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Der dritte Präsident der dritten französischen Republik

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Textdaten
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Autor: Julius Walter
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Titel: Der dritte Präsident der dritten französischen Republik
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 162–164
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1879
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der dritte Präsident der dritten französischen Republik.
Von Julius Walter.


Es war am 7. October des Jahres 1848. Auf der Tagesordnung der Gesetzgebenden Versammlung stand der Artikel 43 der Constitution: Das französische Volk überträgt einem Bürger Frankreichs die vollziehende Gewalt mit dem Titel „Präsident der französischen Republik“. Da erhob sich auf der äußerten Linken ein noch jugendlicher Mann und bekämpfte den Artikel ruhig, aber energisch, zeigte mit zwingender Logik und weit ausschauendem Blick, daß in demselben der Todeskeim der Republik verborgen liege und daß er die spanische Wand sei, hinter der die Monarchie bereits ihre Toilette mache. Nicht das französische Volk, sondern die Nationalversammlung soll wählen, nicht einen Präsidenten der Republik, sondern einen „Präsidenten des Ministerraths“ auf unbestimmte Frist, der zu jeder Zeit abgesetzt werden kann. So lautete das so berühmt gewordene „Amendement Grevy“; es fiel mit 150 Stimmen gegen 643, und unter diesen war auch Thiers mit seinem Anhang, der den Orleans die Thür offen halten wollte.

Der dritte Präsident der dritten Republik ist der erste Republikaner, welcher mit der Präsidentenwürde bekleidet wird. Thiers und Mac Mahon hatten schon in verschiedenen Tempeln gekniet; Thiers stand zu ihr aus Opportunitätsgründen, denn „Frankreich besitzt nur einen Thron und drei Dynastien, die sich um ihn balgen,“ rief er in Bordeaux, und Mac Mahon hatte die Republik als Parole erhalten; er stand vor ihr Wache im soldatischen Pflichtgefühl.

Die Republik blieb Thiers und Mac Mahon stets eine fremde Sprache; die eiserne Nothwendigkeit hatte sie ihnen am Spätabend des Lebens gelehrt; ihre Schlagworte, ihre Gemeinplätze waren ihnen wohl geläufig, ja sie hatten es in ihr bis zu einer gewissen Fertigkeit gebracht, und der Schriftsteller Thiers kannte ihre Feinheiten ganz genau; sie konnten sie mehr oder weniger correct sprechen, aber niemals in ihr denken. Das ist bei Grevy anders: die Republik ist seine Muttersprache.

Dieser dritte Präsident der Republik, dessen soliden echtfarbigen liberalen Republikanismus selbst Blanqui nicht anzweifelt, Jules Grevy, hat in seiner äußeren Erscheinung und in seinem ganzen Wesen auch nicht einen französischen Zug; er trägt nicht den Stempel der gallischen Race; er gleicht mehr einem behäbigen amerikanischen oder schweizerischen Bürger; sein strammer schmaler Rundbart ist in Frankreich eine Rarität, wo der Henri-Quatre zur Nationaltracht gehört oder der romanische längliche Vollbart, wie ihn Gambetta und die vertrauenswürdigen Republikaner tragen, oder die schmalen Cotelettes, wie sie in der Weise Thiers’ die alten Herren vom Faubourg, die Aerzte und Gelehrten lieben; nicht das kleinste rothe Pünktchen ist auf seinem schwarzem Rock zu erspähen, und während hier das rothe Bändchen aus allen Knopflöchern der Fracks, Westen, Paletots und selbst der Schlafröcke sprießt, mögen die Imperialisten, Republikaner oder selbst Socialisten einhüllen, ist sein Knopfloch noch jungfräulich, und weder von Duellen noch von Liebesskandalen kann sein Biograph berichten. Nicht einmal sein Vortrag ist französisch; jenes Pathos mit den einschlägigen Gesten, über die jeder Franzose verfügt, mag er nun auf der Tribüne, an der Barre, auf dem Katheder, auf der Bühne oder auf der Kanzel stehen, das Alexandrinerthum, das ihnen in Kehle und Gliedern steckt, ist ihm fremd.

