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Die Gartenlaube (1860)/Heft 38

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 38. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Arcier.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)

Nachdem Frohn voll Spannung eine Weile beinahe athemlos in dem Alkoven gelauscht, hörte er lebhafte Schritte; sie wurden laut jenseits der großen Flügelthüre, welche zur Rechten des Schreibtisches aus dem königlichen Zimmer hinausführte.

Frohn zog eben seinen Flügelrock und seine scharlachrothe Uniform aus; er warf sie auf einen Fauteuil, der zu Häupten des Bettes stand. Die Thüre ging auf, und zwei Männer traten fast zu gleicher Zeit in das Wohnzimmer des römischen Königs; Einer in dunkler Civiltracht, der Andere in einer schwarzen, mit gelben Garnituren besetzten Hofuniform.

Frohn stand in der Dämmerung des Alkovens, halb von der Draperie der Portière verborgen, so daß er den beiden Männern den Rücken zuwandte; um die Größe seiner Gestalt zu verbergen, hielt er sich ein wenig vornübergebeugt, als ob er an einer Tuchnadel seines Jabots nestele oder doch mit seiner Kleidung beschäftigt sei.

„Majestät halten mir zu Gnaden,“ sagte der Mann, welcher zuerst eingetreten und in Civiltracht war, „der Hoffourier von Echtern verlangt im Auftrag Ihrer Majestät der Kaiserin durchaus noch eingelassen zu werden.“

Frohn räusperte sich, um eine gewisse Heiserkeit seiner Stimme hervorzubringen, dann sagte er möglichst gedämpft:

„Was gibt’s?“

„Die Kaiserin,“ nahm jetzt Herr von Echtern das Wort, „läßt Eurer Majestät vermelden, daß der Courier statt morgen früh noch in der Nacht abgehen soll. Wenn Ew. Majestät sollten ihm ein Schreiben mitzugeben …“

„Auf dem Tisch da! Nehm’ Er’s!“ sagte Frohn so lakonisch und so gedämpften Tones wie möglich.

Die beiden Männer hatten sich bis jetzt respektvoll an der Thüre gehalten. Des Königs Kammerdiener trat nun an den Tisch, nahm das fertig liegende Schreiben und übergab es dem Herrn von Echtern, der sich nach der Gegend des Alkovens hin demüthigst verbeugte und dann Augenblicklich damit abzog, um seiner Gönnerin, der Frau von Lederer, sofort den befriedigendsten Bericht abzustatten.

„Haben Majestät etwas zu befehlen?“ fragte unterdeß der Kammerdiener.

„Nein, geh Er!“ lautete die Antwort.

Der Mann wandte sich zum Gehen.

„Majestät haben heut Abend eine etwas belegte Stimme,“ dachte er im Stillen, während er die Flügelthüre hinter sich schloß. „Es ist gut, daß sie sich so ungewöhnlich früh zu Ruhe legen!“

Dann zog er sich in seine Stube zurück; er wußte, daß der König beim Auskleiden nie seine Hülfe wollte, und war sehr zufrieden, daß er nicht gescholten worden, weil er den strengsten Befehl hatte, nach zehn Uhr des Königs Zimmer nicht mehr zu betreten.

Sobald Frohn sich allein sah, eilte er auf den Schreibtisch zu; er ergriff eine Feder und auf den nächsten vor ihm liegenden Bogen weißen Papiers zeichnete er rasch die Figur eines Briefen, daneben einen Mund und auf den Mund einen Finger.

„Er wird’s verstehn,“ sagte er sich dabei, „ohne daß wir hier ein schriftliches Document unserer Anwesenheit hinterlassen, das morgen früh vielleicht der Kammerdiener eher bemerkte, als der König.“ Dann wollte er von dem königlichen Schreibsessel, den er eingenommen hatte, aufspringen und sich eiligst zurückziehen, als sein Blick auf einige Papierbogen fiel, die auf dem Tische lagen, unter einer als Briefbeschwerer gebrauchten zierlichen Bronze-Lacerte von römischer Arbeit. Diese Bogen trugen oben als gedruckten „Kopf“ die Worte:

„Wir, Joseph, Erwählter Römischer König, Erzherzog von Oesterreich, Königlicher Prinz von Hungarn und Böheim etc. etc.“

Darunter stand von der Hand eines Secretairs mit groben Kanzleizügen geschrieben:

„lassen hiermit, als Divisionär der zweiten Division des ersten Armeecorps, die vom Kaiserlichen Hof-Kriegsrath an uns zurückgelangten Kostenabschlüsse Eurer Bataillonscasse nebst den Belägen nach erfolgter Dechargirung für das dritte Jahresquartal hieneben ohnbeanstandet zurückerfolgen.“

Die Hand König Josephs hatte diesen Erlaß unterzeichnet. Unten stand, von der Hand des Abschreibers:

„An das kaiserliche Commando des ersten Bataillons des Infanterie-Regiments Lobkowitz-Grenadiere.“

Dies war der Inhalt des obenliegenden Blattes. Das nur zur Hälfte darunter verborgene zweite zeigte Frohn nichts als den gedruckten „Kopf“ und den Namenszug des römischen Königs an derselben Stelle, wo er auf dem ersten Blatte stand. Dasselbe war mit etwa einem Dutzend folgender Blätter der Fall. Es waren Blankets, die alle gleichmäßig für die verschiedenen Bataillone der Division des Königs ausgefüllt werden sollten, und die der letztere eben unterschrieben zu haben schien, um die Arbeit zu erledigen, ohne weitere Hin- und Hersendungen aus der Kanzlei nöthig zu machen.

[594] Frohn kam beim Anblick dieser Blätter augenblicklich der Gedanke, daß er eines derselben vortrefflich werde verwenden können. Er nahm deshalb eines der Blankets an sich, faltete es zusammen und verbarg es auf der Brust; dann eilte er in den Alkoven zurück, warf rasch Uniform und Flügelrock wieder an, und schlüpfte zu der Tapetenthüre hinaus; durch den schmalen Gang, durch das Garderobegemach, durch den daraufführenden Corridor erreichte er die cassirte Thüre wieder, und nachdem er sie hinter sich zugezogen und draußen seine Hellebarde ruhig dastehend gefunden, trat er tiefaufathmend und um einen bedeutenden Theil seiner Spannung erleichtert seinen Postendienst wieder an.

Um einen bedeutenden Theil, sagen wir, denn so gut sein rasch gefaßter und keck durchgeführter Plan so eben gelungen, und so gewiß in diesem Augenblick die gestrenge und ihren erwachsenen, mit der königlichen Würde bekleideten Sohn wie einen Knaben beaufsichtigende Kaiserin die zufriedenstellende Meldung empfing, daß der letztere sich in seinen Gemächern befinde und bereits zur Ruhe zu gehen im Begriffe stehe, so schwer bedrückte unsern Freund doch immer noch die Sorge, ob der König sein Wort halten und zur rechten Zeit zurückkehren werde.

Er hatte das Versprechen gegeben. Er wollte vor der Ablösungsstunde wieder da sein. Aber König Joseph, darauf hätte der Arcier einen gestabten Eid geschworen, befand sich in diesem Augenblicke gewiß nicht in der Stimmung, so genau wie unsere Schildwache auf das Schlagen der Uhren Acht zu geben. Ja, dieser fatale und höchst störende Ton machte in dieser Stunde ohne allen Zweifel schon aus schuldiger Rücksicht und Respect nicht einmal einen Versuch, in das trauliche Hinterstübchen in der Vorstadt zu dringen, und wenn er wirklich so unausstehlich vorwitzig war, dann hieß es auch da Wohl: „it is the nightingale and not the lark!

Der Posten vor der cassirten Thüre mochte erst seit wenigen Minuten wieder ordnungsmäßig bezogen sein, als die Glocke der Burg schon ein Viertel auf zwölf verkündete. Frohn warf bei seinem Auf- und Niederschreiten die Hellebarde bald auf die eine, bald auf die andere Achsel. Als es halb zwölf schlug, kam es ihm vor, als hätte die Glocke ordentlich einen boshaften und spöttischen Klang angenommen und die zwei Schläge mit einem erschrecklichen und ganz ungewöhnlichen Getöse bis in jeden entferntesten Winkel der großen Hofburg geworfen.

Und dann schlug sie drei Viertel auf zwölf, sie war so entsetzlich rasch damit bei der Hand, daß der Arcier glaubte, er höre noch den Nachhall von halb zwölf in seinen Ohren zittern, und nun schlug diese entsetzliche Uhr bereits drei Viertel auf Mitternacht!

