäre diese Begegnung nicht, – ich hätte es vergessen,“ flüsterte er gleichsam vorwurfsvoll. – „Ich hätte es für immer vergessen.“

Eine Menschenwoge trennte sie für einen Augenblick.

„Wir müssen uns morgen treffen. Ich komme um elf Uhr ins British Museum. Werden Sie auf mich warten?“

„Sie befehlen, also werde ich dort sein.“

„Ich bitte, ich bitte,“ wiederholte sie gerührt.

„Werden Sie lange in London bleiben?“ fragte er schon ruhiger.

„Das hängt davon ab, was Sie mir morgen sagen werden.“ Sie schaute ihm in die Augen, ängstlich, voll Erwartung.

„Ich soll entscheiden? Niemals wollten Sie mich auch nur anhören, und jetzt … Welch neues Unrecht gegen mich haben Sie in Vorbereitung?“ Er lächelte in schmerzhaftem Spott.

Sie war erblaßt, ihre Augen flackerten, sie stöhnte beinahe auf.

„Sie hassen mich!“

„Ich wehre mich nur, denn ich erinnere mich des Vergangenen nur zu gut.“

„Also bis morgen! Alles werde ich Ihnen sagen und enthüllen …“

„Zehn Jahre habe ich darauf gewartet …“ flüsterte er, als sie wieder die Loge betraten.

[224] Ein neuer Akt hatte begonnen; auf der Bühne gingen allerhand Dinge vor, doch er bemerkte nichts, nicht einmal die flammenden Blicke, mit denen sie ihn umfing. Er saß zusammengekauert da und dachte an vergangenes Leid; wollüstig quälte ihn die Erinnerung an jene Zeiten und jene unfaßbare Nacht …

Sie war gekommen und hatte sich ihm freiwillig hingegeben.

Mit welch furchtbaren Gewissensbissen waren diese Augenblicke des Liebeswahns geschwängert!

Und warum? Warum? Warum?

Ja, richtig, morgen würde er endlich alles erfahren! …

Doch wer wird ihm die Qualen aller dieser Jahre bezahlen, wer und womit? Soll diese Marmorschönheit hier der Preis sein, die er nicht liebte und nach der er kein Verlangen trug? Er träumte doch von jener andern, von jener Toten, die auf ewig in seinem Herzen begraben lag! Nie würde auferstehen, was schon in Staub zerfallen war.

Wie erinnerte er sich jetzt an jene Morgenröte, da sie ihn verließ und auf alle seine Beschwörungen und Fragen kein einziges Wort sagte. Sie war gegangen wie ein Traum. Trotzdem ihm bald der Tag in die Augen geschaut, die Sonne geschienen, die Vögel gesungen hatten, war es ihm immer noch gewesen, als hätte er nur einen Traum gehabt. Und in jener Freude, die ihn zuweilen durchdrungen hatte, war soviel Unruhe, soviel Scheu und so wenig Glauben an sein eigenes Glück gewesen, daß er wie betäubt das Frühstück erwartete. Sie war nicht bei Tische erschienen.

[225] Er allein verstand, weswegen sie nicht gekommen war, und er hatte Lust gehabt, die ganze Welt in seinem grenzenlosen Glücksgefühl zu umarmen. Zunächst Scheidung und dann das Leben mit der Geliebten! Alles fand für ihn eine klare und einfache, ehrliche Lösung; er wäre nicht imstande gewesen, jemand zu betrügen, er verachtete die Verführer. Er berauschte sich an diesen Träumen von der Zukunft; er wartete mit unsagbarer Sehnsucht auf sie.

Doch sie zeigte sich zwei lange Tage hindurch vor keinem Menschen.

Heinrich erzählte, sie wäre krank und läge im Bett.

Er konnte nicht länger warten und schrieb ihr einen Brief, der seine ganze Liebe, seinen ganzen Glauben und sein ganzes Hoffen auf ihre gemeinsame Zukunft barg.

