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Die Gartenlaube (1855)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 29. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 12½ Ngr. zu beziehen.

Elsje.
Eine niederländische Geschichte von W. O. v. Horn.
(Fortsetzung.)

Piet und Elsje lebten glückliche Tage, aber dennoch trübte das Leid der unglücklichen, von Allen verehrten Frau solche Stunden und Tage.

„Ist denn gar keine Hoffnung, daß der arme Gefangene je begnadigt, je erlöst würde aus jener trostlosen Lage? Ein so gelehrter, verdienstvoller, frommer Herr!“ sagte er eines Tages, da er mit Elsje allein im Schatten eines Baumes im Garten saß. Es war ein Sonntag, wo er ruhte von den Anstrengungen der Woche.

„Ich wüßte nicht im Entferntesten, wie es zugehen solle. Mevrouw hat mir das selbst gesagt, und darum ist sie so gebeugt,“ erwiederte Elsje.

„Ist er denn mit Recht, ob einer Schuld verdammt?“ fragte Piet wieder.

„Nein, nein,“ sagte Elsje. „Sein Leben ist makellos, aber er ist ein Remonstrant, wie Du weißt, und das ist seine Schuld, daß er in seinen Glaubensgrundsätzen mit den Dortrechtern nicht stimmt.“

„Das allein?“ rief Piet.

„Ja, das allein, und es reicht hin, den verdammungssüchtigen Menschen die Mittel zu geben, weil sie die Gewalt haben, ihn zeitlebens einzukerkern, und er kann von Glück sagen, daß er nicht das Leben verlor, wie Oldenbarneveldt!“

„Das wäre noch sauberer gewesen!“ rief er aus. „Heute noch hat Dein Vater das Wort des Heilandes gelesen: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet, verdammet nicht, damit ihr nicht verdammet werdet!“

„Hast Du gesehen, Piet, wie Mevrouw warnte?“

„Ich hab’s wohl gesehen; aber darum sollt’ ich meinen, es wäre keine Sünde, ihn zu befreien!“ sagte Piet etwas leiser, aber mit großer Bestimmtheit.

Das Mädchen erfaßte heftig seinen Arm. „Piet,“ sagte sie, „was redest Du da?“

„Was ich schon mehr als einmal erwogen habe,“ war seine richtige Antwort.

„Würdest Du die Hand dazu bieten?“

„Lieber heute als Morgen! Nur aber in der Art und Weise komme ich nicht in’s Klare.“

„Hast Du erwogen, daß Du, es mag glücken oder mißlingen, Dein Glück, Dein Leben auf das Spiel setzest?“

„Ich hab’ das auch bedacht,“ sagte Piet. „Im schlimmsten Falle müßte ich über die Grenze fliehen und in Brabant ein Unterkommen suchen; aber was dann mit meiner Mutter? Wüßte man, daß so ein Sturm vorüberginge, so könnte Dein Vater sie zu sich nehmen; aber freilich – Elsje, wie stände es mit uns?“

Elsje erröthete und hielt ihr Tuch vor das Gesicht.

„Sei stille, Piet,“ sagte sie dann nach einer Weile. „Du dürftest Deine Hand nicht im Spiele haben. Ein Weib bestrafen sie nicht!“ –

„Also Du, Du wolltest es wagen?“ – fragte er erstaunt.

„Ja, Piet, ja!“ sagte sie mit einer Ruhe und Bestimmtheit, die es klar erwies, wie der Gedanke ihre Seele erfüllte.

Piet fuhr ordentlich zusammen als sie so redete. Er würde um nähere Angaben in sie gedrungen sein, wenn nicht eine der Schwestern sie zu Vrouw de Groot gerufen hätte. Er blieb, in seinen Gedanken vertieft, an der Stelle sitzen, weil er hoffte, daß sie wieder käme. Sie kam nicht. So viel aber glaubte er, sie zu kennen, daß ein durchdachter Plan in ihrer Seele ruhte.

Am andern Morgen wurde eine Kiste, dieselbe, die immer den Weg nach Löwenstein machte und zurück, nach dem Schlosse gefahren. Piet’s scharfem Auge entging es nicht, daß eine große Zahl runder Löcher sowohl in dem Deckel, als in den Seitenwänden der Kiste war, die etwa die Größe hatten, wie sie eine Flintenkugel hervorbringen würde. Noch mehr fiel es ihm auf, daß Elsje selbst die Kiste hinüber begleitete und auch ohne Anstand in das Schloß gelassen wurde. Ein Soldat aber führte Piet und das Mädchen bis in das Vorgemach. Die Kiste wurde sodann von Herrn de Groot ausgepackt, aber in seinem Gemache, und die Bücher, die er nach Leyden zurücksendete, hinein gethan, die Kiste geschlossen und von Piet und Elsje wieder in das Boot getragen.

Als sie auf dem Wasser waren, sagte Piet zu Elsje: „Zwei Dinge hätten den Soldaten auffallen können, aber sie haben es nicht beobachtet.“

Elsje erröthete und gerieth in eine sichtliche Verlegenheit. „Was denn?“ fragte sie.

„Daß die vielen Löcher in der Kiste sind, die ich früher nie bemerkte, und daß Du mitgingst. Aufmerksam und wachsam sind sie nicht! Ich hätte Verdacht geschöpft, wenn ich auch noch nicht zur Klarheit gekommen bin,“ sagte Piet und sah sie scharf an.

Sie wurde noch verlegener.

„Piet, um Gotteswillen bitte ich Dich, schweige über die Sache. Du sollst Alles wissen. Wir bedürfen Deiner. Frau de Groot wird für uns sorgen, wenn es gelingt. Heute Abend sollst Du Alles wissen. Gedulde Dich. Frau de Groot will Dich sprechen. [380] Komm’ sobald es zu dunkeln beginnt und die Kinder drüben in Deinem Hause zur Ruhe gegangen sind!“

Piet versprach es. Er schwieg, und auch Elsje versank in ein brütendes Nachdenken. Sie landeten endlich in Gorkum, und die Kiste wurde zu Daatselaar getragen, wie es immer geschehen war.

Die beiden jungen Leute gingen dann neben einander ihren Wohnungen zu, aber ganz anders, wie sonst. Stille und schweigsam schritten sie neben einander her, und nur selten wechselten sie ein freundlich Wort. Beider Seelen beschäftigten schwere Gedanken.



VI.

Mehrere Stunden hatte der Gärtner, Elsje und Piet bei Mevrouw de Groot zugebracht in lebhaftem Gespräche, welches Elsje’s Mutter in der Vorderstube vor Störung bewachte. Endlich, gegen zehn Uhr des Abends, gingen sie aus einander. Alle waren ernst, und es schien der Ernst der Sache schwer auf ihren Herzen zu liegen.

Einige Tage später sah man Piet van Halver in einem eifrigen Gespräche mit einem alten Schiffer, der auf einem Holze am Hafen saß.

„Baas Voos,“ sagte er zu ihm, „könnet Ihr mir nicht diese Woche einmal Euer Boot leihen, um eine Kiste von Bücher nach Löwenstein zu fahren? Ich will Euch die Hälfte des Fährlohns geben.“

„Was fährst Du nur so oft Bücher dahin?“ sagte der Alte. „Wer ist denn der Bücherwurm in dem Neste? Der Commandant doch nicht? Der hat eine blaurothe Nase und scheint lieber französischen Rothwein zu trinken als in Büchern zu lesen.“

„Nein,“ sagte Piet; „es ist der gefangene Rathspensionär Hugo de Groot, der hochgelahrte Herr, dem ich sie bringe.“

„Ach, der eifrige Remonstrant?“ sagte der alte Voos. „Ja, für den Ehrenmann sollst Du es haben; aber was ist denn an dem Deinigen passirt?“

„Ich muß es ausbessern und frisch verfändeln,“ sagte Piet.

„Nun, das ist früh!“ bemerkte der Schiffer. „Hast’s doch selbst gebaut?.“

„Freilich, aber, wisset Ihr, es ist doch Lehrlingsarbeit!“

Der Schiffer nickte bejahend, und Piet ging nach seinem Boote, zog es auf’s Land und klapperte stundenlang daran herum als hätte er viel daran zu machen. Dann, als er endlich fertig war, brachte er es an die äußerste Spitze des Werftes vor Anker, trug Mast und Segel hinein und legte in die Kiste Brot und geräuchertes Fleisch. Als dies geschehen war, kam er zu Voos und sagte ihm, daß er Morgen gegen Abend hinüberfahren würde.

Am folgenden Tage, ziemlich spät gegen Abend lag bei dem günstigsten Winde, der frisch blies, das Boot des Baas Voos segelfertig im Hafen und Piet saß in demselben, aber in einer seltsamen Bewegung. Seine Augen blickten scharf nach dem Thore. Endlich sah er den alten van Houwening, Elsje und die beiden Buben die Bücherkiste bringen. Sie stellten sie vorsichtig in das Boot, Elsje sprang hinein und einer der Knaben. Sie faßten die Riemen, und pfeilschnell schoß das Boot vor dem Winde dahin, der das Segel lustig füllte. An dem Kasten hing diesmal ein Schloß.

Elsje betete inbrünstig, während sie den Riemen im Takte hob und senkte. Manchmal lauschte sie gegen die Kiste, was dem Knaben lächerlich vorkam.

„Man meint, da in der Kiste wär’ eine Nachtigall, auf deren Gesang Du horchtest? Ich glaub’, das „„Meisje““ ist geckig!“ – sagte er, zu Piet gewendet.

„Laß ihr den Spaß!“ war dessen kurze Antwort. „Heb nur den Riemen flink!“

In einer außerordentlich kurzen Zeit legte das Boot vor Löwenstein an.

Ein Soldat, den Piet wohl kannte, kam auf seinen Ruf, um Hülfe zu leisten.

„Schon wieder Bücher?“ fragte der Soldat. „Was nur der hartköpfige Arminianer mit all’ dem Quark treibt? – Der muß ein Erzbücherwurm sein! Gestern saß er noch um ein Uhr beim Lichte. Ich war auf der Wache und sah’s.“

„Es giebt allerlei Narren,“ sagte Elsje, gezwungen lachend, „auch Büchernarren. Man muß halt Jedem seine Schellenkappe lassen!“

„Da hast Du Recht, Du lieblich „„Meisje,““ sagte der Soldat. „Ich meines Orts mag dem seine nicht aufsetzen!“

„Ich auch nicht!“ sagte lachend Piet, und die Kiste war mit aller Vorsicht auf“s Ufer gesetzt. Dann nahmen sie sie auf und trugen sie hinauf. Herr de Groot kam ihnen entgegen. Er sah bleich und angegriffen aus; riß Elsje den Schlüssel aus der Hand und eilte, nachdem sie sich schnell entfernt, in das Gemach, das er hinter sich schloß. Alle Viere gingen nun in den Hof und setzten sich in das Boot, Elsje’s Augen waren starr nach einem Fenster gerichtet. Sie sah bleich, wie eine Leiche aus und zitterte wie Espenlaub im Winde. Vielleicht zehn Minuten mochte sie so da gesessen haben, da sah man das Fenster, welches nach dem Rheine ging, sich öffnen. Es blieb eine Weile offen, dann wurde es wieder geschlossen.

„Gottlob!“ sagte das Mädchen leise. Die Farbe ihrer Wangen kehrte zurück und sie nickte Piet, der sie stets im Auge hatte, während er mit dem Soldaten lustig plauderte, lächelnd zu.

„Wenn der Bücherwurm da droben nur fortmacht,“ sagte Piet sich zu Elsje wendend. „Der wird uns eine schöne Last in den Kasten packen. Das letztemal war er viel schwerer als heute, nämlich als ich ihn brachte, denn ich nahm ihn ganz leer und federleicht zurück. Er mag leicht ein anderthalb Centner Bücher da droben haben!“

„Wir sind ja zu Vier,“ tröstete ihn der Soldat. „Da werden wir ja schon den Kasten fortbringen.“

Elsje sah wieder unverrückt nach dem Fenster und auch Piet warf unbemerkt manchen Blick hinauf. Plötzlich hing ein weißes Tuch zu dem Fenster heraus.

