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Die Gartenlaube (1854)/Heft 25

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[285]

No. 25. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Das Haus am Meeresstrande.
Eine pommersche Geschichte von Oswald Tiedemann.
(Fortsetzung.)

Ein Geräusch hinter ihm, den Weg entlang, den er gekommen war, schreckte ihn auf. Er blickte zurück, eine dunkle Röthe stieg ihm in’s Gesicht, unwillkürlich ging er weiter. Er wurde von dem Manne, der das Geräusch verursacht hatte, beobachtet. Es war der schwarze Kreuzwirth. Er verfolgte den Junker mit seinen Blicken, bis dieser in das Haus des Claus Schilder trat, dann kehrte er um, den Weg nach dem Dorfe zurück.

Sonderbar und beklommen war dem Junker doch zu Muthe, als er die Thüre des Hauses öffnete, aber er wagte nicht umzukehren, denn er fürchtete, dem Kreuzwirth zu begegnen. – Bei seinem Eintritt blickte der alte Soldat verwundert auf. Er saß am Herdofen, blies große Rauchwolken aus seiner irdenen Pfeife von sich, und erhob sich diesmal gegen seine Gewohnheit nicht von seinem Sitze. Neben ihm stand Katharina und schürte im Feuer, an dem ein Topf mit Kartoffeln brodelte. Einige Fische, das gewöhnliche Mittagsmahl, hatte sie soeben in einer hölzernen Schüssel zurecht gemacht. – Sie sah, obwohl etwas bleich und angegriffen, ruhig wie immer aus, und zeigte auch jetzt keine Ueberraschung, als der Junker in’s Zimmer trat und seinen „Guten Morgen“ stammelte.

Mürrisch erwiederte der Alte den Gruß, Katharina dankte gar nicht. Das Blut schoß dem Junker zu Kopfe.

„Nun“, rief er mit dem alten Trotze, „steht es der Jungfer nicht an, zu danken, wenn man grüßt?“

Er erhielt keine Antwort.

Es kochte in ihm; er vergaß Alles, wodurch er noch gedacht hatte, der Hindernisse ungeachtet, ihre Liebe zu erwerben, und zornig fuhr er fort: „Dirne, wenn Du nicht gutwillig antworten willst, so werd’ ich es Dir befehlen!“

„Halt, Herr!“ – Der alte Soldat stand auf, legte die Pfeife auf die Bank und wandte sich gegen den Junker: „Mit Verlaub, das ist mein Zimmer. Ich habe nicht viel Lust mit Ihnen zu reden, ich fürchte die Galle und weiß auch, daß es sich am Ende der Mühe nicht lohnt. Sind Sie nur hergekommen, um uns auf’s Neue zu berücken, mich und meine Tochter, so möcht’ ich Ihnen doch rathen, sich so bald wie möglich hinauszuscheeren, wenn Sie nicht wollen, daß ich von meinem Hausrecht Gebrauch mache!“ –

„Alter Graukopf!“ schäumte der Junker, „ein Mensch, nicht besser, wie ein Bettler, der im Straßenkoth die Lumpen aufsucht, der froh sein muß, daß man ihn irgendwo duldet, Du erfrechst Dich eines solchen Tons gegen den Sohn Deines Herrn? Sieh’, noch ein solches Wort und ich schlage Dir, so wahr Gott lebt, in’s Gesicht!“ –

„Ihr?“ – Dem Alten schwoll die Stirnader, rasch warf er den Rock ab und streifte die Hemdärmel auf. „Ihr, Junkerlein? Ich habe keinen andern Herrn, als Gott und den König. Ich habe diesem treu gedient durch viele Jahre, ich bin in Ehren und in Schlachten grau geworden, während Ihr noch in der Wiege pfiffet; Herr, so etwas, wie Ihr, sagt mir keiner ungestraft.“

Er wollte sich auf den Junker werfen, der seinerseits, blind vor Wuth, das Gewehr erhob und mit dem Kolben ausholte – Katharina sprang rasch zwischen Beide. Geschickt erfaßte sie den Junker am Arm und mit behender Kraft entrang sie ihm das Gewehr.

„Doppelter Mörder!“ rief sie ihm dabei zu. „Hinaus! Augenblicklich! Oder, ich schwöre es, so wahr Gott lebt, wenn Du zauderst, ich schieße Dich über’n Haufen!“ – Sie hielt ihm die Mündung des geladenen Gewehrs entgegen. – Er zitterte am ganzen Körper, seine Lippen wurden blau, sein Gesicht fahl und aschgrau, sein Blick irrte angstvoll umher, rückwärts, mit vorgestreckter Hand, bewegte er sich zur Thür hinaus. – Katharina kam ihm langsam nach und warf ihm dann in einiger Entfernung das Gewehr wieder zu. – Mit eiligster Hast raffte er es auf, gleichsam als fürchte er eine Erneuerung des eben erlebten Auftritts, unterließ aber dabei nicht, seinem Hunde, der während desselben draußen geblieben war und jetzt hinzugesprungen kam, einen derben Fußtritt zu geben, daß dieser heulend und winselnd sich am Boden krümmte. – Ohne zurückzusehen schlug der Junker den Weg nach dem Schlosse ein. Sein einziger Gedanke war fortan nur Rache. An einer Biegung begegnete er Rudolf. Höhnisch rief er ihm im Vorübergehen zu: „Ei, wohin, Herr Maler? Und so nachdenkend, daß Sie Einen fast überlaufen? Vermuthlich zu der schönen Verlobten. Nun, ich wünsche Ihnen Glück, wenn davon die Rede sein kann. Ich meinerseits würde mich bedenken, da anzubeten, wo mir ein Anderer bereits zuvorgekommen ist. Nun, über Geschmackssachen läßt sich nicht streiten. Manche lieben die schon betretenen Wege.“ – –

Rudolf antwortete nicht, kaum daß er ein wenig aufblickte. Er war in einem Zustande der Versunkenheit, sein Herz so schwer belastet, daß er selbst gegen diese grobe Beleidigung gleichgültig blieb; kam sie doch überdies aus einem Munde, den er verachtete. Er ging weiter und trat ohne Zögern über die Schwelle des Hauses am Meeresstrande. – Wenn er Katharina mit größerer Aufmerksamkeit [286] betrachtet hätte, so würde er bemerkt haben, wie sie bei seinem Eintreten die Farbe wechselte; er ergriff aber nach einer ruhigen und gewöhnlichen Begrüßung gegen sie, mit Herzlichkeit die dargebotene Rechte des alten Soldaten und schüttelte sie, wie es recht warme Freunde thun.

Auf das Gesicht des Alten kam beim Anblick des Malers förmlich Sonnenschein, er rückte zurecht und machte ihm neben sich Platz. Rudolf nahm denselben auch ohne Weiteres ein. – Katharina’s Herz pochte ungewohnt, alles Blut schien dahin zu drängen; sie wagte es kaum, den Verlobten anzusehen und beschäftigte sich mehr denn vorher mit dem Feuer. –

„Ich komme,“ begann Rudolf mit anfangs etwas bebender Stimme, die aber bald die volle Festigkeit gewann, „um nun von dieser Gegend und auch von Euch, Vater Claus, Abschied zu nehmen.“

„Abschied?“ – Die Sonne von dem Gesicht des Veteranen verschwand und machte einer finstern Wolke Platz. Katharina’s Herz stockte einen Augenblick, um sogleich wieder heftiger zu schlagen.

„Ja, lieber Vater. Es duldet mich nicht länger hier. Ich kann Euch wohl sagen, mir ist gewaltig schwer um das Herz, aber es hilft nichts, gehen muß ich, um nimmer wiederzukommen. Seht mich nicht so verwundert an, Vater Claus, ich trag’ nicht die größte Schuld davon. Ich hätte mir gestern und heute die Augen ausweinen mögen, als ich den Entschluß gefaßt, ich habe die Sache nach allen Seiten gedreht und gewendet, ob sie sich ändern lasse, aber es geht nicht. Es würde nimmer gut thun, auch wenn ich bliebe, darum besser, ich gehe.“

„Ja, und das Aufgebot und die Kathrina dort, meine Tochter?“ fragte der Alte stockend.

„Darum eben muß ich fort. Ich hab’ Euch um Euer Kind gebeten, und wahrhaftig, Vater, ich hatte die Absicht, sie gut zu halten, wie nur der Mann mit seiner Ehefrau thun kann. Ich habe das auch Katharina gesagt, sie weiß auch, daß ich sie unsäglich geliebt, daß ich sie noch so liebe, und nimmer aufhören werde, sie so zu lieben. Aber daß wir uns heirathen, das ist nun dahin. Ausgesöhnt seid Ihr, Vater Claus, mit Eurer Tochter, ich habe das zu Wege gebracht, obwohl Ihr nicht recht dran wolltet und das ist wenigstens etwas; wenn ich auch wohl glauben mag, daß Ihr, guter Vater, mich nicht sobald vergessen und manchmal an den Maler, der nun recht einsam steht, denken werdet“ – Er reichte dem Veteranen die Hand.

Dieser erfaßte sie, drückte sie herzhaft und sagte: „Nimmer vergeß’ ich Euch, Herr Rudolf, und Eurer denken werd’ ich ohne Groll. Ihr habt recht gehandelt. Ich hab’ beinah’ so etwas erwartet und hab’s auch dort meinem Mädel gesagt. Sie hat nun den Lohn für ihr doppelzüngiges Wesen, das jedem geraden Mann nicht gefallen mag. Grad’ so, wir Ihr, hätt’ ich gehandelt. Recht leid, recht leid thut es mir, denn – ich sag’s Euch rund heraus – einen bessern Schwiegersohn hätt’ ich mein Lebtag nicht gekriegt, und nun mag Kathrine zusehen, ob sie überhaupt einen in’s Haus schafft. Ich glaub’s nicht. Wenn ihr das nun nicht an’s Herz geht, der Skandal, den es geben muß, nach einem Aufgebot bereits, der Spott im Dorfe und das Gelächter des schändlichen Junkers, dann weiß ich es wahrhaftig nicht, ob sie überhaupt eins hat. Diese Schande in meinen alten Tagen, über mein Mädel, das ich so sehr geliebt! Nun, ich werd’s wohl nicht lange mehr überleben, und recht fleißig will ich zu Gott beten, daß er einen recht kurzen Prozeß mit mir macht. Was taugt’s, daß man sich verkümmert herumtreibt; besser so als so!“ –

„Vater!“ rief Katharina vom Herde herüber mit leisem Vorwurf und einer Stimme, die es nicht ganz verbarg, daß sie unter Thränen sprach. –

„Ihr zürnt mir also nicht, Vater Claus?“

„Nein, und wahrhaftig nicht! Aber sagen muß ich’s noch einmal, leid thut mir’s, recht leid.“ –

Rudolf erhob sich jetzt und trat näher an den Herd. „Katharina!“ sprach er leise.

Sie wandte sich nicht um und fragte kaum hörbar: „Nun, Rudolf?“ –

„Ich habe Dich unsäglich lieb. Wenn Du mich nur einen Theil so wieder liebst, so wirst Du fühlen, Katharina, wie weh mir sein muß, daß wir uns in dieser Weise gegenüberstehen. Ich habe eine Nacht durchkämpft voll Schmerzen. Worte reichen nicht hin, sie auszusprechen. Ein Glück ist mir zerschlagen, das nicht für jetzt, für immer nachwirkt, so viele Tage ich auch noch haben möge. Ich möchte in Gutem von Dir scheiden, Katharina, als Freund vom Freunde; ich bin es Dir. Sag’ mir ein leises Wörtchen, daß Du mir nicht nachtragen willst, was unvermeidlich ist. Ich kenne Dich, ich weiß, Du hast ein großes Herz, wenn es Dir auch nicht erlaubt, in Allem wahr zu sein. Ich will nicht reden von dem, was werden sollte; ich wollte Dein Glück, Dein Bestes, so weit ich’s Dir bieten konnte. Du hast es von Dir gewiesen, wir müssen scheiden.“

„Wenn Du gehen kannst, ohne daß Dir das Herz bricht, so mag’s sein; ich halte Dich nicht, Rudolf.“

„Mir bricht das Herz und dennoch geh’ ich.“ – Es war ihm, als sollte er sie um den Grund befragen, der sie veranlaßt hatte, ein doppeldeutiges Wesen an den Tag zu legen, da es aber doch keinen gegeben hätte, der stark genug gewesen wäre, seinen harten Vorsatz zu ändern, sie überdies auch jetzt nicht von selbst davon reden wollte, so unterließ er es. Von dem Junker hatte er aus Absicht gänzlich geschwiegen, es war ihm peinlich, das Geschehene noch einmal erörtern zu sollen. – Er drückte nochmals dem alten Veteranen, der sich verstohlen die Augen wischte, die Hand, warf noch einmal einen langen Blick auf Katharina, dann ging er langsam von dannen. –

„Der arme junge Mensch!“ sagte der alte Soldat und schlich in die Kammer. Katharina entgegnete nichts, aber ihr Herz sprang und mit krampfhaften, plötzlich stromweis ausbrechenden Thränen sank sie zusammen. –

Rudolf bemerkte kaum, daß ihm weiterhin der Ortsschulze in Begleitung eines Gensd’armen begegnete. Er schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit und eilte nach Hause. Alles war bereits gepackt und geordnet; eine Viertelstunde darauf verließ er den Ort. –

Eine Stunde nachher durchlief die ganze Gegend das Gerücht, daß man den alten Claus Schilder verhaftet, daß er es gewesen, der das Gewehr des Junkers von Riedd in den Klosterruinen verborgen und daß noch andere Anzeichen vorlägen, daß er denselben verwundet habe. – In der That war der alte Soldat vor der Hand auf das Schloß des Freiherrn gebracht worden; von da sollte er nach Kolberg vor die ordentlichen Gerichte geführt werden. Er ergab sich in sein Schicksal ohne Murren, gefaßt, betheuerte aber fortwährend seine Unschuld und verhehlte es nicht, als er vor dem Vater des Junkers stand, der ihn hatte kommen lassen, daß sein Sohn nur aus Rache handele. Auf die weitern Fragen des Freiherrn erzählte er der Wahrheit gemäß all’ die Vorgänge, die sich seit Kurzem mit seiner Tochter Katharina zugetragen. War nun auch der Freiherr geneigt, ihm Glauben zu schenken, da er sehr wohl die bösen Neigungen seines Sohnes kannte, und demselben damals bei der Angelegenheit mit Rosi, des Kreuzwirths Tochter, nur nach langen Bitten verziehen hatte, so veranlaßte ihn doch ein Umstand wiederum mit diesem Glauben zu zögern. Casimir, sein Sohn, hatte ihm von dem blutbefleckten Rocke erzählt, den an jenem verhängnißvollen Tage der alte Claus getragen haben sollte; als er nun diesen darüber befragte, so gestand der alte Soldat diesen Umstand unumwunden zu, jedoch auf eine weitere Erklärung wollte er sich nicht einlassen. Alle Ermahnungen des Freiherrn blieben fruchtlos.

