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Die Gartenlaube (1855)/Heft 41

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 41. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Eine dunkle Vergangenheit.
Novelle von Bernd von Guseck.
(Fortsetzung.)


„Vielleicht der Herr Gemahl?“ fragte er, als der Mann im blauen Kittel sich entfernte.

Die Frau warf den Kopf etwas zurück, als beleidige sie diese Frage, und verneinte sie. „Gieb her, Fritzen sagte sie zu dem Kleinen, der den Fremden mit großen, runden Augen anstierte. Sie nahm ihm die Zügel aus der Hand, faßte in’s Backenstück und zum Steigbügel und ließ die Halbblutstute zum Erstaunen ihres Herrn sogar strecken.

„Sie haben einen hippologischen Cursus durchgemacht!“ rief er. „Zu Deutsch, Sie sind bei einem Stallmeister in die Schule gegangen.“

„Sitzen Sie nur auf!“ lächelte die Frau. Er wollte ihr für Nachtquartier und Bewirthung ein reichliches Geschenk aufbringen, aber sie lehnte es entschieden ab, und er warf sich denn in den Sattel.

„Auf Wiedersehen!“ sagte er. Die Alte schüttelte den Kopf, und wandte sich zu dem kleinen Führer, dem sie noch rasch einige heimliche Instruktionen gab.

Als Guido den Thorweg passirt hatte, hörte er ihn hinter sich verriegeln.

„Wo hinaus, Kerl?“ rief er den kleinen Mann in der Pelzmütze an.

Der Knabe zeigte thalauf. „Nach der Rinkenburg, Du weißt doch?“ fragte Guido verwundert, denn so viel Erdkunde hatte er doch noch gerettet, um zu wissen, daß die Thäler sich zu dem ebenen Lande senken, und daß sein heimathliches Schloß vor dem Gebirge lag. Aber der Knabe nickte und lief mit großer Sicherheit voraus, er mußte ihm also schon folgen. Ein gebahnter Weg war es nicht, der ihn aus dem namenlosen Thale wieder zu höhern Stufen des Gebirges führte, aber hier und da zeigten sich Pfadspuren, ob vom Wilde oder von Menschen, wer konnte das wissen? Der kleine Bote verstand es, dem Pferde an steilen Parthieen einen bequemen Aufgang im Zickzack auszusuchen und die erste Terrasse war gewonnen. Dießbach wandte sich noch einmal im Sattel um, aber er konnte das einsame Haus, das schon von der Bergmasse verdeckt war, nicht mehr sehen, und welche Fragen er auch an den Knaben richtete, wurde ihm doch nur eine einzige befriedigend beantwortet, nämlich daß er Fritze heiße und der Mann im blauen Kittel, der ihm die Pelzmütze aufgesetzt, sein Vater sei. Ueber das blonde Mädchen geberdete er sich so albern, als ob man von einem Gespenst mit ihm rede; er starrte Guido mit allen Zeichen der Furcht an, und schüttelte zu alten Fragen, ob sie wirklich die Tochter der Alten sei, wie sie heiße, ob sie heut ausgegangen sei, nur immer konsequent den Kopf. Seine Frage, wie weit noch? wußte er niemals zu beantworten; noch immer zeigte sich keine gebahnte Straße, nur gelegentlich ein quer über den seinigen laufender Fußsteig und in fernen Gründen, zu denen sein Blick zufällig von einer höhern Kuppe blicken konnte, zuweilen ein Dorf mit seinen grauen Dächern. Endlich öffnete sich überraschend zu seinen Füßen ein breites Felsenthal, von einem wasserreichen, über Klippen schäumenden Waldstrome durchbraust, unten lag ein Hüttenwerk mit rothen Dächern, weiter hinaus ein weitläufiges Dorf mit ansehnlichen Häusern.

„Das ist Thale!“ rief er. Der Knabe zog seine Pelzmütze von dem störrigen Flachshaare und zeigte auf einen Fahrweg, der wenige Schritt von ihnen sichtbar wurde.

„Gut!“ sagte Dießbach zufrieden. „Jetzt weiß ich meine Straße zu finden. Hier, mein Kobold, nimm diese königliche Belohnung, und wenn Du Dir noch diesen Thaler verdienen willst, so sagst Du mir, wie die alte Frau bei Dir zu Hause und ihre Tochter heißt, und ob Euer Thal wirklich keinen Namen hat.“

Der Kleine nahm das zuerst ihm gebotene Geschenk, auf das er gerechte Ansprüche hatte, der Versuchung des zweiten, das ihn zum Bruch ausdrücklich eingeschärfter Befehle verlocken wollte entrann er durch eilige Flucht indem er in das nächste Gebüsch sprang und mit der Schnelligkeit einer wilden Katze die steile Felswand erkletterte, die offenbar nach dem „Hexentanzplatz“ führte. Guido war jetzt vollkommen orientirt, jenseits auf den Felsen lag der allgemein bekannte „Roßtrapp“, die Hufspur der Prinzessin Brunhild, als sie zu Roß das Bodethal übersprungen und ihr dabei die goldene Krone entfallen, welche noch im Bett des kochenden Waldstromes ruht.



IV.

Es war schon Hochmittag, als er in die Rinkenburg einritt.

Hier traf er zuerst auf Kuno, der im Begriff stand, den kleinen Kaleschwagen, mit welchem er gewöhnlich ausfuhr, zu besteigen Er zog aber, so wie er den einreitenden Bruder bemerkte, den Fuß vom Wagentritt zurück, befahl dem Kutscher, auszuspannen und ging Guido langsam entgegen, denn er hinkte und zwar schon seit früher Jugend.

„Friedrich!“ rief Guido mit lauter Stimme. Sein Husar stürzte aus dem Stalle, ihm das Pferd abzunehmen.

[540] „Sage mir in aller Welt,“ fragte der unterdessen herangekommene ältere Bruder, „wo hast Du Dich umher getrieben? Ich war eben im Begriff, nach Dir Erkundigungen einzuziehen.“

„Mich als Deserteur mit Steckbriefen zu verfolgen, nicht wahr?“ erwiederte Guido lachend. „Komm, ich werde Dir genauen Rapport abstatten. – Friedrich!“ Der Husar steckte den Kopf aus der Stallthüre. „Nimm Dich in Acht, die Pistolen sind noch geladen.“

„Hast du in unserer friedlichen Gegend Pistolen mitgenommen?“ fragte Kuno mit einem gewissen Lächeln, das den jüngern zuweilen erröthen ließ, zuweilen aber auch in Harnisch jagte, wie jetzt.

Wir sind gewohnt, Waffen zu tragen,“ erwiederte er pikirt.

Sie waren in das Wohnzimmer getreten, wo das Kaminfeuer flackerte. Cuno stellte sich seiner Gewohnheit nach mit den Händen auf dem Rücken vor die wärmende Gluth, und erwartete ohne weitere Aufforderung Guido’s Bericht. Man konnte keinen größern Contrast sehen, als dies in jeder Beziehung ungleiche Brüderpaar. Guido war nicht groß, aber schlank und sehr proportionirt gewachsen, von zartem, fast mädchenhaftem Teint und feinen Zügen; schönes, blondes Haar, dessen natürliches Gelock kaum von den Scheeren des ersten Haarschneidesalons der Residenz zu der glatten und kurzen Form, sie sie die Mode der vornehmen Welt und der Dienst vorschrieb, gebändigt werden konnte, umzog eine hohe Stirn und milchweiße Schläfe, durch deren Haut die blauen Adern schimmerten; auf der etwas übermüthig aufgeworfenen Oberlippe kräuselte sich der erste noch unentweihte Flaum, und die Hände und Füße, von untadelhaft aristokratischer Form, vollendeten die anziehende Erscheinung, deren einziger Fehler, daß sie nicht männlich genannt werden konnte, sich ja mit jedem zurückgelegten Jahre verbessern mußte. Kuno dagegen war hoch und massiv gebaut, eine seiner breiten Schultern offenbar stärker ausgebildet, als die andere, so daß er von strengen Schönheitsrichtern wohl bucklig genannt werden konnte; rabenschwarzes Haar, mit auffallender Nachlässigkeit behandelt, hing in reichen und glänzenden Strähnen, wie sie eben fielen, um einen Kopf, dessen ausdrucksvolle Physiognomie Jeden überraschen mußte, der Kuno von Dießbach zum ersten Male begegnete. Das Gesicht war dunkel gefärbt, wie es in dieser nordischen Gegend selten zu finden ist; es hatte keine schönen Züge, aber diese waren fesselnd, dabei markig ausgeprägt und gewöhnlich tief ernst, ohne jedoch finster zu sein. Schwarze Augen, in denen ein verhülltes Feuer glimmte, das aber gelegentlich auch in flammende Gluten auflodern konnte, erhöhte den eigenthümlichen Eindruck, welchen dies Antlitz machte; in diesen Augen, deren Blick die Kraft hatte, jedes fremde Auge auf sich zu ziehen und zu bannen, aber auch zu Boden zu drücken, wenn sie wollten, schien ein Räthsel zu liegen, dessen Lösung wohl keine erfreuliche war.

Jetzt hatten sie sich auch fest auf den Bruder gerichtet, der ihrer bis jetzt unbestrittenen Autorität sich beugte und seinen Bericht mit der Nachricht begann, die er von dem Schäfer aus Sanct Pankraz eingezogen hatte, nämlich daß der neue Oberamtmann, welcher Siebel oder Wiebelich hieß, mit Sack und Pack eingezogen und also jedenfalls, wie Kuno wissen wollte, alle Tage zu sprechen sei, daß aber kein Mensch wissen, wohin sich Stargau begeben habe, der übrigens ja schon viele Jahre fort sei.

Kuno hatte ihn ruhig angehört und nur bei den letzten Worten einen stärkern Rauch aus seiner Cigarre gezogen.

„Du hast Dich mit dieser Schäfernachricht begnügt?“ fragte er jetzt. „Bist nicht auf den Hof geritten?“

„Aufrichtig gesagt, Kuno, ich wußte nicht recht, wie ich meiner Nachfrage einen rechten Grund geben sollte. Was geht mich dieser Herr Stargau an?“

Kuno erwiederte nichts, sondern drehte sich um, warf den Rest seiner Cigarre in das Feuer, schürte und schlug dasselbe mit dem Poker, daß die Funken spritzten, und nahm dann seine frühere Stellung wieder ein.

„Er ist Dir wohl mit einer Schuld durchgebrannt?“ fragte Guido.

„Ja!“ antwortete Kuno kurz.

„Viel?“ fragte Guido.

„Mehr, als Du ahnst!“ sagte der Aeltere mit einer ganz eigenen Betonung, die nur dem unbefangenen Bruder verloren ging.

„Das ist ja fatal. Von einem Kornhandel wohl?“

„Frage nach dem Handel nicht, niemals, Guido! Nun sage weiter, warum bist Du nicht nach Hause gekommen?“

„Mama hat sich wohl um mich geängstigt?“ war Guido’s Gegenfrage.

„Ich weiß es nicht, sie war krank,“ sagte der Aeltere.

„Mein Gott, sie ist wohl noch krank?“ rief Guido besorgt.

Die Antwort wurde Kuno erspart, denn die Mutter trat selbst in demselben Momente ein. Sie war eine große, etwas magere Dame von kerzengerader Haltung. Ihr Gesicht mußte einst wunderschön gewesen sein, man konnte dessen Züge, wenn sie auch ein wenig scharf geworden waren, noch immer interessant finden, und Frau von Dießbach, wie sie gar kein Hehl hatte, kam dem günstigen Eindrucke mit allen Künsten der Toilette entgegen; sie legte mit feinster Geschicklichkeit Weiß und Roth auf und unter der geschmackvollen Haube trug sie einen tief schwarzen künstlichen Haarscheitel. Als sie eintrat, verbreitete sie wieder den ganz eigenthümlichen Parfüm, den man stets an ihr kannte. Sie bereitete ihn selbst und war sehr eifersüchtig auf ihr Geheimniß, denn sie hatte selbst auf direkte Bitten ihrer genauesten Bekannten weder das Recept mitgetheilt, noch überhaupt jemals auch nur einen Tropfen dieser duftenden Essenz in ein fremdes Taschentuch gespendet. Ob dieselbe recht angenehme sein, darüber waren die Meinungen getheilt, sie hatte einen besondern Wohlgeruch, aber für zartere Nerven schien sie auf die Dauer angreifend zu sein. – Ein Kleid vom schwersten schwarzen Seidenstoff, wie sie es auch im Hause trug, vom anerkannt ersten Modisten der Hauptstadt gefertigt, floß in gefälligen Falten um die hohe Gestalt und gab ihr ein würdiges Ansehen, blendend weiße Manschetten und ein gestickter Kragen waren ihr einziger Schmuck, sie trug weder Broche noch Armband und keinen Ring an ihren feinen, schlanken Fingern. So machte die ganze Erscheinung einen durchaus vortheilhaften Eindruck, der nur durch den starren Blick ihrer Augen zuweilen beeinträchtigt wurde.

Als sie ihren Liebling bemerkte, milderte sich wie immer dieser starre Blick und sie rief ihm schon von der Thüre zu:

„Nun, Guido, sage mir, wo bist Du umhergeschwärmt?“

„Ja, Mama, solchen Vorwurf verdient man sich, wenn man allzu solide ist. – Ich habe Dich verwöhnt.“

„Ei, Du selbst verwöhntes Kind, ich will Dir Deine junge Freiheit auch gar nicht beschränken. – Guten Morgen, Kuno. Wir haben uns heut noch nicht gesehen.“

Es lag ein Vorwurf ganz anderer Art in dieser Bemerkung. Kuno nahm ihn auf und erwiederte, daß er seinen Gruß und die Frage nach ihrem Befinden noch nicht habe anbringen können.