Ein Feind der tönenden Phrase, hält er seine Rede kurz, ruhig, knapp und stramm, ohne auffallende Tonbeugung; ruhig, gleichmäßig fließt sie dahin, in beinahe monotoner Einfachhheit, aber doch stets vornehm, nicht darauf eingerichtet, die Massen zu entflammen, die Menge in wildem Ansturm mitzureißen; er will nicht überreden, sondern überzeugen, nicht glänzen durch in tausend Facetten geschliffene Phrasen, nicht durch grelle Theaterblitze blenden und durch wuchtig in die Menge geschleuderte Kraftworte Applaus erzwingen. Er hat nur die Sache im Auge, für die er eintritt, und er tritt nur für sie ein, wenn es – seine Sache ist. Seine Rede ist der tönende Ausdruck seiner ruhigen, klaren Gedankenarbeit; er sucht nicht den Kopf des Hörers zu verwirren und zu betäuben, um ihn dann um so sicherer bei dem rathlosen Gemüthe zu packen; er appellirt an den Verstand, an die Logik seiner Hörer, und das geschieht in so schlichter, man könnte schier sagen gemüthlicher Weise, daß er sein Uebergewicht nicht fühlen läßt und niemals durch dasselbe verletzt.

Der große diplomatische Allerweltsbezwinger Talleyrand sagt freilich: „Der Mensch hat die Sprache, um seine Gedanken zu verbergen“, aber das ist nicht die Sprache der Menschen, sondern der Officiösen aller Länder, denen im Prokrustesbett der Opportunität die ehrlich-geraden Glieder des Menschenverstandes ausgerenkt werden, aber der große Buffon sagte: „Der Styl ist der Mensch selber,“ der Styl im weitesten Sinne, wie sich ein Mensch giebt, wie er sich zur Mit- und Außenwelt stellt und stellen muß aus innerer Naturnothwendigkeit – das ist der ganze volle Mensch selbst. Aus Grevy’s Rede tritt uns der ganze Mann rein und scharf entgegen: Ein Mann von dem Recht durchdrungen und erhoben, das mit uns geboren, ein nimmermüder Vertheidiger desselben, sobald er es einmal als solches erkannt hat, vom Gegner nicht eingeschüchtert, vom Freund nicht überredet, kein juridischer Rabulist, kein auf dem Advocatenturf bewunderter Paragraphenreiter, stets klappernd mit dem Werkzeug. Die fleckenlose Reinheit seines Charakters, die bezwingende Unparteilichkeit seines Wesens, das, von jeder aufschäumenden Leidenschaftlichkeit unberührt, dem Anprall und den Einschüchterungsversuchen der Feinde ebenso widersteht, wie den Lockungen der Parteigänger, – sein Charakter, nicht seine Thaten haben ihn auf den Präsidentenstuhl erhoben und ihm die Thore des Elysée eröffnet.

Thiers und Mac Mahon – Beide gehörten schon lange der Geschichte Frankreichs an, bevor sie die Regierung desselben antraten; Thiers war der „nationale Historiker“, der große Redner, der in allen Regierungskünsten langjährig Geübte, der Mann, den ganz Europa kannte und der ganz Europa kannte, der in den schwersten Stunden der Noth der zusammenbrechenden belle France – ein Greis – Rettung und Befreiung brachte; der Graf Marie Edmé Patrik Maurice von Mac Mahon, der Nachkomme jenes getreuen ritterlichen Oberst Mac Mahon, der mit seinem entthronten Gebieter, dem König Jacob dem Zweiten von England, nach Frankreich kam, war der Sieger von Magenta und, was – unglaublich und doch Thatsache! – noch mehr galt, der „glorreich Besiegte“ von Wörth, dem Frankreich nach dieser Niederlage einen Ehrensäbel spendete; er war der Held, der eigenhändig auf dem Malakoff Frankreichs Fahne aufgepflanzt, später die Commune niedergeworfen hatte, dessen Persönlichkeit, unbeschadet der Hoffnungen, welche die Kirche und die monarchischen Parteien auf ihn setzten, für den Bürger, den Geschäftsmann und Bauer, in deren Gliedern noch alle Schrecken des Krieges nachzitterten, Bürge war für die zur Abarbeitung der Milliarden nöthige Ruhe. Und diese Hoffnung hat der scheidende Präsident auch vollauf gerechtfertigt.

Und doch ist der Marschall gefallen?