Um Mitternacht pünktlich kam die Ablösung. Ein anderer Arcier bezog den Posten, ein alter dienststeifer Kriegsknecht, der, wenn der König heimkehrend auf ihn stieß, Lärm schlug und Alles zur Sprache brachte – Frohn war dann verloren.

Vielleicht schlug die Glocke zu früh; vielleicht war sie in ihrem Laufe der Zeit voraus. Aber nein, dies war ein Gedanke, an den nur die Verzweiflung sich klammern konnte; er war völlig chimärisch, er war beleidigend für die alte Thurmuhr auf der Hofburg zu Wien, die niemals zu rasch gegangen, die niemals der Zeit voraus gewesen ist.

In der That, von Sanct Stephan schlug es gleich nachher gerade eben so viel. Und von den andern Thürmen und Thürmchen der großen Kaiserstadt ebenfalls. Frohn hatte noch niemals bemerkt, daß so viel Thurmglocken in Wien sein, und daß sie ein so furchtbares Getöse machten, wenn sie die Viertelstunden schlügen. Dann hatten sie ausgeschlagen, auch der Klang der letzten war zitternd verhallt, Frohn’s Herz klopfte immer höher, er glaubte schon die Burgglocke wieder zum neuen Schlage ausholen zu hören, und wahrhaftig, dies Qualgebilde einer dämonischen Erfindungskraft fing sein Rasseln wieder an – es hob aus.

Da unterbrach ein andrer Ton die Todtenstille in dem weiten Gebäude: es waren Schritte: nicht die Schritte der fernen Schildwachen auf ihren Posten; es waren flüchtige, leise, heraneilende, fliegend fast; und etwas Weißes leuchtete am Ende des Ganges auf – der weiße Mantel flatterte; er war da, er winkte Frohn wie grüßend oder dankend mit der Hand. Frohn hatte die Thüre schon geöffnet – hinein flog der weiße Mantel, und Schloß und Riegel klirrten im Innern.

Tief aufathmend stand der Arcier.

„Gott sei gedankt!“ sagte er mit einem aus der tiefsten Seele kommenden Stoßgebet. Und nun ließ er die Glocke schlagen; nun ließ er sie schlagen alle durcheinander, nach Herzenslust, groß und klein, dumpf und hell und heiser, sie konnten gar keinen so disharmonischen Lärm hervorbringen, daß es ihm nicht plötzlich wie eine tolle Tanzmusik ganz lächerlich heiter um die Ohren geschwirrt hätte.

Die Ablösung kam schweren Schrittes heran.

„Alles in Ordnung, Herr Vice-Second-Wachtmeister!“ meldete Frohn und ließ seinem Nachfolger den Posten.


5.

Um zwei Uhr nach Mitternacht wurde der Posten vor der cassirten Thüre eingezogen. Frohn hatte noch zwei Mal an andern Stellen in der Burg zu schildern, dann war die Mittagsstunde des folgenden Tages da, und mit ihm das Ende des Nachtdienstes.

Eine Viertelstunde später saß Frohn in seiner Wohnstube in der Vorstadt Mariahilf; vor ihm lag das Blanket, und den Kopf auf den Arm gestützt starrte der Arcier nachsinnend die weiße Fläche an. Endlich, mit einem raschen Entschluß, ergriff er die Feder.

„Es geht nicht anders,“ sagte er, und nun schrieb er mit seiner schönen und deutlichen Copisten-Hand einige Zeilen darauf nieder, streute Sand darauf und überlas das Blatt. Der Inhalt lautete jetzt wie folgt:

„Wir Joseph, Erwählter Römischer König, Erzherzog von Oesterreich, Königlicher Prinz von Hungarn und Böheim etc. etc.
haben zur Anerkennung uns geleisteter Dienste und wegen besondren Wohlverhaltens dem k. k. Arcieren-Leibgardisten Joseph von Frohn das Kreuz eines Gnadenritters des toscanischen Sanct Stephans-Ordens verliehen und geben demselben darüber diese vorläufige Urkunde bis dahin, daß von unsres Kaiserlichen Herrn Vaters Majestät und Liebden, als höchstem Ordensmeister, das von uns beantragte Ernennungs-Diplom unterfertigt und herabgelangt sein wird.
Joseph, R. König, m. pr

Mit diesem Schriftstück bewaffnet, verließ Frohn ohne Säumen seine Wohnung wieder. Auf dem Hausflur unten gab ihm die Magd einen Wink.

„Das Demoiselle Thereserl verlangt gar gewaltig nach dem Herrn von Frohn,“ flüsterte sie.

„In einer Stunde komme ich zurück,“ versetzte der Arcier, „dann steh’ ich zu Dienst.“

Er verließ das Haus, wandte sich der inneren Stadt zu und suchte das Gebäude der Polizei-Verwaltung auf. Seine rothe Arcieren-Uniform öffnete ihm hier die Thüren. Da man einen Boten vom Hofe in ihm erblickte, so ließ das gestrenge und sonst keinesweges zuvorkommende Dienstpersonal, welches er in dem ersten dieser verhängnißvollen und unheimlichen Räume antraf, sich so weit herab, ihm auf alle seine Fragen Antwort zu geben, und kurze Zeit darauf stand er in einer verräucherten, dunklen, mit Acten bis an die Decke erfüllten Stube, in welcher ein kleiner, gelb und zornig aussehender Mann eben seine Schreibärmel auszog und sich zum Fortgehen anzuschicken schien.

„Was gibt’s? was wollen’s noch? ein Uhr thut’s schlagen, eh’ ich a Paternoster hersag – und a Ruh will ich hab’n,“ fuhr er Frohn und den Beamten, der ihn geführt hatte, an.

„Ich bin an ein verdrießliches Subject gekommen,“ dachte unser Freund, indem er den graugelben Actenmann betrachtete, der aussah, als wäre er der letzten großen Generaleinstampfung älterer Actenbestände nur entgangen, um bei der nächsten berücksichtigt zu werden.

„Ich höre,“ nahm Frohn das Wort, „Euer Gnaden sind der Polizeirath für das Criminale?“

„Nun ja, was schwätzen’s noch davon, was hab’n’s?“

„Es schwebt eine Untersuchung gegen einen jungen Menschen, der Franz Fellhamer heißt, wegen Diebstahls – man hat bei ihm ein Ordenskreuz gefunden, und dies Kreuz ist zu den Acten genommen.“

Der Polizeirath für das Criminale nahm eine Prise, um seine Ungeduld zu beschwichtigen.

„Wird schon so sein,“ sagte er.

„Dies Kreuz gehört mir, und ich komme es zu reclamiren.“

[595] „Ihnen Ihr Kreuz ist’s?“ fragte der Actenmann mit einiger Ueberraschung zu dem hohen Leibgardisten aufschauend.

„Ich wohne im Hause der Eltern des Monsieur Franz Fellhamer; dadurch hat der leichtsinnige Mensch Gelegenheit bekommen, es mir zu entwenden – wahrscheinlich weniger in der bösen Absicht, sich den Goldwerth anzueignen, als um damit vor seinen Gesellen zu prahlen.“

Der Polizeimann schüttelte verdrießlich den Kopf.

„Das muß sich ausweisen,“ sagte er.

„Freilich,“ versetzte Frohn. „Ich bitte Sie um die Auslieferung des Kreuzes.“

„Ist’s denn gar so eilig?“

„Ich habe Gründe, es sofort zurückzuverlangen. Und da es mein Eigenthum ist, werden Sie es nicht verweigern.“

„Es wird halt nicht so schnell gehen. Schaun’s, a kleines Protokoll wird schon zu machen sein, und nachher müssen’s abwarten, was die Behörde resolvirt, und dann wird man den Herrn schon vorladen, es in Empfang zu nehmen, und a Urkund oder a Bescheinigung müssen’s auch beibringen, daß der Orden der Ihrige ist – die Polizei weiß halt nichts davon.“

„Daran fehlt es nicht,“ entgegnete Frohn, indem er seine königliche Verleihungs-Urkunde hervorzog und, nicht ohne eine kleine Gewissensbeängstigung, dem Beamten vorlegte. „Hier ist die Bescheinigung, die Ihnen genügen wird.“

Der Polizeirath überlas das Blatt.