„Weißt Du was, Piet,“ sagte sie jetzt zu diesem, „mich friert’s. Der Abendwind bläst scharf, ich will einmal hinaufgehen und mahnen – oder wollt Ihr es thun?“ fragte sie den Soldaten.

„Meiner Treu,“ rief der Soldat, „der ganze Remonstrant ist mir nicht so viel werth, daß ich die Treppen noch einmal mehr als nöthig ist, steige! Mein Steuvertje, das mir Piet für einen Genever giebt, wird mir beim Heruntertragen sauer genug. Geh’ Du nur, Kind; Du bist leichter auf den Ständern!“

„Man hört doch gleich, daß Dein Vater ein Förster ist, Lips,“ sagte Piet lachend. Der Soldat lächelte auch, und in diesem Augenblicke erschien Elsje am Fenster und winkte.

„Siehst Du, Lips, das Mädchen winkt! Wir sollen die Kiste holen!“

„Meiner Treu!“ war des Soldaten Antwort, als auch er hinauf geblickt hatte.

Sie gingen.

Elsje stand bei der bereits abgeschlossenen Kiste im Vorgemach. Wer sie genauer angesehen hätte, der hätte die große innere Aufregung wahrnehmen müssen, in welcher sie sich befand.

Zum Glück faßte Piet sogleich an, und dadurch war der Soldat von jeglicher Beobachtung abgehalten.

„Nur langsam und stät,“ bat Elsje. „Die Bücher rollen, wenn Ihr die Kiste vornen tiefer haltet als Niel’s und ich hinten, alle Euch zu, und dann könnt Ihr sie ja nicht bewältigen.“

„Brrrr!“ rief der Soldat, „die hat ein anderes Gewicht, als da wir sie herauf trugen! Man meint, es wäre lauter Blei!“

Elsje lachte und sagte. „Die arminianischen Bücher sind eben recht schwer!“

„Ich glaub’, meiner Treu,“ sagte ächzend unter der Last der Soldat, „der ganze Arminius steckt lebendig darin!“

Elsje zitterte, daß sie fast die Kiste nicht mehr halten konnte.

„Halt doch!“ rief der stämmige Niel’s. Ich muß Alles allein heben! Ein Bub’ ist mir doch lieber zum Heben und Tragen, als sechs solcher „„Meisje’s!““

„Das Wollen ist schon da, aber das Vollbringen nicht!“ sagte der Soldat mit Salbung und blickte dem schönen Mädchen in’s Gesicht, um zu sehen, welche Wirkung seine salbungsvolle Bemerkung gemacht.

„Ich halte mit Anstrengung aller Kräfte!“ sagte Elsje.

„Glaub’s,“ rief der Soldat, „denn sie ist leichenblaß!“

Unter solchen, mitunter durch lange Zwischenräume unterbrochenen Reden erreichten sie den Hof. Gruppen von Soldaten lungerten [381] umher und hatten nicht übel Lust, mit dem bildhübschen Mädchen zu kurzweilen.

„Helft Ihr tragen, statt mattflügelicher Späße,“ rief ihnen Lips zu, „das wäre besser!“

„Wollen Deinen Verdienst nicht verkürzen!“ höhnten jene zurück. „Wenn aber ein Kuß von dem Mädchen Dein Lohn ist, so helfen wir Alle gegen Halbpart!“

„Bah! Nun brauchen wir Euch nicht,“ rief Lips zurück, und sie setzten eben den Vordertheil des Kastens auf den Rand des Bootes, wo er hart aufstieß.

„Sachte! Sachte!“ ries Elsje. „Bricht uns der alte Kasten, so fallen alle die kostbaren Bücher in’s Wasser! Dann will ich’s nicht theilen!“

Wieder hoben sie nun sanft, und nun stand er ruhig auf dem Boden des Bootes, der Länge des Kiels nach.

„Das war ein Stück Arbeit,“ sagte Lips, der Soldat, indem er sich den Schweiß trocknete, „das mehr als ein „Steuverkje“ werth war. Ich hoffe, Piet, Du läßt Dich nicht lumpen!“

„Nein, das thu ich auch nicht!“ sagte Piet und reichte ihm Münze. „Nun heb’ aber auch langsam das Boot ab, bis es flott ist.“

„Danke!“ rief fröhlich über die reichliche Gabe der Soldat, und faßte das Boot an.

Carajo! Da muß man Spanisch fluchen!“ rief er aus. „Man meint, ganz Löwenstein wär’ im Boote!“ – Endlich war es flott.

„Weißt Du was, Piet,“ rief er ihm zu, „wenn wir uns in die Fracht zu theilen hätten, so wüßt ich schon, was ich mir wählte!“

„Kämst zu spät!“ lachte Piet, und das Boot rang mit den hochgehenden Wellen. Piet war indeß ein Pilote, der sich darauf verstand, Wind und Wellen zu beherrschen. Es blieb ihm jetzt, wo der „steife West“, wie der Schiffer sagt, ihm geradezu entgegen wehte, nichts übrig, als die „Brassen“ wirken zu lassen und zu laviren. An ein Helfen mit den Riemen wurde nicht gedacht, denn es wäre fruchtlos gewesen.

Elsje winkte jetzt mit dem Tuche. Es war ein Zeichen, das sie gegen das Fenster oben im Schlosse gab, und das alsogleich verstanden wurde, denn man sah das Fenster weit sich öffnen, wieder sich schließen und das drei Mal wiederholen. Lips, der Soldat, meinte aber, es gälte ihm, und freudvoll warf er die Lederkappe in die Höhe und rief: „Gute Reis’, Du liebes Meisje!“

Elsje und Piet war es gerade nicht zum Lachen, aber über beider Antlitz, die sich gerade in diesem Augenblicke bedeutsam ansahen, flog denn doch ein siegesgewisses Lächeln, das allerdings nicht ohne Spott über die starke Täuschung des Soldaten war.

Je näher indessen der Abend heranrückte, desto heftiger der Westwind seine Flügel hob.

„Der West hat eine gute Lunge,“ sagte Piet. „Ging’s jetzt kurzweg abwärts, bah! dann wär’s eine Lust, denn mein Boot, das ohnehin mit dem Kiele anders schneidet, weil es länger und schmäler ist als dies tonnenartige Ungethüm von Anno I, würde fünf in einer Stunde bei solchem Winde zurücklegen und bald außer Sicht von Gorkum und Löwenstein sein! ’S giebt eine schlimme Fahrt! Wenn nur Alles in Ordnung ist!“

„Das ist’s!“ sagte Elsje.

„Nun, so müßt Ihr alle Geduld haben!“ entgegnete sehr laut und das „Ihr“ sehr scharf betonend, Piet.

Aber trotz der „Brassen,“ trotz des Lavirens rückte das schlecht gebaute Boot nur langsam vor.

Schon war längst die Sonne zur Rüste gegangen. Das Werft war von Arbeitern leer; im Hafen von Gorkum war es auch stille. Droben aber am Himmel jagte der Wind dunkle Wolken in großen Massen hin, die sich im Osten wie ein gewaltiger Wall zusammenballten, und dieser Wall rückte immer weiter gegen den Zenith vor. Der Wind wurde heftiger, fast orkanartig, und die Wellen des Stromes thürmten sich und brachen ihre weißen Kämme, daß es fast das Ansehen der See hatte. Elsje bebte vor Angst. Ihre Blicke hingen an dem ernsten Gesichte Piet’s, der jetzt nur Sinn für die Ausübung seiner Pflicht zu haben schien.

„Ist’s gefährlich, Piet?“ fragte sie halblaut.

Wie auch der Wind pfiff, er verstand sie doch.

„Kind, theures Elsje,“ sagte er, „Gefahr ist keine, wenn uns der Wind das alte Segel ganz läßt!“

Eine glückliche Wendung, die Piet in diesem Augenblicke mit dem Steuerruder machte. ließ einen vollen Athemstoß des Windes in das gebauchte Segel, eine Welle hob das Boot rasch und ließ es in weiter Entfernung den Rücken einer zweiten besteigen, die es dem Lande um ein Erstaunliches näher brachte.

„So!“ sagte Piet selbstbefriedigt. „Das war ein gelungenes Manöver! Noch eins so, und Dein Vater und Bruder dort auf dem Hafendamme brauchen nicht mehr so ängstlich nach uns auszuschauen!“

Elsje blickte dorthin und erkannte nun die genannten Personen auch.

Piet gelang das Manöver noch einigemal, das er eben mit Glück und Geschick vollendet hatte, und nach Verlauf von etwa funfzehn Minuten legte er am Ufer an.

Van Houwening hatte eine Bahre mit Tragriemen. Die Ausladung des Kastens ging ruhig, aber schnell vor sich. Piet zahlte dem herbeigekommenen Vermieter des Bootes seinen Lohn, übergab ihm das Boot und der Kasten wurde nach Jakob Daatselaar’s Hause gebracht, wohin Elsje voran eilte.

Kobes Daatselaar war allein mit Elsje im Gemache als sie den Kasten rasch öffnete.

Daatselaar stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als er in dem Kasten eine zusammengekauerte, todtbleiche Menschengestalt liegen sah; denn er meinte, es sei eine Leiche.

„Stille, um Gotteswillen!“ rief Elsje, reichte dem Manne eine Hand und mühsam erhob sich – Hugo de Groot.

Daatselaar stand sprachlos vor Schrecken dabei als Herr de Groot seine Glieder dehnte und reckte, um in den gehörigen Gebrauch derselben sich wieder zu versetzen.

„Daatselaar,“ sagte er, „ich habe mich vertrauensvoll in Eure Hände gegeben. Ihr werdet nicht weniger großmüthig sein als dieses Mädchen und ihre Angehörigen und mein treffliches Weib! Helft mir nun, ich bitte Euch, weiter!“

„In welche Gefahr setzet Ihr mich!“ rief ganz außer sich Daatselaar. „Ich kann nicht mich und meine Familie Euch zum Opfer bringen! Muthet es mir nicht zu!“

Elsje war hinaus geeilt. Sie hatte schnell der Frau des Kobes Daatselaar die Rettung des Gefangenen erzählt und sie angefleht, daß sie helfe, wo ihr Mann feig es verweigere.

Frau Daatselaar war ein hochherziges Weib. Sie sah ihren Bruder an, der dabei stand und ein Maurer war.

„Wie ist’s Claas?“ fragte sie. „Willst auch Du durch feiges Weigern die Schuld eines Menschenlebens auf Dich nehmen?“

„Blexem! Nein!“ rief dieser. „Da muß geholfen werden und schnell! Wohin soll der Mann?“

„Nach einem Boote am Hafenende!“ sagte fast atemlos Elsje.

„Ist er groß?“ fragte der Maurer.

„Er ist genau von Eurer Statur!“ erwiederte das Mädchen.

„So wart’ einen Augenblick, Elsje!“ rief er, sprang die Treppe hinauf und kam bald mit einem Bündel zurück.

Er schob die beiden Frauen zur Seite, trat in die Stube, warf das Bündel hin und sagte: „Geh’ in die Küche, Kobes, Deine Frau erwartet Dich!“

Daatselaar, froh, sich frei zu sehen, eilte in die Küche, wo ihn eine Strafpredigt seiner Frau empfing, die gesalzt und gepfeffert war.

Da die Frau einen gewichtigen Pantoffel im Hause übte, so schwieg er und setzte sich zum Herde, wo das Feuer zur Abendsuppe glomm. Elsje stand mit pochendem Herzen und gefaltenen Händen in der Nähe der Thüre, welche in den Hof des Hauses führte. Ihre Seele betete brünstig für die theure Frau, die in des Gatten Zelle zu Löwenstein war und für die glückliche Rettung des Gatten, für den sie sich so heldenmüthig hingegeben.

Noch war keine lange Zeit verlaufen, da traten aus der Stube zwei Männer in fast gleicher Tracht. Es war der Maurer und de Groot. Dieser trug ein grobes altes Frieswamms, Hosen von gleichem Stoffe, eine Schürze von blauem Linnen, wie sie die Maurer tragen, eine alte Mütze und Winkelmaß und Kelle in der einen, den Maurerhammer in der andern Hand. Niemand würde ihn so erkannt haben.