Der Marschall ist nicht gefallen; man hat seine Abdankung provocirt: die geforderte Absetzung der Armee-Commandanten, die Amnestie, der drohende Proceß des Ministeriums vom 16. Mai, sie haben ihm die Thürklinke des Elysée in die Hand gedrückt. Der Marschall scheidet, und keine Thräne wird ihm nachgeweint; die Monarchisten, welche in ihm den neuerstandenen Monk erhofften, halten sich von ihm für getäuscht und verrathen, durch ihn den günstigen, nie mehr (?) vielleicht wiederkehrenden Augenblick verpaßt, und die Republikaner können ihm den 16.Mai wohl verzeihen, aber nicht vergessen. Darin sind beide Theile einig, daß der Ex-Präsident das Pulver nicht erfunden hat; darum ist aber der Marschall noch kein Cretin, wie die Einen behaupten, um ihn zu entlasten, die Anderen, um ihn zu belasten. Freilich ist er ebenso wenig ein Staatsmann; er ist ein schlichter, ehrlicher Soldat, der loyal und ehrenhaft auf die Gewalt verzichtete.

„Ein Kreuz oder einen Degen,“ rief Veuillot im Königspalaste von Versailles, und die Majorität der Nationalversammlung von 1873 sah Beides in dem Herzog; die Kirche wollte in ihm den Mann seiner Frau, deren Frömmigkeit bereits Feuerproben bestanden hatte; die Legitimisten, mit deren Blüthe er abermals durch seine fromme Gemahlin verwandt ist, erinnerten sich, daß sein Vater, Pair von Frankreich, mit Karl dem Zehnten eng befreundet war; die Orleanisten wußten, daß [163] Mac Mahon mit dem Prinzen Aumale immer gute Cameradschaft gehalten hatte; die Imperialisten sahen in Mac Mahon nur den Herzog von Magenta, den glorreichen Helden des Kaiserreiches, dem Napoleon den Marschallsstab und den Herzogshut verlieh, und so hofften und forderten sie jeder ihren Theil: die Kirche, daß am Elysée das Kreuz – die Legitimisten, daß die weiße Fahne Heinrich’s des Vierten – die Imperialisten, daß die kaiserlichen Adler aufgepflanzt würden, als aber die Tricolore fürder darauf flaggte und Mac Mahon am 16. Mai nicht Alarm schlagen und das Abgeordnetenhaus nicht sprengen ließ, haben sie ihn Alle zusammen verleugnet, verdammt, in Acht erklärt und, wie die Bonapartisten von der Tribüne herab durch ihren Bravo, Herrn Paul de Cassagnac, beschimpft.

Nicht durch das, was er that, sondern durch das, was er nicht that als Präsident der Republik, ist ihm ein Ehrenplatz in der Geschichte Frankreichs gesichert. Daß er den frivolen Lockungen der Bonapartisten nicht folgte, die Kammer nicht sprengte und nicht an die Armee appellirte, und daß er, ohne auf seinen Schein zu bestehen und die ihm noch gewährleistete Amtsdauer abzuwarten, freiwillig jetzt auf die Gewalt resignirte, das ehrt ihn wie kaum sonst etwas. Ob Mac Mahon so und nicht anders aus Ueberzeugung handelte, oder weil ihm im Augenblicke der Entscheidung die Weihe der Offenbarung ausblieb – wer will es entscheiden? Kamen ihm doch sonst im entscheidenden Augenblicke stets die „Erscheinungen“ zu Hülfe. In der Nacht vom 7. auf den 8. September 1855 erschien ihm im Traume ein Engel mit dem kaiserlichen Adler, und Tags darauf pflanzte er eigenhändig Frankreichs Fahne auf den Malakoff-Thurm; als der Kampf auf dem Schlachtfelde von Magenta hin und her schwankte, sich endlich zu Gunsten der Oesterreicher zu wenden und selbst Napoleon’s Gefangennahme unvermeidlich scheint, da tritt plötzlich Mac Mahon, der bei Turbigo das linke Ufer des Ticino inne hatte und weder den Donner der Kanonen von Magenta hören, noch eine Nachricht erhalten konnte, unerwartet als Retter Frankreichs auf: „le général par intuition divine – les nuages passant au-dessus sa tête lui apportent la nouvelle du danger, qui menace la France“ (der General durch göttliche Eingebung – die über seinem Haupte hinziehenden Wolken bringen ihm die Nachricht von der Gefahr, welche Frankreich bedroht) heißt es im officiellen französischen Generalstabsberichte. „Der General wußte nicht, wohin er marschirte, und traf auf dem Schlachtfelde von Magenta ein,“ lautet die beste deutsche Uebersetzung, und sie ist von Niemand Geringerem als von – Moltke. Mac Mahon hat als Präsident der Republik keine „Erscheinungen“ mehr gehabt, wie es scheint.