„Sie werden jetzt auch einsehen, weshalb ich den Orden mir auf der Stelle eingehändigt wünschen muß,“ fuhr Frohn fort. „Der römische König hat mir den Orden gegeben, bevor die urkundliche Verleihung vom Kaiser selbst erflossen ist. Ich habe ihn deshalb auch noch nicht tragen dürfen, und wenn die Sache bei Hofe bekannt würde, so könnten die alten Majestäten es dem römischen König als eine Eigenmächtigkeit verübeln, und darum kann ich Ihnen schon unter vier Augen anvertrauen, daß der Herr Polizeirath sich beim römischen König einen großen Stein im Bret verschaffen würden, wenn über den Orden in der Untersuchung kein Lärm geschlagen wird, und besonders, wenn Sie kein Aufhebens davon in dem Polizei-Bericht machen, der am Ende der Woche in’s Cabinet der Kaiserin gesandt wird.“

„Schau, schau, so steht’s?“ fiel der Polizeirath lebhaft ein. „Ja, das ist freilich was Andres; wissen’s was, Herr von Frohn, das Beste ist, ich mach’ gleich nur einen Vermerk in die Acten: „das Kreuz ist dem Inhaber ruckgeb’n worden, sub fide Rath Hinterhuber,“ nachher hab’n wir nichts mehr damit zu schaffen.“

Der kleine Mann war jetzt eben so dienstwillig wie vorher unwirsch.

„Kommen’s nur mit, kommen’s nur mit,“ sagte er und schritt Frohn voran in einen an sein Arbeitszimmer stoßenden Raum von großer Familienähnlichkeit mit dem ersteren, nur daß hier die Actenrepositorien abwechselten mit großen dunklen Schränken, zu deren einem der Polizeirath sich wandte, um ihn mit einem Schlüsselbund, das er aus der Tasche hervorholte, aufzuschließen und dann lange darin herumzukramen. Frohn warf einen Blick in das dunkle tiefe Innere dieses Kastens, das im Kleinen mir frappanter Aehnlichkeit das Bild eines Trödlerladens darbot, nur daß diese amtliche Trödlerbude mit entschiedener Bevorzugung alles dessen angelegt schien, was sich leicht forttragen und unter einen Rockschoß verbergen ließ, während das mehr Raum einnehmende Mobiliar fehlte. Stockuhren, rostige Pistolen, Haufen von Wäsche, Kleidungsstücke, Stiefeln, Pferdezäume, eine Unzahl von Reticüles mit knapp abgeschnittenen Bändern, Gebetbücher, kupferne Casserolen und tausend andere Dinge ruhten friedsam in diesem Mikrokosmos des Culturlebens einer großen Stadt bei einander, und jedes trug auch sein Zeichen, daß es solchem Culturleben angehöre, an der Stirne, einen Zettel nämlich, mit Actenzeichen und Nummern darauf.

Was der Polizeirath suchte, befand sich nun freilich nicht mitten zwischen allen diesen Sachen, sondern in einem besonderen mit einem Vorhängeschloß verwahrten Kasten, worin alle diejenigen Gegenstände untergebracht schienen, die einen größeren Werth repräsentirten; und daraus nahm der Beamte denn bald ein kleines Packet heraus, als dessen Inhalt sich richtig das dunkel emaillirte, in der Form dem Malteserorden sehr ähnliche Stephankreuz zeigte. In den Winkeln waren vier goldne Lilien angebracht, und oben eine goldene Königskrone. Das rothe dazu gehörende Band befand sich noch daran.

„Da haben’s Ihnen Ihr Kreuz,“ sagte der Polizeirath, „und nun kommen’s, daß wir’s eintragen.“

Er verschloß den Schrank wieder und ging in sein Arbeitszimmer zurück. Frohn folgte ihm. Hier holte er unter mehreren dicken Actenfascikeln ein Heft hervor, welches sein noch jugendliches Alter durch eine außergewöhnliche Dünnleibigkeit verrieth, schlug es auf und nachdem er auf den weißen Rand eines der Schriftstücke seinen „Vermerk“ gemacht, deutete er aus die Stelle darunter und sagte:

„Hier, da schreiben’s hin, daß wir’s Kreuz Ihnen obruck geb’n hab’n.“

Frohn faßte die Feder und malte mit möglichst ungeschickter Führung des Kiels, der unter dem Druck seiner schweren Hand ganz entsetzlich ächzte und knirschte, die Worte hin:

„Obiges Kreuz des Ordens vom heiligen Stephan habe ich zurück erhalten.
Joseph von Frohn.“

„Ist das Ihre Hand?“ fragte der Beamte.

„Wie Sie sehen.“

„Aber sogn’s, wie hoßt’s denn, der Namenszug da?“

Der Namenszug war freilich so verschnörkelt, daß eine hellsehende Somnambule nicht aus diesen verwirrten Haken Joseph von Frohn gelesen hätte.

„Das geb’ ich Ihnen zu rathen auf,“ antwortete lachend der Arcier. „Ein wenig wüst aussehen thut’s schon, man verlernt das Schreiben eben im Felde, und besonders’dann, wenn man schon vorher nicht stark darin war.“

„Ja, mag schon sein,“ versetzte der Polizeirath.

„Und nun danke ich Ihnen für Ihre Gefälligkeit,“ fuhr unser Arcier fort, „es wird dem römischen König schon zu Ohren kommen, verlassen Sie sich darauf. Aber ich darf Sie nicht länger aufhalten, es ist längst Essenszeit …“

„Ja, freilich längst ist’s Essenszeit,“ fiel der Beamte mit einem elegischen Tone ein. „Aber warten’s noch, wir sind halt noch immer nicht fertig.“

„Was ist denn jetzt noch zu thun?“

„Ja, schaun’s, unterschrieben haben’s freilich, aber etwas habn’s vergessen.“

„Und was ist das?“

„Das manu propria habn’s ausgelassen. Ich muß gar schön bitten.“

„Ein m. p. noch – nun darauf soll’s mir nicht ankommen,“ versetzte Frohn lachend und ergriff die Feder wieder, um hinter seinen Namen noch den verlangten Zug zu machen.

„Jetzt können’s gehn,“ sagte der Beamte, „für alles Andre sorg’ ich schon selbst.“

„Küß die Hand, Herr Polizeirath,“ erwiderte Frohn und eilte mit viel leichterem Herzen, als er gekommen, und mit raschen Schritten aus den dunklen, unheimlichen Räumen hinaus.


6.

Im Besitze seiner Beute gab unser Arcier sich zunächst der Erfüllung der moralischen Obliegenheit hin, die der Sterbliche in Beziehung auf sein eigenes Wohlbefinden hat und welche der tugendhafte Polizeirath deshalb so stark durch die wiederholte Bemerkung: „es ist Essenszeit“ betont hatte.

Nachdem er diese Pflicht erfüllt und sein Mahl in einem nahen Speisehause zu sich genommen hatte, trat er den Heimweg zu seiner Wohnung an und ließ sich nun sofort bei Demoiselle Thereserl melden.

Die junge Dame trat ihm sehr bewegt entgegen. Sie sah wo möglich noch niedergeschlagener aus, als am Tage vorher. Sie hatte auch in der That Grund dazu … sie gestand Frohn ein, daß sie ihren Ordensritter seit gestern gesprochen, daß er sein Kreuz gebieterisch zurückverlangt habe, daß sie gar keine Ausflucht gewußt, daß sie ihn ja auch viel, viel zu sehr lieb habe, um ihn durch falsche Vorwände hintergehen zu können, und daß er bei ihrem aufrichtigen Bekenntniß sehr, sehr ernst und sehr unwillig geworden.

„Und hat er beschlossen, sofort etwas in der Sache zu thun?“ fragte Frohn eifrig.

[596] Therese wußte das nicht; er sei sehr nachdenklich geworden und habe sich nicht darüber ausgesprochen, sagte sie; aber sehr unruhig sei er gewesen und habe oft nach der Uhr geschaut, und nur so kurze Zeit sei er geblieben … er sei wieder davon geeilt, nachdem er, wie es ihr geschienen, kaum gekommen.

Frohn begriff diese Unruhe.

„Seien Sie ruhig, Demoiselle Therese,“ sagte er jetzt, indem er das Kreuz aus der Brusttasche zog – „kennen Sie das?“

„O mein Gott,“ rief das junge Mädchen, die Hände zusammenschlagend aus, „da ist’s ja – das ist’s!“ und zugleich fiel sie erschüttert in ihren Stuhl zurück und durch einen Strom von hervorquellenden Thränen blickte sie lächelnd zu Frohn auf.

„Ich kann’s nicht aussagen,“ fuhr sie gepreßt und die Hand auf’s Herz drückend fort, „ich kann’s nicht aussagen, wie’s mich freut, daß Sie’s haben … es ist eine erschreckliche Freud’, als wenn ich davon sterben müßt’!“

Frohn ergriff gerührt ihre Hand. Er sah an dieser gewaltigen Erschütterung, wie groß und aufrichtig ihre Liebe für den Mann war, den sie durch sich in Sorge versetzt wußte.