Er kam ungeöffnet zurück.

Und am dritten Tage, als sie wieder erschien, war sie wieder wie immer, – kalt, gleichgültig und beinahe verachtungsvoll.

Er wurde beinahe wahnsinnig vor Schmerz und verlangte, da er nicht verstehen konnte, was mit ihr vorgegangen war, und sich am Rande der Verzweiflung fühlte, kategorisch Erklärungen, – da ging sie fort, ohne ein Wort zu sagen.

Er begann anzunehmen, alles wäre ein furchtbarer Irrtum gewesen. Doch in einem Augenblick des Erbarmens sagte sie ihm offen:

„Bitte, fragen Sie mich nicht. Alles muß beim alten bleiben, später einmal werde ich Sie aufklären.“

Und da er nicht imstande war, wie früher zu leben, [226] indem er sich nebelhaften Hoffnungen hingab, da Wochen vergingen und sie immer gleich kalt, unnahbar und fern blieb, zerriß er in einer letzten verzweifelten Anstrengung alle Bande, die ihn an die Heimat fesselten, und floh weit in die Welt hinaus; er hatte sich ein neues Leben geschaffen und beinahe vergessen.

Und jetzt, nach so vielen Jahren, steht plötzlich dieses Gespenst der Vergangenheit vor ihm.

Und was will sie denn von mir? sann er düster, während er voll Unruhe in ihre stolzen königlichen Augen blickte. – Ich gehe nicht ins alte Joch, nein! Er empörte sich immer verbissener.

Nachdem sie das Theater verlassen hatten, mahnte ihn Heinrich sehr herzlich, er müsse mit ihnen die ganze Zeit verleben.

„Ich habe Herrn Zenon schon für morgen ins British Museum gebeten.“

„Ich werde kommen, wenn meine Braut mich nicht rufen läßt …“

Adas Augen fingen an, unheimlich zu funkeln, aber sie sagte ungezwungen:

„O ja, die Braut hat den Vorrang, sogar vor uns.“

Heinrich begann voll Neugier nach ihr zu fragen.

„Morgen werde ich es euch ausführlicher erzählen. Ihr müßt sie kennen lernen. Es trifft sich sogar sehr gut, daß sie jemand von den Meinen kennen lernt! Auf Wiedersehen!“

Damit trennten sie sich. Zenon war nervös und ärgerlich auf sich, auf Ada und auf die ganze Welt und beschloß feierlichst, morgen nicht ins British Museum zu gehen.

[227] „Ja, warum denn auch? Alte Wunden wieder aufwühlen? Was werde ich erfahren? Daß es unter dem Eindruck des Gewittere und einer momentanen Schwäche geschehen ist!“

„Weswegen hat sie so an mir gehandelt?“ so wurde plötzlich wieder in ihm die alte quälende Frage laut, und er konnte sich nicht mehr für etwas Bestimmtes entscheiden. Zu Hause fand er einen Brief von Betsy vor, die ihn bat, er möchte so schnell wie möglich zu ihnen kommen, um eine Entscheidung wegen der Reise nach dem Festland zu treffen. Der Brief war mit so rührender Zärtlichkeit geschrieben, daß er unter seinem Einfluß zunächst die Qualen vergaß und sehr herzlich und ausführlich antwortete. Er hatte sich gerade erhoben, um den Brief zum Portier zu tragen, als jemand an die Tür klopfte.

„Herein!“ Er wunderte sich, denn das ganze Hotel schlief längst. Auf der Schwelle stand der Malaie und stammelte etwas ohne Zusammenhang.

„Was ist los? Sprich doch deutlich, ich verstehe nicht.“

„Kommen Sie schnell … Schon seit Nachmittag sitzt er da … Ich …“

Zenon hörte nicht weiter zu und lief nach oben.