Aber Beide, Mac Mahon und Thiers, gehörten, wie gesagt, schon lange der Geschichte an, bevor sie die Regierung antraten. Der Eine brachte den Ruhm des nationalen Historikers, der wie kein Zweiter den Chauvinismus der Franzosen unter wissenschaftlicher Maske groß gezogen hatte, die langjährige Thätigkeit des Staatsmannes, der stets unter der Toga mit dem Säbel rasselte, und den zuletzt noch die Aureole des Patrioten umstrahlte, der Andere den lorbeerbekränzten Degen mit. Grevy bringt nur leichtes Gepäck in’s Elysée, nur den Talar des Advocaten.

Im Hause Nr. 8 in der Straße St. Arnaud bewohnte bisher Grevy, der verheirathet und Vater einer anmuthig aufblühenden Tochter ist, das dritte Stock; nur der nicht allzu geräumige Salon und das anstoßende Arbeitscabinet dienten zum Empfang der Gäste. Dieses zweifenstrige Arbeitszimmer war von oben bis unten, in allen Enden und Ecken mit Schriften, Büchern, Broschüren gefüllt; auf dem Sopha, auf den Stühlen wieder Schriften und abermals Schriften, und verlegen sah der Gast oft um einen freien Platz aus, wenn ihn der Hausherr zum Sitzen einlud. Auf dem Kamin befanden sich die Büsten von Lafayette und Rousseau, zwischen beiden hatte ein kostbares alterthümliches Schachspiel aus Elfenbein seinen Platz, und in der Ecke stand der große Schreibtisch, von einer mächtigen Bergkette von Schriften flankirt, vor ihm der Hausherr: ein kräftiger, stämmiger Mann, von mehr als mittlerer Größe, mit breiten Schultern und großen starkknochigen Händen; auf dem muskulösen Halse sitzt der mächtige Kopf; ein etwa drei Finger breiter strammer grauer Bart läuft von einem Ohr zum andern und begrenzt das Gesicht, ohne es zu verhüllen; die energisch geschlossenen vollen Lippen, das fleischige Kinn sind frei, wie die gesund gefärbten Wangen. Die Nase ist groß und fleischig, die hohe glatte Stirn erscheint um so größer, als die schlichten hinter den Ohren getheilten Haare auf dem Vorderhaupte bereits spärlich geworden sind; aus den großen Augen dringt ein ruhig prüfender Blick, der aber oft energisch dem Worte und der Glocke zu Hülfe kam, wenn der Präsident der Nationalversammlung, in der es oft tumultuarischer und wüster herging, als bei den Socialdemokraten, Ruhe gebot und Ordnung forderte.

Grevy’s Erscheinung ist nicht, was man gemeinhin interessant nennt, aber sie strömt Ruhe aus und flößt Vertrauen ein; sie ist das beste Bild jener Republik, von der er schon in den Februartagen 1848 als Commissar im Jura sagte: „Ich bringe Euch jene Republik, die nicht erschrecken, sondern beruhigen soll.“

Grevy ist ein gründlicher, starker, aber nicht schneller Arbeiter, ein dauerhafter Fußgänger, ein unermüdlicher passionirter Jäger und ein hochgeschätzter Schachspieler. Er ist kein Gourmand, aber ein starker Esser; er trinkt meist nur leichten Landwein, spricht aber auch im Kreise edler Waidmänner ganz tüchtig der Flasche zu.

François Paul Jules Grevy wurde 1813 in Mont-sous-Vaudrey im Departement Jura als Sohn eines Landwirthes drei Tage nach der Kriegserklärung Oesterreichs an Frankreich geboren. Er studirte die Rechte in Paris; ein siebenzehnjähriger Bursch, betheiligte er sich werkthätig an der Julirevolution und war unter den Vordersten, die eine kleine Caserne erstürmten, in welcher sich noch einige Schweizergarden verbarricadirt hielten, während die übrigen Truppen bereits mit dem Volke fraternisirten. Es ist das erste und auch wohl das letzte Mal, daß Grevy mit den Waffen in der Hand für die Freiheit kämpfte, aber daß dem noch unbärtigen, kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling nicht etwa die rasche Wallung jugendlichen Ungestüms, die mitreißende Gewalt des allgemeinen Beispiels und die jugendliche Kampfeslust die Muskete in die Hand drückte, das zeigte sich bald. Nicht für Louis Philipp, für die Freiheit hatte er gestürmt, und der birnköpfige Parapluiekönig galt ihm just soviel, wie der fromme Karl der Zehnte.