„Nun denn“, rief er zuletzt zornig aus, „Ihr sprecht immer von Eurer Unschuld, und was Euch anklagt, wollt Ihr nicht erklären. Allerdings mag die ganze Geschichte aus unlauterer Absicht angezettelt sein, warum soll ich meinen Sohn besser machen als er ist? Sein ganzes Schweigen ist verdächtig; aber an Euch ist es, Eure Unschuld darzulegen. Könnt Ihr das, so redet und ohne Zaudern, damit die Sache in Gutem beigelegt werden kann. Ganz unbetheiligt seid Ihr dabei nicht, so viel ist mir mindestens klar geworden. Das aufgefundene Gewehr beweist wenig oder nichts, man kann ihm nicht ablesen, wer damals geschossen hat, aber dieser Umstand zu dem zweiten, der Euch hauptsächlich verdächtigt und den Ihr nicht auseinandersetzen wollt, geben eine gerechtfertigte Anklage; was zu berücksichtigen ich Euch doch rathen möchte. Ich sag’ Euch wiederholt, daß auch mir die Geschichte fatal ist, mein Junge macht mir das Leben herzlich sauer, aber es ist mein Einziger, der Stammhalter meiner Familie, deshalb hab’ ich ihm Vieles durch die Finger gesehen, kommt es mir jedoch zu bunt, so weiß ich nicht, was geschieht. Ich will Gerechtigkeit für Jeden, mögt Ihr mich auch für streng, hart und Gott weiß was Alles [287] ausschreien. Nehmt Euch zusammen, ich sag’s Euch zum letzten Mal.“ –

Die Rede blieb ohne Eindruck auf den Alten. Er gab die wiederholte Versicherung ab, daß der Blutflecken sich rein zufällig vorgefunden habe, vielleicht durch das Berühren des Verwundeten, vor dem er niedergekniet, daß er nicht im Mindesten bei dem Vorfall betheiligt sei, und den Junker nie gefährdet habe. –

„Potz Henker, Eure Tochter wird doch nicht aus Schadenlust den eigenen Vater in Fatalitäten und in’s Gefängniß bringen wollen? Sie hat’s meinem Sohne gesteckt und ausdrücklich wird gesagt, das Blut an Eurem Rocke sei früher dagewesen, als mein Sohn zu Euch in’s Haus gebracht worden ist. Wo ist die Dirne? Katharina heißt sie ja wohl?“

„Ja Herr. Sie ist auf mein Geheiß zu Hause geblieben. Sie wollte mit Gewalt mit, ich mußte scharf einreden, bis sie es unterließ.“

„Nun, so will ich sie holen lassen!“ – Der Freiherr gab sogleich den Befehl, und fuhr dann fort: „Wie ist es gekommen, daß Euer Mädel heute von der Geschichte anfing und meinem Sohne erzählte, Euch müßte damals auch etwas Uebles begegnet sein? So etwas erzählt man entweder gar nicht, oder, wenn es die Dummheit will, gleich am selbigen Tage. Ich begreife Eure Tochter nicht.“

„Ja, Herr,“ versetzte der alte Soldat betrübt, „das ist eben mein Unglück. Dem eigenen Vater geht es nicht besser, wie Euch, dem Fremden. Was hab’ ich nicht Alles in sie geredet, daß sie sich ändern möchte, aber Gott bewahre, daß es half! Sie ist ganz anders, wie die Dirnen in ihren Jahren. Sie spricht wenig, geht immer sinnend vor sich hin, hat kein Vergnügen an Tanz und Spiel und kein Mensch kann recht in ihr Herz gucken. Sie hat mir heute ein großes Leid zugefügt, außerdem, und einem braven Burschen auch. Ihr kennt ja, gnädiger Herr, den jungen Maler, ich hab’ Euch ja bereits von ihm erzählt, und wißt, was an ihm war. Ich hätt’ ihn gar gern zum Schwiegersohn gehabt, und wetten möcht’ ich jetzt auch, daß Katharina ihn bis zum Sterben lieb hat. Seht, wie ich da von dem Ortsschulzen abgeholt wurde, da lag sie am Boden, rief in Einsfort: Rudolf! und schluchzte, daß es zum Erbarmen war. Wie nun das neue Leid kam, da hörte sie gleich auf zu weinen, ich merkt’s, sie schämte sich der Thränen vor den Leuten und auch vor mir; sie sprach mit dem Schulzen gar verständig, meinte, das sei nur ein Irrthum, eine Bosheit des Junkers – verzeiht mir, gnädiger Herr – und es würde sich bald zeigen, daß ich unschuldig sei.“

Die Stirn des alten Freiherrn verfinsterte sich immer mehr, mit großen Schritten ging er im Zimmer auf und ab und kaum konnte er die Zeit erwarten, wo Katharina eintreten würde. Als es geschah, überflog er mit seinen lebhaften Augen ihre Gestalt und er sagte sich heimlich, daß er in ihrem Stande noch nie ein so vollkommenes Weib gesehen habe. Er kannte sie wohl schon, aber nie hatte er sie einer so großen Aufmerksamkeit gewürdigt, wie jetzt, wo er dazu veranlaßt wurde. – Er ließ auch nach einigen Minuten der Ueberlegung seinen Sohn herüberrufen. – Es dauerte lange, bis dieser kam, er schien nicht sonderlich geneigt zu einer Confrontation mit den Bauern zu sein.

Er sagte es auch mit trotzigen Worten seinem Vater, wobei er aber nicht wagte, Katharina anzusehen. Der alte Freiherr donnerte auf: „Bube, ich rathe Dir ein anderes Betragen! Noch ist’s nicht erwiesen, ob Du nicht Unschuldige verleumdet hast. Ich kenne Deine Gelüste nur allzu gut, und sage Dir, wenn Du nicht rein aus dieser Geschichte hervorgehst, so kriegst Du einen Denkzettel, der Dir auf Jahre zu schaffen machen soll!“ –

„Vor diesen sagst Du mir das, Vater?“

„Vor diesen, ganz recht! Vor der Dirne, der Du nachgelaufen bist, vor dem alten Graukopf, den Du um sein Kind betrügen wolltest. Schäm’ Dich mit Deinen hocharistokratischen Neigungen, wenn Du keinen Adel in der Seele trägst. So tief hinabzusteigen, nur um seinen tollen Leidenschaften zu fröhnen! Schon einmal hab’ ich Dir eine ähnliche Geschichte kaum verzeihen können, es hat damals der Dirne das Herz gebrochen, alle Leute schimpften auf mein Haus und auf mein Wappen, und Du willst diesen Vorfall erneuern? Trotzest Du darauf, daß Du mein Einziger bist? Friedrich Wilhelm I. hat seinem widerspenstigen Sohne den Kopf vor die Füße niederlegen lassen wollen, und dieser Sohn wurde Friedrich der Große. Ich habe die Hoffnung nicht, mit Dir eine ähnliche Ehre einzulegen, ich kann Dich auch nicht köpfen lassen, aber enterben kann ich Dich, ich kann Dich aus meinem Hause jagen, wie den letzten meiner Diener!“

Casimir wurde leichenblaß, seine Lippen bebten vor Ingrimm und Scham, aber er wagte nicht, seinem Vater etwas zu erwiedern; er wußte, daß man ihm im Zorne nicht widersprechen durfte. Der Freiherr wandte sich an Katharina: „Wann hast Du mit meinem Sohne von der Geschichte gesprochen, wann ihm gesagt, daß Du an dem Rocke Deines Vaters Blutflecke gesehen? War das heute oder längst?“

„Längst, gnädiger Herr. Es geschah ganz in Gutem und der Junker nahm das auch so auf. Heute hatten wir nur mitsammen Schlimmes zu besprechen, denn ich wollt’ es nicht mehr dulden, daß er mir überall nachging und von seiner falschen Liebe redete. Ich hatte meinen Schatz, dem zu Lieb mußt’ die Sache aufhören und auch meinem Vater zu Lieb, der ein Aergerniß daran nahm. Die Leute munkelten auch schon davon; es war hohe Zeit, daß ich die Zusammenkünfte aufgab.“ –

„Aber warum bist Du überhaupt mit meinem Sohne zusammengekommen? Wenn Du so gescheidt heute zu denken weißt, so wirst Du es auch schon früher gethan haben. Du sagst da von falscher Lieb’, ich sollte meinen, Du hättest meinem Sohne eben nichts vorzuwerfen. Wenn Dich Dein Geliebter verlassen hat, so find’ ich das nach Deinem Betragen ganz in der Ordnung und es beweist nur, daß er ein Bursche ist, der das Herz auf dem rechten Flecke hat. Was sollte das für eine Ehe werden, wenn er fortwährend Dich bewachen, mit Mißtrauen beobachten müßte? Zwischen Liebenden und Gatten muß Offenheit herrschen, die größte Wahrheit, die Zwietracht im Hause vernichtet alles Glück und allen Frieden. Du hast das nun gebüßt, und im Uebrigen kümmert es mich auch weiter nicht; aber wissen möcht’ ich doch, warum Du mit Casimir, meinem Sohne, zusammengekommen, wenn Du ihm nicht mehr als Deine Gesellschaft schenken wolltest. Ich kenn’ den Jungen zu gut, als daß ich nicht wissen sollte, daß ihm damit wenig gedient gewesen wäre. Hat er Dir vielleicht was gegeben, reiche Geschenke gemacht? Ein Grund muß doch vorhanden sein.“

„Es ist ein Grund vorhanden, gnädiger Herr, aber ich sag’ ihn nicht!“

„Dann werde ich Dich zwingen. Was glaubst Du denn, Dirne, vor wem Du stehst? Ich rathe Dir im Guten, es wohl zu überlegen, bevor Du antwortest. Ich frage Dich noch einmal, was hat Dich veranlaßt, Casimir so weit zu verlocken, daß er wie toll und närrisch vor Liebe sich geberdete? Du hast im Anfang nicht Ja und nicht Nein gesagt zu dem, was er Dir von seiner Leidenschaft auskramte und nun endlich hast Du ihn zurückgewiesen und in einer Weise, die sehr auffällig ist. Du siehst, ich weiß Alles, bin von Allem unterrichtet. Jetzt antworte! Was hat Dich zur Falschheit, zu einem bösen Spiel getrieben?“

„Das weiß nur Gott und ich, und so wird es bleiben. Ihr bekommt nichts aus mir heraus, Herr Freiherr!“ – Sie legte wie betheuernd die Hand auf die Brust und blickte nach oben.–

„Dirne!“ – Der Freiherr ging mit erhobenem Arme auf sie zu. Sie sah ihn fest und unerschrocken an; entwaffnet ließ er unwillkürlich den Arm wieder sinken. Etwas wie eine Verwünschung zwischen den Zähnen murmelnd, ging er im Zimmer auf und ab, hie und da einen Blick nach seinem Sohne, bald auf Katharina und ihren Vater werfend.

Katharina ergriff auf’s Neue das Wort: „Ich weiß nicht so ganz recht, ob ich gegen Euern Herrn Sohn falsch gehandelt oder nicht: hat er doch falscher gegen Andere und auch mich gehandelt. Was wollte er von mir? Doch nimmer, was ein rechtschaffenes Mädchen gewähren kann. Toll ist er geworden, ja, das ist wahr, denn er geberdete sich wild und unnatürlich, als ich nicht gewähren wollte, er treibt es auch noch weiter, denn er klagt meinen Vater an, und der ist unschuldig. Der Junker ist kein guter Herr, ich hab’ nicht gegen ihn gefehlt. Wenn ich gefehlt hab’, und es geht mir seit heute so im Kopfe herum, so hab’ ich es nur gegen den Maler, den Rudolf, den ich im Herzen getragen habe und immer tragen werde, wie’s auch kommen mag. Meinen Vater aber nach Kolberg oder Stettin abführen, lass’ ich nicht, das sag’ ich Euch, Herr Freiherr. Laßt Euch im Guten zureden. Was hat Euer Sohn so lange geschwiegen? Auf all’ Euere Fragen nicht geantwortet? Da steckt etwas dahinter. Fangt nur die [288] Untersuchung bei dem Junker an, da wird sich’s zeigen, wo das Unrecht steckt. Es war nicht gescheidt, daß er die Geschichte aufgerüttelt hat, nun mag er’s zeigen, ob er auch der Mann ist, sich herauszureden. Mit meinem Vater soll er aber ja nicht den Anfang machen; ich erhebe ein Geschrei, das nach Berlin bis zum Könige geht. Der Vater ist ein alter Mann, ein armer Fischer, dem man keinen Tag stehlen darf, das sollt Ihr wohl bedenken.“

Der Freiherr von Riedd blickte mit halbem Auge nach dem Mädchen, und wandte sich an seinen Sohn, der am Fenster stand und Allen den Rücken zukehrte: „Hierher gesehen, Gesicht gegen Gesicht!“

Casimir gehorchte knirschend.