„Mir ist wieder ganz wohl,“ sagte sie leicht. „Du brauchst mich nicht so besorgt anzublicken, Guido, Du weißt, daß ein Unwohlsein immer sehr schnell an mir vorüber geht.“

„Ja, Du bist Dein eigener Arzt und hast Deine Geheimmittel, Mama. Nimm Dich in Acht, daß Du nicht einmal wegen unbefugten Prakticirens belangt wirst.“

Der Blick der Mutter nahm während der Rede wieder jenen starren Ausdruck an, der ihn für Fremde, die ihn nicht gewohnt waren, unheimlich machen konnte. Ihre Söhne waren aber längst damit vertraut und wußten, daß sie dann von andern Gedanken befangen wurde, die sie in Anspruch nahmen und nicht recht auf das hören ließen, was man zu ihr sprach. Diesmal schien letzteres jedoch nicht der Fall zu sein.

„Ich rathe Dir, ein Glas Ungarwein zu trinken, denn Du siehst übernächtig und angegriffen aus,“ sagte sie.

Guido eilte vor den Spiegel. Er fand die Beschuldigung einigermaßen bestätigt, schob die Schuld aber auf sein abenteuerliches Nachtquartier, wo er die einfachsten[WS 1] Toilettegegenstände habe entbehren müssen. Während er sprach und sich noch immer mit Aufmerksamkeit betrachtete, stockte auf einmal seine Rede, er blickte sich überrascht um, sah wieder scharf in den Spiegel und rief endlich: „Auf meine Ehre! Aber das ist das merkwürdigste Spiel der Natur, das je erlebt worden ist. Denkt Euch, ich habe heute früh ein Mädchen gesehen, das mir so wunderbar bekannt vorkam, und jetzt erst – unbegreiflicher Weise! – wie ich vor den Spiegel trete, fällt es mir auf einmal wie Schuppen von den Augen, als ob ich meine eigene Visage ganz vergessen hätte. Sie sieht mir ähnlich – aber so frappant, daß Ihr gar keinen Begriff davon habt. Steckt die Blondine in den Husaren-Attila oder mich in ihren schwarzweißen Ueberwurf, so sind die Zwillinge fertig!“

[541] „Wo war das?“ rief Kuno, rasch einen Schritt näher tretend, während sein dunkles Gesicht sich noch dunkler gefärbt hatte. Die Mutter heftete ihre Augen so fest auf Guido, daß ihr Blick ihm peinlich wurde, aber sie fragte nichts, sondern schien seine Erklärung, als sich von selbst verstehend, zu erwarten.

„Ja, wo war das? Weiß ich’s? In einem namenlosen Thale, hoch oben im Gebirge, zwischen Tannen und grauen Felsen, in einem alten verwitterten Hause, bei einer eben so alten verwitterten Hexe, die sich für ihre Mutter ausgab – vier, sechs Stunden vielleicht von hier, wer kann es messen!“

Kuno hatte ihm aufmerksam zugehört, doch kein Zug seines strengen Gesichts verrieth, was in ihm dabei vorging.

„Wie kamst Du dahin?“ fragte er. Die Mutter äußerte noch immer kein Wort, sondern setzte sich auf einen Lehnstuhl„ wo sie einen Moment ihre geradeauf gerichtete Haltung aufgab und sich zurücklegte, aber so wie Guido zu sprechen anfing, setzte sie sich wieder aufrecht und sah ihn starr an.

Guido berichtete nun sein ganzes Abenteuer, wobei er den Umstand, daß er sich verirrt hatte, nach Kräften zu verschleiern suchte, er hatte sich keine Mühe zu geben brauchen, seine Zuhörer legten auf ganz andere Dinge seiner Erzählung, und nur auf diese, Werth. Auch unterbrachen sie ihn nicht, und erst, als er geendigt hatte, trat Kuno zur Mutter, blickte ihr voll in das Gesicht und fragte. „So viel ich errathen kann, muß Guido in der Eremitage gewesen sein! Meinst Du nicht auch?“

„Ich glaube es fast,“ sagte Frau von Dießbach kalt.

„Und die alte Frau, welche er dort getroffen hat, kann niemand Anderes sein, als Deine Nina, die gewesene Kunstreiterin.“

Guido lachte fröhlich auf, er hatte nun auf einmal eine Fülle von Aufklärungen. „Ganz entschieden!“ rief er. „Sie würde noch heut, freilich als horrible Schönheit, im Circus von Renz oder Loisset Furore machen, ich sehe sie durch vierzig Reifen springen, wie das Wunderkind Ella, ohne, wie diese, in einem Abende sechs Mal vom Pferde zu fallen! Also die Eremitage heißt das romantische Haus – nun, eine Zeit lang kann es sich ein Eremit dort schon gefallen lassen, wenn er von der hübschen Blondine bedient wird, die ich nächstens auch im Circus den Fußstapfen ihrer Pseudo-Mama folgen zu sehen hoffe!“

„Hör’ auf zu witzeln, ich bitte Dich!“ sagte Kuno, aus dessen finster zusammengezogenen Brauen schwere Wolken lasteten, und sich wieder zu der Mutter wendend: „Was meinst Du, kann es eine Andere sein, als Deine schwarze Nina?“

„Ich weiß es nicht, aber es ist wohl möglich,“ antwortete Frau von Dießbach.

„Möglich?“ rief Kuno wild, aber er mäßigte seinen Ton gleich wieder, als er seitwärts blickend des Bruders Verwunderung bemerkte. „Ich frage, wie ist es aber möglich, da die Eremitage doch verschlossen, ihr Schlüssel von meinen eigenen Händen in den Bodekessel geworfen und die Thüre vermauert worden ist? Wie kann das Weib eigenmächtig sich dort einnisten und eine förmliche Wirthschaft halten, da die Stätte doch ewiger Verlassenheit übergeben wurde?“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Frau von Dießbach mit eisiger Ruhe. „Es muß untersucht werden!“

„Das soll es!“ rief Kuno drohend, und seine Stirn wurde finster, wie die Nacht. „Ich bin seit langen Jahren nicht dort gewesen, man rechnete wohl darauf, daß ich jene Stätte nicht mehr betreten würde. Wäre ich doch nur ein einzig Mal hingekommen!“

„Deine Schuld!“ sagte die Mutter.

„Die Schuld?“ – rief Kuno mit einem heißen Athemzuge. „Nun,“ fuhr er gefaßter fort, „wir werden ja sehen. Wenn das Weib also nicht mit Deiner Bewilligung dort wohnt, sie hat doch Deine Erlaubniß nicht?“

„Meine Erlaubniß hat sie nicht, hätte ihr auch nichts helfen können, denn mir gehört der Grund und Boden nicht, Du bist der Gutsherr.“

„Das bin ich!“ versetzte Kuno, kreuzte die Arme über der breiten Brust, als wolle er die hochgehenden Wogen, welche sie aufschwellten, niederdrücken und trat wieder an den Kamin zurück.

Für Guido war die Scene ein unerklärbares Räthsel, er hatte nur einen stummen, staunenden Zeugen abgegeben. Daß zwischen der Mutter und Kuno, seinem Stiefbruder, kein gutes Verhältniß Statt fand, wußte er längst, aus manchem Zeichen. Aber so deutlich, wie heut, war ihre Spannung noch nicht hervorgetreten. Was mochte die Ursache sein? Gewiß nur Kuno’s schroffer Charakter, der auch der Mutter die schuldige Rücksicht versagte! Dann aber, welchen Zusammenhang hatten diese Anspielungen auf Verhältnisse früherer Zeit, von denen er auch nicht einmal eine Ahnung besaß? Hatte er, als Sohn des Hauses nicht ein Recht, hier Erklärungen zu fordern?“

„Sage mir, Mama,“ fing er an, „was hat es mit dieser Eremitage für eine Bewandtniß? Hat sich dort irgend etwas Schreckliches zugetragen, daß sie vermauert und ihr Schlüssel, wie der von Ugolino’s Hungerthurm, in den Strom geworfen worden ist? Ich hätte das in tiefer Einsamkeit gelegene Haus nicht für eine Stätte des Grauens, sondern eher für ein Asyl verborgener, beglückter Liebe gehalten.“

Kuno verließ in diesem Augenblicke, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer, und Frau von Dießbach stand so heftig auf, daß der Lehnstuhl eine Strecke zurückrollte. Aber kein Blick, keine Miene verrieth eine innere Bewegung, und der fein aufgetragene Carmin ihrer Wangen verdeckte jeden Wechsel der Farbe.

„Guido, geh’ Deinem Bruder nach,“ sagte sie. „Vielleicht habe ich ihn gereizt, er ist eine vulkanische Natur und kann meine Ruhe, die ich ihm entgegensetze, nicht immer ertragen. Frage ihn aber nicht über das, was wir eben besprochen haben – er würde Dir doch aus guten Gründen nicht Rede stehen – von mir, mein Kind, sollst Du erfahren, was Du wissen willst. Sieh zu, was er unternimmt, ich glaube, er will das arme Weib, das dort ein Obdach gefunden hat, vertreiben – darnach frage ihn geradezu – und sage mir, was er Dir antwortet. Aber laß ihn nicht merken, daß ich Dir den Auftrag gegeben habe. Ich schenke Dir mein Vertrauen und verlasse mich ganz auf Dich.“




V.

Frau von Dießbach war nun allein. Sie stand unbeweglich auf der Stelle, wo sie Guido entlassen hatte; ihr Auge sah in das Leere, ihre Arme hingen schlaff herab, doch das Haupt trug sie aufrecht, und nur ein leises Zucken ihrer feinen Lippen bekundete, daß sie im Innern nicht so unbewegt war, als ihr versteinertes Aeußere erschien. So stand sie wohl eine Viertelstunde und es war ihre Gewohnheit so, wenn sie ihren Gedanken nachhing. Ihre Sinne mußten aber dabei doch nicht ganz der Außenwelt verschlossen sein, denn das leiseste und fernste Geräusch ging ihr nicht verloren: es war, als sei ihr Gehör stets auf der Hut, um sich nicht in solchen Momenten von einem unberufenen Zeugen überraschen zu lassen.

Auch jetzt hörte sie ihres zurückkehrenden Sohnes raschen und elastischen Schritt, noch ehe er vom Hofe aus die Schwelle des Hauses betreten hatte, und sie setzte sich ruhig auf ihren gewohnten Platz am Fenster und nahm die Stickerei auf, an der sie gewöhnlich arbeitete. Als Guido eintrat, sah sie gleichmüthig aus. „Du bist erregt, mein Kind?“ fragte sie. „Kuno ist doch nicht unfreundlich gegen Dich gewesen?“

„Im Gegentheil! Ich gegen ihn! Wenn Du mich Dein Kind nennst, Mama, so machst Du mich glücklich, denn ich weiß Deine Liebe zu verstehen, aber wenn ein Anderer – und wär’s mein Bruder, der zwanzig Jahre älter ist, als ich! – sich herausnimmt mich wie ein Kind zu behandeln, so zeige ich ihm, daß ich für ihn und alle Welt kein Kind mehr bin!“

„Ich bitte Dich, Guido!“

„Nein, Mama. Ich bin Kuno sehr gut und achte seinen entschiedenen, männlichen Charakter, thue ihm auch zu Gefallen, was in meinen Kräften steht, aber wenn er mich blos als sein Werkzeug, als eine Maschine betrachtet, die blind und taub seinen Plänen dienen soll, ohne nur das Recht zu erhalten, einmal darnach zu fragen, so weise ich Arroganz mit gleicher Waffe zurück und erkläre mich, durch nichts mehr gebunden, zum freien Herrn meines Willens und – meiner Zunge.“

„Hat er Dich als ein solches Werkzeug gebrauchen wollen, mein armer Guido?“ fragte die Mutter sanft.

„Ja, Mama. Und ich würde nicht eine Silbe davon sagen, aber er hat mich selbst provocirt, mich mit einer wahrhaft dämonischen Laune geradezu aufgefordert, Dir zu erzählen, was ich ihm gestern in Sanct Pankraz auskundschaften sollte, während ich Dir [542] – verzeihe mir, Mama! – einen bloßen Spazierritt, höchstens bis Ballenstedt, vorgab.“

„Also diplomatische Aufträge, um sie nicht trivialer zu bezeichnen?“ frgte die Mutter lächelnd. Aber welch’ ein Lächeln war das! Hätte der Sohn in seiner Unbefangenheit nur Augen dafür gehabt!

„Recht, Mama. Gemeines Spioniren muß es genannt werden. Einem miserabeln bankerotten Oekonomen, wie ein Bluthund von San Domingo auf die Spur gesetzt, blos um ihn vielleicht lumpiger hundert Thaler wegen, die er ihm beim Kornschacher zu Dank schuldig geblieben, zu hetzen! Das ist gemein, empörend, und hätte ich das gestern gewußt, so würde ich eher meiner Kitty eine Kugel in’s Ohr gejagt haben, als nach Sanct Pankraz zu reiten.“

„Wen meinst Du eigentlich? Ich verstehe Dich nicht,“ sagte Frau von Dießbach und lüftete ihr Schnupftuch, aus welchem jener feine durchdringende Parfüm in stärkern Duftwogen strömte.