In dem runden Zimmer, dort wo damals die Geißelungsszene stattgefunden hatte, saß Yoe mitten auf dem Fußboden, mit gekreuzten Beinen, zusammengekauert und starrte mit gläsernen Augen vor sich hin. In der Kristallkugel an der Decke schimmerte das blasse, grünliche Licht.

„Yoe! Yoe!“

[228] Aber Yoe zuckte nicht einmal bei der Stimme des Freundes, nur ein bewußtloses Lächeln huschte über seine fahlen Lippen, er bewegte sie tonlos und neigte sich etwas vor.

Zenons Augen folgten der Richtung seines Blickes und blieb wie gelähmt stehen. Drüben an der Wand saß jemand, der Yoe so völlig ähnlich war wie sein Spiegelbild, ebenso zusammengekauert, ebenso vor sich hinstarrend mit gläsernen Augen, mit demselben bewußtlosen Lächeln auf den fahlen Lippen.

Zenon sah sich ängstlich im Zimmer um, der Malaie war nicht mehr da, aber die beiden saßen immer noch da, als wären sie in diesem angestrengten leblosen Aufeinanderstarren erkaltet. Schweiß perlte auf Zenons Stirn, und sein Herz hörte auf zu schlagen.

„Träume ich, oder was ist das? Was soll das bedeuten?“ dachte er und rieb sich die Augen.

Doch er träumte nicht, und das, was er vor sich sah, war eine völlig unfaßbare Wirklichkeit und dauerte unverändert fort. Er forschte mit tiefster Aufmerksamkeit, er konnte jedoch nicht unterscheiden, wer von ihnen nur ein Spiegelbild des andern sei, denn jeder war Yoe, jeder war derselbe, und doch in zwei Gestalten.

„Also das ist möglich, das ist wahr?“ flüsterte Zenon mit bleichen Lippen und zog sich zurück in die Tiefen der Erinnerung an alle die Dinge, die er selbst gesehen und gehört und über die er nur gescherzt hatte, da er annahm, es wäre Wahnsinn oder Betrug. Und jetzt kamen Augenblicke einer so furchtbaren Verwirrung über ihn, daß er sich an dieser unfaßbaren Wirklichkeit [229] wie an einem Granitblock zerschlug, er kämpfte mit ihr, rang mit seinem eigenen Hirn, trat gegen seine eigene Seele in die Schranken, – er wollte sich nicht in den Abgrund des Wahnsinns hinunterstoßen lassen. Ja, war es denn möglich, daß eine physische Unmöglichkeit zur Tatsache werden konnte? Daß sich der Mensch in zwei Identitäten spalten konnte? Ein Wunder vollzog sich vor seinen Augen, ein Wunder, das er mit ansah, mit vollem Bewußtsein feststellte. Er sah es und konnte es dennoch nicht verstehen; schließlich erfaßte ihn das Grauen und zwang ihn vor irgendeiner unbekannten Gewalt in den Staub. Er wurde plötzlich gleichsam sehend, und indes seine geblendeten Augen in unermeßliche Fernen tauchten, wankte er an der Schwelle des Geheimnisses und wäre vielleicht in den plötzlich sich öffnenden Schlund gestürzt, wäre nicht jenes furchtbar bittere Empfinden seiner ganzen menschlichen Nichtigkeit gewesen.

„Gott, mein Gott!“ seufzte er klagend, und sein erschrockenes Herz empfand ein tiefes Verlangen, zu beten. Zum erstenmal in seinem Leben lastete über ihm das Unbekannte; zum erstenmal im Leben hatte er in die blinden Augen des Rätsels geschaut und war erstarrt in heiligem Entsetzen, aus seinem Herzen rissen sich die Worte irgendeines vergessenen Gebetes heraus. Er wußte nicht, vor wem er seine angstgeschwollene Seele enthüllte, wen er pries, noch vor wen er sich demütige, doch er wußte, daß er es tun mußte mit seiner ganzen Seele, mit der ganzen Tiefe seines flammenden Gefühls.