Hugo de Groot sagte zu Daatselaar: „Ich zürne Euch nicht! Gott lohn’s!“ flüsterte er seiner Frau zu, und zu Elsje tretend, sagte er: „Kind, Kind, ich kann Dir’s nie lohnen, aber der Segen von Oben wird Dich begleiten! Dank, Dank! – Grüße Sie! Gott schütze uns Alle!“

Dann zog ihn der Maurer schnell zur Thüre hinaus.


[382]
VII.

Das Boot Piet’s lag fest an der Stelle, wo er es angekettet. Er selbst saß darin und warf besorgte Blicke nach der Stadt. Ein vollgepackter Schließkorb stand im Boote, den Elsje’s jüngste Schwester gebracht und ein warmer, alter Friesrock für de Groot, vom Gärtner gesendet. Piet war ebenfalls warm gekleidet und hatte den Südwester in die Stirne und den Nacken gedrückt. Der Mast stand aufrecht, aber das Segel war noch gerefft.

Der Abend sank mehr und mehr herab. Der Wind hatte noch seine volle Stärke und Richtung beibehalten.

„Es ist ein Wagniß, jetzt das Segel zu entreffen,“ sagte Piet zu sich; „aber ich kenne jede handbreit Wassers und um neun Uhr geht der Vollmond auf. Es einzureffen ist immer noch Zeit. Einstweilen entfalt’ ich’s. Dann geht’s rasch dahin. Käme er nur! Es wird doch nichts vorgefallen sein?“ – In diesem Augenblick sah er zwei Männer auf das Boot zukommen. Einer sprang hinein. Der andere wandte sich.

„Gott geleite Euch!“ rief er in’s Boot, und ging, indem er das Maurergeräthe ergriff.

„De Groot?“ fragte halblaut Piet.

„Ja! Fort, in Gottes Namen!“ erwiederte der andere, und in demselben Augenblicke war das Boot in der Fluth, das Segel gefüllt und es flog schnell wie ein Möve über die hochgehende Fluth. Gorkum verschwand.

Löwenstein erschien, und oben im einsamen Stüblein sah man den Schein der Lampe, bei dem der Commandant sagte: „Nun hat er neue Nahrung und studirt wieder die halbe Nacht!“

Der Soldat setzte den Thee im Vorzimmer auf den Tisch de Groot’s, klopfte, wie er es gewohnt war, leise an die Thüre und entfernte sich, indem er die Vorderthüre mit lautem Geräusche schloß.

Während sich das in Löwenstein zutrug und das Boot wie ein Pfeil dahin schoß, immer weiter hinaus aus dem Bereiche der Gefahr, lagen dort im Gärtnerhause und droben auf Löwenstein zwei Frauen auf ihren Knien und beteten für ein glückliches Gelingen.

Die Nacht verging der edlen Frau Maria de Groot in der Zelle ihres Gatten schlaflos. Erst am Morgen sank sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie der Soldat, der das Frühstück brachte, weckte.

(Schluß folgt.)




Album der Poesien.
Joseph Freiherr von Eichendorff.

Von den Engeln und Störchen.

Im Frühling auf grünem Hügel
Da saßen viel Engelein,
Die putzten sich ihre Flügel
Und spielten im Sonnenschein.

5
Da kamen Störche gezogen,

Und jeder sich eines nahm,
Und ist damit fortgeflogen,
Bis daß er zu Menschen kam.

[383]

Und wo er anklopft’ bescheiden

10
Der kluge Adebar,

Da war das Haus voller Freuden –
So geht es noch alle Jahr.

[384]

Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.

(Schluß.)

Am äußersten Ende der langen Halle befindet sich eine weite Gitterthür, welche auf einen kleinen Hof führt, der rings von hohen Gebäuden mit Säulengängen umgeben ist. Hierher werden die schlimmsten Kranken der Anstalt gebracht, und wird es als eine Art Strafe für Ungehorsam betrachtet, hier eingesperrt zu werden. Daselbst mochten sich zur Zeit vielleicht zehn Patienten befinden, von denen einige ein Buch vor das Gesicht hielten, als ob sie läsen, dabei marschirten sie aber in vollem Sturmschritt auf und nieder. Einer dieser Abtheilung bildet sich ein, Lord Byron zu sein, und in der That, wenn man durch Nachahmung seines Anzuges und äußerer Manieren ein Byron sein könnte, so wäre ihm dies auf das Vollständigste gelungen; denn „wie er räuspert und wie er spuckt, hat er ihm glücklich abgeguckt“, und da der große Barde bekanntlich schlecht zu Fuße war, so bildet sich der Unglückliche ein, lahm zu sein.

Wir gingen von hier in die lange Halle zurück und gelangten durch einen offenen Eingang in einen Seitenflügel, wo sich ein Billard befand, auf dem gerade einige Patienten spielten, und wir haben in unserm ganzen Leben keine bessern Doublés, angesagte Quadroublés und feine Schnitte gesehen als hier.

In einem andern Zimmer befindet sich eine Bibliothek, zur freien Verfügung der Patienten. Wir nahmen einige Bücher von ihren Ständen. Die Mehrzahl derselben sind religiösen Inhalts. Doch befinden sich da ebenfalls die englischen Classiker von Shakespeare bis auf Moore und Charles Dickens; eine reiche Auswahl von Reisebeschreibungen und Geschichtswerken, von englischen Novellen und anderen literarischen Erzeugnissen; aber am Meisten wird die illustrirte „London News“ und „Punch“ verlangt, von denen mehrere Exemplare vorhanden sind. Hinter dem Bibliothekzimmer befinden sich noch einige Werkstätten, wo mehrere Patienten als Schneider, Schuhmacher, Tapezierer, Fußdeckenmacher, Tischler u. s. w. beschäftigt sind. Es dürfte nicht unangemessen sein, hier die Erfahrung des Dr. Hood beizufügen, welcher auf das Ausdrücklichste erklärt, daß man mit Bezug auf die moralische Leitung des Geisteskranken nicht Gewicht genug auf diejenigen Beschäftigungen und Erholungen legen kann, welche darauf berechnet sind, den Geist von seinen Illusionen abzulenken und die gesunde Uebung der reflektirenden Thätigkeiten zu kräftigen.

„Im Allgemeinen“ sagt er, „wird man finden, daß Wahnsinnige sehr zur Trägheit geneigt sind. Einige mögen zwar nachtheilig unruhig sein, doch unterliegt die Mehrzahl den kranken Gefühlen und sind durchaus nicht aufgelegt, sich irgendwie mit Ausdauer zu beschäftigen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß jede Art von Beschäftigung eine heilende Tendenz hat, und es ist daher wünschenswerth, daß jeder Patient alle mögliche Ermunterung dazu erhalten sollte. Jede Art von Erholung ist nur ein anderer Ausdruck für geistige Beschäftigung und erheitert, wenn weise geleitet, die Stimmung des Gemüthes und erzeugt einen gesunden Ton der Gefühle. Aus diesen Gründen bekamen im Laufe des Jahres einige Patienten der Anstalt die Erlaubniß, unter Aufsicht von Aufsehern in die Stadt zu gehen, welches stets als eine besondere Vergünstigung betrachtet wurde und die beste Wirkung hatte. Vier männliche Patienten bekamen sogar die Erlaubniß, unter einer sorgfältigen Aufsicht nach einander die Nationalgallerien, die Ausstellung in Sydenham, Greenwich, Kew Gardens zu besuchen, und sogar einige Wasserexcursionen zu machen, und ich kann ohne das geringste Bedenken versichern, daß diese Ausflüge den allergünstigsten Einfluß auf ihren Gesundheitszustand ausgeübt haben.“

Auf Grund dieser Erfahrungen hat man in einigen Anstalten dieser Art sogar große Festlichkeiten veranstaltet, an denen die Verwandten und die angesehensten Personen der Nachbarschaft Theil nahmen. Man hat die Mahlzeit mit Gesellschaftsspielen und einem großartigen Balle beschlossen, und alle Versuche dieser Art haben stets den allerbesten Erfolg gehabt.

Im zweiten Stockwerke des Gebäudes befinden sich die heilbaren Kranken. Die Einrichtung der Lokalität ist dieselbe, wie im ersten Stocke. In der Mitte ist gleichfalls die lange Halle, in der sich ein großer Bauer mit allerlei zwitschernden Vögeln befindet; zu beiden Seiten sind dann die Schlafzimmer, Speisesäle, Lesezimmer, Wasch- und Badesäle und bieten durchaus nichts Besonderes dar. Die Dauer in dieser heilbaren Station ist auf ein Jahr beschränkt, und kann nur nach Ablauf dieser Frist nach Gutachten des Arztes auf drei oder vier Monate ausgedehnt werden. Die leitende Idee dieser Bestimmung ist, der Anstalt so viel als möglich den Charakter einer Heilanstalt zu geben, und sie einer möglichst großen Anzahl von Unglücklichen zu öffnen. Die Erfahrung hat überdies gelehrt, daß die meisten Fälle in dieser Frist geheilt werden, und daß die Hoffnungen auf eine Genesung nach Ablauf dieser Zeit schwächer und schwächer werden.

Die Patienten sind, je nach dem Charakter ihrer verschiedenen Krankheiten von einander streng abgeschieden; so sind es z. B. die Unruhigen von den Ruhigen, die Reinlichen von den Schmutzigen, die Melancholischen von den Tobenden u. s. w. Ein junger Mann in dieser Abtheilung, von einer sehr bedeutender Bildung, leidet unter der fixen Idee, daß er wahnsinnig sei. Sobald er mich zu sehen bekam, kam er eiligst auf mich zu und fragte mich in einem ziemlich imperatorischen Tone: „Kennen Sie mich?“ und da ich diese Frage verneinte, so fügte er eiligst hinzu: „Nun gut, dann wissen Sie auch nicht, daß ich wahnsinnig bin – ja, ja! – ich hin wahnsinnig, völlig toll.“ Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich sagte, daß er nicht wahnsinnig, sondern ganz vernünftig sei, doch das schien ihn nur noch mehr aufzuregen, denn er sagte: „Das ist es gerade, was mich ärgert, daß mich alle Welt, selbst der Doctor zum Besten haben und mir was weiß machen will; aber das soll ihnen nicht gelingen, ich weiß es besser, daß ich verrückt bin, da fehlt’s mir, da, da!“ (Bei diesen letzten Worten zeigte er auf die Stirn.) Ich habe keine Vorstellung, wohin unsere gelehrten Philosophen diesen Fall placiren würden; denn die interessante Frage, welche von ihnen entschieden werden müßte, ist die, ob ein Mann, der ein klares Bewußtsein seines Zustandes hat und dessen Krankheit nur eben in diesem Bewußtsein besteht – als wahnsinnig zu betrachten ist.

Am äußersten Ende dieser Halle befindet sich eines jener wattirten Zimmer, welche ein Substitut für den körperlichen Zwang bilden. Das Gemach selbst ist ein hohes, schwach erleuchtetes Gewölbe, welches vollständig stark wattirt oder gepolstert ist, selbst Fußboden und Decke. Der Ueberzug ist ein äußerst starkes Fabrikat aus Gummi und so zähe, daß man es mit den bloßen Händen nicht zu zerreißen im Stande ist. Patienten, welche sich nun in einem rasenden Zustande befinden, und sich gar nicht anders bändigen lassen, werden dann in dies Zimmer gebracht, nachdem sie ein warmes Bad und beruhigende Medicamente erhalten haben. Doch nimmt man nur in den alleräußersten Fällen seine Zuflucht dazu, und hat man ein eignes Buch, in dem man jeden einzelnen Fall dieser Art aufzeichnet und eine genaue Krankheitsgeschichte des Patienten giebt. In dem Zimmer ist kein Mobiliar, mit Ausnahme einer Art Sopha, welches als Bett dient und in derselben Weise, wie das ganze Gemach überpolstert ist.