„Ich meine den ehemaligen Pachter Stargau,“ erwiederte Guido. „Nach ihm sollte ich Erkundigungen einziehen, wo er ein Ende genommen habe und was ich sonst über seine letzte Zeit in Sanct Pankraz in Erfahrung bringen könnte: ich glaubte, es wäre Theilnahme für den armen Mann, erst heut bin ich über die noblen Beweggründe meines Herrn Bruders aufgeklärt worden. Es ist schon nichts, daß ein Landedelmann Handel treiben muß, die Gesinnungen werden durch die ewige Geldspeculation verdorben.“

Frau von Dießbach nahm von dieser sonderbaren, aber ganz charakteristischen Ansicht keine Notiz, sondern sagte: „Wenn er Dir also doch Mittheilungen gemacht hat, worüber beklagst Du Dich denn?“ Ihr Ton klang einschmeichelnd, ihr Blick hatte etwas Lauerndes, sie wußte auf Guido immer ohne direkte Fragen zu wirken.

„Das interessirte mich am Wenigsten. Es thut mir leid, wenn Herr Stargau in’s Elend gerathen ist. Aber was geht es mich an? Ich wollte über die Eremitage und was sich dort zugetragen hat, Auskunft haben, über die ehemalige Kunstreiterin und ihre angebliche Tochter, die mir ähnlich sieht! Damit hat er mich schnöde abgewiesen – weißt Du, was er mir in den Bart geworfen hat? Du bist noch zu jung: dazu gehört nicht Porzellan, sondern Granit! Ich habe ihm aber meine Meinung über seinen geistreichen Vergleich gesagt!“

„Laß es gut sein, Guido. Du sollst Alles von mir erfahren. Kuno geht seine eigenen Wege und läßt sich nicht gern kreuzen. Natürlich hat er Dir über diese Wege nichts vertraut. – Aber er ist hart wie Granit – darin paßt sein Vergleich vollkommen. Gewiß ist er schon auf dem Wege nach dem Thale.“

„Das glaube ich nicht, Mama. Ihm scheint vor Allem sein Geld am Herzen zu liegen, womit ihm der Domainenpachter durchgegangen ist. Erst, glaube ich, will er sich nach dem erkundigen, wenigstens fragte er mich, wo ich gestern den Schäfer von Sanct Pankraz mit seiner Heerde getroffen, den ehrbaren Herrn Glupsch.“

„Den hast Du getroffen?“ rief Frau von Dießbach lebhaft – gedankenvoll setzte sie hinzu: „Das ist ein treuer Mensch.“

„Kennst Du ihn auch?“ fragte Guido. „Er sagte, daß er Dich kennt.“

Die Mutter sah eine Weile vor sich hin, dann blickte sie auf: „Hast Du schon etwas genossen, mein Sohn?“

„Wie wo, Mama? Ich rechne allerdings stark noch auf einige beaux restes von Eurem Diner, das ich leider versäumt habe. Die Dame vom Circus hat mich eben nicht üppig bewirthet.“

„Kannst Du Dich heut einmal mit einem Soldatenimbiß aus der Hand begnügen, wenn Deine Mutter Dich um Deine Gesellschaft bei einem Spaziergange bittet? Wenn Du es aber nicht gern thust und angegriffen bist –“

„Angegriffen, ich!“ rief Guido. „Ich bin Soldat, meine Herzensmama, und wär’ ich auch hungrig und müde zum Ausblasen, für Dich meinen letzten Athemzug, Mama!“

Die Mutter stand auf und schloß ihn zärtlich in ihre Arme. „Ich weiß es, Du bist mein gutes Kind und wirst mich niemals verlassen.“

„Mama!“ rief der Sohn, von dem Momente hingerissen. „Ich sehe, wie Du mit Kuno stehest. Warum bleibst Du hier? Warum ziehst Du nicht in meine Garnison, sie ist im Winter todt, man sieht dann nichts, als Schnee und Soldaten, aber im Sommer ist es dort um so reizender, und ich würde Dich auf den Händen tragen.“

„Das bin ich überzeugt,“ sagte sie. „Aber sprechen wir jetzt nicht davon. Ich gehe, für unsern Spaziergang und Deinen Appetit zu sorgen.“

„Und unterwegs erzählst Du mir vielleicht?“ – fragte Guido. Sie nickte ihm zu und ging hinaus.

Kuno hatte in der That seinen kaum ausgespannten Harttraber, den er vor der kleinen Kalesche immer selbst fuhr, wieder aufschirren lassen und nahm eben die Zügel aus der Hand des Knechts, als seine Mutter aus dem Fenster der Speisekammer nach ihm blickte. Ihre Lippen bewegten sich zu unhörbaren Worten: ein Segensspruch war es nach dem Ausdruck ihrer Mienen nicht.

Er fuhr wirklich über das freie Land in der Richtung nach der Stadt, lenkte aber bald in Feldwege, die ihn endlich zu der sich aus der Ebene erhebenden Hügelgruppe führten, an deren Fuß die stattlichen Gebäude des ehemaligen Klosters Sanct Pancratii lagen. Der hellste Sonnenschein verklärte sie und wob einen goldenen Schimmer um die graue viereckige Warte auf der Höhe, fliegende Herbstfäden wehten von jedem Baume der Ebereschenallee, in deren Zweigen viel Geflatter von Vögeln war. Kuno spähte mit scharfem Auge rings über die Flur nach der Heerde, deren Schäfer er gern gesprochen hätte, aber sie war nirgends zu erblicken und weidete wohl heut auf einer andern Trift. So verfolgte Dießbach denn den Weg nach Sanct Pankraz. Vor dem Thore der geschlossenen Umfassungsmauer hielt er still: „Steig ab, melde mich beim Oberamtmann an,“ befahl der dem Knechte, der hinter ihm saß. Dieser gehorchte, und blieb ungewöhnlich lange aus, doch wartete sein Herr, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld zu verrathen.

„Der Herr Oberamtmann ist nicht zu Hause,“ klang endlich der Bescheid, „aber der Frau Oberamtmann wird es eine große Ehre sein.“

„Der Frau habe ich nicht gemeldet sein wollen,“ sagte Dießbach schroff und zog die Zügel an, um wieder umzukehren.

„Sie zieht sich expreß Ihretwegen an, gnädiger Herr“ – wandte der Knecht ein.

„Steig auf!“ befahl Dießbach, gab aber doch seinen unhöflichen Entschluß auf und fuhr in den Hof ein.

Wie anders sah es hier aus, als auf seiner eigenen Rinkenburg! Welch’ ein weiter Hofraum war von massiven, mit wahrer Verschwendung ausgestatteten Wirthschaftsgebäuden umschlossen, welch’ ein Schatz, den nur ein Landwirth zu würdigen verstand, lag vor den Ställen aufgethürmt – wir zagen, unsern feinen Leserinnen, die nicht vom Lande sind, zu sagen, aus welchem Stoff dieser Schatz bestand! Hoch mit Stroh bedeckt war ein anderer Theil des Hofraum, wo die reich gefüllten Scheunen lagen, und noch stand draußen ein wahres Feldlager von Fruchtschobern, weil die Scheunen den Segen nicht fassen konnten; in der Mitte des Hofes ragte ein runder großer Thurm mit vielen Mauerlücken und geblendeten Fenstern, auch etagenweisen Thüren, und seine Bewohner – viele Hunderte an der Zahl, aus allen Gattungen des Hausgeflügels – flatterten, liefen, pickten und lärmten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, auf dem Hofe umher. Hier war Reichthum und Fülle, die nicht ängstlich um jedes Korn, um jeden Halm zu sorgen braucht! Was mußte ein armer Oekonom aus dürftiger von der Natur ausgestatteten Gegend, wo man eine spärliche Nadelstreu in den Kiefernwäldern zusammenkratzt und dem magern Boden doch nicht zu Hülfe kommen kann, fühlen, wenn er einen solchen Hof betrat! Ein solcher schien der Mann im fadenscheinigen Rocke zu sein, der eben von einem jungen Mädchen mit einer Gabe bedacht wurde, als Kuno von Dießbach an dem eisernen Gitter vorfuhr, welches den Bezirk des Wohnhauses mit seinen Gartenanlagen von dem Hofe trennte. Er zog einen zerknitterten Hut, der fremde Mann, vor dem Mädchen, bedankte sich und fragte, so daß es Kuno hören konnte: „Also eine Condition für mich wissen Sie nicht? Ich habe die Oekonomie gründlich gelernt!“ Es klang wie eine Selbstironie, wenn man seine elende Erscheinung dabei betrachtete. Kuno’s Blick streifte über den Mann, während das junge Mädchen ihm eine bedauernde Antwort gab. Der Mann aber schwenkte den Hut auch vor Kuno: „Gehorsamster Diener, Herr von Dießbach.“

(Fortsetzung folgt.)
[543]

Die französischen Garde-Cürassiere.

Es war in den hohen Nachmittagstunden des 18. Juni 1815, als in den Fluthen der geschlagenen französischen Armee noch ein Reservebataillon französischer Gardegrenadiere, von dem Helden Cambronne befehligt, zusammenhielt – ein Fels im brandenden Ocean – endlich brach auch diese Granitcolonne unter dem weltgeschichtlichen, wie wir neulich mittheilten, vielfach angezweifelten Rufe. Die Garde stirbt, doch sie ergiebt sich nicht! Von dieser Stunde an gab es keine französische Kaisergarde mehr. Sie ruhte neununddreißig Jahr im Grabe; leuchtend unsterblich in den Büchern der Geschichte als Muster militärischer Bravour und Disciplin. Sie ist wieder erstanden unter Napoleon III. und hat unter den Mauern Sebastopols bewiesen, daß der Geist der Väter auf die Söhne übergegangen. – Unter den wiederhergestellten Regimentern zeichnen sich durch Uniformirung und schöne Haltung die Garde-Cürassiere aus, von denen wir heute eine eben so gelungene wie getreue Abbildung geben.

[544]

Populäre Briefe über Musik.

Von J. C. Lobe.
Erster Brief.

Ohne Notenbeispiele soll ich Ihnen und allen Lesern der Gartenlaube, auch solchen, die keinerlei Art von Musikunterricht genossen, das Wesen und die Wirkung der Tonkunst so verständlich machen, daß Sie alle aus Musikliebhabern in wirkliche Kenner verwandelt werden! Eine schwere Aufgabe! Indessen sei’s versucht.

Was ist Musik?

Ich habe diese Frage an einem anderen Ort[1] so beantwortet: „Musik ist die Kunst, durch Töne das Ohr zu vergnügen, das Herz zu rühren, die Einbildungskraft mit mannigfaltigen Vorstellungen zu beleben und den Verstand in angenehme Thätigkeit zu versetzen.“

Wenn Sie an die Eindrücke denken, die Sie bisher beim Anhören von Musik empfunden haben, wird Ihnen diese Erklärung freilich vielversprechend vorkommen. Auch möchte ich mich keineswegs verbindlich machen, sie an allen nach Belieben mir vorgelegten Stücken zu bewahrheiten. Nichtsdestoweniger kann und soll die Tonkunst alle jene Wirkungen hervorbringen, und hat sie durch manches herrliche Werk hervorgebracht, wie ich Ihnen zu zeigen hoffe.

Nur müssen Sie ein wenig Geduld mitbringen und sich zuerst einiges von den Elementen der Musik sagen lassen. Das Zurückgehen zu der Betrachtung derselben ist auch gerade in unserer Zeit wichtiger als Sie vielleicht glauben, und nicht blos für Laien, sondern auch für manchen Künstler. Denn daß recht renommirte der letztern sich zuweilen gar nicht mehr daran zu erinnern scheinen, was die musikalischen Elemente eigentlich zu bedeuten haben, wozu sie dienen, warum sie verwendet werden, davon sollen Sie ergötzliche Pröbchen erhalten. Lassen Sie daher das Blatt nicht etwa gleich erschreckt aus der Hand fallen, wenn ich vom Ei anfange oder wenigstens von

Schall, Ton und Klang.

Sie werden schwerlich eine Viertelstunde Ihres Lebens wachend hinbringen können, ohne irgend etwas zu hören, denn überall in der Natur wird Hörbares erzeugt. Alles Hörbare nennt man im Allgemeinen Schall. Die Lehre vom Schall (Akustik), früher nur ein karges Kapitel in der Physik, ist jetzt zu einer bedeutenden Wissenschaft für sich erhoben und ausgebildet. Leider aber nehmen noch wenige Musiker Notiz davon. Manche sogenannte „Genialität“ der Virtuosen und Componisten würde unterbleiben, wenn sie die unwandelbaren Naturgesetze des Schalls und menschlichen Ohres kennten! Ich gebe Ihnen einige Andeutungen aus diesem unsichtbaren Wunderreiche. Sie werden bald merken, warum.

Alles Schallende wird durch Schwingungen (Vibrationen) elastischer Körper erzeugt. Diese Schwingungen theilen sich der Luft mit, bewirken Schallwellen, welche an das Ohr schlagen. Wie wunderbar kunstvoll dieses kleine Werkzeug eingerichtet und berechnet ist, um alles in sein Bereich kommendes Hörbare auffassen und dem Geiste und Gemüthe des Menschen zur Kenntnis bringen zu können, haben Sie bereits aus des Prof. Bock früheren Aufsatz in der Gartenlaube erfahren. Wie unendlich verschieden aber sind die Schalle, und welche unendlich verschiedene Wirkungen bringen sie auf uns hervor.

Denken Sie z. B. an das ohrzerreißende Knirschen und Rasseln eines Lastwagens auf dem harten Steinpflaster und an den schmelzenden Gesang der Nachtigall! Die Hauptursache dieser verschiedenen Wirkungen liegt in der verschiedenen Art der Schwingungen. Es ist entweder regelmäßige oder unregelmäßige. Jene folgen in gleicher, diese in ungleicher Weise aufeinander. Die ungleich aufeinander folgenden bringen dem Ohr nur Geräusch, und des Geräusches wegen suchen gebildete Menschen die Musik nicht auf. Nichtsdestoweniger können Sie zuweilen Tonstücke hören, die kaum mehr als Geräusch zu nennen sind; und doch, sollte man es für möglich halten, giebt es Leute, die von solcher Musik entzückt zu werden behaupten, und sie für eine höhere Kunstoffenbarung ausgeben. Ein Blick in das ABC der Akustik könnte ihnen diesen Irrthum benehmen.