[230] Und dann ging er hinaus, zündete alle Lichter in der ganzen Wohnung an und begann in den Zimmern umherzuwandern, in einem schwer zu verstehenden Zustand.

Der Malaie kniete in dem chinesischen Kabinett vor einer goldenen Buddhastatue und ließ eifrig die Perlen des Rosenkranzes durch die Finger gleiten.

Die Stunden schleppten sich still hin, sie waren dabei so erfüllt von Furcht und Unruhe, daß jeder Klang der Uhr Zenon als ein furchtbares Getöse ins Herz schnitt. Zuweilen trommelte der Regen an die Scheiben, zuweilen erzitterten die Bäume, und die gekrümmten kahlen Äste schimmerten in gespensterhaften Umrissen hinter den Fenstern.

Ziemlich oft schaute er im runden Zimmer nach, doch immer traf er das gleiche an; sie saßen verschaut ineinander da, in der gleichen Unbeweglichkeit. Wie zwei Bildsäulen mit lebendigen und doch bewußtlosen Blicken dämmerten sie in dem grünlichen Licht, wie unter trübem, wogendem Wasser. Zenon näherte sich ihnen, sprach zu ihnen, berührte ihre eiskalten Hände, versuchte sie aufzuheben, doch sie waren wie mit dem Fußboden verwachsen, so daß er sie trotz heftiger Anstrengung nicht von der Stelle bewegen konnte.

„Welcher von ihnen ist Yoe, welcher?“ dachte Zenon in unsagbarer Pein, doch da er es nicht entscheiden konnte, wanderte er wieder in der Wohnung herum. Er wartete immer ungeduldiger auf die Lösung dieses betäubenden Rätsels. Es schlug sechs Uhr, als endlich ein langgezogenes Stöhnen aus dem runden Zimmer herüberdrang. Zenon stürzte erregt hin, Yoe [231] lag bewußtlos in der Mitte des Zimmers und war allein. Sie trugen ihn auf das Bett und versuchten so energisch, ihn zum Bewußtsein zu bringen, daß er bald die Augen aufschlug, sich durchdringend nach allen Seiten umsah und, völlig bei Bewußtsein, flüsterte:

„Ist er noch da?“ Etwas wie Furcht zitterte in seiner Stimme.

„Es ist niemand da, wie fühlst du dich?“

„Ich bin furchtbar ermüdet … furchtbar … furchtbar …“ wiederholte er immer langsamer und schläfriger. Zenon blieb bei ihm sitzen, bis er fest eingeschlafen war, kehrte dann in seine Wohnung zurück und legte sich sofort zu Bett.

Doch um elf Uhr war er schon im British Museum, unter der Säulenhalle. Er fühlte sich heute merkwürdig traurig und schwerfällig und konnte trotz angestrengter Bemühung seine Gedanken auf nichts konzentrieren.

Alle Gedanken liefen durch ihn hindurch, wie das Wasser durch ein Sieb, nicht einmal die Erinnerung an die Nacht erweckte lebhaftere Gefühle in ihm, – dies war ihm ebenso gleichgültig wie alles. Er war wie das Wetter: matt, neblig und langweilig.

Endlich tauchte Ada auf, so schön und bezaubernd, daß man ihr mit Bewunderung nachschaute.

Sie begrüßten sich schweigend; denn er hatte nichts zu sagen, sie dagegen so viel, daß nur ihre Augen die Hymne der Freude sangen und auf den Lippen ein Lächeln strahlte, wie der Widerschein eines inneren Feuers.

[232] „Sie sehen wunderbar aus!“ flüsterte er.

„Weil ich in diesem Augenblick glücklich bin!“ Sie schmiegte ihren Arm an den seinen, er fühlte, wie sie bebte. – „Sprich zu mir! Ich lechze nach deiner Stimme, ich habe so viele Jahre gewartet!“ bat sie zärtlich.