Kaum Advocat geworden, tritt er für die Blanqui, Barbès und Martin Bernard ein; er gehört zur republikanischen Opposition des Bürgerkönigthums, ohne von sich viel reden zu machen, und sein Name klingt nicht außerhalb der Partei. Als aber die Februar-Revolution ausbricht, sendet ihn die provisorische Regierung als Regierungscommissär in sein Departement, wo er, der flotte Jäger, mit den Gutsherren und Bauern von je auf bestem Fuße steht; seine Mäßigung und Unparteilichkeit heben ihn auf den Schild aller Parteien; 65,150 Stimmen führen ihn in die Constituirende Versammlung; noch 7218 Stimmen mehr vereinigen sich für seinen Sitz in der Gesetzgebenden. Hier hält er sich ebenso fern dem „Montagne“, das heißt den Socialisten, wie den mit den Royalisten vereinigten republikanischen Parteigängern und tritt in entschiedenster Opposition gegen die Politik des Elysée auf. Da kommt der zweite December, und um Grevy strahlt der Glorienschein des Propheten; zu spät erkennen Thiers und Consorten, daß sie durch die Niederstimmung des Amendement Grevy dem Kaiserreiche die Thore geöffnet haben. Auch Grevy kommt nach Mazas. Nach einiger Zeit wieder in Freiheit gesetzt, zieht er sich ganz vom politischen Leben zurück, meidet auch in seinem Berufe als Advocat, dem er sich fast ausschließlich widmet, die politischen Processe und begnügt sich mit dem Brode und den dazu gehörigen Trüffeln und Fasanen eines Sachwalters der höheren Finance und der großen Actienunternehmungen.

Man wolle nicht vergessen, daß in Frankreich der blutige Schwamm der großen Revolution die socialen Schattirungen stark durcheinander gewischt hat; man wolle nicht vergessen, daß dort Jedermann aristokratische Passionen pflegt, wenn es seine Mittel erlauben, und daß dort Reichthum den Demokraten nicht schändet; der alte Raspail hinterließ zweimal so viel Millionen, als sein Name Buchstaben hat, Monnier, der wilde Republikaner, der vielmillionenreiche, ist Chocoladefabrikant, und Gambetta legte trotz immer wiederholten und heftigsten Andrängens der Gegner bis heute noch keine Rechnung über die Millionen ab, die unter seiner Dictatur verschwanden.

Erst sechszehn Jahre später betrat Grevy wieder die politische Bühne. Ein Abgeordnetensitz war in seinem Departement erledigt. Die republikanische Partei bestimmte ihn zu candidiren, und sein [164] Sieg war so glänzend, die Niederlage der Regierung so furchtbar, wie sie keine seit 1852 erlitten hatte, ja so niederschmetternd, daß sie im nächsten Jahre gelegentlich der allgemeinen Wahlen es nicht mehr wagte, neben Grevy einen Gegencandidaten aufzustellen. Er wurde Präsident der Gauche fermée im Gegensatze zu der Gauche ouverte von Ernst Picard, welche sich schon mehr dem linken Centrum näherte, und stand in starrer Opposition zum Kaiserreiche, ohne daß er von sich viel reden machte. Nur einmal stimmte er mit der Regierung; das kam so: wenige Monate vor Ausbruch des Krieges hatten die Orleans eine Petition an das Abgeordnetenhaus gerichtet um Aufhebung ihres Exils. Thiers hatte das ausgeheckt und die Opposition größtenteils gewonnen, der es nur erwünscht kam, einen Streich gegen das Kaiserreich zu führen und dann galten ja die Prinzen des Hauses Orleans für liberal, und der Prinz Aumale empfing die Republikaner in Twickenham um die Wette mit dem „rothen Prinzen“. Aber Grevy war nicht von der Partie; er stimmte mit der Regierung dagegen „da er keinem Prätendenten die Stange halten wollte“.