Wir, die wir von der Musik vergnügt sein wollen, halten uns an die regelmäßigen Schwingungen. Das nächste Merkmal an denselben ist ihre Unterscheidbarkeit (Meßbarkeit) nach Höhe und Tiefe. In dieser Beziehung nennen wir ihr Hörprodukt Ton.

Je langsamer die Schallweilen aufeinander folgen, desto tiefer ist der Ton, je schneller, desto höher. Sie können freilich auch so langsam oder schnell aufeinander folgen, daß ihr Erzeugniß für uns nicht mehr faßbar ist. Die Akustiker sagen, was unter funfzehn Schwingungen und über 30,000 in einer Sekunde gehe, könne das menschliche Ohr nicht mehr hören.

Die Anzahl der in der Musik gebräuchlichen Töne beläuft sich etwa auf hundert und zwanzig. Das Pianoforte der Neuzeit enthält ihrer in sechs Octaven 72. Es sind genug, um die wunderherrlichsten Wirkungen auf Herz und Geist der gebildeten Menschheit hervorzubringen, wenn sie mit Kunstverstand gebraucht und mit Kunstverstand vernommen werden.

Eine große Mannigfaltigkeit gewinnt die Erscheinung der Töne durch die verschiedenen Tonwerkzeuge. Denken Sie sich denselben Ton, angegeben von einer Singstimme oder einer Violine, Flöte, Oboe, Trompete, einem Horn u. s. w. Hier erscheint er sanft, dort gellend, hier dünn, dort dick u. s. w. Jedesmal hat er einen andern Charakter. Diesen Unterschied in dem Charakter des Tons nennt man Klang (Timbre). Sie werden oft hören, „dieser Sänger hat einen schönen Ton.“ Das ist falsch, es muß heißen: „Die Töne dieses Sängers haben einen schönen Klang.“ Die Ursachen des verschiedenen Klanges eines und desselben Tones auf verschiedenen Tonwerkzeugen sind noch nicht vollständig ergründet. Soviel weiß man, daß entweder die Construktion der Instrumente oder die Spieler derselben darauf Einfluß haben. Den schlechten Klang eines alten Klaviers vermag selbst Liszt’s Zauberhand nicht umzuändern, denn da sind Bauart, dünner Saitenbezug, schwacher Resonnanzboden schuld daran. Dagegen schützt uns die herrlichste Geige von Amati oder Stradivario nicht vor ohrzerreißenden Klängen, wenn ein Anfänger seine Uebungen darauf kratzt, gewöhnlich bei geöffneten Fenstern! (beiläufig gesagt: wenn Sie bei Musikübungen geöffnete Fenster erblicken, so sagen Sie nur getrost: da drinnen steckt ein eitler Narr oder eine eitle Närrin!)

Es giebt auch Tonwerkzeuge, die, allein gehört, unangenehm klingen, mögen sie noch so gut gebaut sein und gespielt werden. Lassen Sie sich einmal die Melodie eines Strauß’schen Walzers auf dem Contrabaß allein vortragen, sein dumpfes Murxen und Brummen wird Ihnen wahrhaft komisch vorkommen! Ueber die Klänge der Ophikleïde, des Contrafagott gerathen Sie wohl auch nicht in Entzücken! Andere Instrumente klingen nur in gewissen Tonregionen angenehm, in andern schlecht. Die höchsten Töne auf der Klarinette schneiden meist wie Verzweiflungsquiekse eines gespießten Kindes in Ohr und Herz! Und nun gar große und kleine Trommel, Becken, der Häuser erschütternde Tamtam! Diese Körper geben gar keine Töne und Klänge von sich, sondern nur Schalle mit unregelmäßigen Schwingungen, d. h. Geräusch. Sie werden indessen in der Folge erfahren, unter welchen Umständen auch solche Schalle mit andern Klängen verbunden zu veredeln sind.

Wenn Sie nun zugeben, daß die allererste Bedingung der Musik ist, das Ohr zu vergnügen, so fängt Ihre Bildung zur Kennerschaft schon nach diesen wenigen Zeilen an, so wissen Sie schon jetzt, daß in der Musik keine Miß-, sondern nur Wohlklänge producirt werden sollen. Was aber Sie und alle Leser der Gartenlaube ganz natürlich finden, scheint in der That mancher Künstler nicht begriffen zu haben.

Kann das Ohr z. B. Vergnügen an der zitternden Stimme eines alten Mannes oder Weibes empfinden? Und doch geben sich in unserer Zeit viele Sänger und Sängerinnen geflissentlich Mühe, die Melodien mit zitternder Stimme vorzutragen (zu tremoliren!). Auch auf der Violine, dem Violoncell, können manche Virtuosen keinen Ton aushalten ohne mit ihrer Hand absichtlich wie schwache Greise auf der Saite zu zittern, und diese dadurch vibriren zu machen.

Woher kommt diese Thorheit?

[545] Sie hat zweierlei Ursachen. Irgend ein besonders berühmter Sänger, wer weiß vor wie vielen Jahren, konnte das Singen nicht zu rechter Zeit lassen, wollte, wie eitle Künstler oft, bis in’s höhere Alter hinein fortglänzen. Natürlich zitterte seine Stinnne zuletzt. Aber der im Alter vibrirend Singende war doch einst ein wirklich großer Künstler. Nun wissen nur ja alle:

„Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt!
Aber sein Genie, ich meine sein Geist!“

Das Zittern machte dem Alten ein talentloser Narr nach, und glaubte zu sein, was jener gewesen war! Und ein Narr macht zehn! Der zweite Grund dieser widerwärtigen Vortragsweise ist an sich vernünftigerer Art. Es kann ein schmerzlicher Affekt durch kurzes Vibriren der Stimme wahrer und wirkungsvoller ausgedrückt erscheinen. Daraus folgern nun Manche, was einmal Wirkung mache, müsse sie immer machen, je mehr man also vibrire, desto mehr wirke man!

Was das Ohr von dem Vortrag der Sänger und Virtuosen verlangt, Wohlklang durchaus, verlangt es auch von allen Orchesterklängen. Nun fragen Sie sich bei Conzertaufführungen, Opern u. dergl., ob Sie stets angenehme Zusammenklänge und nicht auch zuweilen blos wüstes Geräusch hören!

Man kann einen Ton singend oder blasend so lange ohne Unterbrechung aushalten, als der Athem es erlaubt. Auf Streichinstrumenten so lange als man will. Dagegen ist er auch ganz kurz anzugeben. Und zwischen beiden äußersten Fällen sind alle Grade von Länge und Kürze zu produciren. Diese verschiedenen Erscheinungsweisen der Töne nennt man ihre Geltung.

Nehmen wir einen Stab und schneiden ihn genau in der Mitte durch, so haben wir zwei gleiche Hälften, wird jede Hälfte wieder in der Mitte getheilt, so entstehen vier Viertel, durch weitere gleiche Theilung acht Achtel u. s. f.

Außer dieser Theilung in immer kleinere gleiche Hälften, kann der Stab auch in eine Menge ungleiche Theile zerlegt werden, in zwei Stücke, z. B. wovon das eine nur ein Viertel, das andere drei Viertel lang ist, oder in eine Hälfte und zwei Viertel, oder in eine Hälfte, ein Viertel und zwei Achtel u. s. w. Stellen Sie sich nun anstatt der Länge des ganzen Stabes einen Ton von einer gewissen Länge als einen ganzen Ton vor, und denken Sie, daß, wie der Stab durch Zerschneiden, so der Ton durch Absetzen in immer kleinere gleiche Hälften, halbe Noten, Viertel, Achtel, und ebenso in alle möglichen ungleiche Theile getheilt werden kann, so ist Ihnen der Begriff Geltung, d. h. verschiedene Zeitdauer der Töne und Noten gewiß vollkommen klar.

In der Musik hat aber die Stimme oder das Instrument sich nicht immer hören zu lassen, sie sollen zuweilen auch schweigen (pausiren). Daher giebt es auch für jede Zeitdauer eines wegbleibenden Tones Schweigezeichen (Pausen), Ganze-, Halbe-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-Pausen u. s w.

In die verschiedenen Längen und Kürzen der aufeinander folgenden Töne muß aber Ordnung gebracht werden, wenn wir sie fassen sollen.

Merken Sie nun wohl auf die folgenden Worte, denn wir werden uns und Andere oft daran zu erinnern haben. Um dem Bedürfniß des menschlichen Verstandes nach Ordnung zu genügen, hat der vernünftige musikalische Kunstgeist verschiedene Mittel gesucht, gefunden und als feste, unverbrüchliche Gesetze angenommen. Das erste derselben heißt: Takt.

Der Takt theilt die mannigfaltigen Geltungen der Töne in kleine, gleiche Zeitgrenzen ein. Am Deutlichsten sehen Sie das beim Tanze. Wenn z. B. der Walzer beginnt, so macht das Tanzerpaar eine Drehung, und während derselben drei Schritte. Das ist ein Takt, eine Tanzfigur innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Dieser erste Takt giebt das Maß für alle Takte desselben Tanzes ab. Jede folgende Drehung mit ihren drei Schritten wird genau in derselben Zeit, d. h. nach derselben Taktordnung vollführt. Während aber die Tänzerpaare ihre drei Schritte unten im Saale in jeder Drehung ganz auf die gleiche Weise ausführen, hören Sie oben in der aufgespielten Melodie möglicherweise die verschiedenartigsten Tonfiguren, Notengeltungen. In dem einen Takte wird vielleicht nur ein Ton ausgehalten, in dem andern erscheinen sechs, in dem dritten zwei, in dem vierten acht u. s. w. Je weniger Töne in einem Takte erscheinen, desto langsamer, je mehr, desto schneller werden sie ausgeführt, dergestalt, daß sie in jedem Takte zusammen stets nicht mehr und nicht weniger Zeit einnehmen, als das genommene Taktmodell oder Taktmaß bestimmt.

Das zweite Mittel, Ordnung in die mannigfaltigen Tongeltungen zu bringen, ist der Accent (Betonung gewisser Töne vor andern). Wenn Sie mit geschlossenen Augen auf die Schwingungen eines richtig abgewogenen Pendels an der Wanduhr achten, so können Sie in einem fort bis hundert und weiter zählen und Sie hören keine Betonung, keinen Accent, der Sie zu Abtheilungen zwänge. Aber Sie bilden sich gern eine kleine Abtheilungsordnung und ist dieselbe einmal angenommen, zählen Sie leicht nach demselben Maß die ganze Reihe der Schwingungen fort. Der Accent erscheint nicht hörbar, aber er erscheint innerlich in ihrem Gefühl. So wirkt er auch beim Musiker, in allen Fällen, wo die Töne im Takte, in ganz gleichmäßigem Stärkegrade fortklingen. Diesen Accent kann man den innern Accent nennen. Der äußere ist der, welcher hörbar, durch wirklich stärkere Betonung dargestellt wird, wie Sie z. B. beim Marschirenlernen der Rekruten bemerkt haben, wo der Exerziermeister die lange Reihe gleichmäßiger Schritte gewöhnlich durch eins, zwei, eins, zwei, markirt.

Das dritte Ordnungsmittel heißt: Tempo.

Sie wollen ein Gesellschaftstänzchen machen. Ein Strauß’scher wird auf das Klavierpult gelegt, und ein Musikkundiger aus der Gesellschaft spielt den Walzer ab. Die jungen Leute drehen sich flink danach hin. Aber ein älteres Pärchen bleibt nach. „Das geht mir zu rasch“ – sagt der betagte Tänzer galant, nur im Singular von sich sprechend – „da kommen meine alten Beine nicht mehr fort. Spielen Sie den Walzer langsamer.“ Das Langsamere oder Schnellere im Spielen derselben Noten in derselben Taktart heißt: Tempo (Zeitmaß).

Die Musik hat sehr viele spezielle Benennungen für sehr viele langsamere und schnellere Grade des Tempo, welche z. B. als „Adagio“ (langsam), „Allegro“ (munter, lebhaft), „Vivace“ (lebendig), „Presto“ (flüchtig und schnell) u. s. w. über die Taktart gesetzt werden.

Freilich sind diese Ausdrücke auch nicht eben sehr bestimmt, denn langsam, munter, lebhaft, lebendig, flüchtig, schnell u. s. w. sind immer noch ziemlich schwankende Begriffe. Unter den Musikern pflanzt sich indessen bei der Lehre durch mündliche Ueberlieferung ein Uebereinkommen fort, das grobe Verstöße gegen das Tempo nicht leicht aufkommen läßt. Nichtsdestoweniger bleiben diese Bestimmungen immer etwas unsicher, was Sie daraus schließen können, daß dem Dirigenten nicht eben selten „vergriffenes Tempo“ vorgeworfen wird, womit gesagt sein soll, daß er ein Adagio oder ein Allegro u. s. w. zu schnell oder zu langsam angegeben (genommen) und dadurch dem Charakter und der Wirkung des bezüglichen Tonstückes Eintrag gethan habe. Um das Zeitmaß ganz sicher zu bestimmen, hat der bekannte Mechaniker Mälzel einen „Metronom“ oder Zeitmesser erfunden, welcher das Tempo mit Pendelschwingungen angiebt.