„Wie haben Sie’s nur angefangen?“ fragte sie dann. „O ich wußt’, daß Sie mir helfen würden; mein Gott, mein ganzes Leben lang werd’ ich Ihnen nicht genug danken können.“

„Reden wir nicht davon,“ unterbrach sie Frohn; „wie ich’s angefangen habe, erzähl’ ich Ihnen ein andres Mal. Jetzt sagen Sie mir, wollen Sie es ihm zurückgeben, oder soll ich’s thun? Zu reden hab’ ich doch mit ihm.“

„Kennen Sie ihn denn?“ fragte Thereserl mit einem gewissen Erschrecken.

Er nickte mit dem Kopf.

„Nun, was thut’s? ich habe zu Ihnen das Vertrauen, wie zu meinem Beichtvater – so gehen Sie nur und geben Sie’s ihm nur selber, denn er hat gesagt, in den nächsten Tagen könne er nicht wieder zu mir kommen, aber vielleicht würd’ er’s mir übel nehmen und böse sein, daß ich Sie in’s Vertrauen gezogen, und auf Sie könnt’ er einen Zorn fassen drum!“

„Seien Sie deshalb unbesorgt,“ entgegnete Frohn. „Ich muß offen mit ihm reden, mag er’s nun gnädig aufnehmen oder, was immer sehr möglich ist, es gar übel vermerken, daß ich mich in die Sache gemischt habe. Aber es thut’s nun einmal nicht anders, davon geredet muß werden!“

„Nun, dann reden Sie in Gottes Namen mit ihm, und wissen Sie, Herr von Frohn,“ fügte Therese mit einem kleinen Anfluge von Schelmerei hinzu, „wenn er auch ein klein wenig böse drein schaun sollt’, ich glaub’ doch schon, ich mach’, daß er dem Herrn von Frohn wieder gut wird!“

Frohn griff nach seinem dreieckigen Hütlein.

„Aber nun laufen Sie schon davon,“ rief sie aufspringend aus, „und ich habe Ihnen noch gar nicht einmal gedankt.“

„Eben deshalb laufe ich,“ versetzte Frohn, „damit Sie nicht davon anfangen!“

Er eilte in der That davon, noch bevor sie etwas erwidern konnte, verließ das Haus und schlug den Weg zur Burg ein. Er hatte hier keinen Führer nöthig, um in das Vorzimmer des römischen Königs zu gelangen. Die junge Majestät, wurde er jedoch beschieden, machte einen Spazierritt im Prater, zusammen mit dem Erzherzog Leopold und ihren Cavalieren. Frohn stellte sich geduldig in eine Fensternische, um zu warten. Außer einem Lakai war Niemand in dem Raume; in die Stille, welche ringsum in diesem Theile der kaiserlichen Wohnung herrschte, warf die Glocke auf der Burgcapelle ihre hallenden Töne, als sie drei Uhr schlug, und dieser Klang versetzte unsern Arcier auf das Lebhafteste wieder in die Situation der vergangenen Nacht.

Kurz darauf kündeten Schritte, das Auf- und Zuschlagen von Thüren, Stimmen die Zurückkunft der jungen Herrschaften an.

Der Kammerdiener, welchen Frohn am gestrigen Abende nebst dem Herrn von Echtern hatte in das Arbeitszimmer seines Gebieters treten sehen, kam herein, der Lakai eilte, die beiden Flügel der großen Thüre aufzuwerfen; im nächsten Augenblicke schritt der römische König rasch über die Schwelle des Vorgemachs.

„Addio, meine Herren, ich danke Ihnen,“ sagte er, sich zu zwei Herren in Hofuniform wendend, die ihm bis hierher das Geleite gegeben hatten und sich nun nach einem Paar tiefen Verbeugungen zurückzogen; dann wandte er sich mit jugendlich elastischem Schritt seinem Wohnzimmer zu, zu dessen Thüre ihm der Kammerdiener vorauf geeilt war. Auf dem Wege dahin traf sein Blick Frohn, der in strack militärischer Haltung sich neben dem Fenster aufgestellt hatte. Die schönen offenen Züge König Josephs mit den großen gewinnenden blauen Augen voll Leben und Geist nahmen augenblicklich einen andern Ausdruck an. Dieser Ausdruck war unverkennbar der einer nicht angenehmen Ueberraschung. Doch blieb er vor dem Arcier stehen und sagte mit einem leichten Stirnrunzeln und raschem Hervorstoßen der Worte:

„Er will mich sprechen? Komme Er mit hinein!“

Der König schritt weiter, und Frohn, der ihm folgte, stand nach wenig Augenblicken in dem Wohngemach desselben, das ihm aus der vergangenen Nacht her so wohl bekannt war. Ihm gegenüber lag der Alkoven, durch den er hier eingedrungen war.

„Arcieren-Leibgardist Joseph von Frohn, früher Oberlieutenant bei Prohaska-Dragonern,“ meldete Frohn militärisch.

„Er hat gestern Posten gestanden auf dem Gange drüben, ich weiß,“ sagte der König mit ungeduldigem und unwilligem Tone, doch erst, nachdem er gewartet, bis der Kammerdiener die Thüre wieder geschlossen. „Er kommt sehr rasch, mich daran zu mahnen, daß ich eine kleine Verbindlichkeit gegen Ihn habe!“

Frohn erröthete bei diesen Worten.

„Majestät halten mir zu Gnaden, ich komme so wenig in dieser Absicht, daß ich im Gegentheil nur befürchte, ich werde Ew. Majestät volle Ungnade auf mich laden durch das, was ich vorzutragen mich gedrungen fühle.“

„Und was ist das? Laß Er hören.“

„Ich bin in der vergangenen Nacht hier in Ew. Majestät Wohnzimmer gewesen und habe die Rolle Ew. Majestät gespielt, auf die Gefahr hin, nicht auf meinem Posten gefunden und auf die Festung geschickt zu werden.“

„Er? Was soll das bedeuten? War Er’s, der einen Brief von meinem Schreibtisch genommen hat?“

„Das that Ew. Majestät Kammerdiener.“

„Der Kammerdiener? der war hier?“ fiel König Joseph beunruhigt ein, „gegen meinen ausdrücklichen Befehl?“

„Weil ihm ein Befehl Ihrer Majestät der Kaiserin vorgespiegelt wurde,“ antwortete Frohn und begann nun den ganzen Hergang zu erzählen.

(Schluß folgt.)


Das große Schützenfest zu Cöln.

Wir mögen es immer Napoleon dem Dritten Dank wissen, daß er, wenn auch wider seinen Willen, uns Deutsche aus dem lethargischen Schlafe aufrüttelte, in welchen uns das Regierungssystem des deutschen Bundestages einzulullen bemüht war. Das Jahr 1848 wurde von der Reactionspartei trefflich ausgebeutet, und die Hoffnungen der aufrichtigen staatsbürgerlichen Freiheit sanken tiefer und tiefer, je mächtiger die Treubündler, unterstützt von Heer und Beamten, ihre Thätigkeit entfalteten. Da drohte endlich Gefahr von außen: Louis Napoleon richtete die verlangenden Blicke ziemlich unverhohlen nach dem linken Rheinufer, und jetzt ließen die Fürsten Deutschlands es ruhig geschehen, daß die altehrwürdige schwarz-roth-goldene Fahne wieder aus dem Staube hervorgeholt und abermals als Einigungsbanner für das deutsche Volk aufgepflanzt wurde. Das Turnwesen nahm in unserem Deutschland einen neuen ungeahnten Aufschwung; das Gefühl der Zusammengehörigkeit machte sich zunächst in der deutschen Jugend geltend; auf fröhlichen Sängerfesten erschollen wieder die alten Weisen von Deutschlands Freiheit, Ehre und Recht; in Schiller’s hundertjährigem Geburtstage feierte unser Volk neben der Apotheose des Genius sein eigenes Auferstehungsfest; der Nationalverein trat in’s Leben.

Aber noch fehlte ein Glied in der ehernen Kette, die unser

[597]

Schloß Schützenburg, Hauptgewinn beim Schützenfest zu Cöln.
Nach der Natur aufgenommen von G. Zietz.