Der Sturz des Kaiserreichs und seine Nachfolge scheinen nicht nach Grevy’s Sinn gewesen zu sein, und trotz dem Andrängen seiner Freunde, und obgleich er die Mission erhielt, mit der Regierung im Stadthause in Verbindung zu treten und an der Wahl der „Vertheidigungsregierung“ Theil zu nehmen, unterließ er Beides und ging nach Tours. Von hier aus reclamirte er während des Krieges die Einberufung einer Constituante und protestirte gegen die Auflösung der Generalräthe durch Gambetta. Die Zwei sympathisirten niemals mit einander, und wäre des Exdictators Wunsch und Hoffnung in Erfüllung gegangen, so säße heute der greise Dufaure und nicht der vollkräftige Grevy im Elysée. Die Versammlung von Bordeaux erwählte ihn mit 519 Stimmen von 538 zum Präsidenten; dem Abgeordnetenhause präsidirte er aber vom Februar 1876 bis zum 30. Januar 1879. Seine letzte Amtsverrichtung als Präsident war die Mittheilung des Briefes Mac Mahon’s, worin dieser seine Abdankung als Präsident anzeigte und begründete.

Es war am 30. Januar dreieinhalb Uhr, als Grevy den Brief verlas (zu derselben Zeit theilte der Präsident des Senats gleichfalls denselben mit); dieselbe Stille während und nach der Verlesung – kein Ausdruck des Bedauerns, kein Beifallszeichen! Der Präsident verliest die Paragraphen 3 und 7 der Constitution, wonach sich bei Vacanz der Präsidentschaft die beiden Kammern unter dem Präsidium des Senats zu vereinigen und zur Wahl des neuen Präsidenten zu schreiten haben. Die Sitzung wird auf eine Stunde aufgehoben, sie hatte nur sieben Minuten gedauert; der Saal wird geräumt. Die Deputirten und Senatoren eilen an’s Büffet, das Publicum in die Restaurationen, indeß wird der Saal eingerichtet: das heißt es werden noch drei bis vier Bänke in den Halbkreis gestellt, welcher die Tribüne umschreibt, und Stühle so viele und wo sie nur immer anzubringen sind.

Es schlägt viereinhalb Uhr; der Saal ist gefüllt, die Tribünen sind von den schönsten Frauen und von jenem tout Paris besetzt, das bei ähnlichen Veranlassungen niemals fehlt, das diplomatische Corps ist in allen seinen Spitzen vertreten. Jetzt ertönt Trommelschlag; die Huissiers erscheinen, ihnen folgt das Präsidium des Senats. Die Deputirten und Senatoren sitzen, wie sie der Zufall placirt: Rouher neben Victor Hugo, Dufaure an der Seite von Naquet, Gambetta auf der Ministerbank. Nachdem der Präsident, Martel, nochmals die Abdankung des Herzogs den vereinigten Häusern mitgeteilt hat, schreitet er zur Abstimmung. Als Dufaure auf der Tribüne erscheint, seine Stimme abzugeben, begrüßt ihn eine dreifache Beifallssalve; um sechsdreiviertel Uhr ist die Abstimmung vorüber, um sieben Uhr fünfundzwanzig Minuten die Stimmenprüfung vollendet. Mit 563 Stimmen von 622 ist Grevy zum Präsidenten der Republik auf sieben Jahre erwählt. Die Verkündigung seiner Wahl löst einen Beifallssturm im ganzen Hause, nur die Rechte bleibt still. Im Verlaufe von vier Stunden hatte Frankreich seinen Herrscher gewechselt.

In diesem Frankreich, wo seit schier hundert Jahren kein Regierungswechsel sich vollzog, ohne daß das Blut seiner Söhne die Straßen der Hauptstadt tränkte, hat sich heute derselbe in der kurzen Frist von vier Stunden abgespielt – just Zeit genug, um ein nicht zu üppiges Mahl zu verdauen – und die Läden in Paris waren nicht geschlossen; der friedliche Bürger zitterte nicht in seinem Heim; keine Schüsse fielen; keine Barricaden wurden gestürmt. Die Börse blieb ruhig; in allen Werkstätten wurde gearbeitet, in allen Theatern gespielt! … So geschehen im zehnten Jahre der dritten Republik, am 30. Januar 1879.