Von hier führt wiederum eine breite, steinerne Treppe hinauf zur dritten Etage, wo sich die unheilbaren, im Ganzen 75, Patienten befinden. Man muß sich übrigens diese unglücklichen Wesen durchaus nicht als gefährlich vorstellen, sondern die meisten halb schlafend oder in eine tiefe melancholische Träumerei versunken, und mein Führer versicherte mich, daß gerade diese Station die allerwenigsten Umstände verursache. – Auch scheint dieser Zustand der physischen Existenz im Allgemeinen durchaus nicht nachtheilig zu sein; denn die größere Mehrzahl ist recht wohl genährt und ein Alter, der bald seinen 75sten Geburtstag feiert, ist bereits fünfzig Jahre in der Anstalt. Die 75 unheilbaren Patienten (38 männliche und 37 weibliche) waren bis zu Ende des vergangenen Jahres zusammen gerade 700 Jahre, das macht für Jeden durchschnittlich 9 Jahre und 4 Monate in der Anstalt. Eine andere auffallende Erscheinung in den statistischen Nachrichten ist die verhältnißmäßig große Anzahl wohlerzogener Personen, welche sich in dieser Abtheilung befindet. Denn während 28 Patienten eine gute oder sogar eine außerordentliche Erziehung genossen haben, fanden wir in der gegebenen Liste nur zwei männliche Patienten, welche ohne alle Erziehung sind. Wenn wir nun bedenken, wie ungeheuer groß [385] in England die Klasse ist, deren Erziehung ganz und gar als Null betrachtet werden kann, so darf man wohl sagen, daß Unwissenheit den Geisteskrankenen nicht gar zu günstig ist. Eine andere Tabelle zeigt uns ferner, daß wenigstens die Hälfte der Patienten dieser Klasse auf die eine oder andere Weise zum Besten der Anstalt beschäftigt sind.

Wir stiegen nun ohne uns weiter aufzuhalten, bis zum Flure der ersten Etage hinunter, und gelangten von hier vermittelst eines verdeckten und mit einer starken eisernen Thüre wohl verwahrten Ganges in ein anderes Seitengebäude nach hinten hinaus, wo sich die wahnsinnigen Verbrecher befinden, welche theilweise in dem Krankheitszustande ein Verbrechen begangen, oder während Abbüßung ihrer Strafe wahnsinnig geworden sind. Es befinden sich überhaupt 106 (84 männliche und 22 weibliche) Criminal-Patienten in der Anstalt, welche hier zusammen mehr als 708 Jahre, also durchschnittlich etwas mehr als 7 Jahre gelebt haben. Auffallend ist übrigens, daß sich unter ihnen 82 Individuen befinden, welche sich ein Verbrechen gegen die Person haben zu schulden kommen lassen. Auch befinden sich hier zwei politische Verbrecher, von denen der eine jener Laufbursche Oxford ist, welcher ein Pistol auf die Königin abfeuerte. Da ein Hauptzweck dieser Abtheilung darin besteht, die Patienten in sicherem Verwahrsam zu haben, so ist hier Alles gefängnißmäßig eingerichtet, und an jeder Thüre und in jedem Gange stehen riesige Wärter aufgepflanzt, welche sofort bei der Hand sind, sobald die Kranken einen Versuch machen sollten, sich der Haft zu entziehen, wofür sie ohne Ausnahme stets aufgelegt sein sollen. Abgesehen übrigens von der strengen Aufsicht und den eisernen Stäben vor den Fenstern, ist die Verpflegung und Behandlungsweise dieselbe, wie in den anderen Abtheilungen der Anstalt, und werden wenigstens zwei Drittel der Patienten im Hause und im Garten beschäftigt. Im zweiten Stocke befinden sich die Reconvalescenten dieser Station, unter denen sich auch ein Maler von nicht geringen Talenten befindet. Er hat jetzt ein mittelalterliches Stück aus der Zeit der Kreuzfahrer auf der Staffelei, worauf sich wenigstens hundert Figuren befinden, von denen einige mit solcher Gewandtheit und Kühnheit gezeichnet sind, daß sie keinem Künstler Schande machen würden.

Unten angelangt, kamen wir aus einer Seitenthüre, welche mit einem ungeheuern Schlüssel geöffnet wird, auf einen Hof hinaus, auf dem sich einige Bäume und ein verdeckter Gang befindet, unter dem die Patienten spazieren gehen können. Im Hintergrunde ist ein großer Gemüsegarten, der fast ausschließlich von den Irren selbst bearbeitet wird. In dem mittleren Flügel nach hinten hinaus, welcher zugleich die Scheidewand zwischen der Abtheilung für die männlichen und weiblichen Patienten bildet, ist die Kapelle (Betsaal), in der wöchentlich drei Mal Gottesdienst gehalten wird. In der Vorhalle des mittleren Portals sind die Apotheke, das Büreau, Wartezimmer und andere Lokalitäten der Administration und unten die Küche der Anstalt. Das Erste, was uns beim Eintritte in die Augen fiel, war eine äußerst elegante Dampfmaschine von fünf Pferdekräfte, welche die ganze Anstalt selbst bis in die höchsten Etagen hinauf mit dem erforderlichen warmen Wasser versorgt, dann aber auch zum Kochen verwendet wird; denn hier wie in allen großen Küchen in England kocht man mit heißen Wasserdämpfen, welche vielfache bedeutende Vortheile bieten soll. Einer besteht darin, daß die Küche selbst viel sauberer gehalten und bei geringeren Mitteln ein viel größeres Resultat erzielt werden kann. Der ganze Kochapparat und die Armee von eisernen Töpfen und Kasserolen sehen alle so rein und blitzend aus, als hätten sie soeben die Hände des Künstlers verlassen, der sie verfertigte. Mehr als ein Dutzend gewaltige Hammelskeulen oder riesige Rinderbraten, ein ganzer Sack voll Kartoffeln, verschiedene Gemüsearten und eine Masse anderer Speisen können alle zu einer und derselben Zeit gebraten, geschmort und gekocht werden. Auch kann man vermöge einiger Regulatoren die Hitze je nach dem Bedürfnisse entweder für das Ganze oder eine bestimmte Abtheilung bald stärker, bald schwächer machen. Zu unserer Rechten befindet sich unmittelbar unter dem Fenster ein langer, schneeweißer Tisch, auf dem die Vertheilung der Lebensmittel vor sich geht. Wir bemerken hier drei oder vier Männer mit gewaltigen Messern und wirklichen Heugabeln ritterlichst bewaffnet und die verschiedenen Portionen schneiden. Jeder hat eine ungeheure Hammelkeule (denn es giebt heute gerade Hammelbraten) und eine Waagschale vor sich, doch scheint die letztere fast überflüssig, denn während der ganzen Zeit, daß wir diesem interessanten Prozesse zusahen, kam es fast nicht ein einziges Mal vor, wo man nicht gleich mit dem ersten Schnitte die erforderliche Quantität abgeschnitten hätte. Andere Personen sind wiederum beschäftigt, die Gemüsearten zu verteilen, welche ebenfalls zugewogen werden, und verschiedene Aufwärter, größtentheils Patienten, schaffen dann die Speisen nach den verschiedenen Sälen und zwar werden die für die oberen Stockwerke vermittelst einer Maschine von der Küche unmittelbar hinauf befördert. Gleich am Eingange finden wir auch den Speisezettel und wir theilen ihn hier mit, um zu zeigen, daß die Patienten durchaus keine Noth zu leiden haben.

Zum Morgenbrote erhalten sie sämmtlich Thee und die Männer außerdem 14 und die Frauen 12 Loth Brot und Butter.

Mittagsessen: Sonntag: Gekochtes Pökelrindfleisch,

Montag und Donnerstag: Hammelsbraten,
Dienstag und Freitag: Pökelhammelfleisch,
Mittwoch: Rinderbraten,
Sonnabend: Fleischpastete

und zwar die Männer 1 Pfd. und die Frauen 28 Loth und außerdem erhalten Alle 8 Loth Brot und 2 Loth Käse. An den anderen Tagen erhalten sämmtliche Patienten neben dem resp. 12 oder 10 Loth Fleisch 8 Loth Brot; die Männer 3/4 Pfd., Frauen 1/8 Pfd. Gemüse, und endlich die Männer 1/2Quart und die Frauen 1/4 Quart Bier. Das Abenbrot ist wie das Morgenbrot, doch erhalten die Männer des Mittags und Sonnabends anstatt des Thee’s 1/2Quart Bier und 4 Loth Käse. Diejenigen Patienten, welche im Garten, in den Werkstätten oder in dem Waschhause beschäftigt sind, erhalten außerdem noch zum zweiten Frühstück 8 Loth Brot, 2 Loth Käse, 1 Loth Butter und 1/2 Quart Bier und des Nachmittags als Vesperbrot 1/4 Quart Bier. Die Weihnachtsmahlzeit besteht, wie überall in England, aus Roastbeef und Plumpudding. Am Neujahrstage Mincepies, am Charfreitage die berühmten Crossbuns. Zu Ostern und am Pfingstmomage Kalbsbraten und Speck.

Dieses sind die gewöhnlichen Gerichte, und ist bei ihrer Auswahl namentlich auch der englischen Sitte Rechnung getragen; zuweilen werden sie indessen auch nach Gutachten des Arztes durch Schweinebraten, Speck und Fisch ersetzt, und wir haben wohl kaum zu erwähnen nöthig, daß alle Speisen stets von der allerbesten Güte sind. Die bedeutenden Kosten der Verwaltung und Unterhaltung der Anstalt werden theils von den Einkünften früherer Vermächtnisse und Stiftungen, theils von den Patienten selbst bestritten. Die Regierung zahlt außerdem für die Criminal-Abtheilung einen jährlichen Zuschuß von etwa 30,000 Thalern, und allein für fünf Patienten dieser Art hat der Staat schon mehr als 45,000 Thaler an die Verwaltung der Anstalt gezahlt. Ja, das Verbrechen, abgesehen von der tiefen Bedeutung desselben in moralischer Beziehung ist stets außerordentlich theuer, und es läge deshalb schon im materiellen Interesse der Gesellschaft allen Ernstes daran zu gehen, um dasselbe, wenn nicht ganz auszurotten, doch wenigstens so selten als möglich zu machen. Doch kann dies nicht durch Polizeimaßregeln erzielt werden; dazu bedarf es der Schulmeister, eines neuen Erziehungssystems und weitgreifender socialer Reformen. Dies sind keine Chimären einer krankhaften Phantasie, welche sich nicht realisiren ließen, sondern es sind laute Forderungen der Civilisation und Humanität, und man lege nun ernstlich Hand an’s Werk und die glücklichen Resultate werden sich von selbst ergeben.

Hiermit haben wir unsere Wanderung eigentlich vollendet, denn der andere linke Flügel des Hauptgebäudes wird von den weiblichen Patienten bewohnt. Die Matrone oder Oberaufseherin, eine äußerst gebildete Dame, empfängt uns und führt uns durch diese Abtheilung der Anstalt, deren Einrichtungen sich fast in Nichts von denen unterscheidet, welche wir so eben weitläufiger beschrieben haben. Auch hier ist überall dieselbe Reinlichkeit, dieselbe weise Absonderung der Patienten, und in einigen Gängen fanden wir einige große Blumentöpfe mit den schönsten blühenden Blumen, welche von den Patienten mit einer wahren Ehrfurcht betrachtet zu werden schienen, und als meine Begleiterin einige davon abpflückte und sie den umstehenden Kranken gab, schienen sie wie die Kinder außer sich vor Freude. In einem Seitenflügel nach hinten hinaus führend, befinden sich die Arbeitszimmer, wo eine große Zahl von Patienten mit Nähen, Stricken und anderen weiblichen Arbeiten beschäftigt ist. Daß man übrigens tüchtig arbeitet, zeigt schon, daß man im Jahre 1853 im Ganzen 2714 verschiedene Stücke Arbeit [386] verfertigt hat. Außerdem befindet sich hier das Waschhaus, wo die sämmtliche Wäsche für die Anstalt größtentheils von den Patienten gewaschen, gerollt und geplättet wird.