[598] schönes Vaterland fortan mit nationalen Banden umschließen soll: ein deutsches Schützenfest, wie ein solches alljährlich in unserem Schwesterlande, der Schweiz, in Freud’ und Ehren begangen wird. Die Schützengesellschaft in der Metropole am Rhein hat jetzt diesen schönen Gedanken verwirklicht und, wie bekannt, die Schützen aller stammverwandten Länder Deutschlands, also außer Deutschland, Belgien, Holland, England, die Schweiz (Frankreich ist selbstverständlich ausgeschlossen) zu einem germanischen National-Schützenfest nach Cöln geladen, wo unter glänzendem Schaugepränge am 26. August dieses Jahres ein großes Preisschießen begonnen hat.

Wir überlassen es den politischen Zeitungen, die Details dieses seltenen Festes, wie die Geschichte vieler Jahrhunderte ein solches in Deutschland nicht aufzuweisen vermag, ausführlicher zu beschreiben, und bemerken nur im Allgemeinen, daß die Cölner Schützengesellschaft sechs Ehrenscheiben aufgestellt hat, nach denen zunächst „ohne irgend eine Einlage oder Erfüllung einer materiellen Bedingung“ um gewisse Ehrenpreise geschossen wird. Die Namen der Ehrenscheiben deuten an, für welche Schützen sie bestimmt sind; sie nennen sich: Deutschland für die deutschen Schützen, England für die englischen, Belgien für die belgischen, Holland für die holländischen, Schweiz für die Schweizer, und endlich Cöln für sämmtliche Schützen. Der Preis für den besten Schuß besteht bei jeder Scheibe in einem prachtvollen silbernen Pokal, einem Ehrenorden und einem Gedenkzeichen; als Ehrengeschenk der Stadt Cöln hat die nach ihr benannte Scheibe einen silbernen vergoldeten Pokal mit erhabenem Deckel für den besten Schützen zum Gewinn.

Das Hauptschießen an der Ehrenscheibe „Prinz-Regent“ hat am 27. August Nachmittags zwei Uhr begonnen, und wird nach dem Maßstabe der Betheiligung der Schützen bis Schluß des Monats September fortgesetzt. Hier gilt es einen Preis zu erringen, wie ein ähnlicher noch niemals in Deutschland ausgesetzt worden ist. Das über Ehrenbreitstein sich erhebende Schloß Schützenburg, von welchem wir dem Leser eine gelungene Abbildung vorlegen, ein Schloß mit einem umgebenden Areal von 18 Morgen der besten Weinberge, Gärten und dergl. nebst einer Gerechtsame von circa 8000 Morgen Feld- und Waldjagd, in einem Werthe von 36,000 Thalern, ist der seltene Preis, der dem besten Schützen aus germanischem Stamme zu Theil wird. Das herrliche Schloß, auf einer mäßigen Anhöhe Coblenz gegenüber an einem der schönsten Punkte des Rheins gelegen, bietet eine prachtvolle Aussicht auf Coblenz, Rhein, Mosel, Stolzenfels und die Gebirgsketten des Rhein- und Moselthals. Die Gebäulichkeiten sind ganz neu, im Geschmack des Mittelalters rein und äußerst solide gebaut, mit vielen Thürmen, Brücken, Cisternen, Springbrunnen, Veranden, Grotten und dergl. geziert; in der That ein hoher Preis, der es werth ist, um ihn mit festem Auge und sicherem Arm zu werben. Außerdem sind noch 184 Nebenpreise von 1000, 500, 300, 200 Thlr. etc. für die nächstfolgenden besten Schützen ausgesetzt, während für die Schießkarte nur 3 Thlr. zu erlegen sind.

Möge denn dieses National-Schützenfest, wie es großartig angelegt, so auch glücklich, froh und frei in deutscher Weise beendigt werden. Einer der Festredner am ersten Tage, Schütz Wilke aus Cöln, schilderte die Bedeutsamkeit des Festes mit Worten, die, wie sie an jenem Tage hundertfachen Anklang fanden, so auch sicher in ganz Deutschland, ja in der ganzen germanischen Welt nachhallen werden und mit denen es uns gestattet sei, diesen flüchtigen Bericht zu schließen:

„Wir wollen,“ so sprach er, „vereint sein zum Schutze unsres deutschen Vaterlandes, für den Fall der Gefahr! Das, meine Herren, soll der erste Preis unseres Festes sein, daß wir nach den Schießtagen von einander scheiden mit dem Gefühle im Busen: wir sind stammverwandte Brüder; wir sind dafür begeistert, daß wir für das engere, sowie für das weitere Vaterland einstehen wollen mit Wort und That! Und siehe da! Sie haben begriffen, was wir damit gewollt: aus den entferntesten Orten Deutschlands, Belgiens, Hollands, Englands und der Schweiz sehen wir zahlreiche Vertreter bei unserem Feste erscheinen und sich die Hand drücken in dem freudigen Bewußtsein: „„Wir stehen wie ein Mann für die deutsche, für die stammverwandte Erde!““

Meine Herren! von hoher Stelle ward uns ein Beispiel gezeigt, wie man Rechtlichkeit üben soll, und mit Freude sahen wir ausgeführt das hohe Gebot der Religion: „„Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Haus, noch Alles, was sein ist.““ Wir Deutsche wollen nicht begehren unsres Nachbars Haus, doch wollen wir uns wehren, wenn eine frevelnde Hand es versuchen sollte, auch nur anzutasten eine Scholle deutscher Erde! Und zu diesem Zwecke haben wir Schützen uns zunächst die Hand zu reichen: wir wollen einstehen mit Gut und Blut und würdig sein dem Vorbilde der deutschen Krieger, welche 1813, 14 und 15 mit ihrem Blute für die Freiheit Deutschlands Boden gedüngt.“




Deutsche Bilder.
Nr. 5. Ulrich von Hutten.
(Schluß.)

Gern wäre Hutten in der Nähe des ritterlichen Herrn geblieben, aber die Pflicht der Dankbarkeit führte ihn an den Hof des Erzbischofs von Mainz zurück, wo er auch die versprochene Anstellung erhielt. Im Gefolge dieses Kirchenfürsten besuchte er auch den Reichstag zu Augsburg, den der Kaiser ausgeschrieben hatte, um gegen die dem Reiche von den Türken drohende Gefahr Hülfe zu verlangen. Hutten behandelte die Angelegenheit in einer ausführlichen Schrift, worin er die deutschen Fürsten und Ritter zur Einigkeit gegen den damaligen Erbfeind aufforderte, indem er über das alte Uebel seiner Landsleute, ihre Zerrissenheit, Eifersucht und Zwietracht klagte. „So bleibt,“ schrieb er damals, „unsere Tapferkeit stets eitel, unsere Kraft nutzlos, und unsere Nachbarn lassen uns wohl für gute Kämpfer, aber nicht für tüchtige Krieger gelten. Und das ist nicht der Soldaten, sondern vorzugsweise der Führer Schuld. Es lebt in Deutschland eine starke Jugend, große, nach wahrem Ruhm begierige Herzen: aber der Leiter, der Führer fehlt. So erstirbt die Kraft, die Tapferkeit spannt sich ab, und der glühende Thatendurst verkommt im Dunkeln.“

Noch kein Jahr verweilte Hutten am Hofe des Kurfürsten von Mainz, als er bereits das Hofleben so satt bekam, daß es ihm Gelegenheit zu einer Satire gab, die er seinem berühmten Freunde Wilibald Pirkheimer nach Nürnberg mit einem Briefe schickte, worin er seine Sehnsucht nach einer andern und bessern Thätigkeit aussprach. Er konnte nur einer Herrin dienen, der Freiheit, von der er in seiner „Zuschrift an alle freien und echten Deutschen“ folgendermaßen spricht: „In der That, wenn es Einen gibt, welcher die deutsche Freiheit so vernichtet wünscht, daß wir gegen kein Unrecht, keine Schmach mehr Einrede thun dürfen, der möge zusehn, daß nicht jene so geknebelte und fast erwürgte Freiheit einmal, zu der Unterdrücker größtem Schaden, plötzlich ausbreche und sich wiederherstelle. Wie weit klüger wäre es, verständig angesehen, wie viel gerathener vom Standpunkte unserer Unterdrücker aus, ihr immer noch etwas Athem zu lassen und sie nicht gar zu arg zusammenzupressen, als es dahin zu treiben, daß sie im Gefühl der drohenden Erstickung sich gewaltsam durch einen zerstörenden Ausbruch Luft machen muß! Denn einfangen und binden läßt sie sich wohl, zumal wenn es Einer schlau und geschickt anzugreifen weiß; umbringen und abschlachten aber läßt sie sich nicht, und sie ganz zu vernichten, ist unmöglich. Also Muth! und ihr, denen des Vaterlandes Freiheit am Herzen liegt, die ihr Deutschlands Ehre erkennt und noch nicht ganz dem Aberglauben verfallen seid, leset, waget Aehnliches und lebet wohl.“