Sie können sich nach dem Gesagten hoffentlich vorstellen, welchen mühsamen langjährigen Uebungen sich der Musiker unterziehen muß, um die Geschicklichkeit zu erlangen, alle die verschiedenen Tongeltungen, welche in einer Taktart vorkommen können, von einer Note an bis möglicherweise zu hundertundachtundzwanzig, in ihrer bezüglichen Langsamkeit und Schnelligkeit dem Tempo gemäß stets so genau zu berechnen und einzutheilen, daß niemals ein Ton auch nur um das Hunderttheil einer Sekunde zu bald oder zu spät an dem bestimmten Zeitmomente im Taktraume ankomme.

Daß aber kein Musiker sich etwas darauf einbilde! – Sonst erinnere ich ihn an die sogenannte russische Hornmusik!

Denken Sie sich eine Anzahl von vielleicht vierzig schmalen Röhren, die, wie Orgelpfeifen von verschiedener Länge geformt sind und der Reihe nach auf Tafeln liegen. Vor dem Mundloch jeder Pfeife steht ein ganz schlicht aussehender russischer – Leibeigene. Plötzlich, auf ein gegebenes Zeichen ihres Dirigenten, führten diese Leute, – ich war Augen- und Ohrenzeuge davon – die Ouverture zu Mozart’s „Figaro“ vollstimmig, wohlklingend, und mit einer Exaktität in Takt und Tempo aus, daß mir vor Erstaunen der Verstand still stand und vor Rührung die Augen übergingen! Denn bedenken Sie nur, daß jeder Bläser nur einen Ton angeben kann! Nur wenn der eine Ton für den bezüglichen Mann ankommt, bückt sich dieser an das Mundloch seiner Pfeife, um sie zum Ertönen zu bringen. Könnte ich Ihnen doch begreiflich [546] machen, welch’ eine unerhörte Aufmerksamkeit und Blitzgewandtheit des Bläsers dazu gehört, seinen Ton bald lang, bald kurz, bald schnell hintereinander, bald nach langem Pausiren erst, stets im strengsten Takt und Tempo und stets an der rechten Stelle des Taktes, d. h. bald am Anfang, bald in der Mitte, bald am Ende desselben, im Fluge zu erhaschen und auch gleich auf’s allerpräciseste zum Erklingen zu bringen! Und durch welches Mittel wird dieses Ideal von Zusammenspiel erreicht? Beim Einüben, wird erzählt, steht hinter jedem Mann ein anderer schon geschulter Russe mit der – Knute. Kommt des Lehrlings Ton, und er läßt ihn vorbeischlüpfen, oder faßt ihn nicht auf’s Bestimmteste, so erhält er einen Hieb, und diesen stets aus derselben Tonart, aus dem ff!

Takt, Accent und Tempo nennt man mit einem Allgemeinnamen Rhythmus (Eintheilung des Hörbaren in geordnete Verhältnisse).

Wir werden dazu durch einen uns angebornen, oder, wie ein gewisser Herr Professor will, angewöhnten Ordnungssinn getrieben. Das Ordnungslose, wo es uns entgegentritt, im Geistigen wie im Materiellen, im Räumlichen wie im Zeitlichen, mißfällt uns.

Wenn Sie bei einem Walzer ein Paar bemerken, das Takt und Tempo regelmäßig zu befolgen nicht Sinn oder Geschick hat, bald mit seiner Drehung eher, bald später als der Takt fertig wird, wenn es aus dem regelmäßigen Kreis der Tänzer herausquirlt und irrlichterirt, so lachen Sie darüber, wenn Sie ein Humorist, oder ärgern sich darüber, wenn Sie ein Griesgram sind. Auf jeden Fall nennen Sie diese Tanzweise eine ungeschickte und denken: die sollten das Tanzen hübsch bleiben lassen.

Hört man Virtuosen oder Sänger spielen oder singen, wie jenes ungeschickte Paar tanzt – „Nun, das wird doch ein Künstler nicht thun,“ fallen Sie ein.

Merken Sie nur auf, in Concerten u. s. w.

Das Lächerliche ist, daß diese abgeschmackte Vortragsweise von Manchem für eine ganz besonders kunstwürdige gehalten wird!

Die Natur eines Affekts kann nämlich wohl einmal ein Tempo rubato (geraubtes Zeitmaß) rechtfertigen, weil dadurch die Wahrheit des Ausdrucks gesteigert wird. Die nun eine solche Wirkung bemerken, aber ihren Grund nicht begriffen haben, denken, je öfter und auffallender das geschähe, desto gefühlvoller müsse der Vortrag werden. Die Laien in der Musik mögen applaudiren! Von den Kennern, wozu nun in diesem Punkte schon alle Leser der Gartenlaube gehören, werden diese Ueberkünstler ausgelacht.




Küchen-Chemie.

Von Dr. H. Hirzel.




Kochgeschirre.

Die Nahrungsmittel, welche die Natur den Menschen theils aus dem Pflanzenreiche, theils aus dem Thierreiche darbietet, werden von denselben, wenigstens von den Bewohnern der civilisirten Länder nur in einzelnen Fällen roh genossen. Sie werden gedämpft, gesotten, geröstet, gebraten, gebacken, überhaupt auf die verschiedenste Weise zubereitet und dann Speisen genannt. Die Bereitung der Speisen geschieht allerdings oft mit dem richtigen Vorgefühle, etwas der Gesundheit Zuträglicheres, das heißt, Verdaulicheres und Nahrhafteres darzustellen; doch mindestens ebenso häufig allein und in der Absicht, die rohen Nahrungsmittel wohlschmeckender zu machen und ihnen durch Zusatz von Gewürzen, einen den Appetit reizenden Geruch mitzutheilen. Vielleicht bietet sich später einmal die Gelegenheit dar, zu zeigen, daß:

Wenn man nur kocht, was dem Gaumen schmeckt,
Den Tisch nur mit Delicatessen deckt,
Man dem Magen seine Ruhe nimmt,
Den Körper um die Gesundheit bringt.

Heute wollen wir aber ganz bescheiden am Eingange zum Heiligthum der Hausfrauen, „der Küche," stehen bleiben, einen Blick auf das in der Küche befindliche Kochgeschirr werfen und prüfen, aus was für einem Material dasselbe besteht.

Wenn das Kochgeschirr, in welchem die Speisen zubereitet oder aufbewahrt werden, der Gesundheit schädliche Bestandtheile enthält, welche sich in den Speisen auflösen oder mit denselben vermischen, so sind nur Spuren solcher giftiger Substanzen, die aber täglich mit der Speise in den Körper gelangen, hinreichend, der Gesundheit nachtheilige Wirkungen auszuüben, ja selbst solche Störungen (sogenannte Vergiftungen) zu verursachen, die den Tod oder wenigstens langwierige ernste Krankheiten zur Folge haben. In vielen Ländern bestehen daher eigene Gesetze, welche die Geschirre vorschreiben, deren man sich zum Kochen bedienen kann, und diejenigen verbieten, welche aus giftigen Materialien bestehen; doch werden diese Gesetze meistens nicht genügend beachtet und nicht streng genug überwacht, was um so unverzeihlicher ist, da das Wohl so vieler Menschen durch schlechtes Geschirr gefährdet werden kann.

Der Blick in eine Küche belehrt uns, daß die zum Kochen oder Aufbewahren der Speisen dienenden Geräthschaften, hauptsächlich Kupfer-, Eisen- und Töpfergeschirre sind, und wir wollen nun prüfen, welche Vortheile oder Nachtheile dieselben besitzen.

a. Kupfergeschirr.

Das Kupfer, dieses allgemein bekannte, durch seine eigenthümlich rothe Farbe leicht erkennbare Metall, besitzt die in diesem Falle wichtige Eigenschaft, beim Liegen an der Luft und besonders bei Berührung mit sauren, schleimigen oder fetten Substanzen matt zu werden und sich mit einem grünen Häutchen zu bedecken. Dieses grüne Häutchen, im alltäglichen Leben Grünspan genannt, besteht aus wasserhaltigem kohlensaurem Kupferoxyd, und bildet sich, indem das Kupfer Sauerstoff, Wasser und Kohlensäure aus der Luft anzieht. Es löst sich sehr leicht in allen Speisen auf und theilt denselben giftige Wirkungen mit. Die Kochgeschirre von Kupfer empfehlen sich allerdings durch ihre Solidität, sind auch schon seit uralten Zeiten gebräuchlich und waren noch zu Anfang dieses Jahrhunderts der Stolz der Hausfrauen, indem sie als die Zierde einer Küche betrachtet wurden. Sie sind aber, wie aus Obigem hervorgeht, sehr gefährlich und geben stets, selbst wenn sie vorher ganz blank gescheuert worden, etwas Kupfer an die Speisen ab. Werden nun täglich solche Speisen genossen, so sammelt sich das Kupfer in immer größerer Menge in dem Körper an, und wenn auch anfangs keine üblen Folgen verspürt wurden, so macht doch dieses giftige Metall mit der Zeit seine Wirkung geltend und stört zunächst die Vorgänge der Verdauung; dann kommen aber plötzlich heftige Krankheitserscheinungen zum Vorschein, die meistens den Tod herbeiführen oder wenigstens nur in einzelnen Fällen ganz beseitigt werden können. Diese Erscheinungen sind zunächst: heftiger anhaltender Kopfschmerz, Appetitlosigkeit, Neigung zum Brechen; sie steigern sich, und es treten immer heftiger werdende Magen- und Leibschmerzen, stetes Uebelbefinden, Erbrechen, Krämpfe und fieberhafter Zustand auf. Das Gesicht wird fahl, der Körper magert zusehends ab, und erst im elendesten Zustande befreit der Tod sein unglückliches Opfer von den großen Leiden der Kupfervergiftung. Wohl hat man empfohlen und gebeten, alles zum Hausgebrauche bestimmte Kupfergeräthe mit einer dünnen Lage von reinem Zinn zu bedecken (zu verzinnen), und es läßt sich nicht läugnen, daß selbst sehr saure und fette Speisen in gut verzinntem Kupfergeschirr gekocht werden können, ohne nur eine Spur von Kupfer aufzulösen; allein oftmals ist die Verzinnung nicht vollständig, besonders bei alten Kupferpfannen, die viele Beulen haben; auch nutzt sich dieselbe sehr schnell ab, wird dann gewöhnlich nicht gleich oder gar nicht wieder erneuert, und so sind die erwähnten Uebelstände immer nicht dadurch gehoben. Das Kupfergeschirr ist zwar in der neueren Zeit aus vielen Küchen ganz verschwunden; doch fehlt es namentlich auf dem Lande und in kleineren Städten, von welchen wir viele nahmhaft machen könnten, nur in wenigen Küchen, und wir finden in diesen besonders größere, gewöhnlich geerbte Kessel von Kupfer, an deren innerer Fläche meist nur Spuren von Zinn, [547] dagegen um so dickere Grünspanhäutchen sitzen, und doch werden solche Kessel mit unglaublicher Sorglosigkeit zum Einsieden von Pflaumen, Preißelbeeren, Heidelbeeren und anderen sauren Früchten, zum Kochen von Klößen, Fischen u. s. w. benutzt. Die Folgen des öfteren Kupfergenusses sind aber in solchen Familien auch deutlich genug an den blassen kränkelnden Gesichtern der von Krämpfen heimgesuchten Leute zu erkennen. Das Kupfer sollte daher aus jeder Küche entfernt werden, und es ist in der That vollständig entbehrlich.

Dasselbe gilt auch vom Messing, welches durch Zusammenschmelzen von Kupfer und Zink dargestellt wird, und aus welchem ebenfalls zuweilen Kochgeschirre verfertigt werden. Namentlich finden wir aber in den Küchen messingene Mörser. Das Messing bedeckt sich viel langsamer mit einem Grünspanhäutchen als das Kupfer, muß aber doch mit Vorsicht benutzt, und messingene Mörser müssen vor dem Gebrauche stets sorgfältig ausgewischt und gereinigt werden.

b. Eisengeschirr.

Von allen Metallen, deren Preis überhaupt die Anwendung als Material zu Kochgeschirren gestattet (Gold, Platin oder Silber würden sich am Besten eignen, sind aber für den gewöhnlichen Hausgebrauch zu theuer), ist das Eisen das brauchbarste und unschädlichste. Dasselbe zieht zwar noch viel leichter und rascher als das Kupfer, Sauerstoff und Wasser aus der Luft an und bedeckt sich an seiner Oberfläche mit einer immer dicker werdenden Kruste von wasserhaltigem Eisenoxyd, sogenanntem Rost, welcher sich ebenfalls leicht in den verschiedenen Speisen auflöst. Allein durch einen geringen Eisengehalt werden die Speisen durchaus nicht vergiftet, sondern sind der Gesundheit eher zuträglich als schädlich, da das Eisen zu den unentbehrlichen Bestandtheilen des menschlichen Körpers gehört. Dennoch können die Kochgeschirre aus reinem Eisen nur in einzelnen Fällen gebraucht werden; denn wollte man z. B. saure Früchte oder andere saure Speisen in denselben zubereiten, so würde so viel Eisen aufgelöst, daß die Speise dadurch einen schlechten Geschmack erhalten und das Geschirr sehr bald durchlöchert würde. Um diesen Uebelstand zu beseitigen, hat man anstatt reinem Eisen, verzinntes Eisen oder Weißblech zu Kochgeschirren benutzt, oder man hat die innere Fläche der eisernen Pfannen und Töpfe mit einer Emaille und Glasur überzogen. Wir finden daher in den Küchen hauptsächlich drei Arten von Eisengeschirr, nämlich Geschirr aus gewöhnlichem Schwarzblech, glasirtes Eisengeschirr und Weißblechgeschirr.