Wir gelangten endlich an die Criminal-Station, und waren froh, hier nur 22 doppelt unglückliche Patienten zu finden. Wir wissen zwar nicht genau die Ursache dieser Erscheinung, ob der Criminalkalender der Frauen so bedeutend geringer ist, was wir fast bezweifeln, oder ob das begangene Verbrechen die Frau weniger affizirt, was wir ungern glauben möchten, aber es ist nichtsdestoweniger eine Thatsache, daß auf eine Verbrecherin dieser Art fast vier Männer kommen. Wir sahen hier auch die frühere Amme des Prinzen von Wales (Kronprinzen), welche vor einigen Monaten in einem Anfall von Wahnsinn bekanntlich ihren sechs Kindern einem nach dem anderen den Hals abschnitt, und welches zur Zeit der That so mancherlei scandalöse Geschichten in Umlauf setzte. Die unglückliche Mutter scheint jetzt durchaus kein Bewußtsein ihrer That zu haben und ist anscheinend vollkommen ruhig und wohlgenährt. Als wir die statistischen Tabellen der Verbrecher in dieser Anstalt übersahen, fiel es uns besonders in die Augen, daß das Jahr 1851 so berühmt durch seine früher nicht geträumte Weltausstellung und so ungünstig für das Verbrechen im Allgemeinen, auch in den Annalen dieser Anstalt eine bemerkenswerthe Stelle einnimmt, da nämlich in diesem Jahre die Anzahl der aufgenommenen Patienten um 58 Individuen geringer als in dem vorhergehenden Jahre ist, und worunter sich nur drei männliche und gar keine weibliche Criminalpatienten befinden.

Unter der Rubrik der muthmaßlichen Ursachen des Wahnsinns nimmt natürlich Liebesgram die erste Stelle ein – o nein, schönste Leserin – Krankheit, Erblichkeit in der Familie, Angst, Unmäßigkeit, Vermögensverluste, übermäßiges Studium, das sind die Hauptursachen, und die Liebe nimmt nur eine ziemlich untergeordnete Stelle ein, und das ist ganz natürlich; denn die wahre Liebe (falls es außer in Novellen eine solche giebt), welche sich getäuscht findet, sucht, wenn sie klug ist, den unwürdigen Gegenstand sobald als möglich zu vergessen, oder wenn sie das nicht ist – bricht das Herz und macht der unerträglichen Existenz ein frühzeitiges Ende. Doch bemerkten wir bei unserem Fortgange aus der Anstalt, als wir durch den Theil des parkartigen Gartens gingen, welcher, wie wir bereits am Eingange unserer Darstellung gesagt haben, sich in Front des Flügels für weibliche Patienten befindet, und indem sich die größere Mehrzahl der Patienten auf dem schönen Rasen ergeht, im Schatten eines baumartigen Strauches ein junges Mädchen von etwa siebzehn oder achtzehn Jahren auf dem Boden sitzen, welches mit ihrem Schürzenbande äußerst beschäftigt schien. Als wir unbemerkt näher kamen, fanden wir, daß sie wie Gretchen in der Gartenscene eine Art Schicksalsprobe machte, um das Herz ihres Geliebten zu erforschen. Sie hatte nämlich eine Menge Knoten in dieses Band geschürzt, und nun begann sie mit: „Er liebt mich,“ „Er liebt mich nicht,“ jedesmal eine Knoten weiter gehend, und wir haben selbst eine Charlotte von Hagen in ihrer Blüthezeit dieses Spiel nicht vollendeter durchführen sehen. Die Spannung, die Ungewißheit und doch eine gewisse Zaghaftigkeit bis zu Ende fortzuschreiten, war meisterhaft und wollte es nun das Geschick, daß der letzte Knoten mit „Er liebt mich,“ zusammentraf, o, dann war sie plötzlich lauter Freude und Glückseligkeit; doch dauerte es nur einen Augenblick, und der Versuch wurde von Neuem gemacht, und fiel es diesmal unglücklich aus – o, welcher Schmerz! und ich werde in meinem Leben den verzweiflungsvollen Angstruf: „Er liebt mich nicht!“ dieser Unglücklichen vergessen; er war mit einer Art von krampfartigem Schluchzen ohne Thränen begleitet, und drang wirklich durch Mark und Bein. Sie raufte dann mit beiden Händen Gras auf, das sie sich auf’s Haupt streute. Diese Trauerscene hatte jedoch ebensowenig Bestand; denn schon nach einigen Minuten begann sie von Neuem zu zählen, und wir eilten so schnell als möglich an ihr vorüber.

Hiermit haben wir unsere Wanderung vollendet, und ich wüßte nicht, daß ich jemals in meinem Leben so durch und durch ergriffen gewesen wäre, denn da giebt es so manche Erscheinungen, ein besonderer Zug im Gesichte, eine einzige Geberde, eine Bewegung mit dem Kopfe, welche einen Eindruck hinterlassen, den man bis in’s Innerste fühlt, aber nicht wiederzugeben im Stande ist.




Die Naturheilkraft.

Blutung.

Die Naturheilungsprocesse (s. Gartenl. Jahrg. III. Nr. 25), durch deren Vermittelung auch ohne Zuthun des Arztes und seiner Arzneimittel die meisten Krankheiten vollständig oder mit Hinterlassung mehr oder weniger beschwerlicher Folgezustände gehoben werden, lassen sich am besten bei Verletzungen, Blutungen und Entzündungen, überhaupt bei örtlichen Leiden beobachten. Weniger deutlich sind für uns zur Zeit noch diese Processe bei den sogen. allgemeinen oder Blutkrankheiten, obschon hier die Erfahrung gelehrt hat, daß ein passendes diätetisches Verhalten zur Heilung gewöhnlich vollkommen ausreicht, und daß das ärztliche Eingreifen oft mehr schadet als nützt. – Betrachten wir nun diese Naturheilungsprocesse bei den verschiedenen Krankheitszuständen etwas genauer.

Bei Blutungen, mögen sie nun am Aeußern unseres Körpers oder aus und in dem Innern desselben (als Blutflüsse) vorkommen, ist stets der Zusammenhang der Blutgefäßwände gestört, so daß nun das Blut aus seiner Röhre (Pulsader, Haargefäß oder Blutader) herausläuft. Eine solche Zusammenhangstrennung kann aber ebensowohl auf mechanische Weise, durch Bersten, Zerreißen und Zerschneiden des Gefäßes, wie durch innere Zerstörungsprocesse (Vereiterung, Verjauchung, Brand,) zustande kommen. Nach der Weite und Beschaffenheit des zerstörten Blutgefäßes wird natürlich das Blut in größerer oder geringerer Menge, schneller oder langsamer herauslaufen; nach der Lage des blutenden Gefäßes aber dringt das Blut entweder nach außen durch die natürlichen Oeffnungen des Körpers hervor, oder in die Höhlen und Gewebe des Körpers ein, so daß es sich hier mehr oder weniger anhäuft und Störungen der verschiedensten Art veranlaßt. – Blutungen aus größeren Pulsadern können, wenn sie nicht durch baldige Verschließung (Zusammendrückung, Unterbindung) der Ader gestillt werden, zum Tode durch Verblutung führen; Blutergüsse aus kleineren Gefäßen dagegen können durch Zusammenfallen und Verstopfung derselben recht gut von selbst heilen. Liegen die blutenden kleineren Gefäße oberflächlich und kann man zu denselben gelangen, dann sind Druck und besonders Kälte (kaltes Wasser, Eis, Schnee,) die besten blutstillenden Mittel, weil sie zur Verschließung des offenen Gefäßes beitragen können. Höchst komisch ist der große Ruf, welchen die Arnica als Heilmittel gegen Blutungen allmälig erlangt hat, da doch, wenn sie äußerlich als Tinctur oder in Wasser angewendet wird, nur der Spiritus der Tinctur oder die Kälte des Wassers, die Arnica selbst aber nicht das Geringste wirkt. Ganz kindisch ist es, an die blutstillende Wirkung homöopathischer Gaben der Arnica, innerlich genommen, zu glauben. Da liegt wirklich in dem sympathetischen Hokuspokus, im Blutversprechen, noch mehr Verstand, insofern hier die psychische Einwirkung beruhigend auf die Blutströmung (durch die Herznerven) wirken kann. Mit solchem Hokuspokus ist freilich die ganze homöopathische Heilmethode zu vergleichen und deshalb eines gebildeten Mannes unwürdig; sie wird auch sicherlich in einiger Zeit nur noch von alten Weibern, Schäfern, verdorbenen Medicinern u. dgl. Leuten betrieben werden.

Beantworten wir nun die Fragen: wie hemmt die Natur den Blutausfluß, und was geschieht mit dem ausgeflossenen Blute? – a) Der Blutausfluß wird dadurch gehemmt, daß das zerstörte Gefäß sich nach seiner Entleerung in sich zurück- und zusammenzieht, auch wohl zusammenfällt, und daß sich dasselbe nun mit einem Blut-Pfropfe, d. i. einem Gerinsel aus Blutfaserstoffe verstopft und schließt. Auch kann das ausgeflossene Blut, indem es fest wird (gerinnt), eine Art Deckel über der Oeffnung des Gefäßes, durch welche das Blut ausströmt, bilden und so das weitere Ausströmen desselben durch die Oeffnung hindern. Die meisten innern Blutungen werden auf diese Weise von der Natur gestillt. –

[387] b) Das ausgeflossene Blut, wenn es nicht sofort aus dem Körper entfernt wird, scheidet sich gewöhnlich (wie das aufgefangene Blut beim Aderlasse) in einen festen und einen flüssigen Theil, es gerinnt (sein Faserstoff wird fest), doch bleibt es bisweilen auch flüssig. Im letzteren Falle werden nach Auflösung der Blutkörperchen die Blutbestandtheile allmälig aufgesogen und wieder in den Blutstrom geschafft. Die Blutfarbe bleibt dabei nicht selten zurück und färbt die Stelle der Blutung entweder bleibend oder eine Zeit lang bald schwärzlich oder grünlich, bald bräunlich oder gelblich, so daß sich dann später entweder gar keine Spur mehr von der Blutung oder nur eine gefärbte Stelle zeigt. Gerann aber der Faserstoff des ausgeflossenen Blutes, dann können die Folgen sehr verschiedene, mehr oder weniger heilsame sein. Jetzt ist es nämlich möglich, daß das Faserstoffgerinsel sich in ein neues Gewebe, in weicheres oder härteres Fasergewebe verwandelt, welches zeitlebens dort, wo es entstand, bleibt, gewöhnlich ohne weitere Beschwerden zu machen, und welches sehr oft den Blutfarbstoff in verschiedener Färbung (roth, gelb, braun, schwarz) in sich zurückhält. Auf diese Art findet sich später da, wo die Blutung stattfand, eine härtliche nicht selten gefärbte Stelle. - Auch kann es geschehen, daß das geronnene Blut zu einer dunklen, harten, sogar kalkigen Masse eintrocknet, und dann nicht mehr entfernt wird. – In andern Fällen erweicht das Faserstoffgerinsel zu einer dicklichen, eiterähnlichen Flüssigkeit, die durch Fäulniß in eine ätzende, zerstörende Jauche umgewandelt werden und so zur Verschwärung Veranlassung geben kann. Auf diese Weise entsteht bisweilen da, wo Blut austrat, eine eiternde, geschwürige Stelle, die aber, wie später gezeigt werden wird, durch die Natur ebenso geheilt werden kann. Hiernach kann es also bei Blutungen kommen: zur vollständigen Aufsaugung des Blutes, zur Bildung härtlicher Stellen durch Eintrocknung oder Fasergewebsbildung, zur Vereiterung oder Verschwärung. In der Regel sind die letzteren Folgezustände gefahrlos, und ihre Heilung wird durch die Natur besorgt (s. Schlagfluß in Nr. 19 der Gartenlaube).

Die Natur kann nun in ihrer Heilung der Blutungen in Etwas unterstützt werden, abgesehen natürlich von chirurgischer Hülfe (Compression, Unterbindung) bei Blutungen aus größeren und zugänglichen Blutgefäßen, und von Anwendung der Kälte unmittelbar auf die blutende Stelle (z. B. Eis bei Magenblutung u. s. w.). Diese Unterstützung geschieht aber am besten durch große Ruhe und horizontale Lage des ganzen Körpers, besonders aber des blutenden Theiles, und durch Verminderung der Blutzufuhr zur Stelle der Blutung durch Herabsetzung der Herzthätigkeit. Den letztern Zweck erreicht der allopathische Arzt durch Darreichen narkotischer Arzneistoffe, besonders des rothen Fingerhutes, während der Homöopath dies durch sein Nichts nicht ermöglichen kann. Nach starkem Blutverluste muß durch leicht verdauliche, nahrhafte Kost das verloren gegangene Blut wieder ersetzt werden. Die Diät bei Blutungen darf ja nicht eine reizende sein, sondern muß in kühlen, milden, leicht verdaulichen Speisen und Getränken bestehen. Alles, was das Herz stärker klopfen machen könnte (wie Kaffee, Thee, Spirituosa u. s. f.), ist ängstlich zu vermeiden. Die Luft im Zimmer muß mehr kühl als warm sein.
(Bock.) 