„Hast Du gehört, was das Mädchen dort ausgesagt? Ich meine, sie hat nicht ganz Unrecht, und ich war wieder der zärtliche Vater eines ungezogenen Knaben.“

„Nun, Vater!“ fuhr der Junker wüthend heraus, nicht mehr fähig, sich länger zu mäßigen, „nun erreicht es ein Ende. Ich dulde diese Beschimpfungen nicht mehr. Ich bin so gut ein Edelmann, wie Du, und wenn Du es weiter treibst, so kann es geschehen, daß auch ich mich vergesse.“

Der alte Freiherr zitterte am ganzen Körper, seine Augen traten aus ihren Höhlen, eine Marmorblässe überzog sein Gesicht; er rang vergeblich nach Worten. – Er faßte nach einem Stuhl, hielt sich an demselben fest und murmelte etwas vor sich hin. Nach einer Pause sagte er äußerlich vollkommen ruhig: „Ich weiß, wohin Du arbeitest; Du möchtest wohl, daß Dein alter Vater vor der Zeit zu dem Ewigen ginge. Ich habe nicht Lust und Neigung, Dir diesen Gefallen zu thun. – Du nennst Dich einen Edelmann? Wer hat Dich dazu gemacht? Deine Verdienste oder Deine Geburt? Es wäre lächerlich, wollt’ ich mich hier in Auseinandersetzungen einlassen, die zu nichts fruchteten. Du bist und hast eben nichts, als was Dir Dein Vater giebt und durch diesen Deine Ahnen gegeben haben. – Ich werde der Untersuchung freien Lauf lassen, ich werde auch nichts, hör’ es, nichts thun, um Dich vorkommenden Falls zu unterstützen, zu Deinen Gunsten Schritte einzuleiten. Es mögen Dinge zur Sprache kommen, welche auch wollen, ich bin Dein Vater in dieser Angelegenheit nicht. Weiter wirst Du Dich, und das noch heute, bequemen, nach Berlin abzureisen. Dort stellst Du Dich bei der Militär-Commission. Du wirst Soldat, gemeiner Soldat bei der Linie. Du hast nichts gelernt, ich darf nicht erwarten, daß Du Dich zum Offizier emporschwingst. Subordination sollst Du aber lernen, durch drei volle Jahre, von denen ich auch nicht eine Stunde abmäkeln lasse. In dem ersten Jahre erhältst Du nicht einen Groschen von Hause, in den folgenden wird es von Deinem Betragen abhängen, ob Du was erhältst. Das Reisegeld und die nöthige Zehrung bis Berlin werd’ ich Dir geben, gleichfalls einen Brief an einen dortigen Freund. Du giebst diesen Brief binnen hier und acht und vierzig Stunden ab, thust, was ich befohlen, oder, so wahr Gott im Himmel lebt und so wahr ich ein Edelmann bin, Du bist von der Minute an nicht mehr mein Sohn und bist enterbt!“

Das hatte Casimir nicht erwartet. Wie vernichtet starrte er seinen Vater an, aber aus diesen Zügen sprach der ausgesprochene Entschluß so entschieden, daß er mit jedem Einwand verstummte. Und, als sollte nun mit einem Mal das Verderben über ihn hereinbrechen, es wurde die Thür geöffnet und ein Diener trat mit der Meldung in’s Zimmer, daß den gnädigen Herrn der schwarze Kreuzwirth dringend zu sprechen begehre.

Der Freiherr befahl, ihn eintreten zu lassen. „Was habt Ihr mir zu sagen?“ rief er ihm zu. „Ist es nöthig, daß wir allein sind, oder kann es hier geschehen. Ich bin augenblicklich mit diesen Leuten beschäftigt.“

Der Kreuzwirth, nachdem er sich tief verbeugt hatte, sah sich im Zimmer langsam rund um und zwickte seltsam mit den kleinen grauen Augen, die am Längsten auf dem Junker verweilten. Er hustete dabei stark und hohl, was auf eine Kränklichkeit deutete. Endlich sprach er mit gedämpfter, anscheinend heiserer Stimme: „Verzeiht mir, gnädiger Herr, wenn ich nicht rasch genug – das sagen werde – was ich zu sagen habe. Ich bin – soeben – vom Krankenlager aufgestanden – gegen das Gebot des Doctors.“

Man hörte es ihm an, wie schwer es ihm wurde, zu sprechen; die Worte wurden oft vom Husten unterbrochen. Der Freiherr schob ihm einen Stuhl in die Mitte des Zimmers und sagte: „Setzt Euch!“ –

Dankend nahm es der Kreuzwirth an, dann fuhr er fort: „Für die Anwesenden – ist es kein Geheimniß – was ich zu sagen habe. – Sie können Alle hier bleiben – das heißt, mit – mit Eurer gnädigen Erlaubniß.“ –

„Ganz gut, Kreuzwirth, aber ich sollte meinen, Ihr hättet dem Arzt folgen und im Bett bleiben sollen,“ erwiederte der alte Freiherr, halb unmuthig, halb voll Theilnahme für ihn, dessen ganze Gestalt im hohen Grade angegriffen aussah.

„Das bleibt sich gleich – gnädiger Herr – es geht nun zu Ende – bischen früher oder später – Was thut das? – Der Doctor hat’s schon ausgesprochen – seinen Mienen les’ ich’s – daß mir nicht mehr zu helfen ist – deshalb mußt’ ich aber – hierher kommen – ich muß Euch etwas berichten. – Es lastet gar schwer auf meinem Herzen – Doch halt!“ – Er erhob sich rasch, streckte die Hand aus und schoß einen letzten Blitz aus seinem ermatteten Auge: „Laßt den Junker nicht fort! – Er muß es auch hören.“ –

Der alte Freiherr ging an die Thüre und rief hinaus, man solle Jedermann abweisen, er sei nicht zu sprechen; dann schloß er die Thüre ab. – Finster trat Casimir an den verlassenen Platz zurück.




A. Borsig’s Maschinenbau-Anstalt in Berlin.

Von Robert Springer.
Die Werke klappern Nacht und Tag, 
Im Takte pocht der Hämmer Schlag 
Und bildsam von den mächt’gen Streichen 
Muß selbst das Eisen sich erweichen. 
Fr. v. Schiller 

Wenn man den Lauf der Friedrichsstraße bis über die glänzendste Perspective Berlins, die Linden, hinaus verfolgt, so erreicht man, nachdem man auch den schmalen Rücken der Spree überschritten hat, das Oranienburger Thor. Vor diesem dehnt sich eine Vorstadt, welche, wie die Zweige der Industrie, welchen sie ihre Entstehung verdankt, der neuesten Zeit angehört. Es ist die dämonische Dampfkraft, der Feuergeist in riesigen Eisenkörpern, der diesen Theil der Stadt zu seiner Werkstätte, zum Schauplatz seiner rastlosen lärmenden Thätigkeit erwählt hat. Zwei Bahnhöfe, der Stettiner und Hamburger, gleichsam Berlins Hafenplätze, strecken von hier aus ihre langen Eisenstrahlen nach dem fruchtbaren Mündungslande der Oder und nach der alten Hansastadt. In ihrer Umgebung liegen zahlreiche Gießereien und Maschinenfabriken; das Geheul der Locomotiven mischt sich mit dem dröhnenden Getöse der gewichtigen Hammerschläge und der dick aufqualmende Rauch der Coaksöfen gesellt sich zu den rußigen Wolken, welche aus hohen Essen emporwirbeln und Finsterniß über den Himmel breiten.

Mit der ganzen Gegend ist eine schnelle Umgestaltung vorgegangen. Früher befand sich hier nur das Invalidenhaus mit seinen Wirthschaftsgebäuden, eine alte Schleifmühle und die Scharfrichterei mit dem Hochgericht; linker Hand zogen sich über einen tiefsandigen Boden die königlichen Pulvergebäude bis zu der französischen Kolonie, welche spottweise das Moabiterland genannt wurde; rechts vom Thore aus gelangte man über einige Küchengärtnereien zu dem Bezirke der lumpigen Armuth, welcher nach dem Vaterlande eingewanderter Maurer und Zimmerleute das Voigtland hieß. Heute sieht es ganz anders hier aus. Von dem Thore aus zieht sich eine Kunststraße nach Oranienbnrg mit einer Abzweigung nach dem freundlichen Schlosse Tegel; zu beiden Seiten stehen stattliche Wohnhäuser, nach rechts und links erstreckt sich die Invalidenstraße mit neuen und hohen Gebäuden nach den beiden Bahnhöfen; die [289] Stelle des in der Revolutionsnacht theilweise zerstörten Artilleriewagenhauses nimmt eine riesenhafte Kaserne ein; eine zweite, für die Uhlanen bestimmt, erhebt sich in der sandigen Umgegend Moabits im Rundbogenstyle mit Wartthürmchen und Zinnenkrönung; der Schall der Trompete wiederhallt an den dicken Mauern der nebenan gelegenen „Musteranstalt,“ jener traurigen Erfindung der Pensylvanier; hier wurden zuerst die der Verschwörung angeklagten politischen Gefangenen dem Goliathsproceß unterworfen, dem die Schleuder der Märzfronde ein Ende machte. Mit dieser schnell erwachsenen Vorstadt ist zugleich das rege Getriebe des Menschenverkehrs entstanden. Mit Passagieren und Koffern beladene Droschken rasseln in langer Reihe nach den Eisenbahnhöfen und von dort zurück; Truppen marschiren mit klingendem Spiele vorüber; überall hat der Kleinhandel, vorzugsweise mit Lebensmitteln und Tabak, seine bescheidenen Stapelplätze aufgeschlagen.

A. Borsig’s Maschinenbau-Anstalt in Berlin.

Das originellste Gepräge aber erhält dieser Stadttheil durch die Menge der Fabriken, fast ausschließlich Maschinenwerkstätten und Metallgießereien. Wohin man das Auge richtet, erblickt man thurmhohe, zugespitzte Schornsteine; ein weites Gebiet, bedeckt mit Obelisken, die der Pharao der Industrie erbauet hat. Der berliner Volkswitz nennt daher diese Gegend das „Feuerland,“ denn jene Essen sprühen Funken und athmen schwarzen Rauch aus, wie die Feuerstätten des Vulkans.

Die bedeutendste dieser Maschinenbauanstalten, diejenige, welche bereits einen europäischen Ruf erlangt hat, ist die von Borsig, auf dem ersten Grundstücke, rechter Hand vom Thore aus. Der Besitzer gehört zu den seltenen Menschen, die sich durch praktisches Geschick, verbunden mit Spekulationstalent, aus einer unbedeutenden und untergeordneten Stellung zu Ruf, Ansehen und Vermögen emporgearbeitet haben. In einem Lande, wie Rußland, gelingt dies vielen tausend mittelmäßigen Köpfen und Händen; bei uns ist das Ziel nur durch außerordentliche Fähigkeiten und nach Ueberwindung unzähliger Hindernisse von einzelnen Auserwählten zu erreichen. Diese Auserwählten müssen geistig und physisch gesund sein. Es gehört ein freier Kopf dazu und ein starker Arm, Lunge und Leber müssen fehlerfrei sein und das Herz muß am rechten Fleck sitzen. So ausgerüstet kommen diese seltenen Menschen nach der Hauptstadt, werfen den Ränzel in der Herberge ab, und sprechen mit Zuversicht: „Hier will ich mein Glück machen!“ Und sie machen es; sie hobeln und schmieden ihr Glück selber. Während Tausende ihrer Zeitgenossen die günstige Gelegenheit vorübergehen lassen und, wie die Sonntagsjäger erst schießen, wenn das Wild schon vorüber ist, ergreifen Jene die flüchtige Gunst und bannen sie an ihre Werkstätte, wachen, sorgen und arbeiten für sie. Dieser Blick, diese Kühnheit, diese Ausdauer, dieses Verdienst ist es, was diejenigen, welche das Nachsehen haben, „das Glück“ nennen.

Borsig’s Persönlichkeit entspricht seiner Laufbahn und der Stellung, die er sich erworben hat. Er gehört nicht zu den vergrübelten Figuren, die sich Furchen auf die Stirn gerechnet und ihre Eingeweide am Schreibtische zerquält haben. Man sieht der markigen Gestalt an, daß er sich durch ein enges Leben gedrängt, auch hie und da Rippenstöße ausgetheilt hat, bis er frei athmen konnte. Obgleich er schon über das mittlere Mannesalter hinausgeschritten, ist das volle, etwas geröthete Gesicht von Gesundheit und Kraft und das Auge blickt ebenso sicher in das Getreibe der Welt, wie es Jahre lang in den sprühenden Glühofen geblickt hat. So kann man ihn sehen, wenn er in leichter Kalesche, den einzigen Sohn zur Seite, die Zügel führt, um in Moabit seine großartigen Hochöfen zu besichtigen oder sich unter den chinesischen Rosen seines wundervollen Gartens zu erholen. So konnte man ihn auf der Bank der Geschworenen sehen, wenn er mit düsterem, unbeweglichem Gesicht der rührenden Rede des Vertheidigers lauschte, als ob er darüber doch seine eigene Meinung hätte. Denn wie Leute seines Schlages giebt er nicht viel auf Deduktionen und hält sich an das Thatsächliche, Praktische. Wenn ihm ein feiner Herr eine socialistische Theorie der Arbeit auseinandersetzte, so würde er ihm seine breite Hand hinhalten und sagen: „Zeigen Sie einmal Ihre Finger!“

Die Borsig’sche Fabrik hatte einen kleinen Anfang, aber es war vom Beginn an Platz gelassen für Größeres, und mit jedem Erfolg weitete sich der Bau, vergrößerte sich der Plan. Im Jahre [290] 1836 entstand ein Bretterschuppen an derselben Stelle, wo sich heute auf einem Raume von 120,000 Quadratfuß die großartigste Anstalt ausdehnt. In jenem Schuppen arbeiteten funfzig Menschen und das Getriebe wurde von einigen Pferden in Bewegung gesetzt. Im folgenden Jahre war bereits eine Eisengießerei gebauet und es konnte die erste Dampfmaschine aufgestellt werden, die in der Fabrik selbst gefertigt worden war. Jetzt war das mühselige und ungleiche Treiben beseitigt und jener wunderbare Koloß wirkte in ungestörter stiller Gleichmäßigkeit an Stelle der Menschen und keuchenden Rosse. Die Arbeit richtete sich jetzt vorzugsweise auf Anfertigung aller Eisenbahngegenstände; die Anstalt ward durch fortgesetzte Neubauten erweitert, die Arbeiterzahl in entsprechender Weise vermehrt, jährlich wurden mehr denn siebenzig Locomotiven nebst Tendern gebauet, so daß im Jahre 1846 die hundertste und nach Verlauf von zwei Jahren die zweihundertste Locomotive aus der Anstalt hervorging. Im Jahre 1846 schätzte man den Verbrauch an Rohstoff auf 120,000 Centner, den des Brennmaterials auf 40,000 Tonnen Kohlen, den Gesammtwerth der gefertigten Gegenstände auf 1/2 Million Thaler. Außer vielen Lokomotiven lieferte die Anstalt Brücken von verschiedenster Ausdehnung, eiserne Dächer für die Bahnhallen und Kirchenkuppeln, darunter die mächtigen der Nicolaikirche zu Potsdam und des königlichen Schlosses zu Berlin. Gegenwärtig sind über Tausend Arbeiter beschäftigt und kürzlich wurde die fünfhundertste Locomotive geliefert. Die rußigen Hände der Arbeiter wanden die Blumen des Frühlings, um das eiserne Roß zu bekränzen, ehe es seinen wilden Wettlauf mit dem Sturme anträte.