1. Schwarzblechgeschirr wird aus reinem, zu mehr oder weniger dünnen Platten ausgewalztem Schwarzblech verfertigt und eignet sich ganz vorzüglich zum Braten von Fleisch oder anderen Nahrungsmitteln in Butter oder anderen Fetten. Es kann nie zur Vergiftung der Speisen Veranlassung geben und bleibt, da es aus reinem gewalztem Eisen besteht, sehr lange brauchbar, nur darf man nichts sehr Saures darin kochen, auch nichts sehr Salziges darin aufbewahren, und wenn man es wäscht, muß es immer sehr gut abgetrocknet werden. Versäumt man dieses, so rostet es sehr schnell und bekommt Löcher.

2. Glasirtes oder emaillirtes Eisengeschirr besteht entweder aus emaillirtem Schwarzblech und ist dann viel düuner und leichter; oder – und zwar gewöhnlich – nur aus emaillirtem und glasirtem Gußeisen, ist aber dann viel dicker, plumper und schwerer. Dieses Geschirr eignet sich zur Zubereitung aller Speisen, ist daher ganz unentbehrlich geworden, kann aber unter Umständen, die wir gleich näher bezeichnen wollen, zu Vergiftungen Veranlassung geben. Man fabricirt es jetzt in allen Ländern und zwar im Allgemeinen auf folgende Weise. Die gegossenen Waaren, welche aus einem ziemlich porösen, schwammigen Eisen (das sich in Säuren viel leichter auflöst, als das festere, dichtere Eisen des Schwarzbleches) bestehen, werden erst mit etwas verdünnter Schwefelsäure (sogenanntem gewässertem Vitriolöl) angebeizt, das heißt auf ihrer innern Fläche damit befeuchtet, dann mit kaltem Wasser abgespült, mit der feuchten Emailmasse gleichmäßig bestrichen, noch feucht mit der fein gepulverten Glasurmasse bestäubt und dann in einem Ofen einer starken Glühhitze ausgesetzt, damit so die Email- und Glasurmasse gleichmäßig festschmelzen. Die Emailmasse stellt man dar, indem man erst Kieselsteinpulver und Borax zusammenschmilzt, die geschmolzene Masse dann sehr fein mahlt, auf das Innigste mit eisenfreiem, feinem Thon und etwas gemahlenem Feldspath vermengt und befeuchtet. Die Glasurmasse besteht gewöhnlich aus Feldspath (einem in der Natur sehr häufig vorkommenden Mineral), Soda, Borax und etwas Zinnoxyd; da sie aber durch Zusatz von bleihaltigen Substanzen, besonders von Bleiglätte, Bleiglanz oder Mennige leichter schmelzbar und weniger spröde wird, so werden ihr diese Körper leider sehr häufig beigemengt. Ein Zusatz von bleihaltigen Substanzen zur Glasur dieser Geschirre sollte, da er nicht unumgänglich nothwendig ist, auf das Strengste verboten werden, indem gerade dadurch das sonst ganz unschädliche emaillirte Eisengeschirr giftige Bestandtheile erhält, die sich in den Speisen auflösen können. Da auch das Töpfergeschirr gewöhnlich mit einer bleihaltigen Glasur überzogen wird, so wollen wir bei diesem über die Bleivergiftung und über die Art und Weise, wie solche Geschirre geprüft werden können, näher sprechen. Das emaillirte Eisengeschirr ist, wenn die Emaille und die auf der Emaille liegende Glasur gut eingebrannt und frei von Blei ist, nicht nur ganz unschädlich, so daß die Speisen selbst Tage lang darin aufbewahrt werden können, sondern auch sehr dauerhaft; nur ist es nothwendig, daß die Töpfe beim Kochen möglichst mit der Speise angefüllt werden, da sonst durch eine ungleiche Erhitzung leicht einzelne Theile der Glasur abspringen; ebenso dürfen die letzten Speisereste nicht allzu heftig mit Blechlöffeln ausgekratzt werden, weil dadurch die Glasur leicht beschädigt werden kann. Hat aber ein solches Geschirr seine Glasur verloren, dann wird es schneller unbrauchbar, als das Schwarzblechgeschirr, und die darin zubereiteten Speisen nehmen einen schlechten Geschmack an.

3. Weißblechgeschirr wird hauptsächlich von den Klempnern verfertigt. Das Weißblech besteht aus einem mehr oder weniger dicken, ganz glatten Eisenbleche, das durch Eintauchen in reines geschmolzenes Zinn auf beiden Seiten mit einer Lage von Zinn überzogen worden ist, einen lebhaften Glanz besitzt und seiner weißen Farbe wegen Weißblech genannt wird. Es wird seltener zum Kochen, gewöhnlich nur zum Dampfen oder Backen benutzt, und wir finden daher in den Küchen meistens nur kleinere Geräthschaften, kleine Töpfchen, Kessel, Schüsseln u. s. w.. davon. Das Weißblech hält nämlich keine sehr hohe Temperatur aus, da das Zinn ein sehr leicht schmelzbares Metall ist, und bei öfterem Gebrauche allmälig vom Eisen abschmilzt. Aus demselben Grunde kann man auch keine nur aus Zinn bestehenden Kochgeschirre verfertigen, da sie sehr bald zusammenschmelzen würden. Beim Gebrauche des Weißblechgeschirres ist ebenfalls einige Vorsicht nöthig, da man zu seiner Fabrikation oft unreines mit Blei oder Kupfer oder beiden Metallen vermengtes Zinn anwendet. Durch das Zinn wird allerdings die leichte Auflöslichkeit des Bleies und Kupfers in Speisen so gemindert, daß man diese ohne Gefahr in solchem Geschirr zubereiten, aber unter keinen Umständen, besonders wenn sie sehr salzig, sauer oder fettig sind, darin aufbewahren darf. Zuweilen wird auch Schwarzblechgeschirr oder gußeisernes Geschirr inwendig verzinnt, doch ist auch hier die Anwendung von reinem Zinn nothwendig, und auch hier stellt sich der Uebelstand des leichten Abschmelzens und der raschen Abnutzung der Zinnbekleidung ein, weshalb ein gut und ohne blei platirtes Eisengeschirr oder das ordinäre Schwarzblechgeschirr jedenfalls den Vorzug verdient.

(Schluß folgt.) 




Friedliche Bilder vom Kriegsschauplatze in Kleinasien.

Die Menschheit kam bisher immer in westlicher Richtung vorwärts; aber da sich jetzt in Amerika „deutsche Auswanderungs-Vereine“ zur Rückeinwanderung nach dem Osten bilden, und die Franzosen in Konstantinopel eben so bauen und bilden wie in Paris, die türkischen Damen unverschleiert in den neuen pariser Luxusläden erscheinen und Französisch sprechen, da ferner Sebastopol nicht mehr so deutlich den Weg nach Konstantinopel bezeichnet und Engländer und Franzosen der Ehre und des Schadenersatzes wegen [548] schlechterdings den kranken, von ihnen vollends todt gemachten Mann beerben müssen, so folgt daraus eine Art Umkehr der Civilisation, wenn nicht, nach Gerlach in Berlin, der Wissenschaft. Und so könnten wir es noch erleben, daß die europäischen Auswanderungsströme, statt nach dem Westen der neuen Welt, durch die alten Säulen des Herkules bei Gibraltar hindurch und das Meer der alten Welt, das mittelländische, sich nach dem Osten eine Straße bahnen und auf den Ruinen großer vorchristlicher Reiche und der Türkei Dampfpflüge und Maschinen treiben. Seltsame, aber mindestens romantischere Idee, als die, unter die Yankees und Know-nothinger zu gehen, die historische Erde aufzupflügen und zu kultiviren, welche die fruchtbar gewordenen Gebeine des Hektor, der schönen Helena, des Paris, der trojanischen Helden birgt, wo die Gärten der Semiramis hingen, über welche Vater Abraham auswanderte, von wo die Engländer der ältesten Kultur, die Phönizier, den Welthandel beherrschten, zweimal assyrische Reiche blühten, dann babylonische und medische und medo-babylonische, über alle diese hinweg das stolze Perser-Reich mit seinem Cyrus, seinem Darius, der über drei Welttheile herrschte, seinem Xerxes u. s. w., bis die Ormuzd- und Ahriman-Herrlichkeit an griechischer Schönheit und Tapferkeit brach, die historische Erde, über welche hierauf der macedonische Alexander erobernd bis Indien drang, auf der die macedonische Zwangseinheit in eine Menge kleinasiatischer Staaten zerfiel, bis das arabische Schwert des Propheten aus der sternenklaren, nächtlichen Wüste darüber hinwegstürmte und der Halbmond der Chalifen schreckenerregend für die ganze christliche Welt vom Ganges bis zur Donau und Wien leuchtete, dieselbe Erde, welche das Blut und die Gebeine von Millionen abendländischer Kreuzzügler in sich aufnahm, die Schädelstätte von hundert über einander hingesunkener Völker und Reiche. Diese seit Jahrtausenden über einander gehäufte Verwesung geht jetzt als schüttelndes Fieber durch die traurige, spärliche Bevölkerung der modernen Gläubigen Muhamed’s, da kein Pflug, keine Industrie, keine Kultur diese fruchtbar gewordene Auflösung von hundert Reichen und Völkern zu benutzen, zu befriedigen weiß. Diese Erde, so gedüngt und getränkt, will und muß blühenden Weizen treiben, Meere goldener Halme tragen, und eine dichte, rührige Bevölkerung spielend und freudig ernähren. Da sie dies nicht kann, sendet sie ihre schwellenden Fruchttriebe rächend als Würgengel und Heere von Fiebern und Pestilenz durch die historisch verfluchte Türkei

„Wo der Türke seinen Fuß hinsetzt, da ist Wüste und Hauch des Todes,“ rief mir neulich ein Mann zu, der Jahre lang durch die europäische und asiatische Türkei reiste, unter den Cedern von Libanon saß und die Gastfreundschaft der Drusen genoß. „Nur Unverstand und Heuchelei sprechen von einer Aufrechterhaltung des Türkenthums als Staat. Ich hasse, ich verabscheue die Alliirten, besonders die Engländer, weil sie unter diesem Wahne, unter dieser heuchlerischen Firma sowohl für die Türkei als die Civilisation zu kämpfen vorgeben. Sie kämpfen einzig und allein, weil sie fürchten, daß sie bei der Erbschaft zu kurz kommen könnten. Und dies wäre ganz gut, wenn sie nur ehrlich und offen in diesem Sinne handelten und sprächen. Je mehr sie sich bei der Theilung des türkischen Leichnams gegen Rußland sichern, desto lieber soll’s mir sein, denn die Herrschaft des Türkenthums und des Muhamedanismus ist eine Pest, eine Schande für die Menschheit geworden. Mögen sie glauben, was sie wollen, sich Weiber kaufen, so viel sie bezahlen können, rauchen und Kaffeesatz dazu essen vom Morgen bis zum Abend, aber herrschen sollen sie nicht mehr und so fortfahren, die schönsten Theile der Erde zu verwildern und in Herbergen wilder Thiere und Menschen, in Giftquellen der Pestilenz und theuern Zeit zu verwandeln.“

So sprach er und begründete sein Urtheil noch durch viele Erlebnisse und Totaleindrücke. Seiner Erfahrung, seinem auf die genauesten Studien gegründeten Urtheile glaubte ich um so weniger widersprechen zu dürfen, als ich in ihm (Dr. G. aus Dresden) nicht nur einen scharfsinnigen und vielseitig gebildeten, sondern auch einen edeln Mann kennen gelernt habe, der unabhängig von politischen, nationalen und geographischen Schranken die Menschheit in ihrem Kulturberufe frei und mit Erkenntniß der dabei in Betracht kommenden natürlichen Bedingungen aufzufassen weiß. Uebrigens beschränke ich mich fortan nur auf einige seiner Specialschilderungen. Als Arzt hatte er sich besonders mit dem Studium der physischen und Krankheitserscheinungen in der Türkei abgegeben. Mit seinem eigenthümlichen Humor schilderte er die verschiedenen Arten von kalten und Wechselfiebern, von denen sich die armselige Bevölkerung der asiatischen Türkei ohne Widerstand schütteln und zu Gerippen abnagen läßt. Hoch und Niedrig, Jung und Alt werden Jahr aus Jahr ein mit Heulen und Zähneklappern geplagt. Man tritt in einen langen Bazar und sieht in diesem und jenem Winkel zitternde Haufen und Bündel von Kleidern; es stecken Leute darin, die von der kalten Periode des Fiebers gemißhandelt werden. Man sieht auf und bemerkt einen blassen, hagern Handelsmann mit glühenden Flecken unter den hohlen Augen, der mit zitternden Fingern mühsam seine Waaren einpackt, um mit brennenden Augen und gedörrten Lippen zu Hause den hitzigen Theil des Fiebers wüthen zu lassen. Jeder betrachtet diese Landesplage als ein unangenehmes Geschenk Allah’s, dem auf diese Weise im Durchschnitt jeder zweite Tag gehört. Sich dagegen zu wehren, gilt für gottlos. Auch scheint Niemand nur eine Ahnung davon zu haben, was man dagegen thun und anwenden könnte. Außerdem hat fast Jeder seine eigne Philosophie in Bezug auf die Ursache des Fiebers. Wenn man Aprikosen ißt und dann in die Sonne geht, Wasser trinkt vor dem Ausgehen, oder wohl gar ein Stück Caimac[2] genießt, sich bethauen läßt, unreife Früchte genießt, in offener Nachtluft schläft – in allen diesen Fällen bekommt man dieses oder jenes Fieber, und da Jeder bald in diesen oder jenen solcher Fälle kommt, weiß er immer genau, aus welchem Grunde ihn Allah schon wieder fieberschütteln läßt.