Drei Sonntage im Hyde-Parke zu London.


Unter den mehr als hundert Lungen, durch welche das größte aller Städte-Ungeheuer London Athem holt, den grünen Parks und „Squares“ ist der Hyde-Park der größte, sonnigste und populärste. Im Westende zwischen den vornehmsten Stadttheilen gelegen, ist Hyde-Park während der Season, der Parlamentszeit, die allen hohen Adel des Landes mit Familie in London concentrirt, alle Tage der Tummelplatz von Tausenden fahrender und reitender Damen und Herren, die hier Luft schöpfen und sich auf dem Pferde und im Wagen Motion machen lassen, damit ihnen um sechs Uhr das schwere Mittagsbrot schmecke. Links hinauf zieht sich eine gute halbe Stunde lang die große Lustreitbahn (Rotten Row), in welcher sich zwischen vier und sechs Uhr die schwarzen, einförmigen Amazonen tausendweise corsoartig unter Bäumen und zwischen Eisenspalieren auf- und abtummeln. Rechts weiter drüben zieht sich um den langen kleinen See (die Serpentine) ein Fahrweg mit besondern eisernen Spalieren für Fußgänger bis hinein in die schattigen Kensington-Gardens. Hüben und drüben über den lustigen Wasserspiegel hinweg, auf welchen kleine und große Kinder ihre kleinen bewimpelten Schiffe kreuzen lassen, winken uns bunte Massen von Fuß- und Wagencorso’s an. Sonntags werden diese Corso’s natürlich dichter als in der Woche, da sich außer den „Damen“ und „Vermittlerinnen“ für die Aristokratie auch bürgerliche Familien, besonders reiche Käsekrämer und Bierschenker (die nach dem Sonntagsfreudenbeschränkungsgesetze vom vorigen Jahre bis 6 Uhr Abends schließen müssen), unter die Aristokratie mit gepuderten Dienern mischen.

Das sind die nöthigsten Striche zu einen Vorstellung vom Hyde-Parke, der 1851 so friedlich, kosmopolitisch bekannt ward und jetzt drei Sonntage hinter einander sah, welche auch dem englischen, constitutionellen Rechtsboden ein Loch beibrachten und den Landesfrieden ernstlich gefährdeten. Es ist vielleicht die Krim-Krisis in einer heimischen Form, so wenig auch die nächste Veranlassung zu den Sonntags-Unruhen im Hyde-Park damit im Zusammenhange zu stehen scheint.

Der englische Sonntag war auch schon vor der Bierbeschränkung als der traurigste, farbloseste, polizeibeschränkteste in der ganzen Christenheit berüchtigt und beliebt, je nach der kirchlichen Richtung. Während auf dem Continente selbst die „nackteste Reaction“ dem Volke seinen Sonntag gelassen, und man in Paris sogar unter Napoleon III. des Erholungstages froh werden kann, und der berliner Thiergarten ebenso wenig durch die Polizei gelitten hat (im Gegentheil darf man jetzt darin „rauchen“), als der wiener Wurstel-Prater, fiel es den englischen Wächtern der Freiheit voriges Jahr ein, dem musik- und tanzlosen Sonntage auch noch die Bierhäuser mehrere Stunden des Tages, und um zehn Uhr Abends, wenn die meisten Familien von weiten Ausflügen in die leere, dunstige Straße und Stube erschöpft zurückkehren, durch eine listig durch’s Parlament geschmuggelte Bill zu schließen. Die Aufregung und Erbitterung darüber war groß, aber Demonstrationen dagegen verschwammen in dem ausbrechenden Kriegsgeschrei. Vergessen freilich konnte man nicht, woran der Arbeiter jeden Sonntag erinnert ward, wenn er die ihm spärlich zugemessene Erholung Abends durch einen kühlen Trunk beschließen wollte, während es den Reichen und Standespersonen, die alle ihre „Klubs“ haben, unverwehrt blieb, sich zu jeder Tages- und Mahlzeit, auch den ganzen Tag des Herrn hindurch mit Speise und Trank zu laben.

Bekanntlich rief nun neuerdings die beispiellose Liederlichkeit und Verwirrung in Führung des Kriegs (dem Privilegium der „regierenden Klassen“) eine tiefe und allgemeine Erbitterung gegen den Adel und die Reichen, gegen das ganze Parlament, hervor. So hieß es Oel in’s Feuer gießen, als der edle Lord Robert Grosvenor im Unterhause auf Schließung alles Verkehrs an Sonntagen antrug, und das Unterhaus diesen Antrag in zwei Lesungen mit ziemlicher Majorität annahm. Schon war die dritte Lesung angesagt, nach welcher der Antrag Gesetz geworden wäre, als sich den Sonntag vorher plötzlich eine Demonstration dagegen im Hyde-Park entfaltete, die allgemeines Erstaunen erregte, so friedlich sie auch dieses erste Mal noch verlief. Man erstaunt über völlig Unerwartetes. Noch kurz vorher hatten die Zeitungen dem Volke eine freiwillige Servilität von Geburt und Geld und Niederträchtigkeit der Gesinnung vorgeworfen. Die bittere, freche Verhöhnung, welche der Adel plötzlich an diesem Sonntage erfuhr, die scharfen Kritiken, die ihm, Nase dicht gegen Nase, in’s Gesicht geschleudert wurden, zuckten wie ein panischer Schrecken durch die „obersten zehn Tausend,“ die England regieren und alle Macht und alles Geld der dreißig Millionen Engländer zu Hause und in den funfzig Kolonien in ihrer Gewalt haben.

Am 23. Juni, Sonnabends Abends, hieß es, man wolle morgen Nachmittag im Hyde-Park ein großes Meeting halten, berufen von dem alten Chartisten-Chef Robert Jones. Er blieb von den niedergeschlagenen Anführern der Chartisten-Demonstration vom 8. April 1848 fast allein bis hierher übrig. Die Chartisten wollten eine „Charte,“ erweitertes Wahlrecht u. s. w., wurden aber damals von Tausenden freiwilliger Special-Constabler (unter ihnen der jetzige [388] Kaiser Napoleon) jämmerlich mit ihrem Petitionszuge nach dem Parlamente zusammen- und auseinandergehauen. Der Chartismus zerfiel darauf auch in sich, und nur Robert Jones blieb als dessen Gespenst übrig, um in jedem Meeting zu erscheinen, seine „Charter“ zu verlangen und unter allgemeinem Tumulte hinaus geworfen zu werden. Keine Partei, kein Mensch wollte etwas von ihm wissen. So erschien er sechs Jahre lang in allen Meetings, so ward er sechs Jahre lang jedesmal hinaus geworfen, ohne müde oder bescheidener zu werden. Im Gegentheil trat er jedesmal entschiedener, gröber, fanatischer mit seinem unheimlichen Gesicht und der schneidenden, hellen, durchdringenden Stimme auf, um endlich einmal unlängst (am 10. Mai) im ersten Reform-Meeting (zur Auflösung der aristokratischen Privilegien für die höchsten und besten Staatsämter) nicht nur nicht hinaus geworfen, sondern sogar so weit gehört zu werden, daß die Banquiers und reichen Handelsherren des Meetings sogar einen Chartisten in ihre Commission aufnahmen.

Das verhaßte Gespenst war plötzlich ein respektabler Mann von Fleisch und Blut geworden, Vertreter eines Reform-Prinzips, das die Banquiers und Kapitalisten einst niedergeschlagen, und jetzt selbst bekannter Redacteur von „The Peoples Paper“ (Volks-Zeitung, Organ der Chartisten) und Spitze eines großen Theiles der Bevölkerung. Sie folgte ihm tausendweise am 24. Juni in den Hyde-Park und führte das Programm seiner Demonstration sehr pünktlich durch. Um die über den großen Flächenraum des Hyde-Parks (in welchem mehr als ganz Leipzig stehen könnte) zerstreuten Massen zusammenzubringen, ließ er einen „Auflauf“ über die größere Hälfte des Parks entstehen. Einige Leute wurden von andern schreiend verfolgt, mehrmals eingeholt, ihnen die Hüte „angetrieben“ und scheinbar Mißhandlungen aller Art beigebracht, so daß alle Köpfe über eine Quadratmeile (englisch) umher aufmerksam wurden und sich zusammenzogen, als den Verfolgten Polizei zu Hülfe kam, welche nun die Sache untersuchte, um zu hören, daß man blos Spaß gemacht habe. So waren aber mindestens 20,000 Menschen um einen Mittelpunkt zusammengezogen worden, die nicht so leicht wieder auseinander zu bringen waren, da Jeder erst wissen wollte, was eigentlich los sei. Die ausgelachte Polizei entfernte sich. Bald darauf ward der bekannte Kopf von Robert Jones in der Mitte über allen Köpfen sichtbar und auch sofort von seinem Stuhle weit, weit hörbar. Doch kaum hatte er fünf Minuten getrompetet, kamen drei Policemen und rissen ihn vom Stuhle herunter, da gesetzlich an Sonntagen kein Meeting (außer über religiöse Gegenstände) gehalten werden darf, Jones, an solche Unterbrechungen gewöhnt, wie Keiner, schien sich nichts daraus zu machen. Aber das Volk schrie: „Warum soll er nicht reden? Laßt ihn reden!“ (Speak out, Jone! Go on! – Go on! Go on!) schrie es lauter und lauter. Jones trat wieder auf den Stuhl und sprach, um jetzt von sechs Policemen herunter geworfen zu werden. Der inzwischen zu einer unabsehbaren Masse angeschwollene Menschenknäuel lös’te sich jetzt plötzlich, wie auf Commando, in 25–30 runde Gruppen über eine gute englische Meile weit auf mit je einem Redner in deren Mitte. Eben so schnell und ziemlich regelmäßig schwenkten sich etwa um vier Uhr diese einzelnen Gruppen nach beiden Seiten des Reit- und Wagencorso ab und bildeten Spaliere, um hier den aristokratischen Equipagen und Reitern wild und tobend zuzurufen: „Go tu church! Go tu church!“ (Geht in die Kirche!) Es folgten Mützenschwenkungen und unauslöschliches Gezische, so daß viele Pferde scheu wurden. Endlich machte ein ausgesucht schmutziger Haufe, jeder aus einer kurzen Thonpfeife den wohlfeilsten, stinkenden „Shag“ qualmend, seine Aufwartung, umringte die Equipage des Herzogs von Beaufort, der mit Familie darin saß, und blies ihm von allen Seiten den beizendsten Stänker in die aufgerissenen Kutschenfenster, so daß der Familie nichts Anderes übrig blieb, als auszusteigen.

Dieser „Ausräucherungs-Prozeß“ wurde an mehreren Stellen vorgenommen. Die bürgerlichen Wagen erhielten Vivats, alle mit gepuderten Dienern hinten wurden „geräuchert“ und sonst maltraitirt. Den ungeheuersten Jubel erregte ein alter schmieriger Fleischerkarren, dicht besetzt mit der ausgesuchtesten Elite von Lumpacivagabunden, die majestätisch ihren „Shag“ rauchend, die stürmischen Huldigungen des Volks mit herablassenden, gnädigen Verbeugungen nach beiden Seiten erwiederten. Eine derbe Satyre auf die Volksgunstbezeugungen gegen die Großen auf der Menschheit Höhen, ein schneidender Contrast gegen die Spießruthen fahrenden gräflichen, lordlichen und herzöglichen Equipagen.