Betritt man den großen Hof der Anstalt, so erblickt man in der Mitte des Vordergrundes ein thurmartiges Gebäude, unter dessen Giebel eine große Uhr angebracht ist; am Grunde desselben, zu den Füßen einer Statue, strömt fortwährend ein breiter Wasserstrahl aus Behältern, welche die höchsten Fabrikgebäude um zwanzig Fuß überragen und mittelst unterirdischer Röhren, das Wasser nach den verschiedenen Theilen der Fabrik leiten. Auf dem Hofe herrscht das regste Leben. Lastwagen, mit kräftigen Pferden bespannt, werden mit fertigem Geräthe beladen, oder bringen das Rohmaterial oder Tonnen voll Coaks, Stein- oder Holzkohlen. Man hört den taktmäßigen Gang der Maschinen und das Getöse der Hämmer und Feilen, man riecht den schwefligen Rauch der Kohle, man schmeckt Eisen, sieht und riecht Eisen. Linker Hand, in einem zweistöckigen Hause, befindet sich das Comptoir, wo man Herrn Borsig selber zu bestimmten Tagesstunden antrifft; gegenüber arbeiten die Techniker, die intelligenten Kräfte des Instituts, über Plänen, Karten und Rissen. Von dort aus ziehen sich die Arbeitsräume, theils ein-, theils zweistöckig, in dichter Gruppirung um die Eisengießerei, welche die Mitte des Hintergrundes einnimmt. Hier werden die Metallstücke in den hohen Copalöfen geschmolzen, deren Gebläse von einer großen Dampfmaschine getrieben wird. Ruhig und ebenmäßig bewegt sie ihre Kolbenstange, um das harte Metall in jene glühende Flüssigkeit zu verwandeln, welche aus der Eisenkammer des Ofens in Tiegel abgelassen und aus diesen in die Sandformen gegossen wird. An einer andern Stelle hebt ein gewaltiger Krahn den erkalteten fertigen Guß aus der Erde. – Von hier aus tritt man beliebig in die großen luftigen Räume, welche alle unter sich zusammenhangen. An den Decken bewegen sich unzählige Rollen, von vier Dampfmaschinen getrieben, welche die verschiedenartigsten Hülfswerkzeuge auf den Werktischen in Bewegung setzen. Das schwirrt und summt ohne Ende, und dazwischen ächzen die Feilen, Schrotmeißel und Drillbohrer der Schlosser, dröhnen die Possekel aus achtzig Schmieden, und die Krughämmer der Kupferschmiede. Hier arbeiten die verschiedensten Gewerke. An einem Orte fertigt man die größten Stücke der Locomotiven, an einem andern die kleinsten; hier wird eine Eisenbahnbrücke geschmiedet, daß die dicken Funken weit umhersprühen, dort eine eiserne Kirchenkuppel; hier werden die Speichenmuster, dort die Fügeböcke der Räder gefertigt; hier werden Kessel mit Kupfer und Zink gefüllt, dort mit Kohlenpulver bedeckt, an einem andern Orte wieder aus dem Brennofen gehoben; hier schneidet ein Rad aus einer Scheibe Cementstahl Spähne wie aus weichem Schweizerkäse. Dort aber ertönt der furchtbarste Lärm, wo die großen Dampfkessel, wie der Bauch des trojanischen Pferdes, mit Menschen gespickt sind, um die Nägel einzufügen, welche von außen mit ungeheuern Hämmern festgekeilt werden. – Gegen diese tobenden Gesellen verhalten sich die Modelleurs wie die „Stillen im Lande.“ Im gemüthlich ruhigem Saale arbeiten sie in Sand mit Stäbchen und Messerchen und erinnern uns an unsere harmlose Jugendzeit, wo wir in sinniger Weise aus dem Teige der Mutter Erde die großartigsten Gefüge, Bauten und Wunderwerke der Welt nachformten.

Die Maschinenbauer bilden natürlich, obgleich sie verschiedenen Gewerken zugehören, eine eigene charakteristische Abtheilung des Arbeiterstandes. Ihr Zusammenleben hat sie auf gemeinnützige Bestrebungen, auf Errichtung von Spar-, Kranken- und Unterstützungskassen geleitet. Obgleich bei ihrer Beschäftigung das geisttödtende System der getheilten Arbeit herrscht, so gestattet doch die Einrichtung der Anstalt einen Ueberblick über die verschiedenen Zweige der Thätigkeit; aus den Bureaus der Techniker dringt zuweilen ein belebender Gedanken unter die mechanisch beschäftigten Proletarier; sie haben das Bewußtsein, den neuesten Erfindungen des Menschengeistes dienstbar zu sein, und auch unter ihnen kann sich der Fähige auszeichnen und seine Lage verbessern. Der Fabrikherr stellt sich ihnen nicht schroff gegenüber und veranstaltet bei besonderen Gelegenheiten gemeinsame Festlichkeiten, wie zuletzt bei der Vollendung der fünfhundertsten Locomotive. Ihre Arbeit macht sie markig, stark und kühn, wenngleich auch sie nicht von einzelnen Krankheiten, darunter Rheumatismen und Herzleiden, verschont bleiben. Dazu gehören sie zu den am besten bezahlten Arbeitern, denn sie erwerben wöchentlich vier bis zehn und mehr Thaler; so sind sie selten der Noth ausgesetzt und haben zum Theil erträglich eingerichtete Haushaltungen. Durch diesen Umstand vertreten sie unter der Arbeiterklasse eine Art von Wohlhabenheit, die stets mit Besonnenheit und Liebe zum Besitz, wenn auch zum kleinsten, gepaart ist. Daher hielten sie sich in der Zeit der Volksbewegungen von unüberlegten Handlungen und Ausschweifungen zurück, auch in dem Bewußtsein ihrer Ueberlegenheit an Masse und physischer Kraft. Dies thaten sie indessen, ohne sich vornehm von dem Stande der Arbeiter zu sondern; sie übernahmen sogar zuweilen die Rolle heldenmüthiger Vermittler, drängten sich waffenlos in gefährliche Conflicte, wobei Einzelne um ihr Leben kamen. In jener Zeit waren sie, wie alle unsere Männer aus dem Volke, zuweilen vorwitzig und anmaßend, aber auch geistig strebsamer und sittlich mehr gehoben, als ehemals. Ihre Zahl und körperliche Stärke machte sie gefürchtet und man suchte zur Zeit der Restauration sich mit ihnen zuerst zu befreunden. Während die Bürgerwehr nicht selten wie eine Parodie des Militärs erschien, imponirten diese gedrungenen Gestalten mit den bärtigen, gebräunten Gesichtern, wenn sie bewaffnet hinter der dreifarbigen Fahne einherschritten und man hätte an die Germanen denken können, wie sie Tacitus beschreibt, wäre das Bärenfell nicht der blauen Blouse und der Speer dem Kuhfuß gewichen.

Wenn die große Uhr über der Statue zwölf schlägt, dann sieht man die kecken, derben Männer in blauer, schwarzbestäubter Blouse zu Hunderten durch das Oranienburger und Hamburger Thor in die Stadt strömen. Sie eilen dann in die Keller-Speiseanstalten oder zu ihren nahe wohnenden Familien zum Mittagstisch. Ein großer Theil von ihnen aber, die noch nicht lange verheirathet sind oder deren Frauen von der Wirthschaft und Kinderwiege abkommen können, speist in der Anstalt, in einem großen freundlichen Saale, wo sich an einem Ende ein zweckdienliches Büffet, an dem andern eine kleine Tribüne für die Zahlungstage befindet. Und es gewährt einen wohlthuenden Eindruck, diese Leute an langen Tafeln in Gemeinschaft ihrer alten und jungen Frauen, die ihnen das Essen gebracht, ihre Mahlzeit halten zu sehen.

Wenn aber die Glocke über dem steinernen Mann mit hellem Schlage Eins erschallen läßt, dann eilen sie an ihre Arbeit und in den Hof laufen die Hunderte, welche auswärts gegessen haben, – und dann beginnt wieder das Schwirren und Klopfen und Kratzen und Hämmern bis zum Abend, wo die Werkstätten von tausend Gasflammen erleuchtet sind.

[291]
Populäre Chemie für das praktische Leben.
In Briefen von Johann Fausten dem Jüngeren.
Fünfter Brief.
Wie die Chemie heute Geld macht.

In unserem vorigen Briefe haben wir die Chemie seit dem Auftreten des Meisters der Grobheit, Paracelsus, aus dem Auge verloren. Die neue Bahn, die er der Wissenschaft anwies, führte freilich nur auf Umwegen zum Ziel, der Hauptvortheil aber war der, daß die Chemie jetzt endlich in wissenschaftliche Hände gerieth. Die 84 Centner Gold und 60 Centner Silber und die 17 Millionen, welche Kaiser Rudolph II. und Kurfürst August von Sachsen hinterließen, die 6 Millionen Rosenobel, die Raymundus Lullus Eduard III. von England zu einem Kreuzzuge herbeizauberte, die dreizehnhundert Kirchen, welche der Franzose Crinot um 1500 gebaut hatte – freilich wissen wir nicht, wo sie gestanden, auch haben wir keinen Gewährsmann, der sie gezählt hat – kurz die ganze Legion der Wunder des Steines der Weisen hatte jetzt ihre Anziehungskraft verloren. Aber von den Ideen, die zum Goldmachen geführt, konnte man sich noch nicht ganz befreien; sie lagen noch wie ein Alp auf der Wissenschaft und noch weit über zweihundert Jahre tappte man mit verbundenen Augen umher, bis endlich aus Lavoisier’s Munde der Ruf zu neuem Leben erscholl.

Und aus welchen Quellen hatte er sein Wissen geschöpft? Die atmosphärische Luft und das Wasser, die gemeinsten Dinge auf Erden, die täglichen Bedürfnisse der Menschheit seit Jahrtausenden, gaben die Grundpfeiler ab zu dem neuen Gebäude, das lange Dauer verspricht. Der Einfluß der Ersteren auf die Verbrennung, – zuerst von Lavoisier richtig erkannt, daß hier ein Bestandtheil der Luft zu dem verbrennenden Körper hinzutrete, macht noch heute die Grundlage der Chemie aus und das Wasser lehrte, daß die einzelnen Stoffe, die Elemente, stets in bestimmten, unwandelbaren Gewichtsverhältnissen zusammentreten. Diese beiden einfachen Sätze waren es, welche die Chemie, durch Jahrtausende hindurch ein schwaches Kind, in noch nicht hundert Jahren zu einem Riesen erstarken ließen, dessen Macht sich heute Niemand mehr entziehen kann. Sie waren die unscheinbaren Ausgangspunkte ungezählter Entdeckungen, die uns Einsicht gewähren in unser Leben selbst und durch die das gesammte Gewerbewesen eine vollständige Umgestaltung erhielt. Jeder Einzelne hat daraus materielle Vortheile gezogen und daher können wir mit Recht sagen, daß zu keiner Zeit der Chemiker den Namen: „Goldmacher“ mit größerem Rechte verdient hat, als eben jetzt, obgleich er mit Sicherheit weiß, daß es dem Sterblichen nicht vergönnt ist, auch nur den werthlosesten der in der Natur vorkommenden einfachen Stoffe zu erzeugen. Der Chemiker kann nur verbinden und trennen; und dies reicht vollkommen aus zur Begründung seiner Macht.

Es sollte mir leicht werden eine lange Reihe von Präparaten aufzuzählen, die lange Zeit als große Seltenheiten in den Sammlungen der Chemiker aufbewahrt wurden und die Niemand kannte, während sie jetzt auf dem Markte des Lebens eine große Geltung erlangt haben und in den Händen und dem Munde eines Jeden sind. Und jeder Tag liefert uns noch neue Beispiele der Art, denn noch lange nicht wird an die Chemie der Ruf ergehen: hier ist das Ende! Ihren Geburtstag können wir von gestern datiren und daher gehört ihr die Zukunft. Die interessantesten dieser Beispiele werden uns Stoff zu späteren Briefen geben. Für heute wollen wir zwei chemische Erzeugnisse besprechen, die die Grundlage der gesammten Industrie bilden. Nicht daß sie erst in neuerer Zeit geschaffen wären, also vorher gar nicht bekannt – aber ihre Darstellungsweise ist so vereinfacht worden, daß sie erst jetzt befähigt waren, dem Rufe zu folgen, der an sie erging. Es sind dies die Soda und die Schwefelsäure, die beide, wie wir bald sehen werden, in einem innigen Zusammenhange stehen.

Die neuere Chemie lag, so zu sagen, noch in den Windeln, da erging schon an sie die ernste Mahnung, sich als thatkräftigen Mann zu bewähren und zwar in ihrem Geburtslande selbst. Wir hören so oft den Ausspruch von Robespierre: „Die Republik bedarf der Chemiker (Gelehrten) nicht“ und doch verhielt es sich in der Wirklichkeit ganz anders. Die Republik wußte sehr wohl, welche Stütze sie in der Wissenschaft finden konnte und nahm sie auch gehörig in Anspruch. Die französische Revolution war ja eben ein Kampf des Geistes gegen die nur durch den Korporalstock in Bewegung gesetzte todte Masse. Lavoisier’s Kopf fiel zwar unter dem Beile der Guillotine, aber die Leiter, auf der er zum Blutgerüst hinaufstieg, das war der Neid der übrigen Chemiker, die er freigebig zum Frommen der Wissenschaft mit seinen Reichthümern unterstützt und wohlwollend an seinem Ruhme hatte theilnehmen ließen. Er wurde nur erst dem Henker überliefert, nachdem Fourcroy schriftlich erklärt hatte, daß er im Stande sei „den größten Chemiker“ vollständig zu ersetzen.