„Gestatte, daß ich diesen ersten Augenblick schweigend genieße,“ sagte er gekünstelt, und ein blutloses Lächeln spielte um seinen Mund.

Sie betraten den ägyptischen Saal. Sphinxe, gewaltige Sarkophage, Götter und Statuen geheiligter Tiere, gewaltige Bruchstücke von Säulen und uralte Überreste eines vor Jahrtausenden gestorbenen Lebens standen dichtgedrängt und zahllos in der gewaltigen, etwas finsteren Galerie. Der glänzende Porphyr, die verblaßten Farben der Malereien, die geheimnisvollen Inschriften, das nicht zu enträtselnde Lächeln der Gottheiten, die mit leeren Augen in unfaßbare Fernen schauten, – das alles verbreitete ringsumher eine düstere, furchterregende Stille. Das Grauen des Geheimnisses sprach die Sprache des Schweigens. Die Ewigkeit barg sich in einem dumpfen und gleichgültigen Dauern. In den Augen der Gottheiten war Unerbittlichkeit und starre Notwendigkeit, und ihre steinerne Ruhe reizte, beunruhigte die menschliche Seele und erfüllte sie mit tragischer Furcht …

„Weswegen hast du die Heimat verlassen?“ fragte sie plötzlich.

„Deine Gleichgültigkeit hatte mich fortgetrieben. Erinnerst du dich nicht daran?“

[233] „Meine Gleichgültigkeit!“ wiederholte sie wie ein Echo.

In ihm erwachte jenes alte, quälende Leid; er wendete sich von ihr ab.

„Ich bin gekommen, dich um Aufklärung zu bitten.“

„Nur deswegen?“ Entsetzen bebte in ihrer Stimme und in ihren Augen.

„Sie wurde mir gestern versprochen.“ Er rechtfertigte sich sehr kalt, denn sie schien ihm feindlich gesinnt zu sein, und er beschloß, sich zu wehren.

Sie setzten sich unter eine gewaltige Säule, die mit Hieroglyphen übersät war.

„Ja, du hast das Recht, zu verlangen … Ich will dir alles sagen … frage mich …“ In ihrer Stimme waren Tränen, über ihr Gesicht hatte sich schmerzhafte Trauer gebreitet. Doch ohne darauf zu achten, bohrte er seine mitleidlosen Raubtieraugen in sie.

„Warum damals … in jener Nacht? …“ Er war nicht imstande, die Frage auszusprechen.

„Es ist deine Tochter!“ entgegnete sie ehrlich und unerschrocken.

Er prallte beinah zurück, in tiefster Verwunderung, ja, als wäre er erschrocken, und konnte eine Zeitlang nicht reden.

„Wanda … meine Tochter … Wanda …?“

„Ja. Genügt dir diese Aufklärung …?“

„Das klärt mich über eine Tatsache auf, doch nicht über alles! Ich tappe im Dunkeln und kann nichts verstehen! Wanda – meine Tochter! Aber warum warst du später so gleichgültig? Wie konntest du es zugeben, daß ich so litt? Warum zwangst du mich [234] zur Flucht? Warum?“ Er warf die Fragen hin, wie zermalmende Steine, und so verbissen und rachedurstig, daß sie ihn flehend ansah.