Im Vergleich zum zweiten verlief der erste Sonntag dieser „unconstitionellen“ Demonstration ziemlich friedlich, da sich die Polizei blos rathgebend und wenigstens nicht mit ihren „Truncheons,“ den bleiangefüllten kurzen Stöcken, einmischte. Den Montag darauf nahm sehr bezeichnender Weise die ganze Presse für die Demonstration Partei, selbst die Times, die bisher dem Mob nie hold war. Im Vaterhause wurde Lord Grosvenor gefragt, ob er nicht lieber seine Sonntagsbill zurücknehmen wollte. Palmerston machte einen schnöden Witz, und der Vater der Bill erklärte, sie nicht zurücknehmen zu wollen, obgleich er schon am ersten Sonntage sehr unfeine Beweise der Volkserbitterung erfahren. Im Hyde-Park (mit Freund Lord Ebrington) von Volksmassen erkannt und umringt, wurde er gefragt, woher er sein Vermögen, woher er die goldenen Ringe an den Fingern genommen?

„Das Vermögen habe ich geerbt, die Ringe gekauft,“ antwortete er.

„Geraubt, gestohlen habt Ihr sie, Sir!“ schrie ihm Jemand zu und bewies ihm, daß die Normannen das Land erobert, geraubt und gewaltsam unter sich vertheilt, dann Gesetze gegeben, welche diesen Raub schützten und das Geld der Anglo-Sachsen in ihre Hände geleitet haben und noch fortwährend leiten. - Ueberhaupt trat das in Frankreich erst durch sich selbst, dann durch äußerliche Gewalt zusammen gefallene, hohle Gespenst des Communismus mit dem L. Blan’schen „Eigenthum ist Diebstahl,“ sehr mannigfaltig hervor. Es kann in England, wo die Bildung der untern Klassen so furchtbar vernachlässigt ward, und der Feudalismus der Macht und des Grundbesitzes noch besteht, gefährlich werden.

Lord Grey, der Minister des Innern, hatte zum zweiten Sonntage Befehl gegeben, die Demonstration niederzuhauen. Die Regierung und Lord Grosvenor waren entschlossen, die Sonntagsbill zu halten. - Wir wollen die Brutalitäten der Polizei nicht im Einzelnen aufzählen, die sie sich an diesem Tage zu Schulden kommen ließ. Sie wurde in den meisten Fällen auch arg behandelt und hatte ihre Instruktionen. Die Hauptschuld liegt in Lord Grey. Daß aber einzeln stehende, ganz unbeteiligte Personen höhern Standes und großen Reichthums von der Polizei mit ihren Bleiknütteln von hinten plötzlich niedergehauen, daß schon zerschlagene, am Boden liegende Personen noch mit Füßen getreten, daß Bleiknüttel-Attaken gegen Weiber und Kinder ausgeführt, daß selbst ein auf der Krim verwundeter Soldat zerschlagen, friedliche Leute selbst in Läden mißhandelt wurden – diese Heldenthaten der Polizei riefen einen allgemeinen Schrei der Entrüstung durch alle Stände, bis an’s Parlament hinauf, hervor.

Lord Grosvenor, der sich schon den Sonntag über hinter 200 Mann Polizei zurückgezogen hatte, zog endlich seine Bill zurück. Regierung und Parlament blamirten sich; um aber die Niederlage zu verstecken, weigerte sich Lord Grey, von zwei Parlamentsmitgliedern aufgefordert, eine Special-Untersuchung gegen die Polizei-Frevel einleiten zu lassen, diese ihm speciell mitgetheilten Frevel anzuerkennen und die Untersuchung zu verordnen. Dies steigerte die Erbitterung. Das Volk schlug Montags und Dienstags alle Fenster des Polizei-Gerichtslokales ein, in welchem die etwa 70 Gefangenen vom Sonntage durch Schuld der Regierung über die gesetzliche Zeit (24 Stunden bis zur Stellung vor dem Richter) aufgehalten worden waren. Obgleich Viele freigesprochen wurden und die Anderen mit zehn bis zwanzig Schillingen oder acht bis vierzehn Tagen Gefängniß davon kamen, steigerte sich doch die Erbitterung während der Woche auf’s Höchste. Sonnabend Abend, den 10. Juli, forderten Anschläge zur Rache, zur völligen Befreiung des Sonntags und zum Unabhängigkeitskampfe gegen „die Obersten Zehntausend“ auf. Dunkele Gerüchte sprachen von einem bewaffneten Zuge des Volks in den Hyde-Park, von Verstärkung aus Birmingham, Manchester u. s. w., von wo die Chartisten zu rechter Zeit eintreffen würden, um der Polizei zu zeigen, daß sie Diener des Volks und nicht Werkzeug der obersten Zehntausend sei, um einen englischen Sonntag erkämpfen zu helfen, wie ihn die Völker des Continents genössen. So sah man dem dritten Sonntag mit großer Aufregung und Spannung entgegen.

Der Minister des Innern hatte zwar in der elften Stunde (Freitags Nacht) seine Politik der Strenge und der Polizei wieder geändert und abermals „nachgegeben,“ indem er eine unparteiische und genaue Untersuchung und Bestrafung der Polizei-Grausamkeiten versprach, aber einerseits glaubte man ihm nicht und sagte: „Wer erst so sprach, wird nun auch alles Mögliche thun, um die Sache [389] zu „vertuschen und zu bemänteln,“ andererseits hatte Lord John Russel an demselben Abende Enthüllungen über seine wiener Mission gegeben, bei deren schmachvollem Inhalte selbst dem Russen- und Friedensfreunde Cobden der Verstand still stand und die Galle überlief. Russel hatte Instructionen gehabt, Frieden um jeden Preis zu machen. Die „Ehre“ Englands war verrathen und verkauft und wurde diesmal nur durch Napoleon mit eingelös’t. Also darum hat man uns 50,000 Brüder, Söhne und Väter und 100 Millionen Pfund Sterling todtgeschlagen, darum Handel und Gewerbe, unsern Lebensunterhalt, unsere Angehörigen und uns ruinirt und mit den Schrecken und Lasten eines Kriegs überbürdet, damit unsere aristokratische Regierung uns dennoch an Rußland verkaufe? In diesem Sinne ward es Sonnabends und Sonntags überall auf den Straßen laut, und im Hyde-Park formirten sich Nachmittags unabsehbare Gruppen mit je einem Redner in der Mitte. Da aber die Polizei heute Instructionen hatte, nicht einzuschreiten und sich im benachbarten „Green-Parke“ für die äußersten Fälle versteckt und bereit zu halten, blieb es im dichtesten Gedränge von Hunderttausenden immer ziemlich ruhig, so lange und so weit ich sehen konnte.

Weder von Polizei, noch von aristokratischen Equipagen gereizt, regierten und beherrschten sich die Massen von selbst. Nur gegen Abend kam es vor der vornehmsten Häuserreihe Londons, der Parkstreet, welche die Westseite des Parks einrahmt, zu rohen Excessen. Ein Haufe Volks glaubte, hier den Palast des Lord Grosvenor ausgefunden zu haben, und zerschmetterte in merkwürdig kurzer Zeit alle die prächtige Spiegelscheiben desselben. Hier nun mußte die unglückliche Polizei, die heute glatt und bescheiden immer zu zwei und zwei Mann spärlich umher gegangen war, durch die ungeschickte und Feigheit mit Grausamkeit verbundenen Instructionen Lord Grey’s verhaßt und ohnmächtig geworden, hier mußte sie einschreiten. So packten ein paar Policemen just einen ganz unmündigen constitutionellen Staatsbürger von etwa zwölf bis vierzehn Jahren, und in eine Tracht gekleidet, deren Farbe und Form durchaus nichts mit weltlicher Civilisation gemein hatten, gerade im Akte des Steinwerfens, welchen er offenbar in der Ueberzeugung vornahm, daß er dadurch Andere, die nicht so gut werfen konnten, unterstütze, vielleicht auch rein zum Vergnügen, denn Kinder, zumal unerzogene, machen Alles gern nach, was ihnen Erwachsene Lustiges und Amüsantes vormachen. Dieser Polizeigriff war unter diesen Umständen bei aller voller Berechtignug der unglücklichste. Alle noch disponible Munition von Steinen ward hinter den beiden Policemen hergeschossen, wie sie mit dem Jungen abzogen. Sie retteten sich endlich mit ihrem Gefangenen in ein Arbeitshaus weiter innen in die Stadt, das nun belagert blieb, bis die Policemen zurückkamen. So wie sie sichtbar wurden, erhob sich ein furchtbares Heulen, Pfeifen und Zischen, unter denen Sturmfluthen die Policemen zusammengehauen versanken.

Als ich gegen Abend an der südlichen Piccadilly-Seite des Parks, wo die größte Wellington-Reiterstatue auf dem Thore reitet, mich herausdrängte, ward ich von einem gewaltigen Menschenstrome gepackt, der mich unaufhaltsam in den allervornehmsten und allertheuersten Square Londons (Belgrave-Square), wo sich das reichste Lordthum mit besonders potenzirter Hochkirchlichkeit verbindet, und in dessen grandiose Palaststraßen mit Spiegelscheiben hineinschwemmte. Die Paläste standen noch, aber ohne einzige ganze Scheibe. Ich zählte vierzig Paläste hinter einander, deren kostbare Augen alle ohne Ausnahme zerschmettert waren. Man sagte mir, daß es in den fünf Hauptstraßen um den Square herum ganz eben so aussähe. Niemand wußte, wenn diese Akte des Vandalismus eigentlich vorgenommen worden waren. Mich überfiel ein unsägliches Grauen und Entsetzen vor einem Palaste, dessen Straßenfront dicht mit Stroh bestreut gewesen war. Alle die großen dicken Spiegelscheiben strahlten in unendlichen Zickzacks von Spalten mit tiefen Löchern. An einer Stelle stack noch ein großer Stein mitten in der Scheibe. Andere waren blos mit Sternen von Spalten geschmückt, ohne daß der Stein durchgedrungen war. Die Scheiben, mannshoch von einem fleckenlosen Stück, 600 bis 1000 Thaler jede, sind von der Dicke bis zu einem Zoll. Das Stroh war verbrannt. „Also nicht einmal Rücksicht gegen Kranke, vielleicht Sterbende?“ rief ich. „Nahmen sie denn etwa Rücksicht auf unsere Brüder, die sie tausendweise auf der Krim sterben ließen?“ schrie mir Jemand von der Seite zu, indem sich seine Nüstern weit aufbließen.

„Aber wer ist der Kranke oder Sterbende hier innen? Wußte man, daß er Schuld an der Krim-Mißverwaltung trägt?“ –

„O, sie hängen Alle zusammen, sie Alle sind Schuld,“ war die Antwort.

Das alte Geschwür ist aufgebrochen. Wer kann dessen Verlauf nun beherrschen? Im Parlamente empfahl ein Herr Dundas, Verwandter des baltischen und schwarzen Meer-Dundas, Sechspfünder. Er mußte noch denselben Abend „revociren“ und die Times frug ihn, wo er sechs Stunden nach dem ersten Schusse mit einem Sechspfünder wohl sein würde? Die englische Regierung ist nicht auf Militair- und Polizeigewalt gebaut, sie hat factisch und physisch diese Gewalt nicht, deshalb war diese Erwähnung von Sechspfündern ein Mißton, der sofort durch alles Volk zuckte und es gestern Abend auf eine Wanderung trieb, um das Haus jenes Dundas zu entdecken.

„Die Demonstration“ ist in das Stadium einer blinden, stupiden und in seinen Ausartungen gemeinen Wuth, die sich in den niedrigsten, feigsten Akten des Fenstereinwerfens offenbarte, hinein „mißverwaltet“ worden, von wo sie sich leicht ohne Controle, wie eine Naturgewalt, eine Ueberschwemmung, ein Feuer, ein Erdbeben fortwälzen kann. Nach den letzten Russel’schen Enthüllungen haben sich die regierenden Klassen moralisch vollends todt gemacht. Im Allgemeinen sind die englischen Volksmassen sehr gutmüthig und leicht zu befriedigen. Etwas Klugheit und rasche Aufhebung der „Bier-Bill“ bringt den alten Mechanismus vielleicht wieder in Ordnung. Unter allen Bedingungen macht Palmerston, dessen Politik so lange gewährt, die Erfahrung, daß auch in seinem Gewerbe Ehrlich am Längsten währt. So lange er’s auch noch treiben mag, er hat gesehen, wie elend England durch ihn wurde, so durch und durch krank, daß eine gewöhnliche Polizeimaßregel ein gutmüthiges, dummes Volk zu blinder Wuth gegen die ganze herrschende Klasse Englands, und zu rohen nicht zu entschuldigenden Excessen trieb.