Quinine-Sulphot (eine Mischung von Schwefel und China) ist ein unfehlbares, specifisches Mittel gegen das kalte Fieber, wodurch sich die gebildeten Europäer fast durchweg frei halten, aber zu kostspielig und auch unbekannt unter den armen, faulen, abergläubischen Eingebornen, über deren Leben, so jämmerlich es auch ist, man sich nur wundern muß. Sie essen unreifes Obst scheffelweise, schlafen im Dampfbade des Nachtthaues offen oder in Häusern, die zum Theil Wind und Wetter ungehindert zulassen, und in so fauler, schmutziger Umgebung und Nachlässigkeit, daß man kaum begreift, wie die, welche noch leben, es angefangen haben, daß sie nicht schon längst alle gestorben sind.

Was man bei uns „wohnen“ nennt, kommt bei den gewöhnlichen Türken in Kleinasien gar nicht vor. Fensterscheiben, wo sie nicht zerbrochen sind, liegen blos unbefestigt in Rinnen, so daß Wind und Winter damit nach Herzenslust spielen. Auf dem Lande haben die untern Stockwerke in der Regel nur wenig und die obern gar keine Seitenwände, sondern nur säulengetragene Dächer, so daß jede Witterung vollkommen ungenirt hindurch spazieren kann. Die Etagen über einander sind oft nur durch lose Breter getrennt, so daß man von Oben genau sehen kann, wie die Dienerschaft unten Hühner schlachtet und pflückt und sonst wirthschaftet. Legt man Teppiche, kommt nicht selten ein Wind, der sich den Spaß macht, sich hineinzuwickeln und diesen oder jenen Zipfel umherzupeitschen. Da die Häuser ziemlich alle vier Wochen in Massen von Feuersbrünsten verzehrt werden, baut man sehr leicht und wohlfeil und denkt: ’s brennt doch bald auf Allah’s Befehl ab. Etwas Holz und Gips, ein Paar Säulen und Breter – und das Haus ist wieder fertig. Und zieht man dann „Chambre garni,“ d. h. in einen ziemlich offenen Verschlag ohne Meubles, muß man ziemlich so viel bezahlen, daß das ganze abgebrannte Haus (denn abbrennen thut’s auf jeden Fall sehr bald) davon wieder gebaut werden kann. Kurz, bei uns logiren die Schweine anständiger und gesünder, als in der Türkei die Menschen. In großen Städten kommt dazu, daß man sehr eng und hoch baut und allen Schmutz dazwischen aufhäuft. Unter solchen Verhältnissen ist’s blos ein Wunder, daß die Türken überhaupt noch theilweise aus ihren Fiebern und Pestilenzien sich herausschütteln lassen. Die Sommer sind herrlich, die Winter aber ziemlich kalt, so daß die Türken jedes Jahr vier bis fünf Monate ununterbrochen frieren, wie die Hunde, und ihr Vieh jedesmal zur Hälfte erfrieren und verhungern lassen.

Der historisch hundertfach gedüngte Boden treibt im Sommer die üppigste wilde Vegetation, die jeden Herbst niederfault und Fieber und Pestilenz füttert. Kultur, Pflug, Abzugsgraben, Dampfmaschinen, Säe- und Mähemaschinen auf dieser großen, paradiesischen Halbinsel würden aus Fieber Hunger, Pestilenz und theurer Zeit die Hauptspeisekammer und das Hauptsommervergnügen dreier Welttheile machen. Wollen sehen, was zunächst Omer Pascha mit [549] seinen 70,000 Mann herausschlagen wird oder später die Engländer, denen Napoleon Kleinasien zugedacht haben soll, während er die europäische Türkei behalten würde, Constantinopel soll schon „ein klein Paris“ sein und „seine Leute bilden.“ Der alte große Feldherr Pyrrhus (berühmt durch seine Siege, durch welche er immer mehr verlor als gewann) nannte die Soldaten „seine Schwingen.“ Sonach und aus folgendem Erlebnisse zu schließen, hat Omer Pascha „keine Flügel.“ Die Leute haben entsetzliche Furcht vor dem Soldaten-Loose.

„Als ich eines Tages beim Consul saß,“ erzählt unser Gewährsmann, „heulten eine ganze Heerde Weiber heran, an der Spitze eine Mutter mit ihrem „loosgetroffenen“ Sohne, einem etwa 14jährigen, dünnen, siechen Jungen. Sie bat flehentlich, der Consul möchte ihren einzigen, dünnen Sohn in Dienst nehmen (als welcher er frei werden würde von seinem Loose). Allerdings sah er durchaus nicht danach aus, als könnte er als geringste Stütze der Ehre und „„Integrität““ des ottomanischen Reiches verwendet werden. Der schluchzende Junge bekam also eine Art Ehrenposten beim Consul, d. h. als supernumerares Kindermädchen, und sah fortan sehr glücklich aus, noch glücklicher aber seine Mutter.

Die Soldaten der asiatischen Türkei sehen im Durchschnitt alle sehr ärmlich aus, klein, dünn, schwärzlich, gutmüthig und glücklich, wenn ihnen Niemand etwas thut. Sprößlinge schwächlicher Aeltern, von einer Mutter, die als Sache gekauft ward und nicht als Person gilt, in einer entnervenden Religion, ohne Unterricht in einer faulen Atmosphäre zwischen Wechsel- und kalten Fiebern hindurch aufgewachsen – können diese türkischen Vaterlandsvertheidiger an sich nichts mehr leisten und die Engländer und Franzosen, welche die kleinasiatische Armee dirigiren, sind nicht im Stande, Allen künstliche Männlichkeit einzublasen. Nur durch Zufuhr frischer Kräfte und Säfte wird eine neue Generation möglich und zwar die schönste und intelligenteste. Kinder von Engländern, Deutschen, Franzosen und Italienern und griechischen, türkischen, besonders armenischen Müttern sind schon sprüchwörtlich berühmt wegen ihrer Schönheit und Klugheit. Lustig und spielend, rothwangig und lockenköpfig sprechen sie mit dem Vater Englisch oder Französisch oder Deutsch, mit der Mutter Griechisch oder Armenisch, mit einem Gaste Italienisch, mit dem Dienstmädchen Türkisch. Zwölfjahrige Kinder solcher Misch-Aeltern, geläufig in fünf bis sechs Sprachen plaudernd, sind gar nichts Seltenes. An eigentliche Schule oder gar unsern peinlichen Sprachunterricht ist dabei gar nicht zu denken. Wie leicht Kinder Sprachen lernen, davon habe ich das lustigste, lebendigste Beispiel in meiner eigenen fünfjährigen Tochter, die mit uns Deutsch, mit ihren Gespielinnen hier in London Englisch und mit der Französin im Hause Französisch spricht, blos weil sie immer Gelegenheit hatte, diese drei Sprachen zu hören und selbst zu versuchen.

Außer Schönheit, Klugheit, Lebens- und Arbeitslust haben diese neuen Setzlinge aus Europa auch unverwüstlichen Appetit. Ein solcher kleiner Europa-Kleinasiate, bei Tische einmal gefragt, aus welcher von den beiden Schüsseln er mehr haben möchte, antwortete ohne Besinnen: „Mehr aus beiden, bitte!“ Guter Appetit giebt gute Nahrung, gute Nahrung Muskel- und Geisteskraft, gute Muskel- und Geisteskraft aber Kultur, blühende Städte und Fluren, volle Scheunen, Produkte und Waaren für Menschheit verbindende Schiffe, im Sommer einen kühlen und im Winter einen warmen Trunk, ohne welchen jede Civilisation sehr trocken werden würde. Trockene Herzen, Köpfe und Kehlen aber sind schrecklich.

Der Sultan beschloß früher einmal, die alte, wundervolle Hauptstadt-Ruine Armeniens, Anni, am Flusse Arpa-tschai (der russisch-türkischen Grenze) wieder zu beleben, aber er fand keine Leute dazu. Die Leute zu neuem Leben auf unzähligen Schichten von Ruinen müssen und werden aus Europa kommen und durch Europäer entstehen.

Ich kann nicht umhin, mit einer Stelle aus dem Briefe eines Engländers zu schließen, der unlängst vom kleinasiatischen Lager aus Anni besuchte.

„Eine ungeheuer ausgedehnte, noch tausendfach stehende, aber menschenlose Stadt, noch doppelt ummauert und umthürmt. Die Trümmerhaufen liegen noch straßenweise. Aus ihnen starren noch unzählige christliche Kirchen und türkische Moscheen in verschiedenen Stadien der Verwitterung und Verwüstung empor, innerhalb nicht selten noch mit Spuren ausgezeichneter Gemälde, Schnitzwerke und Sculpturen. Einige könnten mit wenig Mühe vollständig restaurirt werden. Die Abtheilung Baschi-Boschuks freilich, welche jetzt mit ihren Pferden in den Kirchen logiren, werden es künftigen Restaurateurs schon schwerer machen. Ueber dem Flusse drüben blinkte eine Horde von Kosaken. Als ich durch eins der verwitterten Thore eintrat und während meiner ganzen Irrfahrt durch die ausgestorbene Stadt und etwa fünf Kirchen, begegnete mir keine lebendige Seele. Nichts als entsetzliches Schweigen mit den grimmigsten Gesichtern um mich her, der schauerliche Duft von Hunderttausenden, die hier ihr Blut vergossen im zermalmenden Kampfe zwischen oströmischen, georgischen, armenischen, türkischen und russischen Interessen. Das Volk spricht von ungeheuern Schätzen, die hier vergraben liegen und von Geistern bewacht werden sollen. Einer der größten würde vielleicht die große Menge armenischer Inschriften und Freskogemälde sein. In dem noch zum Theil stehenden Schlosse und einer Palast-Ruine mögen auch goldene Werthe schlummern. Systematische und wissenschaftliche Nachgrabung und Forschung mag eben so lohnend und historisch wichtig werden als Bayard’s Schätze aus den Ruinen von Niniveh. Unter der Stadt dehnen sich ungeheuere Katakomben, deren Ende man bisher noch nicht fand. Sie war einst die Hauptstadt des großarmenischen Reiches, das im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt, besonders unter Tigranes, dem Schwiegersohne des Mithridates (des alten Krim-Helden) blühte und eine der größten und schönsten Städte Kleinasiens, so schön und mit so schöner Umgegend, daß sich unzählige gierige Eroberer darum stritten, zuletzt Alp Aslan, der Perserkönig, der sie bei Eroberung der Provinz Erivan zuletzt zerstörte. Erivan mußte 1828 an Rußland abgetreten werden, Anni blieb die Königin unter den todten Städten der Türkei.“




Blätter und Blüthen.

Eine Stunde auf dem berliner Leihamt. Mit jenem demüthigen Gefühl, welches uns beschleicht, wenn wir genöthigt sind, profanen Blicken Einsicht in unsere Kasse zu gestatten, trat ich in das Leihamt ein. Schüchern öffnete ich die Thür und befand mich nun in einem Saal, der durch ein breites Bureau in zwei Hälften getheilt war. Jenseits der Barren befanden sich die Pulte, die Tintenfässer, die Pfandzettel, die Wiegeschaalen und die Beamten der Mitleidigkeit; diesseits derselben stand ein geldbedürftiges Publikum, das meist aus alten Frauen und Kindern bestand und nur durch einzelne männliche Individuen schattirt war. Sie drückten sich sämmtlich an die Barre, auf deren breiter Platte sie ihre Pfänder ausgebreitet hatten. Die Gleichheit, die man hier vermuthen sollte, wo ein gleiches Bedürfniß sie alle herbeiführt, hatte sich jedoch keineswegs hier geltend gemacht, und sowohl von Seiten der Beamten als auch des Publikums wurde denjenigen besondere Achtung gezollt, die mit Pfändern von größerem Werth erschienen waren. Nur unter einer Erfahrung schienen Alle zu leiden, die von dem Beamten in großen und lakonischen Schriftzügen Ausdruck gefunden hatte; denn an der Wand hing jene liebenswürdige Papptafel mit den Worten. „Vor Taschendieben wird gewarnt." Wie dankbar war ich jenen Beamten, die mich auf solche Weise darauf aufmerksam machten, nach meinen Taschen zu fassen, in welchen sich zu meiner Beruhigung Nichts befand, was den Instinkt der Taschendiebe auf mich lenken konnte.

Ich legte mein bescheidenes Pfand neben den seidenen Mantel einer in tiefer Trauer gekleideten, sehr hübschen jungen Frau und dem kleinen Wäschebündel eines alten Mütterchens, die liebevoll mein respektables Kleidungsstück betrachtete und seufzend versicherte, daß das Leihamt fast gar Nichts mehr auf die Pfänder leihe. Am Ende, seitwärts von mir, standen mehrere Glückliche, die noch Goldsachen besaßen und der Reihe nach dem kleinen dicken Taxator für ihre Gegenstände Mittheilungen machten, die ihn von dem nur denkbar höchsten Werth derselben überzeugen sollten und die in lächelnde Entrüstung geriethen, wenn er ihnen versicherte, daß das Pfand nicht so viel werth sei. Sie legten sich dann auf Bitten und betheuerten, daß sie den Gegenstand bald wieder abholen würden – umsonst, der kleine Mann zuckt mit den Achseln und die Pfandgeber fügen sich schließlich in das Unvermeidliche.

In London haben die Leihhäuser eine sehr gute und auf Schonung des peinlichen Gefühls der Armen berechnete Einrichtung, indem sie in zehn bis zwölf kleine und abgeschlossene Zellen eingetheilt sind, die jede ihre besondere Thüre vom Flur aus haben und es unmöglich machen, daß Einer den Andern sehen kann. Eine so zuvorkommende Artigkeit ist in Berlin nicht, und bei jedem Oeffnen der Thüre verbirgt ein großer Theil sein Gesicht, bis er sich versichert hat, daß kein ihm Bekannter demselben Schicksale erlegen sei.