Gerade in der Zeit, wo die ganze Nation unter den Waffen stand gegen das übrige Europa, erlangten die Industrie und Künste eben mit Hülfe der Wissenschaft einen bemerkenswerthen Aufschwung. Die Noth war hier die Lehrmeisterin. Alle Kräfte mußten angespannt werden, um den überlegenen Massen Widerstand zu leisten. Aber die kriegerischen Thaten nahmen so sehr die Aufmerksamkeit Aller in Anspruch, daß uns von diesen friedlichen Eroberungen wenig gemeldet wird. Der Chemie wurde die Aufgabe bei der mangelnden Zufuhr von außen für die Industrie die nöthigen Rohstoffe herbeizuschaffen und die Technik anzuweisen, aus dem vorhandenen eigenen Erzeugniß das Fehlende zu ersetzen. Eine eigene Commission war vom Wohlfahrtsausschuß niedergesetzt, die „in Erwägung der Pflichten, welche der Republik gebieten, die Kraft der Freiheit mit ihrem ganzen Nachdrucke auf alle diejenigen Gegenstände hinzulenken, welche die Grundlagen der unentbehrlichsten Gewerbe sind: Pflichten, die ihr ferner gebieten, die Fesseln der Handelsabhängigkeit abzustreifen und aus ihrem eigenen Schooße Alles, was die Natur darin niedergelegt hat, an das Licht zu ziehen, um die Gaben des Bodens und der Gewerbthätigkeit in Anspruch zu nehmen,“ alle Bürger aufforderte „ihre Ansichten und Erfahrungen zum Besten des Staates mitzutheilen, mit Hintansetzung aller besonderen Vortheile und Privatspeculationen.“ Und nicht umsonst ging dieser Aufruf zur Thatkraft an die Wissenschaft, die sich eben erst von beengenden Fesseln frei gemacht hatte. Ueberall wurden neue, vorher kaum geahnte Hülfsquellen aufgedeckt.

So lernte man Schwefel aus den Schwefelkiesen (Schwefeleisen) gewinnen, Alaun aus den Alaunschiefern, Salpeter aus faulenden Thier- und Pflanzenstoffen, – Grabgewölbe, Wohnungen und Friedhöfe wurden umgewühlt, um den zur Pulverbereitung erforderlichen Salpeter, damals so nöthig wie das tägliche Brot, herbeizuschaffen. Zu allen diesen Hülfsquellen führte die Noth, aber sie haben diese überdauert und brachten der Industrie reichen Segen. Vor allen aber die künstliche Bereitung der Soda, die auch aus jenen Tagen stammt.

Früher gewann man die Soda – das kohlensaure Natron – ähnlich wie die Pottasche – das kohlensaure Kali, aus der Asche der Landpflanzen, aus der der Meer- oder Strandpflanzen; namentlich in Spanien, wo man die Pflanzen durch Ansäen an den Küsten baute. Die besten Sorten enthielten jedoch höchstens nur 30% an reiner Soda. Außerdem wird dieses Salz noch aus einigen Landseen in Aegypten, Mexiko und Ungarn gewonnen und wenn das Letztere allein auch 15,000 Ctr. liefert, so bildet dieser Ertrag doch nur einen verschwindenden Bruchtheil von dem jetzigen Bedarf der Industrie. Alle diese Quellen waren durch den Krieg damals für Frankreich verstopft; die Glashütten, Bleichereien, Färbereien, Seifensiedereien, die namentlich im südlichen Frankreich eine große Bedeutung erlangt hatten, und viele andere weitgreifende Gewerbe waren auf das Erzeugniß des eigenen Landes beschränkt, das jedoch lange nicht ausreichte, das Bedürfniß zu decken. Wie der Wohlfahrtsausschuß Heere aus der Erde stampfte, dekretirte er auch die künstliche Darstellung der Soda aus dem in der Natur in unbegrenzten Mengen vorkommenden Kochsalz – Chlornatrium. Sechs Vorschläge gingen ein, unter denen der von Leblanc als der beste erklärt wurde.

Das Kochsalz wird in der Hitze durch Schwefelsäure in schwefelsaures Natron – Glaubersalz verwandelt und dieses durch Glühen mit Kohle und kohlensaurem Kalk in kohlensaures Natron. Die nächste Folge war, daß die Schwefelsäurefabrikation bedeutende [292] Fortschritte machen mußte, um den Anforderungen des neuen Industriezweiges zu genügen. Sehen wir, wie es mit dieser damals aussah.

Der Sauerstoff verbindet sich bei dem Verbrennen des Schwefels mit diesem nur zu schwefliger Säure, die den bekannten erstickenden Geruch verursacht. Geschieht dies aber in einem abgeschlossenen Raum, der Feuchtigkeit enthält, z. B. unter Glasglocken, so daß die schweflige Säure, ein Gas, von dem Wasser verschluckt wird, so nimmt sie nach und nach, freilich sehr langsam, mehr Sauerstoff auf und verwandelt sich in Schwefelsäure. Und auf diese Art bereitete man in älterer Zeit in der That die Schwefelsäure. Lefebvre und Lemery erkannten gegen Ende des 17. Jahrhunderts, daß sogleich bei der Verbrennung Schwefelsäure entstehe, wenn man den Schwefel mit Salpeter gemengt habe. Bei der Darstellung dienten große, gläserne Glocken von 100 bis 200 Quart Inhalt, die man später in England durch mit Blei bekleidete Kammern ersetzte. Diese Bereitungsart war eine sehr theure, denn aller Sauerstoff wurde hier von dem Salpeter geliefert. Bis dahin, wo der Verbrauch dieser Säure durch die Sodafabrikation ungeheuer stieg, kannte man die wichtige Rolle nicht, welche jetzt die atmosphärische Luft bei der Bildung der Schwefelsäure spielt.

Sorgfältige Untersuchungen von Clement und Desormes zeigten, daß 9/10 des nöthigen Sauerstoffes von der Luft geliefert werden könne und die Salpetersäure bei der Bildung der Schwefelsäure zumeist nur einen sehr geringen Antheil daran habe. Bei Gegenwart von Wasserdämpfen überträgt die Salpetersäure einen Theil ihres Sauerstoffs an die schweflige Säure und wird dadurch selbst in Stickoxydgas verwandelt. Dies kann aber als solches nicht an der Luft bestehen, augenblicklich verwandelt sich das farblose Gas, indem es Sauerstoff aufnimmt, in ein blutrothes – in salpetrige Säure, die wiederum ihrerseits einen Theil ihres Sauerstoffs zur Bildung der Schwefelsäure hergiebt, so daß das Spiel immer wieder von Neuem beginnt bis alle schweflige Säure in Schwefelsäure verwandelt worden ist. Sehr günstig wirkt hierbei die Wärme; ohne sie würde die Schwefelsäure eine bedeutende Menge des Stickoxydgases verschlucken, die dann direkt durch Salpetersäure zu ersetzen wäre. So wären demnach also geringfügige Mengen von Salpetersäure hinreichend unendliche Mengen von Schwefelsäure zu liefern, – wenn nicht bei der Darstellung im Großen unvermeidliche Umstände geringe Verluste herbeiführten. Ein andauernder Luftstrom muß die nöthigen Sauerstoffmengen liefern und für Fortschaffung des übrigbleibenden Stickstoffs sorgen; mit diesem geht dann auch stets Stickoxydgas oder salpetrige Säure verloren.

Nichts destoweniger hat die Schwefelsäurefabrikation eine solche Vollendung erlangt, wie wir sie kaum bei einem anderen chemischen Proceß, der fabrikmäßig betrieben wird, wiederfinden. Dies lehrt uns die Uebereinstimmung der Resultate der Praxis mit den Rechnungen der Theorie. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts erhielt man aus 100 Pfund Schwefel höchstens nur 200 Pfund Schwefelsäure, nach und nach stieg die Ausbeute auf 250 und jetzt gewinnt man durchschnittlich 310 Pfund einer Säure, die aber immer mehr Wasser enthält, so daß sie 288 Pfund einer bestimmten Verbindung der Säure mit Wasser entsprechen, von der man der Theorie nach 306 Pfund erzielen sollte. Der Verlust an Schwefel beträgt demnach nur 6 Procent, ein sehr günstiges Resultat.

Anders steht es bei der Sodafabrikation. Man erhält aus dem Glaubersalz nur 33 Procent an kohlensaurem Natron. Weiter kommt hierbei in Betracht, daß alle hierzu gebrauchte Schwefelsäure verloren geht, weil der Schwefel, der bedeutenden Kosten wegen, aus der abfallenden Kalkverbindung nicht wieder gewonnen werden kann. Dann entsteht ferner bei der Zersetzung des Kochsalzes Salzsäure – Chlorwasserstoffsäure, in so großer Menge, daß sie auch nur zum Theil verwerthet werden kann, obgleich man da, wo man nach wissenschaftlichen Grundsätzen operirt, mit der Sodafabrikation noch andere verbunden hat, welche der Salzsäure bedürfen. Diese entweichende Salzsäure hat den englischen Fabrikanten vielfachen Verdruß und manche schlaflose Nacht zugezogen, da sie, wenn man sie fortfließen ließ, das Wasser der Flüsse sauer und die Fische sterben machte oder wenn sie als Gas in die Lust stieg, ringsum die Vegetation vernichtete, bis man Schornsteine von der Höhe des Straßburger Münster baute, die oft, wie z. B. zwischen Liverpool und Manchester 1 Million Ziegel in sich fassen, und so das schädliche Gas in die höheren Luftschichten leitete. In Deutschland weiß man bei dem kleinen Betriebe von dieser Sorge wenig; hier findet die Salzsäure ihre Abnehmer, besonders da in den Runkelrübenzuckerfabriken enorme Mengen zur Wiederbelebung der Knochenkohle gebraucht werden. Großen Gewinn bringt sie dem Fabrikanten jedoch nicht, da das Pfund um wenige Pfennige verkauft wird.

Alle diese Uebelstände erkannte man schon früh, aber Abhülfe hat ihnen noch nicht gewährt werden können. Noch immer wird das von Leblanc angegebene Verfahren trotz seiner Unvollkommenheiten im Wesentlichen ganz so befolgt wie vor 60 Jahren. An Vorschlägen hat es freilich nicht gefehlt, aber das Unmögliche kann auch der Chemiker nicht möglich machen, wenigstens nicht nach dem jetzigen Stande der Wissenschaft. Man muß die Sache von einer andern Seite angreifen und dazu sind bereits Vorschläge gemacht. Die Natur bietet uns eine unerschöpfliche Quelle für das schwefelsaure Natron in den Rückständen bei der Bereitung des Meersalzes. Balard hat diesen Vorschlag bereits in Frankreich zur Ausführung gebracht und dafür auf der Londner Ausstellung eine Medaille erhalten. Er hofft es dahin zu bringen, daß Frankreich mit der Zeit 175,000 Centner Schwefel weniger aus Sicilien beziehen werde.

Leider giebt es noch keine vollständige Statistik der chemischen Gewerbe; daher müssen wir uns von der Bedeutung dieser beiden Fabrikationszweige auf Umwegen einen Begriff zu machen suchen. Für die Schwefelsäure giebt uns die Schwefelausfuhr von Sicilien einen Anhalt; von hier bezieht die ganze industrielle Welt ihren Bedarf, denn was die übrigen Länder erzeugen, bietet nur einen sehr geringen Bruchtheil. In den Schwefelgruben dort sind 3000 Arbeiter und 4000 Kinder beschäftigt und für die Fortschaffung bis zur Küste sorgen 10,000 Lastthiere und 3000 Treiber. Deutschland bezog 1852 von dort 150,000, Frankreich 495,080 und England 705,147 Centner, fast die Hälfte der gesammten Ausfuhr (1,896,000 Centner). Freilich werden hiervon bedeutende Mengen zu andern Zwecken verbraucht, namentlich zum Schießpulver, der Hauptantheil fällt jedoch immer auf die Schwefelsäure.

Liebig hat den Satz aufgestellt, daß die Erzeugung und der Verbrauch an Schwefelsäure in einem Lande den Maaßstab abgebe für die Industrie und den Wohlstand desselben. Zu genau darf man es jedoch mit solchen Behauptungen nicht nehmen, denn sie sind immer nur bis zu einem gewissen Sinne wahr. Gewiß übt die Schwefelsäure einen hohen Einfluß auf die gesammte Industrie aus, der noch mehr gehoben wird durch die erstaunenswerthe Billigkeit, die dieses Präparat, obgleich der Hauptbestandtheil dazu weit hergebracht werden muß, durch die Fortschritte der Wissenschaft erlangt hat. Im Kleinhandel verkauft man das Pfund mit 11/4 Sgr. Wo die ungeheuren Mengen, die jährlich erzeugt werden, bleiben, das wird uns klar werden, wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Masse von Geschäftszweigen dringend nothwendig der Schwefelsäure bedürfen. Obenan steht die Sodafabrikation, die in Frankreich allein jährlich über 1 Million Centner Seesalz (1/6 der Gesammtproduction) verarbeitet. Durch sie allein ist der Ausspruch Liebig’s und des Fürsten Pückler, daß der Verbrauch an Seife die Kultur eines Volkes anzeige, möglich geworden. Leider läßt sie in Deutschland noch Manches zu wünschen übrig; der Zollverein deckt seinen Bedarf nicht, 1851 wurden 127,000 Centner Soda eingeführt. Für die kolossale Erzeugung Englands kann ich leider keine Zahlen angeben. Eine einzige Fabrik, die von Tennent zu St. Rollo bei Glasgow, – freilich eine Anstalt, wie sie das Festland nicht aufzuweisen hat – mag dafür zum Maaßstabe dienen. Hier werden jährlich 155,190 Centner Schwefelsäure (ungefähr 16 Mal die Ausfuhr des gesammten Zollvereins) auf Soda verarbeitet und die hierbei entweichende Salzsäure zu Bleichkalk. Die Fabrik von Muspratt bei Liverpool steht dieser nicht weit nach.