Aus dem Gewerbeleben.

Das unfreiwillige lange Creditgeben der Handwerker und Kaufleute.
(Ein Vortrag in der Versammlung der polytechnischen Gesellschaft zu Leipzig am 16. März 1855 gehalten von K. Biedermann.)
1. Die Nachtheile des langen Creditgebens.

Unter den vielen Widerwärtigkeiten, mit denen der Handwerker und der kleinere Kaufmann (der sog. Detailhändler) zu kämpfen hat, ist kaum eine für ihn drückender und für das Wohlbefinden, ja die Solidität dieses ganzen ehrenwerthen Standes bedrohlicher, als die weitverbreitete Unsitte, die Arbeiten des Handwerkers und die vom Kaufmann entnommenen Waaren erst nach längerer Zeit und auch dann noch oft nur auf wiederholtes Andringen, ja zuweilen nur nach Anwendung von Rechtsmitteln, zu bezahlen. Den Betrag der Summen, die auf diese Weise dem Handwerker und Kaufmann oft Jahre lang von seinem sauer verdienten Gelde entzogen werden, kann man gewiß im Durchschnitt auf 1/3, 1/2, wenn nicht noch mehr, den Betrag der ihm dabei gänzlich verloren gehenden auf wenigstens 1/10 seiner im Buche verrechneten Einnahme veranschlagen. Und wie viel Zeit kostet ihm die Eintreibung solcher rückständiger Posten, das wiederholte Ausziehen von Rechnungen und Ausfertigen von Mahnbriefen! Wie viel Störungen in seinem Gewerbebetriebe bringt es ihm zuwege! Wie sehr nimmt es seine Gedanken in Anspruch, zieht ihn also von seinem Geschäfte ab! Mit welchen Sorgen belastet es sein Gemüth, raubt ihm also die frische Kraft und den fröhlichen Muth des Schaffens! Und am Ende, wenn er sich lange mit der Eintreibung [390] seiner Schulden abgemüht und viel schöne Zeit dabei verloren hat, muß er sich noch an einen Rechtsbeistand wenden, muß wohl gar vor Gericht klagbar werden, und hat nicht selten neben großen Verdrießlichkeiten nur neue Geldverluste an der Stelle der gehofften Einnahmen.

Die Unsicherheit, worin der größte Theil unserer Handwerker und kleinen Kaufleute in Betreff der Zeit ihrer Einnahmen, ja, bei vielen ihrer Forderungen, der Realisirbarkeit derselben überhaupt sich befindet, wird für sie nicht selten ein wesentliches Hinderniß eines geregelten, soliden und schwunghaften Betriebes ihres Gewerbes. Ein Handwerksmeister könnte durch Anschaffung von Rohmaterial im Großen, ein Detailhändler durch stärkere Ankäufe einer gerade besonders gangbaren Waare vielleicht ein sehr vortheilhaftes Geschäft machen, wenn er nur einen Theil von dem Gelde zur Verfügung hätte, welches ihm seine Kunden für längst und richtig abgelieferte Arbeit schulden. So aber sieht sich der Eine wie der Andere genöthigt, von dem gewünschten Handel abzusehen und den günstigen Moment unbenutzt zu lassen, ja wohl gar selber die nothwendigen Einkäufe auf Credit zu bewirken und vielleicht (denn der Großhändler borgt selten lange umsonst) Zinsen zu zahlen, während das Geld, welches Andere ihm schulden, keine Zinsen für ihn trägt. Sind die Zeiten besonders ungünstig und hat ein solcher Mann nicht ein nachhaltiges Anlagekapital, so kommt es leicht dahin, daß er, weil die erwarteten und mit Recht erwarteten Gelder nicht eingehen, statt seinen Betrieb auszudehnen, sich genöthigt sieht, ihn einzuschränken, oder daß er seine Kunden nicht mehr pünktlich und solid befriedigen kann, weil er nicht die Mittel hat, genug tüchtige Arbeiter zu halten, und weil er von dem Großhändler, dem er noch früheres Material schuldet, neues nur schwer und in mangelhafter Qualität erhält.

Am Härtesten treffen alle diese Uebelstände den minder bemittelten Gewerbs- oder Kaufmann und den Anfänger. Der letztere darf am Wenigsten wagen, in der Einziehung seiner Schulden sich von der hergebrachten Gewohnheit des geduldigen Abwartens und bescheidenen Bittens zu entfernen, sonst würde es ihm schwer fallen, Kundschaft zu bekommen. Er muß daher, will er nicht gleich in den ersten Jahren in Bedrängnisse und Schulden gerathen, ein größeres Kapital in sein Geschäft mitbringen, als sonst nothwendig wäre; er muß dieses Kapital, wenn er es nicht selbst besitzt, verzinsen, vielleicht hoch verzinsen; besitzt er es selbst, so muß er es lediglich dazu verwenden, den Ausfall, welcher das unvermeidlich lange Borgen in seinen berechneten Einnahmen hervorbringt, zu decken, statt daß er unter andern Umständen dasselbe zur Erweiterung seines Geschäftes hätte benutzen können.

Der reiche Gewerbtreibende hilft sich zwar scheinbar über die Mißlichkeiten des erzwungenen langen Creditgebens leichter hinweg. Mit Hülfe seines bedeutenderen Kapitals oder seines ausgedehnteren Credits hält er es schon so lange aus, bis die außenstehenden Summen eingehen, und für den gehabten Zinsenverlust entschädigt er sich durch höhere Preise, die er, bei größerer Kundschaft und ausgebreitetem Renommé eher, als sein geringerer Gewerbsgenosse, stellen kann oder durch die stärkere Zahl der Kunden, die er eben durch sein leichteres und längeres Creditgeben an sich zieht. Allein auch dieser günstiger gestellte Gewerbsmann bleibt selten von den Folgen jenes Uebels gänzlich verschont. Gerade er läßt sich durch die Leichtigkeit, eine zahlreiche aber schlecht zahlende Kundschaft zu bekommen, am Ersten verführen, sein Geschäft in’s Großartige auszudehnen, um seine Mitmeister zu überflügeln. Inzwischen kommen aber ungünstige Zeiten; die außenstehenden, oft zu bedeutenden Summen angewachsenen Reste gehen nun vollends nicht ein, und der vor Kurzem scheinbar so tief im Glück sitzende Handwerker oder Kaufmann hat dann bisweilen alle Hände voll zu nehmen, um sich nur, wie man zu sagen pflegt, über dem Wasser zu halten.

Während so der Gewerbestand fast ohne Ausnahme unter dem angeführten Uebelstande leidet, hat selber das Publikum von dem langen Creditgeben, welches durch falsche Nachgiebigkeit von der einen, Nachlässigkeit oder Unbilligkeit von der andern Seite zur herrschenden Sitte geworden ist, weit mehr Nachtheile als Vortheile. Ich will nicht davon sprechen, welche große Verführung es für den Leichtsinnigen ist, ohne baare Mittel, ja vielleicht ohne eine sichere Aussicht, solche in nächster Zeit zu bekommen, sich in den Stand gesetzt zu sehen, sein Bedürfnisse, nothwendige und überflüssige, nach Belieben zu befriedigen; auch nicht davon, wie störend und verdrießlich es oft für Denjenigen ist, welcher auf eine geregelte Bilanz in seinen Einnahmen und Ausgaben hält, seine Handwerker- oder Kaufmannsrechnungen nur in langen Zwischenräumen (weil es einmal so die Sitte mit sich bringt) und denn gewöhnlich zu solchen Zeiten zu erhalten, wo ohnehin drängende Ausgaben sich häufen. Ein viel reellerer und empfindlicherer Nachtheil geht gerade für den solidern Theil der Kunden aus jener Gewohnheit des langen Creditgebens hervor. Der Handwerker oder Kaufmann kann natürlich den Verlust an Zinsen und bisweilen sogar an Kapital, den er durch jenes Verhältniß erleidet, nicht selber tragen – er würde sonst bald unfehlbar zu Grunde gehen –; er muß sich also dafür zu entschädigen suchen, und wodurch könnte er dies anders, als durch einen Zuschlag auf seine Arbeit oder Waare im Allgemeinen. Dieser Zuschlag aber fällt vorzugsweise gerade den pünktlich zahlenden Kunden zur Last, welche nichts dafür können, daß der Gewerbtreibende durch den Leichtsinn der andern so zu verfahren genöthigt wird. Müßte der Handwerker und Kaufmann nicht den Verlust, den er durch das lange Creditgeben und die vielen bösen Schulden erleidet, auf seine Waaren schlagen, so könnte er diese bedeutend billiger liefern, und würde sich doch dabei besser stehen.

So verlieren beide Theile – der Gewerbsmann wie der Kunde – bei einer Gewohnheit, welche Niemandem eigentlich Nutzen bringt, ausgenommen etwa einigen Leichtsinnigen auf beiden Seiten. Das Handwerk selbst aber und der bürgerliche Verkehr im Allgemeinen müßte nothwendig durch diese immer weiter um sich greifende Sitte je mehr und mehr an Solidität verlieren.

Besonders fühlbar machen sich die Folgen dieses Uebelstandes in Zeiten, wie die gegenwärtigen, wo Jeder ohnehin alle seine Kräfte anspornen muß, um der Ungunst der Verhältnisse die Stirn zu bieten. Wie mancher Handwerker, zumal von den kleineren, kommt da in die drückendste Noth, weil er sein wohlverdientes Geld nicht herein bekommen kann! Wie manchem wäre geholfen, wenn er nur Das erhielte, was ihm von Rechts wegen gehört und gebührt!

Der Handwerker und der Kleinhändler sind darin ungleich schlimmer daran, als der Großhändler, der Banquier oder der Hausbesitzer. Wenn der Großhändler seinen Abnehmern einen Credit gewährt, so geschieht dies immer nur auf kurze und bestimmte Zeit; gegen eine willkürliche Ausdehnung desselben schützt er sich durch die strenge wechselrechtliche Verpflichtung, welche er dem Abnehmer auferlegt, und lässt sich zu einer Verlängerung der gestellten Frist nur schwer und nicht leicht anders, als gegen eine entsprechende Zinsenvergütung bewegen. Gerade so macht es der Banquier mit den Kapitalien, die er verleiht, der Hauseigenthümer mit den Räumen die er vermiethet. Der Handwerker und Kleinhändler dagegen ist der Willkür seiner Kunden im weitesten Umfange preisgegeben. Vielleicht bezahlen ihn diese nach einem Vierteljahre, vielleicht nach einem halben, vielleicht auch erst nach einem oder nach mehreren Jahren. Will er sie drängen, mahnen, am Ende wohl gar mit gerichtlichen Maßregeln drohen und solche, wenn alles Andere nichts hilft, in Vollzug setzen, so kann er zwar möglicher Weise auf diesem Wege zu seinem Gelde kommen (obgleich ihm auch das nicht immer gelingt) – aber er riskirt auch, seine Kundschaft einzubüßen und einen Collegen damit zu bereichern, der mehr Geduld oder mehr Mittel zu längerem Nachsehen und Abwarten besitzt.

Man hat in neuerer Zeit an vielen Orten die Einrichtung von Vorschußvereinen, Creditkassen, Handwerkerbanken u. dgl. betrieben, um dem minder bemittelten oder von Verarmung bedrohten Handwerker die mangelnden Betriebsmittel für sein Geschäft zu verschaffen. Gewiß ein löbliches Unternehmen, dem man nur den besten Erfolg wünschen kann! Aber sollte es nicht näher liegen, statt dem Handwerker Geld zu borgen, vor allen Dingen ihm dazu behülflich zu sein, daß er zu dem Gelde komme, welches Andere ihm schulden? Wenn man unsern Handwerkern das sichere, pünktliche und unverkürzte Eingehen ihrer Gelder verbürgen könnte, so würde dies für die Meisten eine weit größere und zuverlässigere Hülfe sein, als alle Vorschüsse aus fremdem Gelde, da diese bei der Schwierigkeit, sie zurückzuzahlen, eben wegen des mangelhaften Eingehens ihres eigenen verdienten Geldes, nicht selten für sie nur eine neue drückende Last werden.