Vor allen Dingen war es Hutten damals daran gelegen, die nöthige Muße zu einigen größeren literarischen Arbeiten zu gewinnen. Großmüthig entband ihn der Kurfürst von Mainz seiner Verpflichtungen, indem er ihm doch seinen ganzen Gehalt beließ. Zum Dank widmete er seinem Gönner die von ihm veranstaltete neue Ausgabe des Livius und eine Schrift über das Guaiak, ein medicinisches Mittel, dem er selbst seine Heilung von jener ansteckenden [599] Krankheit verdankte. Aber auch jetzt fand er nicht die gewünschte Ruhe, da ihn die veränderten Zeitereignisse in den Strudel der damaligen religiösen und politischen Bewegung fortrissen. Zunächst betheiligte er sich an dem Kriegszug des sogenannten schwäbischen Bundes gegen den alten Feind seines Geschlechtes, Herzog Ulrich von Würtemberg. Hier lernte er im Lager den edlen Franz von Sickingen, das Haupt der Ritterschaft, genauer kennen, „einen Mann,“ wie er an Erasmus schreibt, „wie Deutschland lange keinen gehabt hat, und von dem ich hoffe, daß er dieser Nation noch einmal zum großen Ruhme gereichen werde. Nichts bewundern wir an den Alten, dem er nicht eifrig nachstrebte. Er ist klug, ist beredt, greift Alles rasch an und entwickelt eine Thätigkeit, wie sie bei einem Oberanführer erforderlich ist – Gott möge den Unternehmungen des tapferen Mannes beistehen!“

Bald wurden Beide die innigsten Freunde, sie schliefen in demselben Zelte, sie aßen an demselben Tische und tranken aus demselben Becher. Ihre Herzen waren von derselben Liebe zum Vaterlande, von demselben Hasse gegen seine Unterdrücker und Tyrannen erfüllt. Auf Sickingen’s Burg fanden die Freunde der Wahrheit sicheren Schutz, sein starker Arm war stets bereit, die verfolgte Unschuld zu vertheidigen.

Unterdeß war in Deutschland durch Luther’s Auftreten die Reformation herbeigeführt worden. Anfänglich erblickte Hutten in dieser neuen Bewegung nur ein eifersüchtiges Mönchsgezänk, bald aber begriff er die hohe Bedeutung des gewaltigen Gottesmannes. Sogleich mit Luther Gemeinschaft zu machen, hinderte ihn wohl die Rücksicht auf seinen bisherigen Wohlthäter, den Erzbischof von Mainz. Dagegen bestimmte er seinen Freund Sickingen, dem verfolgten Reformator seinen Schutz anzubieten, und ihn zu sich auf die feste Ebernburg einzuladen, im Falle ihm Gefahr drohen sollte. Hutten selbst schloß sich mit dem ganzen Feuer seiner ungestümen Natur der neuen Bewegung an, indem er eine Reihe von Streitschriften gegen den Papst und die römische Kirche erließ. Eine mächtige Umwandlung war in seiner Seele vorgegangen: der classische Humanismus füllte ihn nicht mehr aus; er erkannte, daß die Gelehrsamkeit und die antiken Formen ohne einen tieferen Inhalt dem deutschen Volke nicht genügen konnten, daß neue Mächte auf dem Schauplatze der Weltgeschichte erschienen waren. Je tiefer er aber diese Wendung des Zeitgeistes erfaßte, desto ernster wurde sein Streben, desto gediegener seine Schreibweise, desto mehr näherte er sich wieder der heimischen, vaterländischen Auffassung, indem er seine ursprünglich deutsche Natur walten ließ und den Spielereien mit dem Alterthum entsagte.

Für diese große Umänderung legte zunächst sein erster Brief an Luther Zeugniß ab. „Es heißt,“ so schrieb ihm Hutten, „Du seiest in den Bann gethan. Wie groß, o Luther, wie groß bist Du, wenn es wahr ist! Denn von Dir werden die Frommen sagen: „Sie suchten die Seele des Gerechten, und das unschuldige Blut verdammten sie; aber Gott wird ihnen ihre Missethat vergelten, und in ihrer Missethat wird Gott der Herr sie verderben.“ Das sei unsere Hoffnung, das unser Glaube. Verfechten wir die gemeine Freiheit! befreien wir das unterdrückte Vaterland! Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein? Franz (von Sickingen) läßt Dir sagen, zu ihm zu kommen, falls Du nicht gehörig sicher bist; er wird Dich Deiner Würde gemäß ehrlich halten und gegen alle Feinde männlich vertheidigen. Grüße Melanchthon, Fachus und alle Guten dort; lebe freundlich und in Christo wohl.“

Aber noch lebte Hutten in dem Irrthume, daß die Reformation von den Fürsten ausgehen und bei ihnen Schutz suchen und finden müsse. Zu diesem Zwecke reiste er nach den Niederlanden, um den Bruder des neu erwählten deutschen Kaisers, Erzherzog Ferdinand, durch seine Schriften und mündliche Unterredungen dafür zu gewinnen, indem er ihm den gefährlichen Einfluß des Papstthums auf die weltliche Herrschaft des Kaisers darzuthun suchte. Wie vorauszusehen, wurde er mit seinen wohlgemeinten Vorschlägen nicht gehört.

Auf dem Rückwege begegnete ihm ein komisches Abenteuer. Wie er mit zwei Knechten heimwärts ritt, begegnete ihm der berüchtigte Ketzerrichter Hochstraaten in der Nähe von Löwen.

„Endlich,“ schrie ihm Hutten mit gezogenem Degen zu, „endlich fällst Du in die rechten Hände, Du Scheusal! Welchen Tod soll ich Dir nun anthun, Du Feind aller Guten und Widersacher der Wahrheit?“

Zitternd sank der feige Pfaffe ihm zu Füßen und bat um sein Leben.

„Nein,“ entgegnete der edle Ritter, indem er sein Schwert wieder in die Scheide stieß, „nein, mein Degen soll sich nicht mit so schlechtem Blut besudeln, das aber wisse, daß viele Schwerter nach Deiner Kehle zielen, und Dein Untergang eine ausgemachte Sache ist.“

Während seiner Abwesenheit von Mainz waren seine täglich sich mehrenden Feinde nicht unthätig geblieben. Sie hatten einen Erlaß des Papstes an den Erzbischof bewirkt, worin demselben aufgegeben wurde, Hutten aus seinen Diensten zu entlassen und wegen seiner Schmähschriften gegen die römische Kirche zur Verantwortung zu ziehen.

Die Ebernburg seines Freundes Sickingen bot ihm jetzt eine Zuflucht vor den drohenden Verfolgungen. Dort benutzte er die unfreiwillige Muße, um den tapfern Ritter vollends für die Sache Luthers und die Reformation zu gewinnen. In dem hohen Söller las er ihm die Schriften des Gottesmannes mit lauter Stimme vor, keine Mahlzeit ließ er vorübergehen, ohne ihn in die neue Lehre einzuweihen. Schweigend und in tiefen Gedanken hörte ihm der mächtige Krieger zu, bis er nach und nach dafür gewonnen wurde.

„Wie?“ fragte er anfänglich staunend, „das wagt Jemand erschüttern zu wollen, oder wenn er es wagt, hofft er es zu können?“

Aber Luther’s Muth fand in seiner eigenen tapferen Seele bald den mächtigsten Wiederhall; bedächtig folgte er dem stürmischen Eifer seines gelehrten Freundes, mit dem er fast täglich über das Wesen der Reformation sich besprach. Während draußen der Nordwind um die feste Burg stürmte und heulte, wurde es Frühling in des Ritters Brust, und die junge Saat begann zu keimen.

„Traun!“ rief er bewundernd aus. „Das Mönchlein ist ein starker Riese, und sein Geist gewaltiger denn hunderttausend gewappnete Krieger, dieweil Gott mit ihm ist.“

Endlich, da er überzeugt war, blieb er fest bei seinem neuen Glauben stehen, wie ein Fels von wilden Wogen umtobt.