In geringerer Menge findet die Schwefelsäure Verwendung bei der Darstellung einer Menge von schwefelsauren Salzen für die Gewerbe, die Landwirthschaft, Arzneikunde und Säuren, wie der schwefligen Säure zum Bleichen, Salpetersäure, Kohlensäure, Weinsteinsäure, Phosphorsäure, bei der Bereitung der Stearinkerzen, Seifen, des Phosphors, Chlors und seiner zum Bleichen dienenden Verbindungen. Sie dient ferner beim Verzinnen und Verzinken des Eisens, um reine Oberflächen zu schaffen, ebenso beim Kupfer und Messing, um den silbernen Geräthen und Münzen ein schönes Ansehen zu geben, zur Scheidung des Silbers vom Golde und Kupfer, bei der Darstellung von Aether, zum Reinigen des [293] Brennöles, bei der Stärkezuckerfabrikation; sie liefert ferner die Schießbaumwolle und ist bei der Wichse unentbehrlich. Sie bewahrt das Blut, das in Zuckersiedereien in großen Mengen verbraucht wird, vor Verderben, sie dient auf Kalkboden statt des Düngers, zum Schwellen der Häute in der Gerberei, befördert die Ausscheidung des Fettes beim Ausschmelzen und reinigt es. Sie zerstört den übeln Geruch in Weinfässern und ist für den Chemiker zu tausend Dingen unentbehrlich. In’s Gewicht fällt ihr Verbrauch bei den galvanischen Apparaten. Holz, das durch Entziehung von Wasser durch die Schwefelsäure verkohlt worden, hält sich in der Erde lange gegen die Fäulniß. Alle diese kleinen Posten und noch viele andere tragen mit zu der enormen Fabrikation bei.

Hierdurch wird es klar, wie England 1840 Neapel mit Krieg bedrohen konnte, als der Ausfuhrzoll auf Schwefel erhöht worden war. Damit erging zugleich die ernste Mahnung, neue Quellen zu schaffen und von da an gehen wir der Zeit entgegen, wo der Schwefel in der Fabrikation nicht untergehen, sondern einen fortdauernden Kreislauf machen wird und dann hat Sicilicn aufgehört, die Schwefelkammer der ganzen Welt zu sein. Ist nur erst die Nothwendigkeit da, so wird die Wissenschaft auch diese Aufgabe lösen.




Blicke in einen türkischen Harem.

Der Sultan der Türkei, um dessen Land und Leute fast ganz Europa und Asien und ein Theil Afrika’s in unruhige Bewegung gerathen sind, fährt ruhig fort, sich und seinen Frauen neue Paläste zu bauen, als wenn gar nichts vorgefallen wäre. Sein neuester Palast, der jetzt gebaut wird, erhebt sich am Bosporus zwischen Dalma Buktsché und Beschik Tash mit einer Façade von 1000 Fuß fast ganz von Marmor. Die Bäder sind von ägyptischem Alabaster. Triumphbogen, Säulengänge, Dachfenster von kostbarem colorirten Glas und Zimmer und Hallen für vierhundert Damen! Sie nähen nicht, sie spinnen nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, diese Sultan-Harems-Lilien, und sie essen doch den ganzen Tag Reis und Hammelfleisch, um sich in Schönheit (d. h. Fettigkeit) zu überbieten und rauchen immerwährend starken türkischen Taback dazu. Das ist beinahe zu starker Taback! Andere rechtschaffene Leute haben vollauf zu thun, um eine stetige Frau mit dem kleinen rothbäckigen Ueberfluß, der drum herum krabbelt, anständig zu ernähren, obgleich blos der Mann raucht und die Frau niemals die Cigarrentasche plündert, und unser verehrter Herr Sultan läßt zu seinen Dutzend Schlössern und Harems noch eine idyllische Hütte von Marmor und Alabaster mit 400 Frauen-Zimmern, 400 Ottomanen, 400 neuen Tabackspfeifen und 400 neuen Sklaven, die immer stopfen und anbrennen, und eine Compagnie Köchinnen, die stets Hammelrippen braten und Reis kochen müssen, läßt noch so ein Schäferhüttchen bauen, während die Welt um ihn herum sich die Hälse brechen will! Wenn ihm seine Damen wenigstens die Strümpfe stopften! Sie stopfen sich nicht einmal ihre eigenen und gehen lieber barfuß und bemalen sich die Hacken, die aus den Pantoffeln herausguken, roth. Kein höheres, sittliches Gefühl über ihre unwürdige Lage malt dieselbe Farbe auf ihre fetten Wangen!

Werden sie den „Kuhfuß“ in die Hand nehmen und das Schwert erheben, wenn ihr gemeinsamer Gatte, ihr Vaterland vom Streiche des Todes bedroht wird? Nicht doch! Sie lassen sich lachend von Russen, Engländern und Franzosen erobern und umarmen sie als ihre Erlöser. Die Engländer machen sich als Retter der Türkei jetzt gern den Spaß, ihre Schwerter in die Scheide zu stecken und den auf dem Bosporus spazieren fahrenden Damen die Cour zu machen. Die Spazierfahrten der Damen des Sultans und anderer Großen, die’s ihm nachmachen können, sind noch mitten im Kriege eine der häufigsten Tageserscheinungen auf den blanken Gewässern um Konstantinopel herum.

Neulich ließen sich einige englische Offiziere ganz dicht an einen solchen Haremskahn heranführen und addressirten die darin umwickelten Damen mit türkischen Phrasen, die sie sich zu diesem Zweck hatten einpauken lassen, wie: „Sie sind sehr hübsch! Ich liebe Sie!“ u. s. w. Die servischen Ritter, welche als ihr Schutz am Ufer sie begleiteten, beteten und fluchten und hieben ein, und da hieben die Engländer auch ein und paukten die Beschützer türkischer Tugend gehörig durch, so daß sie das Hasenpanier ergriffen. Die Damen lachten darüber aus vollem Halse und gaben überhaupt ihre höchste Freude zu erkennen über dieses Schicksal ihrer Tugendwächter.

In der Regel fährt blos die erste Klasse auf diese Weise aus, die „Kadin“, d. h. die „eigentlichen“ Frauen des Sultans, vier – sieben – zehn an der Zahl. Die nächste Klasse des Harems sind die „Gediklin“, etwa „Kammermädchen“, aus welchen zuweilen die schönste zur „Kadi“ erhoben wird. Die „Gediklin“ haben zum Theil Titel und Ehrennamen, welche die Grade ihrer Schönheit in den Augen des Sultans bezeichnen sollen. Diese Favoriten heißen dann auch „Ikbal“ (Kinder des Glücks) oder „Khaßodalisk“ (Privatdamen des Sultans).

Die dritte Klasse „Usta“ (Maitressen), auch „Khalfah“ (Gehülfinnen) genannt, zerfallen in „Lakim“, d. h. Compagnien von je dreißig. Als vierte Klasse sind die „Sahgird“ (weibliche Lehrlinge) rangirt, d. h. Mädchen von unreifem Alter, die besonders schön zu werden versprechen und in den Künsten des Harems, der Gefallsucht, des Schminkens u. s. w. unterrichtet werden.

Die Dienerinnen dieser Klassen bilden als „Lariyeh“ (Sklavinnen) eine fünfte Klasse.

Diese klassischen Damen stehen alle unter der Direktion des ersten Harem-Beamten, des „Kislar-agha“, das man analog dem Bürgermeister mit „Mädchenmeister“ übersetzt findet. Unter ihm stehen natürlich mehrere subalterne Beamte, auch eine Art Leibgarde, die aus lauter Serviern besteht und deren Geschäft es ist, die „Thore der Glückseligkeit“ zu bewachen und die Damen auf ihren Ausflügen zu Wasser und zu Lande zu beschützen. Die Großen des Landes ahmen diesen Sultanshaushalt je nach ihrem Range und ihren Geldkräften möglichst nach und sind deshalb allen Bestechungen zugänglich, weil sie die fabelhaftesten Summen blos für ihren Frauenstaat brauchen.

Jeder wird gestehen, daß diese Wirthschaft nicht eben besondern Anspruch auf Erhaltung in ihrer „Integrität“ machen kann. Und was die englischen und französischen Soldaten betrifft, die sich dort beinahe häuslich einrichten, so sorgen sie schon für „Reformen“, die freilich erst noch beweisen müssen, daß sie besser sind.

Eine türkische Schönheit kann aber gewaltige Wirkungen hervorrufen, wie ja auch seit Helena schöne Damen durch alle Jahrhunderte hindurch nicht blos Kinder, sondern auch Kriege und weltgeschichtliche Ereignisse geboren haben. Die türkische Schönheit ist in ihrer vollen Blüthe sechzehn Jahre alt, mit kohlschwarzem, glänzendem Haar, dünnen Augenbrauen von genauer Bogenform, langen, gebogenen, schmachtenden Lidern und Wimpern, geschminkt mit Surmah, einem Präparat von Antimonium. Das schöne Roth ihrer Lippen scheint durch eine dünne Ueberfärbung von Indigo, und wo das feine Netzwerk der Adern bläulich durch die weiße Haut schimmern würde, erröthet die Schminke der Henna, eines vegetabilen Carmins, das selbst auf den Nägeln der Füße und Zehen und an den strumflos aus den goldenen und geperlten Sandalen gukenden Fersen die natürliche Weißheit Lügen straft. Um die Füße wallen weite Beinkleider, an den Knöcheln zugebunden, an die Taille schließt sich eine Art Weste von Seide gestickt an und um diese ein gestickter, gold- und silberverbrämter Gürtel oder ein reicher Cashmir-Shawl. Das Haar fließt in langen Flechten herab, an den Enden mit kleinen Juwelen geschmückt. Goldene Armbänder glänzen an Armen und Füßen und kostbare Steine am Corsett. Nun denke man sich so eine reizende Creatur, hingeflegelt auf den niedrigen Divan, im reichgeschmückten Zimmer und aus dicker Bernsteinspitze durch ein langes, decorirtes Rohr behaglich und gedankenlos Rauchwolken vor sich hinblasend. Ja, sie rauchen alle, manche den ganzen Tag wie ein Stadtsoldat. Nichts thun und Taback dazu rauchen, das ist ihr Geschäft vom Aufgang zum Niedergang der Sonne jedes Tages. In der Linken hält sie die Pfeife, mit der Rechten empfängt sie von ihrer Sklavin ein Becherchen starken Mokka-Kaffee nach dem andern mit dem „Salz“ und ohne Zucker, um das [294] Aroma gründlich zu genießen. Kann sich der Harem durch Intriguen auch „Liqueur“ oder auch nur gemeinen Fusel verschaffen, desto besser. Von Geist und geistiger Nahrung kommt ihnen nichts zu, kein Buch, keine Literatur, keine Erzeugnisse der Kunst. Von Liebe zu ihrem „Eigenthümer“ kann auch keine Rede sein. So vergehen ihre öden Tage in thierischem Müßiggang, Klatschereien, Intriguen, mit Rauchen, Kaffeetrinken, Sehnsucht nach „Spiritus“ und in Bemühungen, durch Reiß und Hammelfleisch fett, d. h. türkisch schön zu werden. Zuweilen dürfen sie ausgehen und einkaufen oder auf den prächtigen Kirchhöfen die Todten beweinen oder mit Lebensgefahr Liebes-Intriguen spielen.

Die Stellung des weiblichen Geschlechts unter einem Volke ist ein Hauptmerkmal von dessen Civilisation. Das weibliche Geschlecht der Türken kann nicht niedriger gedrückt werden, als es ist. Nichts als Werkzeuge, Sachen, gekauftes Eigenthum. Dies hat für unsere Begriffe etwas Empörendes, um so mehr, als das weibliche Geschlecht in der Türkei sich durch die schönsten Tugenden auszeichnet, welche die Schönheit und Heiligkeit der Familie begründen, ganz besonders durch mütterliche Liebe zu Kindern und kindliche Verehrung der Aeltern, wenigstens der Mutter. Das weibliche Geschlecht ist nicht nur in der Regel schön, sondern auch von der größten Gutmüthigkeit und voll der herrlichsten Anlagen. Alles wird schmachvoll unterdrückt durch ihr sociales Loos. Das Weib in höhern Kreisen wird Gefangene des Harems, in niederen Plackholz des Hauses, um dem krummbeinigen Manne, der auf seinen Füßen sitzt und raucht, Essen und Trinken zu schaffen.

Diese Art von „Integrität“ wird nun allerdings nicht länger aufrecht erhalten, und diese Wirthschaft könnte durch die vereinigten Heere der Russen, Türken, Engländer, Franzosen, Preußen und Oesterreichs nicht gerettet werden, seitdem die Soldaten des Westens auf Türkisch zu sagen gelernt haben: „Ich liebe Dich! Du bist sehr schön!“ Liegt doch schon in diesen schnöden Spielereien übermüthiger, müßiger Krieger des Westens für die türkischen Damen eine höhere Civilisations- und Sittlichkeitsstufe!

In dem türkischen Boden schlummern unermeßliche Schätze mineralischen und vegetabilischen Reichthums, eben so in den verwahrlosten Herzen und Köpfen der Menschen. Diese in Todesschlummer gezwungenen Schätze warten nur auf den Tod des alten Türkenthums, damit alle Erden- und geistigen Kräfte zu freudigem Leben auferstehen. Was der Orient Schönes, Edeles in sich hat, wird nicht mit dem Lande sterben, sondern vielleicht als Ersatz für den geistigen und materiellen Export des Westens im Abendlande seine neue Culturstätte finden, mehr, als einst die Kreuzzüge für die Cultur des Westens sich wohlthätig erwiesen.