„Ich werde dir alles sagen, offen und ehrlich, ohne etwas zu verheimlichen … Möge geschehen, was geschehen soll … Ich hatte meinen Mut für diesen Augenblick gesammelt … O Gott, wie schwer es mir fällt! Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich ein einsames Weib nach einem Kinde sehnen kann, so eine Jungfrau-Gattin, wie ich es war … Und du warst für mich das Ideal eines Menschen, ich wußte, daß du mich liebtest, und ich fühlte, daß du auf jeden meinen Wink von mir … Aber konnte ich denn sagen, was ich von dir ersehnte? … Ich sage es dir jetzt in diesem Augenblick mit meiner ganzen Aufrichtigkeit, daß ich damals weder dich, noch deine Liebesschwüre, ja nicht einmal mein eigenes Glück nötig hatte … Ich verlangte mit der ganzen Kraft eines ungebändigten Instinktes danach, Mutter zu werden, und ich konnte es nicht wagen … Ich mußte die ganze weibliche Schamhaftigkeit in mir überwinden, die seit Jahrtausenden in uns wurzelt, meine ganze Natur … Monate währte diese Qual … Du ahntest nicht, was in mir vorging … Ich wartete auf irgendein Wunder, und da das Wunder nicht kommen wollte … wagte ich es endlich in jener Nacht … Da hast du die ganze Wahrheit … Ich schäme mich dessen nicht, denn ich bin die Mutter … deines Kindes …“

Sie verstummte, von flammender Röte übergossen, sie war hinreißend schön in der Aufrichtigkeit ihrer [235] Geständnisse. Sie hatte sich vor ihm bis ins Innerste ihres Wesens entblößt und stand da, wie das Leben selbst, das ewig nach Befruchtung verlangt und ewig befruchtet, unberührt wie die Sonne, keusch wie eine Blume und wie Eva stolz auf die Heiligkeit ihrer Bestimmung …

Doch Zenon empfand dies nicht, denn als er sich an der furchtbaren Demütigung ihres Geständnisses genügend geweidet hatte, zischte er in unterdrückter Wut:

„Und dann hattest du mich nicht mehr nötig. Du Raubtier!“

„Sprich nicht so zu mir, es ist ungeheuerlich!“

„Ist es denn nicht noch ungeheuerlicher, was du mir gesagt hast? Also es war nicht Liebe, die dich in meine Arme trieb, nicht die Leidenschaft eines heiligen Augenblickes der Ekstase, – nur der wilde Fortpflanzungstrieb. Ich verlangte doch nicht nach dir wie nach einem Weibchen, nein, ich liebte deine Seele, deine Erhabenheit, deine menschliche Größe liebte ich! Und du hättest in mir nur das Männchen gesucht? Warum ist deine Wahl gerade auf mich gefallen? Ich habe dir nur zum Werkzeug gedient … Das ist geradezu furchtbar!“

Es würgten ihn ohnmächtige Wut, tiefe Demütigung und ein unsagbarer Schmerz.

Ada hörte standhaft zu, wenn sie auch zuweilen erblaßte wie eine Leiche und ihren Kopf immer tiefer hängen ließ.

„Und warum hast du mir dies alles gesagt?“ stöhnte er.

[236] „Weil ich dich liebe!“

„Wohl wieder, weil du …“ zischte er spottend …

Es fiel ihr schwer, diese Beschimpfung zu ertragen, doch sie erfaßte seine Hände, küßte sie wie in inniger Anbetung und flüsterte durch Tränen:

„Erbarme dich meiner! Ich habe dich immer geliebt. Erst nach deiner Abreise verstand ich, was ich verlor. Erst durch diese langen, langen Jahre der Einsamkeit habe ich den ganzen Abgrund der Leiden ermessen …“ Sie begann ein so unsagbar schmerzliches Bild ihrer Leiden zu entrollen, ihrer Sehnsucht, ihres vergeblichen Wartens, daß seine Seele weich wurde und er diese tränendurchtränkten Widerklänge voll Mitleid anhörte! Aber als sie dann anfing, ein Bild der Zukunft zu entwerfen, wurde er plötzlich finster und warf mit voller Überlegung dazwischen:

„Und Heinrich?“

„Warum sollen wir ihn in diesem Augenblick erwähnen?“

Er schaute sich verwundert um, als hätte dies jemand anderes gesagt.

„Wir erwägen doch nur unsere Angelegenheit,“ fügte sie mit Kraft hinzu.

Er lächelte, ohne eine Bosheit unterdrücken zu können.