„Luther’s Sache,“ sagte er, „ist die Sache Christi und der Wahrheit; überdies fromme es dem deutschen Gemeinwesen, daß Luthers und Hutten’s Mahnungen Gehör finden und der neue Glaube geschirmt werde.“

Von nun an war Sickingen der eifrigste Freund und Verfechter der Reformation, die ihm zu großem Danke verpflichtet ist. Wie es aber Hutten klar geworden war, daß nicht die Großen und Mächtigen der Nation, sondern das Volk zumeist die gewaltige Bewegung zu fördern und glücklich durchzuführen im Stande sei, so fühlte er auch jetzt die innere Nothwendigkeit, nicht die Sprache der Gelehrten, welche die lateinische war, sondern die deutsche des Volkes zu reden und zu schreiben. Darum sang er auch:

Latein ich vor geschrieben hab,
Das war ei’m Jeden nit bekannt;
Jetzt schrei ich an das Vaterland,
Teutsch Nation in ihrer Sprach’,
Zu bringen diesen Dingen Rach’.

Entschieden hatte auf diesen Entschluß Luther’s Beispiel einen großen Einfluß ausgeübt. Jetzt erst wurde Hutten ein wahrhaft populärer Schriftsteller; seine Worte und Lieder drangen in das Volk, während er früher nur von einigen Gelehrten gelesen und gepriesen wurde. In demselben Maße aber wuchs seine Bedeutung und sein Einfluß im gesammten Vaterlande. Jetzt erst wurde er einer der wirksamsten Förderer und Träger der deutschen Reformation. Seine Schriften zu Gunsten der neuen Lehre, seine Satiren gegen das Papstthum waren von einer unbeschreiblichen Wirkung für die gute Sache der religiösen Freiheit. Ohne Menschenfurcht und Scheu rief er: „Ich hab’s gewagt!“

Die Wahrheit muß herfür, zu Gut
Dem Vaterland, das ist mein Muth.
Kein ander Ursach ist, noch Grund,
Darum ich aufgethan den Mund,
Und mich gebracht in Armuths Noth,
Das weiß von mir der liebe Gott.
Der helfe mir bei der Wahrheit Sach’,
Laß gehen aus sein göttlich Rach’,
Damit das Bös’ nicht triumphir’
Und daß auch werd’ vergolten mir,
Ob ich vielleicht ohn’ Fug und Glimpf
Hätt’ gefangen an ein’ solchen Schimpf,
Der Niemand größern Schaden bringt,
Dann mir, als noch die Sach’ gelingt,
Dahin mich Gott und Wahrheit dringt.
 Ich hab’s gewagt!

[600] Aber es genügte Hutten nicht, blos in Worten seine Ueberzeugung auszusprechen; er war der Mann der That und bereit mit seinem Blute einzustehen. Nur mit Mühe hielt ihn der bedächtigere Sickingen zurück, für die neue Lehre sogleich das Schwert zu ziehen. Ebenso warnte und beklagte sich Luther über des Freundes Ungestüm. „Ich möchte nicht,“ schreibt dieser, „meine Freunde, daß mit Gewalt und Mord für das Evangelium gestritten würde; in diesem Sinne habe ich auch Hutten geschrieben. Durch das Wort ist die Welt überwunden, durch das Wort die Kirche erhalten worden; und auch der Antichrist, wie er ohne Gewalt angefangen hat, so wird er ohne Gewalt zermalmt werden durch das Wort.“

Hutten’s Befürchtungen sollten sich jedoch nur zu bald bestätigen. Auf dem Reichstage zu Worms, wohin Kaiser Karl V. Luther vorgeladen, lehnte dieser den ihm zugemutheten Widerruf mit den bekannten Worten ab: „Es sei denn, daß ich mit Zeugnissen der heiligen Schrift, oder mit öffentlichen, klaren und hellen Gründen und Ursachen überwunden und überwiesen werde: so kann und will ich nicht widerrufen, weil es weder sicher noch gerathen ist, etwas wider Gewissen zu thun. Hier stehe ich; ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen.“ Hierauf folgte die Achtserklärung Luther’s auf Andringen seiner Feinde, denen er nur durch seine auf Anordnung seines Landesherrn, des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, erfolgte Entführung auf die Wartburg entging. Sowohl Sickingen, dem der Kaiser zu großem Dank verpflichtet war, wie auch Hutten, waren auf diesen Ausgang nicht gefaßt. Gleich nach Luther’s Ankunft in Worms eilte Hutten von der Ebernburg, um den hochverehrten Mann zu begrüßen; er ermahnte ihn zum standhaften Ausharren und sicherte ihm von Neuem seinen und des Freundes Schutz zu. Zugleich erließ er an den Kaiser selbst einen Brief, worin er voll Feuer die Sache der Reformation vertheidigte, indem er ihn aufforderte, das römische Joch abzuschütteln und die päpstliche Zwingherrschaft zu zerstören. Auf die Nachricht von Luthers Verurtheilung wollte er sogleich zum Schwerte greifen; nur mit Mühe hielt ihn Sickingen, der noch immer eine friedliche Wendung erwartete, von der Unbesonnenheit zurück, die Nuntien des Papstes bei ihrer Heimreise anzugreifen und als Geiseln für Luthers Sicherheit gefangen zu nehmen.

Auf eigene Faust rächte er sich wenigstens im Geiste seiner Zeit an dem Prior der Straßburger Carthäuser, der in seinem Zimmer Hutten’s Bild aufhing, um es, so oft er daran vorüberging, anzuspucken. Er schickte deshalb dem Prior und Convent gedachter Carthause einen Fehdebrief, worin er für den ihm angethanen Schimpf zehntausend Goldgulden forderte, die er auch von den Mönchen, nachdem er seine Forderung auf zweitausend Gulden ermäßigt hatte, ausgezahlt erhielt. Ebenso bedrohte er den durch die Reuchlin’schen Händel ihm verhaßten Pfarrer Meyer, dem er längst eine wohlverdiente Züchtigung zugedacht. Daß er durch dergleichen Angriffe die große Zahl seiner Gegner noch vermehrte, kümmerte nicht den tapferen, aber auch unbesonnenen Mann.

Hauptsächlich aber lag ihm die Idee am Herzen, eine Vereinigung des Adels und des Bürgerthums zum Behufe einer kirchlich-politischen Reichsreform zu Stande zu bringen. Beide Stände sollten sich nach seinem Wunsche fortan mit einander vertragen, ihre Zwistigkeiten und Fehden aufgeben, um gemeinschaftlich die um sich greifende Fürstenmacht, die täglich wachsende Tyrannei der Herrscher zu bekämpfen. Nur durch solche Verbindung und Eintracht könnte Deutschland frei und die Reformation gerettet werden. Aber nicht nur Städte und Adel, auch den verachteten und schwer gedrückten Bauer hielt Hutten für würdig diesem Bunde beizutreten. Leider verhallten seine Worte ungehört, und sein Plan, der die ganze Gestaltung Deutschlands wesentlich verändert hätte, blieb ein schöner Traum. Selbst ein Mann wie Franz von Sickingen vermochte sich nicht über die Vorurtheile seines Standes und der Zeit zu erheben; statt Hutten’s weisem Rathe zu folgen, schloß er sich nur noch inniger seinen Standesgenossen an, mit denen er sich zunächst in ein Bündniß gegen den Kurfürsten von Trier und den Landgrafen von Hessen einließ, deren Uebermacht der edle Ritter endlich erlag. Von allen Seiten in seiner Burg eingeschlossen, vertheidigte er sich mit unerschütterlichem Muth. Von Podagra geplagt, ließ er sich auf die Mauer tragen, um die Seinigen anzufeuern; da fiel ein Schuß, der ihn zu Boden warf. Mit der Heldenfassung, die ihn nie verließ, befahl er seinen Dienern, kein Geschrei zu machen und ihn still fortzutragen. „Und wie er in Zeit seines Lebens,“ berichtet der Chronist, „sein männlich, ehrlich und trutzig Gemüth gehabt, das hat er auch bis in die Stund’ seines Todes bewiesen.“

In ihm verlor die Reformation ihren tapfersten Beschützer.