Aus der Menschenheimath.
Briefe des Schulmeisters emerit. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Dreiundzwanzigster Brief.
Die Insektenverwandlung. 3. Der Puppenzustand.
Ich schloß meinen letzten Brief (Gartenlaube Nr. 18) mit der Bemerkung, daß ich Dir im nächsten sagen wolle, warum dort die Raupe (Fig. 11 sich durch einen Seidengurt um den Leib an dem Aestchen festgebunden habe. Ich komme daher zunächst hierauf zurück. Jene Raupe befestigte sich aber außerdem noch auf andere Weise. Ehe sie jenen Gurt mit dem Spinnapparate ihres Maules spann, heftete sie ein kleines verworrenes Häufchen feiner Seidenfäden an der Rinde des Aestchens fest. Dies sollte eine Art Ankergrund sein, um die beiden After- oder Larvenfüße ihres letzten Leibesringels darin festzuhaken. Es sind nämlich die Afterfüße der Raupen mit einem doppelten Kreise sehr feiner Häkchen besetzt, was ihnen das Gehen auf glatten Flächen sehr erleichtert.

Erst nachdem sie so mit dem Ende ihres Leibes befestigt war, spann sie sich jenen Gurt, den Dir auf meinem vorigen Bilde ein Sternchen bezeichnete. Diese doppelte Befestigung ist die Vorbereitung zur Verwandlung in die Puppe, welche die Raupen namentlich vieler Tagfalter machen. Nun sieh Dir auf meinem heutigen Bilde Fig. 1 an. Du erblickst hier in derselben Stellung, auf dieselbe doppelte Weise befestigt, an der Stelle der Raupe nun die Puppe. Fühlst Du was das sagen will? Laß Dich einmal bis an den Hals in einen Sack stecken und um den Leib und an den Füßen an einen Baumstamm festbinden; dann streife, ohne die Hände zu brauchen, und ohne der Bande an den Füßen und um den Leib Dich zu entledigen, den Sack ab. Würdest Du es können? Ich glaube es kaum. Die Raupe kann es. Sie hat den Sack, ihre Raupenhaut, abgestreift und sie unter dem sehr eng anliegenden Gürtel und von dem Seidengewirr am Schwanzende losgemacht. Die Haut fiel dann vom Baume herab; und während dieses Kunststückes hat sich die sechszehnfüßige gelenke Raupe in die fußlose steife Puppe verwandelt. Braucht es neben diesem einen der Tausende von natürlichen Wundern der Thierwelt noch erst ersonnener Wunder?

Vielleicht hättest Du nun gern, daß ich Dir genau beschriebe, wie hierbei die Raupe verfährt. Aber in der Natur gilt vor allem das Wort: „selber ist der Mann.“ Wir haben dies Jahr leider keinen Mangel an Insekten und ich fürchte, daß auch unser Baumweißling sich bereits in Menge eingestellt hat. Bald kommt die Zeit, dieses Wunder selbst beobachten zu können. Thue es!

Ich gehe daher zu Fig. 2 über. Sie zeigt Dir die Erfindung der Mäusefalle. Ich habe Dir schon einmal angedeutet, daß die Natur eine Menge Dinge den Menschen vorerfunden hat, und Du siehst hier einen solchen Fall. Ich meine jene bekannte, einem kleinen Vogelkäfig gleichende Falle, an deren oberem Theile nach abwärts ein Kreis von spitzen Drähten, trichterförmig zusammengeneigt, so angebracht ist, daß das Mäuschen durch ihn wohl leicht hinab zu dem lockenden Speck gelangen kann, indem sich die Drähte auseinander geben; durch den aber wie leicht begreiflich für die Gefangene nicht wieder herauszukommen ist. Gerade so nur in umgekehrter Wirkung, richtet sich die schöne Raupe des kleinen Nachtpfauenauges, Saturnia pavonia minor, ihr Puppengespinnst ein. Du siehst in Fig. 2 davon einen senkrechten Durchschnitt. Oben endigt es in einen sich verschmächtigenden Hals, der von kraus durcheinander gewirrten Coconfäden gesponnen ist. Unter diesem siehst Du einen nach außen in eine Spitze zusammengeneigten Kranz [295] steifer Seidenborsten. Diese geben sich leicht auseinander, wenn der Schmetterling aus der Puppenhülle ausgekrochen ist und nun hinauseilt an die warme sonnige Sommerluft; aber – sie lassen nichts herein, was den noch Schlummernden stören könnte. Ist das nicht in Wahrheit eine umgekehrte Mäusefalle? .

Fig. 8 meines vorigen Briefes zeigte Dir ein aus Holzstückchen erbautes Larvengehäuse einer Köcherjungfer; jetzt siehst Du in Fig. 3 ein Puppengehäuse, natürlich auch von der Larve gemacht, einer anderen Art dieser kunstfertigen Familie. Es ist aus kleinen Steinchen zusammengefügt und die Larve schleppte dieses schwere Haus lange Zeit mühselig mit sich herum. Dann mauerte sie es vollends zu und verwandelte sich in ihrem finstern Mauerverließ in die Puppe. Das aus dieser auskommende schmetterlingsähnliche zarte und schwache Insekt hat ein probates Mittel, aus diesem Kerker zu entkommen. Es ist ein Tropfen eines ätzenden Saftes, den es aus dem Maule absondert und der sofort den festen Mörtel auflöst, der für das Wasser und andere Säuren unlöslich ist.

Unsere folgende Figur, 4, zeigt uns die Puppe der Fleischfliege, die wir als Larve in Fig. 3 des vorigen Bildes kennen lernten. Die Fliegen, eine außerordentlich artenreiche Insektenordnung, haben eine sehr abenteuerliche Puppenhülle. Sie besteht aus nichts Anderem, als aus der letzten Larvenhaut. Diese wird nicht abgeworfen, sondern löst sich nur ringsum von dem Körper der Larve los, so daß sie zuletzt diese wie ein loses, dunkel kastanienbraunes Futteral einschließt, in welchem sich die Larve in die Puppe verwandelt. Die daraus auskommende Fliege stößt dann leicht das vorderste Stück wie einen Deckel ab, wozu ihr die Naht zwischen zwei Leibesringeln der zur Puppenhülle erhärteten Larvenhaut behülflich ist. Wenn Du eine todte Maus an einen Ort legst, wo ihre Verwesung Deine Nase nicht beleidigt, so kannst Du leicht diese Verwandlung der Fliegen beobachten.

In dem Spinngewebe genial unsauberer ländlicher Abtritte wirst Du schon oft das Ding haben hängen sehen, was Dir Fig. 5 darstellt. Es ist auch eine Fliegenpuppe, deren Larve, eine sogenannte Rattenschwanzlarve, einige Fuß tiefer in dem nicht gering zu achtenden weil korn-erschaffenden, unaussprechlichen Fluidum schwelgte.

Leicht erkennst Du in Fig. 6 die hellbräunlich aussehende Puppe des Hirschkäfers, Lucanus Cervus. Der arme Kerl ist eng zusammengeschnürt. Alle Theile stecken in besondern Futteralen, die zusammen die Puppenhaut bilden; während an der Schmetterlingspuppe bekanntlich alle einzelnen Leibesglieder von einer gemeinsamen dicken Haut umschlossen sind. Wenn der Käfer auskriecht, so zieht er seine Puppenhäute wie Strümpfe und Rock und Hosen aus und erscheint dann als der Ritter im festen, glänzenden Panzer; doch bedarf es einiger Zeit, ehe dieser seinen Glanz und seine Festigkeit gewinnt; und eher kommt er auch aus seinem Larvenaufenthalte, hohlen Weiden, alten Lohhaufen und dergleichen, nicht zum Vorschein.

Genau so ist es mit der Bienenpuppe, welche in Fig. 7 dargestellt ist. Sie ist aus ihrem wächsernen Hause herausgenommen, welches, gegen die allgemeine Regel bei den Insekten, sich die Larve nicht selbst gemacht hat, sondern welches ihr die Arbeitsbienen bauten und auch nachher mit einem Wachsdeckel verschlossen; als sich die Larve (Fig. 4 des vorigen Bildes) zur Verpuppung anschickte. Die auskriechende Biene bahnt sich aber nachher mit den starken Beißzangen ihres Maules selbst einen Weg aus der Wachszelle, um entweder zu arbeiten oder zu faullenzen oder Kinder zu erzeugen, je nachdem sie Arbeiterin, Drohne (Männchen) oder Königin ist.

Die kleine Heuschreckenlarve in Fig. 9 unseres vorigen Bildes siehst Du hier in Fig. 8 in eine größere Puppe verwandelt. Sie unterscheidet sich außerdem nur durch die kleinen Flügelansätze und, da es eine weibliche Puppe ist, durch die Legscheide am Ende ihres Leibes. Du erinnerst Dich, daß die Heuschrecken keine Verwandlung haben.

Das gilt auch von den Libellen, von denen Du in Fig. 9 die Puppe siehst, die zu der Larve Fig. 10 des vorigen Briefes gehört. Sie hat eben das sonderbare aus drei Gliedern bestehende Fangwerkzeug ausgestreckt, was ich dort erwähnte. Auch an ihr siehst Du die Ansätze der Flügel, die sie erst als vollkommene Libelle ganz entfalten darf, um sich aus dem Schlamme der Gräben und Teiche in die Lüste zu erheben.

Ich verlasse hier den Mummenschanz der Insektenwelt. Mein nächster Brief führt Dich unter dieses muntere Völkchen, nachdem ihnen das Zeichen zum Demaskiren gegeben war. Da giebt es gründlichere Überraschungen, als nach 12 Uhr auf einem Faschingsballe der Menschenkinder.




Blätter und Blüthen.

Was ist die Langeweile? Es giebt kleine Städte, in welchen jeder Fremde sogleich das Heimweh bekommt, selbst wenn er gar keine Heimath aufzuweisen hätte; es giebt Häuser, welche in- und auswendig mit Langeweile angestrichen sind; es giebt Lebensverhältnisse, die jeden frischen Morgen, den der Himmel schenkt, mit derselben narkotisch einduselnden Physiognomie angähnen; ja es giebt endlich Menschen, christliche Mitmenschen, die ihre Brüder unverholen todt zu langweilen drohen. In solchen Beziehungen und Umgebungen sollte man nie allzulang verweilen und ausdauern.

Wenig Dinge werden so oft genannt, ohne wirklich gekannt zu sein, als die Langeweile. Denn was ist sie eigentlich? So verdienen unzählige Sachen, über die wir hundertmal reden und reden hören, im Grunde viel sorgfältiger untersucht zu werden. Ein Mensch soll nie Langeweile haben! ruft uns die Moral, die Erziehung, die Lebensweisheit zu. Aber wie soll man das anfangen? Ist es doch gerade eine Hauptsache bei der echten Langeweile, daß wir keine Gewalt über sie besitzen: wir haben sie nicht, sie hat uns. Sie überfällt uns, wie eine Betäubung, wie ein Schlag auf das Organ der Denkkraft (am Vorderschädel), wie eine mohnduftende Schlummertrunkenheit.

Die Langeweile sucht uns häufiger in der Gesellschaft, als in der Einsamkeit auf. Selbst Kinder, die überhaupt mehr an der Langeweile – wie auch an Würmern – leiden, als Erwachsene, werden von ihr nicht verschont. Ein Lehrer, der seine Schüler nicht durch die Frische und Lebendigkeit seines Unterrichts fesselt, langweilt sie dadurch, daß er sie verhindert, etwas anderes zu denken oder zu treiben. Dumme, lügenhafte, prahlerische und verrückte Autoren können uns amusiren mit ihren Büchern, aber die, welche gern etwas Gutes sagten, und die Kraft und doch das Geschick nicht haben, es auszudrücken, langweilen uns: daher es immer gerathener ist, ein schlechter Schriftsteller zu sein, als ein mittelmäßiger.

Es giebt eine Langeweile in großen Gesellschaften und im Zwiegespräch. Jene ist erträglicher, als diese. Man kann zwar, ohne unhöflich zu sein, eine Gesellschaft von civilisirten Menschen, die aber weder etwas haben, noch geben, was uns irgendwie förderlich ist, nicht ohne weiteres verlassen; allein man kann sich doch durch eigne Gedanken, stille Selbstgespräche, Rückerinnerungen oder durch größere Rechnungen, die man im Kopfe ausführt, einigermaßen helfen, bis Alles überstanden ist.

Im Zwiegespräch ist es anders. Wenn uns z. B. Jemand in großem Eifer und mit vieler Energie weitläufig über eine Sache unterhält, die wir nicht verstehen, oder die nicht das geringste Interesse für uns hat, oder wenn Jemand etwas, was man in zwei Minuten sagen könnte, in einer guten Stunde ausdrückt, oder wenn ein Mensch anfängt, schmeichelhaft gegen sich selbst zu werden, sich mit allerlei schalkhaften Lobeserhebungen aufzieht und zuletzt unvermerkt in eine Art von Selbstbewunderung geräth, wobei er am Ende leise zu verstehen giebt, daß er dergleichen gar nicht hinter sich gesucht hätte, – in solchen Fällen pflegt man sich zu langweilen. Diejenigen, welche die angenehme Gewohnheit haben, permanent vor sich selber zu erstaunen, verbinden mit dieser Tugend leider gewöhnlich die Grausamkeit, ihr Opfer durch lange Qualen langsam zu Grunde zu richten, indem sie zu jeder Selbsträucherung so weit als möglich ausholen, damit man nämlich nichts merke. Wenn man aber schon bei den ersten zwei Worten einsieht, wo das Alles hinaus soll und ganz genau weiß, an welchem Ziel der Schmeichler, in einer halben Stunde etwa, sicher ankommen wird und zusehen muß, wie er fortwährend durch kleine Einschaltungen und Abschweifungen vergeblich seine und unsere Zeit verschwendet, um uns nebenbei von seiner Demuth und Bescheidenheit, ja der zu geringen (fehlerhaften) Eigenliebe zu überzeugen, – „man werfe ihm das oft genug vor, er könne aber nicht anders und am Ende sei es doch keine von den schlimmsten Untugenden;“ – so möchte man manchmal auf und davon laufen oder aus der Haut fahren, wenn dies überhaupt thunlich wäre.