Der Beamte, der hier die Wäsche und Kleidungsstücke taxirt, untersucht [550] sucht mit Virtuosität alle ihm dargereichten Pfänder, und vertraut mit den Geheimnissen der verstecktesten Damengarderobe, kennt er auch die Schwächen und Gebrechen derselben, wo sie zuerst zum Vorschein zu kommen pflegen. Er weiß, wie oft ein Kattunkleid schon gewaschen, ein seidenes Kleid schon den Strapatzen und handschuhlosen Händen eines Galans ausgesetzt gewesen, und entdeckt mit seiner Kunst die dünnen Stellen an einem Unterrock, die sonst keinem Sterblichen so deutlich zu sehen erlaubt wurden. Die Paletots und Röcke, die Beinkleider und Mäntel sezirt er mit anatomischer Schneiderkenntniß und führt Einem – auch ich litt darunter – oft die Fadenscheinigkeit, ja selbst Offenherzigkeit eines theuren Möbels vor Augen, welches wir noch für treu und diskret hielten; aber ein kluger Mann muß nie Häuser auf Tugenden bauen, am Allerwenigsten bei – Kleidungsstücken.

Meine trauernde Nachbarin hörte seufzend den Preis, der ihr auf den seidenen Mantel geboten wurde und nickte resignirt mit dem Kopfe; auch ich seufzte, am Meisten über den elenden Rock, der sich trotz meiner Anstrengung nicht in dem Zustande tadelloser Gediegenheit befand, obgleich ich ihn noch dem Schneider zum Aufbügeln gegeben. Aber unglücklicher erging es dem alten Mütterchen, deren bescheidenes Wäschebündel in den Augen des Taxators hartherzig ohne Werth blieb, und die Arme, die das Beste und Werthvollste ihrer Wirthschaft zusammengesucht, um durch wenige Groschen vielleicht den Hunger ihrer Kinder zu stillen, sie ging gedrückt und mit sichtlichem Widerstreben von dannen, ohne die Wohlthaten des Instituts noch in Anspruch nehmen zu können und mit der fester gewurzelten Meinung, daß das Leihamt nichts mehr auf Pfänder leihe.

Während dessen die Beamten sich beschäftigten, auch das jetzt in meinen Augen gesunkene Kleidungsstück unter die Insassen den Hauses aufzunehmen, sah ich den Beamten immer weiter schreiten und Wäsche, Kleider, Kessel und Tuchsachen in dem Hintergrunde verschwinden, wo ein Beamter von Zeit zu Zeit erschien, um die ferner nur noch nach Nummern gekannten Pfänder in die Gefängnisse zu bringen, wohin sie hartherzige Mütter und Väter ohne Bedauern geschickt. Endlich erhielt jene trauernde Dame ihr Geld, und auch mein bescheidener Name erklang. Stillvergnügt steckte ich das Geld in meine Tasche, die ich mißtrauisch festhielt, hauptsächlich weil ich ihr den ungewohnten Dienst nicht mehr zutraute, Thalerstücke zu tragen.

Als ich unten auf den Hausflur kam, stand jene junge Dame vor einem unangenehmen Mann mit Stock und Blechschild, dem sie das Geld gab.

„Was?“ rief der Executor, „da fehlt noch ein Thaler.“

Die Dame bat flehentlich, sich denselben morgen zu holen, da sie nicht mehr auf ihren Mantel erhalten hatte. Der Executor sah sie forschend an und versprach bis morgen zu warten.

Das schöne trauernde Antlitz der Dame zog mich an, Ich hatte zwar das Geld nicht übrig, aber … „Madame," sagte ich, „kann ich mit einem kleinen Vorschuß dienen, so befehlen Sie …“

Fast erschrocken sah mich die Dame an. „Ich danke Ihnen," sagte sie dann mit einem schmerzlichen Lächeln, „es wird nicht nöthig sein. Mein Emil ruht nunmehr schuldenfrei im Grabe – und der Sargfabrikant wird mit dem letzten Thaler wohl auch noch einige Tage warten. Und mich wird Gott doch nicht ganz verlassen.“

Sie verneigte sich still und ging. Ich sah ihr lange nach. Die Aufopferung der jungen, schönen Frau für den todten Gatten hatte etwas ungemein Rührendes, besonders in Berlin.




Alexander Dumas’ Stammbaum. Ein adelsstolzer Fremder, wüthend über den Ruhm und das Geld, welches A. Dumas genießt, ließ sich zu ihm einführen, um ihn zu demüthigen, und fing an zu fragen:

„Sie sind ein Quadroon, Monsieur Dumas?“

„Ganz richtig, denn mein Vater war ein Mulatte.“

„Also war Ihr Vater wirklich ein Mulatte? Also war Ihr Großvater –“

„Ein Neger, mein Herr, versteht sich, ein Neger.“

„Und Ihr Urgroßvater, wenn ich fragen darf?“

„War ein Affe, mein Herr! Mein Stammbaum beginnt, wo der Ihrige endet, Monsieur!“




Der Amerikaner in Gesellschaft. Ein europäischer Reisender erklärte, daß nichts intessanter sei in Amerika, als die Stellungen und Attituden der Herren in Gesellschaft zu studiren. Jede Attitude ist ein gymnastisches Kunststück, eine Reihenfolge der phantastischsten Stellungen. Das übliche Kunststück ist, die Beine auf den Kaminsims zu legen oder gegen eine Ofenröhre, aber allemal höher, als der Kopf. Auf einem Mississippi-Dampfer hatte er Gelegenheit, wahrhafte Wunderkünste von Attituden zu beobachten. Angezogen von den „schollernden“ und „pickernden“ Tönen eines Piano’s in einer Damen-Kajüte, stolperten eine große Menge Herren direkt hinein, wo eine äußerst magere, dünne Dame mit einer äußerst heiseren und rissigen Stimme versuchte, „Heil Columbia“ zu singen. Vier Herren bemächtigten sich sofort der Säule, welche in der Mitte die Decke stützte, und stämmten ihre acht Beine, mehrere Zoll hoch über ihren Köpfen, gegen dieselbe, so daß die Köpfe an den Stuhllehnen einsanken. Ein anderer Herr setzte sich neben die Sängerin und legte seine langen Beine quer über das Piano, so dass die Sängerin schwärmerisch auf dessen Stiefelsohlen blicken konnte. Ein Sechster lag auf dem Sopha, die Beine über die Lehne geschlagen und außerhalb damit bis unter die Nase der Sängerin baumelnd. Der Siebente war der Held Aller. Er stellte seinen Stuhl gegen die Wand, machte den Sitz zum Fußschemel und nahm auf der schmalen Lehne Platz, sich mit Lebensgefahr an der Wand balancirend. Ein Achter, der erst gar keinen Platz für seine Beine finden konnte, als den Boden unten, legte sie endlich auf die Schultern des Herrn, der seine Spazierhölzer über das Piano gestreckt hatte, ohne dem geringsten Widerstand zu begegnen. So wie die Dame aufhörte zu singen, begannen alle Herren zusammen einen wahren Höllenlärm von Beifall, indem sie mit Fäusten und Stöcken überall aufschlugen, wo ein Ton zu erwarten war. Dabei fiel der Herr von der scharfen Kante seiner Stuhllehne, ohne sich deshalb weiter zu geniren oder Gelächter zu erregen. Er raffte sich auf und trommelte sogleich auf's Neue enthusiastischen Beifall. Noch feinere Herren holen in Gesellschaft gar ihre Schnippelmesser heraus und splittern von Meubles und sonstigem zugänglichen Holz kleine Späne ab, die sie dann in kleinern Splittern überall in der Stube umherspringen lassen. Die Damen feiner Haushaltungen setzen, um die Gefahr abzulenken, jeder Gesellschaft verschiedene Stücke von Holz und Spänen vor, aus denen sich dann die Herren bedienen, weil sie vermuthen, daß darin ein Wink durch die Blume liege, man solle nichts von Mahagoni-Meubles abschnippeln.




Die australische Industrie-Ausstellung in Melbourne. In Deutschland, England und Frankreich mit tausendjähriger Entwickelung von materieller und ideeller Kultur sind die Industrie- Ausstellungen natürliche Blüthen und Ergebnisse dieses Wachsthums. Die Ausstellung aller Völker in London bezeichnete diese neue Epoche, während die in Paris als Gegensatz zu Napoleon und dem Kriege zugleich eine politische Färbung angenommen hat. Auch die Ausstellung in New-York war natürlich. Man hatte es dort in 70 Jahren weiter gebracht, als wir in einem Jahrtausend. Aber eine Ausstellung der Art in Australien, das vor ein paar Menschenaltern noch gar nicht entdeckt und dann lange eine Ablagerungsstätte für englische Verbrecher war, erscheint wie ein Wunder, wie eine Treibhauspflanze. Freilich hat die Entdeckung unerschöpflicher Goldlager dort eine Entwickelung hervorgerufen, die an Energie, Kraft und Wachsthum Amerika bei Weitem überholen zu wollen scheint. Die ganz Europa bei Weitem übertreffende Landmasse, vor funfzig Jahren noch Wildniß und Wüste, bedeckt sich ringsum mit Städten und dicht kultivirten Strecken in solcher Eile und Masse, daß man kaum so geschwind zählen kann. Wer hörte nicht schon von den rasch emporgesprungenen Hauptstädten Melbourne, Sydney, Adelaide?

Die beiden ersteren besonders machen die heroischsten Anstrengungen, sich als Concurrenten und Rivale um den ersten Rang gegenseitig in Anziehungskraft und Vortheilen der Kultur zu übertreffen. Dieser Rivalität verdankt Australien seine erste Industrie-Ausstellung in Melbourne, wie sie jetzt gebaut und vorbereitet wird.

Melbourne hat viel gegen natürliche Hindernisse commerziellen Gedeihens zu kämpfen. Es liegt am nördlichen Ufer des Flusses Yarra-Yarra im Hinterkopfe Australiens, in sofern das Ganze, wie ein ziemlich ungestalteter Kopf mit der spitzen Nase, der gegen Asien herauf gerichteten Carpentaria-Bay aufgefaßt wird, eine Verdeutlichung, durch welche das Studium elementarischer Geographie sehr erleichtert werden kann. Der Fluß ist unbedeutend und der ganze Zugang vom Meere her nur leichten und seicht gehenden Schiffen möglich, so daß die mit großen Seeschiffen ankommenden Waaren und Menschen durch Boote und Gauner für schwere Kosten und unter mancherlei Prellereien erst in die Stadt geschafft werden müssen. Dazu kam bisher in der Stadt selbst gänzlicher Wassermangel, so daß die Wasserträger aus der Ferne allen Bedarf herbeischaffen müssen und sich ein Faß von vier Eimern mit fünf und zuweilen gar mit zehn Schillingen (über drei Thaler) bezahlen ließen. Nachdem man nun angefangen, Wasser zu graben, dachte man auch an Pflasterung und Drainirung der Straßen, in denen man nach heftigem Regen mit Kähnen fuhr und dann oft nur mit großen Wasserstiefeln gehen konnte. Dabei gab es keine Straßenbeleuchtung, so dass Raub und Mord während der Nacht durch die Straßen herrschten.

Seitdem nun aber die Rivalität mit Sidney begonnen, giebt es Wasser, Gascompagnien, Straßenpflaster, Polizei, Gerechtigkeit, Luxus, Ehrgeiz, Communalsinn, Bildungsanstalten (Gymnasium, Universität etc.) und eine grandiose Industrie-Ausstellung im Werden. Für dergleichen Tempel haben Glas und Eisen durch den londoner Krystall-Palast so sehr die Weihe bekommen, daß man nirgends mehr solche Bauten ausführt, ohne diese Materialien in der modernen Weise zu Grunde zu legen. Das Ausstellungs-Gebäude in Melbourne ist ein verjüngter Sohn des londoner, kürzer und kleiner, und deshalb proportionirter und architektonisch schöner, namentlich in dem großen Transepte oder Dachbogen.

Solch ein Unternehmen führt man in einem Lande aus, das vor drei Jahrhunderten zum ersten Male als Fabel auftauchte und Kapitain Cook erst vor achtzig Jahren (1770) wirklich entdeckte.

Australien wird vielleicht das Europa der Zukunft und der antipodischen Halbkugel, welche unsere bald mit Füßen treten wird, wenn wir nicht eben so viel neue Welt einführen, als wir alte durch Auswanderung verlieren.

Näheres über die weit entlegene Ausstellung vielleicht bei einer späteren, passenden Gelegenheit.



Im Verlage von Ernst Keil in Leipzig erschien:

Gedichte von Ludwig Storch.

Ludwig Storch, der bekannte Verfasser des „Freiknechts“, des „deutschen Leinewebers“ und vieler anderer trefflicher Romane, bietet hier zum ersten Male eine Sammlung seiner Gedichte. Viele davon sind bereits Volkslieder geworden, andere in Musik gesetzt, alle aber tragen den Stempel der göttlichen Poesie an sich und werden, wie der Verfasser selbst, durch ganz Deutschland Verehrer und Freunde in Menge finden.

Bei der elegantesten Ausstattung ist der Preis für 24 Bogen nur auf 1 Thlr. 6 Ngr. (2 fl. Conv.-Mze.), prächtig gebunden auf 1 Thlr. 15 Ngr. (2 fl. 20 Xr.) gesetzt.


  1. Katechismus der Musik. Leipz. bei J. J. Weber.
  2. Sehr wohlschmeckender dünner Kuchen aus abgedampfter Sahne.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: einfachste