„Ach natürlich, der Mann muß ja immer der Belogene sein …“

„Ich habe ihn nie belogen!“ Stolz erhob sie ihren Kopf.

„Nie? … Und Wanda …?“ Er stieß wie mit einem Dolche zu.

„Ich war ihm immer nur eine Schwester, und er [237] weiß, daß es deine Tochter ist! Er selbst wollte es so … Er hatte es mir ganz offen gestanden …“

„Er weiß es und wollte es selbst so …“

„Warum wundert dich das?“

„Dies ist ja kaum zu glauben!“

„Daß er seinen eigenen Egoismus überwand, um mich glücklich zu sehen? Denn es ist nicht einmal ein Opfer gewesen, inwiefern denn? Er hat dafür in mir einen treuen Freund bis zum Tode gefunden.“

„Ich kann das nicht verstehen, es ist mir nicht möglich. Zum erstenmal in meinem Leben stehe ich vor einer so unwahrscheinlichen Situation! Er ist wahrhaftig ein Heiliger!“

„Er ist nur ein guter und verständiger Mensch.“

„Und das genügt ihm?“

„Es muß. Versetz dich doch nur in seine Lage! Was würde er jetzt ohne mich anfangen, – allein, krank und hilflos und auf die Gnade der Dienerschaft angewiesen.“

„Auch dein Leben ist nicht beneidenswert …“

„Deswegen bin ich hergekommen, mir meinen Anteil am Glück zu holen.“

Zenon lächelte sehr traurig und sprach mit leisem Vorwurf:

„Wenn du doch meinen Brief gelesen hättest …!“

„Ich ahnte, daß du mir Scheidung und Ehe vorschlugst!“

„Und da schicktest du ihn mir ungeöffnet zurück?“

„Denn ich konnte deine Frau nicht werden.“

„Trotz allem, was vorgegangen war?“

„Ja, sogar trotz Wandas! Trotz allem.“

[238] „Richtig, dir ging es ja nur …“

„Ich liebte dich, und gerade deswegen wäre ich nie deine Frau geworden, niemals!“

Er blieb stehen, so sehr wunderte ihn der Nachdruck, den sie auf ihre Worte gelegt hatte.

„Niemals, denn ich wünschte und wünsche es jetzt noch sehnlich, daß du ungebunden und frei deinen Höhenweg gehst. Adler müssen hoch über die Erde dahinfliegen, fern von der Alltäglichkeit. Eine Frau ist für einen wahren Künstler ein böser vernichtender Dämon, sie ist sein Vampir.“

„Du hast mich also mit Überlegung zu diesen Leiden verurteilt.“

„Ja, aber ich habe auch mein eigenes Leben geopfert, und meine Qual war es, die dir Adlerflügel wachsen ließ, – aus meiner Sehnsucht, durch meine Tränen bist du geworden …“

„Wer bist du denn, wer?“ Ihn durchdrang plötzlich eine abergläubische Furcht.

„Ich liebe dich!“ flüsterte sie und umfing ihn mit stillen Augen.

Sie schwiegen ziemlich lange, während sie unzählige Säle durchschritten, die von Wundern aller Zeiten und Länder überfüllt waren. Adas Gesicht hatte den Ausdruck einer bitteren Entsagung, er schaute sie immer aufmerksamer an und sagte schließlich traurig:

„Was kann ich dir heute für eine solche Liebe geben?“

„Du kehrst in die Heimat zurück, ich sehne mich sonst nach nichts mehr. Ich werde glücklich sein, daß ich dich der Heimat und der Literatur wiedergegeben habe, – ist das denn gar so wenig?“

[239] „Werde ich denn imstande sein, dort zu leben wie früher?“

„Es ist doch alles tot, was schlecht für dich war, und ein neues schöpferisches Leben erwartet dich mit offenen Armen. Dein Platz ist noch frei. Du wirst wieder an der Spitze stehen und wirst die Menschen führen auf deiner großen Heldenbahn! Und nur manchmal wirst du zu deiner Tochter kommen und zu deiner schwesterlichen Geliebten! Ich verlange nichts mehr für mich, nichts!“ fügte sie leiser und ein wenig traurig hinzu.