Beklagenswerth ist der Mensch, der durch seine christlichen Mitbrüder oft und viel gelangweilt wird; denn die Langeweile ist eine Tyrannei, die uns nicht allein hindert frei zu sein – das wäre vielleicht das Geringste, sondern welche uns abhält, geistig zu leben, zu denken, als Menschen zu existiren; die uns banditenartig das Messer ihrer Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit an die Kehle des Geistes setzen, die uns würgen und stranguliren, daß unsere Seele nicht Athem holen kann. Die Langeweile ist eine Müdigkeit des ganzen innern Menschen, die uns, wie bei der Seekrankheit, auf Wiedergenesung und auf alle und jede Zukunft absolut verzichten läßt; sie ist eine fieberhafte, ungeduldige Krankheitsform, darin sich der Mensch nicht zu regen wagt; – sie ist das allmächtige Erbleichen und Hinsterben unseres Geistes, welches, wenn das Uebel chronisch wird, gewiß auch den Leib zu tödten die Macht besitzt. [296] Vergeltet nicht Böses mit Bösemspricht der Hund und handelt danach, wie es Menschen leider selten thun. Ein junger Pariser, seines Hundes überdrüssig, fuhr mit ihm auf die Seine und warf ihn hinein und vereitelte dessen Bemühungen, am Boote in die Höhe zu klimmen, immer leidenschaftlicher durch Stöße, da der Hund nun einmal ersaufen sollte. Wie er sich nun so durch die Lebensliebe den Hunden immer mehr in Leidenschaft bringen ließ, verlor er das Gleichgewicht und fiel in’s Wasser, wo er mit Stiefeln und Sporen jämmerlich ersoffen wäre, hätte ihn der Hund nicht gepackt und so lange über dem Wasser erhalten, bis Hülfe herbeikam.






Die Urwähler in Griechenland. Wie etwa ein neues griechisches Reich auf der breitesten Grundlage wirthschaften würde, spiegelt sich sehr schön in folgendem Vorfalle. Ein Grieche kehrt von Amerika nach Athen zurück und will freie Institutionen wenigstens im Kleinen ausführen. Proponirt also die Bildung eines literarischen Vereins, der seinen Präsidenten aus allgemeinem Wahlrecht hervorgehen lassen soll. Jeder bekommt, also für sein Stimmrecht ein Zettelchen, seinen Canditaten darauf zu schreiben. Und es geschah also. Aus der Wahlurne gingen nun aber gerade eben so viel Namen hervor, als Mitglieder da waren. Endlich kam’s heraus, daß sich Jeder selbst gewählt hatte. Jeder fühlte sich berufen, Präsident zu sein, sogar ein Barbier, und der vielleicht am Meisten.





Das englische Sonderlingshaus in Paris. Ein verdrehter Engländer in Paris hat sich im Quartier Tivoli ein Haus bauen lassen, das ganz rund ist und weder Thür noch Fenster nach Außen hat. Man kann blos auf einer Leiter über’s Dach hinein kommen, welche, wie eine Ziehbrücke auf und niedergelassen werden kann. Und der Mann hat zugleich Frau und Kinder. Inwendig ist blos ein Flur mit 18 Zimmern ringsum, deren Fenster alle nach Innen gehen. Dieses ist durch ein Glasdach gegen Wind und Wetter geschützt. Im Sommer stehen große Blumen-Pyramiden in dem Centrum, im Winter ein riesiger Ofen für alle Zimmer. Dieses von allen Seiten zugleich der Welt den Rücken zukehren mit Haus und Familie ist der wahre nationale Ausdruck des Engländers. Man lacht über das englische Haus in Paris und London, obgleich im letztern Orte jedes Haus dahin strebt, diese Abgeschlossenheit nach Außen zu erreichen. Es fehlt blos die Leiter über’s Dach und die runde Form, im Uebrigen ist Alles da. Ist doch der eigentliche Vollblut-Engländer höhern Stils persönlich zu der Welt ringsherum nur Rücken; in das Innere führt nicht einmal eine Leiter; auch stehen im Sommer weder Blumen, noch im Winter ein Ofen in ihm.






Ein Mittagsmahl bei den Kurden. Die Kurden sind auch ein türkischer Volksstamm um Aleppo in Syrien herum bis zum schwarzen Meere. Ein Engländer, der ein Jahr in der Türkei herumreiste und auch die Kurden besuchte, beschreibt seinen Mittagstisch bei ihnen so: „Zu Tische gingen wir in’s Außenzimmer, dessen eine Seite ganz offen war. Wir placirten uns auf eine Art von Fußbänke um einen metallenen Trog. Der Rand desselben war mit flachen, frisch gebackenen Kuchen bedeckt und in die Mitte wurde dieselbe Schüssel gesetzt, aus der wir gestern dasselbe gegessen, nämlich ein großes geröstetes (frei am Feuer gebratenes) Lamm, mit Reis, Mandeln und Pestachio-Nüssen gestopft. Nachdem wir uns Alle gewaschen, fing der Hausherr mit seinen mächtigen „fünfzackigen Gabeln“, die ihm an sehnige Arme gewachsen waren, an, ein Stück Fleisch nach dem andern abzureißen und es seinen Gästen höflich mit geballter Faust präsentirend; auch gab er unparteiisch jedesmal eine Hand voll (wörtlich zu nehmen) Gefülltes zu.

Die Schafe hier haben einen langen, dicken Schwanz von purem Fett, der als eine eben so große Delikatesse gilt, als bei uns der Ochsenschwanz. Mein Nachbar, der Pascha, that mir die Ehre an, alle Augenblicke ein Stück abzureißen, es mir zu bieten und sich dann die Finger abzulecken. In Ermangelung eines Präsentirtellers reichte er mir jedes Stückchen auf der flachen Hand, wofür ich natürlich jedesmal in Dankbarkeit ersterben mußte, um für keinen Barbaren zu gelten. Endlich ward diese Schüssel entfernt, und hereintrat auf drei steifen Beinen eine ungeheuere eiserne Pfanne, zwei Fuß im Durchmesser die über und über mit heißen Doppelrippchen gespickt war. In der Mitte schwamm der pure Talg, in welchen Alle gemeinschaftlich mit großem Eifer ihre Kuchen tauchten. Mein Appetit hatte nun für keine Delikatessen mehr Sinn, aber ach, noch ein ganzes junges Schaf erschien, in einer andern Manier zubereitet. Aber vergebens fuhr der freundliche Hausherr mit der ganzen Hand tief in das Gefüllte und hielt es mir rauchend, triefend und niederkleckend hin – ich hatte genug. – Aber dem Finale schenkte ich doch wieder Aufmerksamkeit, nicht den Gebirgen von Reis und Yaurt (eine Art Mehlspeise), sondern den weißen Maulbeeren, deren erfrischende Kühle dem fetten Lamme und dem noch fetteren Schwanze in meinem Magen sehr wohl that. Die Maulbeeren werden als Delikatessen weit her von Armenien nach Antiochien und Aleppo gebracht.“






Kosten des Diebstahls. Der Prediger des Correctionshauses in Preston (England) hat nachgewiesen, daß fünfzehn Taschendiebe dem englischen Publikum bisher zusammen 26,000 Pfund Sterling (etwa 480,000 Thaler) gekostet haben. Hätte man von diesen 180,000 Thalern nur ein einziges Tausend zu rechter Zeit an diese fünfzehn Köpfe und Finger, ehe sie sie lang machten, verwendet, wäre das Facit gewiß: Erspart 179,000 Thaler, Gewinn von fünfzehn Paar ehrlichen Händen 40,000 Thaler, abgesehen davon, daß die Moralität dieser Leute ein Kapital mit Zinsen geworden wäre.






„Der bevorstehende Kampf.“ Unter diesem Titel hat der fruchtbarste Prophetenschriftsteller und Kanzelredner, Dr. Cumming, in England ein Buch über Verlauf und Ende des jetzigen russo-türkischen Krieges geschrieben. Seine Prophezeiungen sind in folgende Sätze zusammengezogen: 1) Rußland nimmt der Türkei, einen Theil des alten assyrisch-macedonischen Reiches und wird „König des Nordens.“ 2) Es stürzt die türkische Macht, erobert Constantinopel und wird „der Drache“. 3) Es unterjocht die Völker des Continents und wird „Gog und Magog“. Das Papstthum erliegt unter der griechischen Kirche. Napoleon stirbt den Tod der Usurpatoren. Oesterreich hat das Schicksal des übrigen Continents. Rußland herrscht über Europa als „Gog und Magog“. Später versucht Nikolaus Syrien und Indien zu erobern, geht aber mit seinem ganzen Heere im Thale von Josaphat bei Jerusalem unter. Dr. Cumming aber und sein Verleger kommen durch die neugierige Dummheit den Volkes, welche diese englischen Fürst-Nordhäuser’schen „Keine Hämorrhoiden mehr“ und der „Tod heilbar“ und „10,000 Kunststücke, sich in Gesellschaften beliebt zu machen“ u. s. w. sehr in die Höhe, ehe Rußland untergeht im Thale Josaphat. Dr. Cumming ist ein bedeutendes, hochkirchliches Kirchenlicht, das freilich nur leuchtet, weil’s um ihn her so dunkel ist, und so hell flackert, weil ihm das Volk als Talg dient.






Thatsachen des menschlischen Lebens. Die etwa tausend Millionen Menschen der Erde (im Durchschnitt Hälfte und „bessere Hälfte“) sprechen 3064 jetzt bekannte Sprachen, in welchen mehr als 1100 Religionen gepredigt werden. Das Durchschnittsalter ist 33⅓ Jahre, wie Buchhändlerrabatte in Procenten. Ein Viertel der Gebornen stirbt vor dem siebenten, die Hälfte vor dem siebenzehnten. Von hundert Personen kommen blos sechs über sechzig, und unter je tausend blos eine bis in’s hundertste Jahr. Unter fünfhundert wird nur Einer achtzig Jahre alt. Von den tausend Millionen Menschen der Erde sterben über 330,000,000 Millionen jährlich, über 91,000 täglich, 3730 jede Stunde, 60 jede Minute, also einer in jeder Secunde. Diese Verluste werden im Durchschnitt eben nur ersetzt durch eben so starke Zufuhr. Wo die Geburten überwiegen, wird das allgemeine Gleichgewicht anderswo durch mehr Sterben ausgeglichen. Große Menschen leben länger, als kurze. Weibliche Personen haben bis zum fünfzigsten Jahre mehr „Lebenskraft“, als die Männer, nachher geringere. Die Heirathen verhalten sich zu Junggesellen und weiblichen Personen ohne Ehe wie 75 zu 1000. Die meisten Heirathen fallen nach den Aequinoctien zwischen Juni und December. Kinder des Frühlings sind lebenskräftiger als die anderer Jahreszeiten. Geburt und Tod lieben mehr die Nacht als den Tag. Ein Viertel der männlichen Menschen ist fähig, Waffen zu tragen, aber nicht 1/1000 natürlich geneigt, sich mit Andern zu verbinden, um Andere todtzumachen: Krieg und Mord sind blos künstlich-sociale Neigungen. Je civilisirter eine Gesellschaft, eine Gegend, ein Land, desto mehr Lebenskraft, Lebensdauer und Gesundheit. Die Degeneration und Abschwächung des Menschengeschlechts durch Bildung ist eine Fabel. Je mehr Reinlichkeit, Naturkenntniß, Industrie, Cultur und Luxus vorgeschritten, desto weniger Krankheit, desto längeres Leben. Namentlich sind Seuchen, Pestilenzen und Cholera ganz ohne Macht, wo reine Luft, gebildete Lebensart, gute Bewässerung und Straßenreinigung herrschen. Noch im Mittelalter, wie jetzt noch im Oriente und unter Wilden, rafften Seuchen oft die Hälfte der Bevölkerung weg.






Ueberall Gold. An Beweisen, daß Gold sich über die ganze Erde zerstreut vorfindet, fehlt es nicht, und einen der interessantesten hat der an der Münze zu Paris angestellte Chemiker Sage geführt. Die Bäume, Sträuche und vorzüglich der Weinstock ziehen aus dem Boden nährende Säfte an sich, welche in den Stamm und die Rinde übergehen. Verbrennt man das Holz der Rebe, bis zuletzt nur ein kleines Häufchen Asche übrig bleibt, und behandelt man dann eine hinreichende Menge solcher Asche durch chemische Reagentien, so erhält man eine kleine Quantität Gold. Diesen Gold war mithin in dem Boden vorhanden, welcher die Pflanze nährte. Professor Sage hatte durch dieses Verfahren doch so viel Gold gewonnen, daß er fünf Zwanzigfrankenstücke prägen lassen konnte. Zu bemerken ist, daß dieses schöne wissenschaftliche Experiment als industrielle Operation von durchaus keinem Vortheil ist, denn alle Kosten der Gewinnung gerechnet, kam jedes der Goldstücke auf circa 420 Franken zu stehen. Die Kosten überstiegen mithin um das vier bis fünffache den gewonnenen Werth.






Englische Gewissenhaftigkeit. Wie weit die Engländer die Achtung vor dem Buchstaben des Gesetzes treiben, ist bekannt und hat sich neulich wieder in einem an das Komische streifenden Falle bewährt. Ein reicher französischer Emigrant hatte eine bedeutende Summe in der Bank von England niedergelegt, mit der ausdrücklichen Bestimmung, daß sie nur ihm zu eigenen Händen wieder ausgezahlt werden dürfe. Darüber starb der Franzose und seine Erben glaubten, sich an seiner Stelle nur auf der Bank einfinden zu brauchen, um die Auszahlung des niedergelegten Geldes zu bewirken. Allein die Bank war trotz des vollständig beglaubigten Todtenscheins anderer Meinung und hielt sich von der dem Verstorbenen gegenüber eingangenen Verpflichtung nicht für entbunden. Die Erben riefen nun die Hülfe der Gerichte an, die jedoch, nach dem Wortlaut gehend, ebenfalls der Ansicht der Bank beitraten und, um diese Angelegenheit zu schlichten, befahlen, daß der Todte wieder ausgegraben und auf die Bank geschafft werde, wo auch auf seinem Sarge die Summe ausgezahlt wurde, die er dergestalt wieder in eigener Person zurückverlangte.