„Die Versuchung des heiligen Antonius, eine wundersame Versuchung. Traumbilder, nach denen ich so manchmal meine Arme ausgestreckt habe … Aber werde ich denn imstande sein, mich loszureißen von hier! Ich bin so verwachsen mit diesem Lande und so vieles verbindet mich mit ihm …“

„Vor allen Dingen die Braut!“ Es hatte sie schon so lange gewürgt, daß sie nicht mehr an sich halten konnte.

„Nicht allein. Ich habe wichtigere Gründe!“ Er schaute sich unruhig um, als fürchte er das Erscheinen Daisys. „Es gibt manchmal Hindernisse, die jenseits unseres individuellen Willens liegen …“

„Ich werde dich von hier entführen. Ich werde mit dir um dich ringen. Ich werde alles überwinden, du wirst dich überzeugen, das Unmögliche werde ich möglich machen, niemand und nichts wird mich davon abhalten!“ sagte sie voll Kraft. „Wenn nur weder dein Herz noch die Ehre dich bindet!“ fügte sie leiser, trauriger und furchtsamer hinzu.

[240] „Nein, nein!“ Er wehrte sich schwach, denn Betsy in ihrem Vertrauen, in ihrer Liebe zu ihm tauchte in seiner Erinnerung aus wie ein Rosenstrauch.

„Kehre in die Heimat zurück mit deinem Weibe, wir werden bald eine Polin aus ihr machen!“ sagte sie, seine verborgene Sorge erratend. „Das wird sogar besser für uns alle sein! In ihren Augen schimmerten Tränen, ein schwerer Seufzer hob ihre Brust, doch er sah es weder, noch fühlte er es, denn er sagte:

„Ich habe auch schon daran gedacht!“

Sie verließen das Museum und fuhren nach Hause.

Der widerliche, gelbe, kalte Nebel ergoß sich über die ganze Stadt wie ein schmutziges, getrübtes Wasser, durch das kaum die schwärzlichen Umrisse der Häuser und Menschen zu sehen waren. In den engeren Straßen brannten, trotzdem es Mittag war, die Laternen, und das nie ruhende Getöse der Stadt drang dumpf dröhnend durch den Nebel.

Ada beobachtete unter den gesenkten Lidern hervor sein nachdenkliches, versonnenes Gesicht. Sie fühlte, daß er weit fort von ihr war, wer weiß wo, und das erfüllte sie mit grenzenloser Trauer. Hatte er doch auf all ihre Liebe nicht ein wärmeres Wort der Entgegnung gehabt. Doch sie unterdrückte Schmerz und Verzweiflung, die ihr das Herz zerrissen, und fragte sanft, während sie seine Hand berührte:

„Woran denkst du?“

„Es ist schwer zu sagen, – an alles und an nichts zugleich.“

Sie versank wieder in schmerzhaftes Schweigen.

[241] Erst als sie Abschied nehmen sollten, wurde er plötzlich lebhafter und sagte heiß:

„Du hast meine Seele wieder aufgerichtet. Ich komme am Abend zu euch, ich könnte nicht mehr ohne dich leben … Küsse Wanda von mir! Du hast mir neue, verlockende Horizonte enthüllt! Ich fürchte mich noch, davon zu reden! Zuweilen ist mir, als wäre dies alles, was ich heute erlebt habe, nur mein Traum von der Zukunft. Vielleicht ist es nur Halluzination! Ich weiß es noch nicht! Ich weiß nichts, ich tappe noch im Dunkeln …“

„Ich liebe dich, das ist die lauterste Wahrheit!“ – – – – – – – – – – – – – – –