Schon vorher hatte Hutten den Freund verlassen, nachdem er eine Einladung des Königs Franz von Frankreich zurückgewiesen, mit einem Jahrgehalt von vierhundert Kronen und freier Wahl des Aufenthaltsorts in seine Dienste zu treten. Trotz des Undanks und der über ihn verhängten Verfolgung blieb er treu dem Vaterlande, weil er es für schimpflich hielt, „undeutsche Dienste“ zu nehmen. Zunächst wandte er sich nach Basel, um daselbst Ruhe und Sicherheit zu finden, nachdem er an seinem Freunde Sickingen seine einzige feste Stütze in Deutschland verloren hatte; aber Ruhe und Frieden waren Hutten nicht mehr hienieden bestimmt. In Basel gerieth er mit Erasmus, dem berühmten Verfasser des Lobes der Narrheit, in Streit. Dieser, der eigentliche Begründer des Humanismus, war, wie es oft zu geschehen pflegt, vor den Consequenzen seiner Lehre erschrocken; er verleugnete seine eignen Grundsätze, als dieselben zu der von ihm nicht beabsichtigten Reformation führten. Der diplomatische Gelehrte verbat sich den ihm angekündigten Besuch Huttens, um mit dem verfolgten Neuerer nicht in eine gefährliche Berührung zu gerathen. Das war zu viel für Huttens Stolz; der emancipirte Schüler schonte nicht des zaghaften Lehrers und erließ an ihn einen offenen Absagebrief. Sein Groll wurde noch durch die Nachricht verstärkt, daß Erasmus sich gegen die Reformation offen erklärt habe. Dieser Streit und die Nachricht von Sickingens Tod schlugen ihn vollends zu Boden. In Mühlhausen, wohin er von Basel zog, fand er ebenso wenig die gehoffte Zuflucht. Die Anhänger des alten Kirchenwesens bedrohten sein Leben, sodaß der Rath ihn bedeutete, die Stadt zu verlassen, um nicht Unruhen zu erregen. So mußte er von Ort zu Ort, von Land zu Land als ein heimathloser Flüchtling irren; die Behörden scheuten sich, den politisch und kirchlich anrüchigen Märtyrer der Wahrheit bei sich aufzunehmen. Krank und elend schleppte er sich nach Zürich, von wo er einem Freunde folgende rührende Zeilen schrieb, gleichsam den Schwanengesang des sterbenden Dichters und Helden: „Wird es denn einmal Maß und Ziel finden, o Eoban, das widrige Geschick, das uns so bitter verfolgt? Von ihm zwar glaube ich das nicht; aber wir, denke ich, haben Muth genug, um seinen Anläufen Stand zu halten. Diesen einzigen Trost, diesen Hort hat uns derjenige gelassen, der das Uebrige jener feindseligen Macht überlassen hat. Mich hat die Flucht zu den Schweizern geführt, und ich sehe einer noch weiteren Verbannung entgegen. Denn Deutschland kann mich nicht dulden in seinem gegenwärtigen Zustande, den ich jedoch in Kurzem erfreulich geändert zu sehen hoffe durch Vertreibung der Tyrannen.“

Er selbst kämpfte noch bis zum letzten Augenblicke gegen „diese Tyrannen“, worunter er die damaligen deutschen Fürsten verstand; mit vor Schwäche zitternder Hand schrieb er noch einmal gegen ihre Anmaßung, Ländergier und Volksbedrückung. Vor ihren Verfolgungen fand er endlich nur Ruhe auf der Insel Ufnau im Zürchersee, wo er sich unter dem Schutze des großen Schweizer Reformators Zwingli verborgen hielt. Hier ereilte ihn der Tod. Er starb in der äußersten Dürftigkeit; wie Zwingli schreibt, hinterließ er „lediglich nichts von Werth“. Bücher hatte er keine, Hausrath auch nicht, außer – einer Feder.

Ein fränkischer Ritter ließ in dem folgenden Jahre einen Stein mit einer lateinischen Inschrift auf sein Grab setzen. Stein und Inschrift, selbst die Kunde von dem Ort, wo er begraben, sind verschwunden; aber sein Gedächtniß lebt in der Geschichte des deutschen Volkes als das des ritterlichen Vorkämpfers der Reformation, des edelsten Sohnes seines undankbaren Vaterlandes. In seinem Nachlasse fand sich eine Schrift unter dem Titel „Arminius“, worin er sich selbst folgende Grabrede hielt: „Nicht um Ruhm, Reichthum oder Herrschaft kämpfte ich, sondern das Ziel meines Strebens war, dem Vaterlande die ihm gewaltsam entrissene Freiheit zurückzugeben.“
Max Ring.

[601]
Zur Geschichte des Aberglaubens.
Nr. 2.
Aus Litthauen.

Wie tief noch heutzutage, in unsrem sogenannten „aufgeklärten“ Zeitalter, der Aberglaube in den höheren Kreisen der menschlichen Gesellschaft eingewurzelt ist, davon haben wir ein schlagendes Beispiel gehabt, als die Epidemie des Tischrückens ihren Rundgang durch die ganze Welt machte, begleitet von Klopfgeistern, Psychographen, Emanulectoren und wie alle diese Erfindungen eines überreizten Gehirns heißen, welche entweder selbst etwas „Übernatürliches“ sein sollen, oder denen doch die Kraft zugeschrieben wird, uns mit einer bisher unbekannten, unsichtbaren Geisterwelt in Verbindung zu setzen! Ja selbst noch in diesem Augenblick, wo die Mehrzahl der einst Gläubigen lächelnd über ihren Irrthum die Achseln zuckt, macht ein kaum erschienenes Buch von sich reden, das durch seinen Titel der Leserwelt „die neuesten Manifestationen aus der Geisterwelt“ verspricht; und als Bürgen für diese Mittheilungen treten Personen auf, die nicht allein den höchsten militärischen und kaufmännischen Kreisen angehören, sondern deren Namen auch überall mit Achtung genannt werden!

Wenn also der Aberglaube noch da eine Stätte findet, wo der tageshelle Schein der Aufklärung seine dunklen Schatten längst vertrieben haben sollte: kann es uns Wunder nehmen, wenn ihm in den untern Schichten der Gesellschaft noch hier und da ganz das alte Recht eingeräumt wird, dessen er sich in längstvergangenen Tagen fast überall zu erfreuen hatte? Vorzugsweise begegnet man noch seinem Einfluß unter den Landleuten, und von sämmtlichen durch Sprache und Sitte verschiedenen Theilen unseres preußischen Vaterlandes ist es wiederum vorzugsweise Litthauen, wo sich der Aberglaube in voller Kraft und Geltung vorfindet und sich ein festes, unzerstörbares Reich gegründet zu haben scheint. Hier floriren noch die längst vergessen geglaubten Erzählungen vom „drehenden Schlüssel“, vom „bösen Blick“, von „wunderbaren Zauberkräutern“ etc. und anstatt bei Diebereien das Gericht, bei Krankheiten den Arzt zu Rathe zu ziehen, hält man sich an alte Traditionen, deren Wahrheit nicht im Mindesten bezweifelt wird. Nebenbei, oder vielleicht steht dieser Grund sogar in erster Reihe, hat das Verfahren, das hierbei angewendet wird, den Vortheil, daß es gar nicht, oder doch bei weitem weniger kostspielig ist, und so bleibt halt Alles beim Alten! Jedermann weiß, wie schwer sich der Bauer sein sauererworbenes, schönes Geld vom Herzen reißt; könnte er richterliche und ärztliche Hülfe beanspruchen, ohne sich diesen Schmerz bereiten zu müssen: ich glaube, er würde sich bald überzeugen, daß der Doctor doch bessern Rath weiß, als diese oder jene kluge Frau, und daß eine Nachforschung bei verübten Verbrechen, welche im Namen des Gesetzes geschieht, doch von besserem Erfolge gekrönt sein möchte, als es nach den Aussagen des „drehenden Schlüssels“ der Fall ist.

Karten, Kaffeegrund, Handflächen und Zahlen sind dem, der sie zu ordnen und darin zu lesen weiß, untrügliche Wahrheitsspiegel, und für einige Metzen Kartoffeln oder etwas Korn erhält man so viel „Zukünftiges“ in den Kauf, als man nur irgend wissen will. Trifft die Voraussage nicht ein, nun, so liegt es entweder an dem Unglauben des Fragers, oder man gibt gar nicht weiter Acht darauf; erweist sich aber irgend eine der größtentheils schlau combinirten Prophezeiungen als wahr, so steigt der Glaube an die Zauberkraft des Propheten um hundert Procent, und der unzweifelhafte Thatbestand geht von Mund zu Mund. Man könnte über die Ammenmärchen lachen, die man hier und da hört, wenn sich nicht gar zu viel Tragisches dazwischen mischte, das nur zu unzweifelhaft beweist, wie unrecht es ist, den Aberglauben des Volkes als „harmlos“ und „unschuldig“ zu bezeichnen. Man sollte ihn im Gegentheil gefährlich und verwerflich nennen, da er oft in seinen Folgen verhängnißschwer und schrecklich ist. Mir ist gerade dies Thema so recht lebhaft vor die Seele geführt worden, da sich kürzlich mehrere Fälle in der hiesigen Gegend ereigneten, die das Gesagte in allen Punkten bestätigen, und ich denke, es wird dem Leser nicht uninteressant sein, in Nachstehendem einige Züge aus dem Leben abergläubischer Menschen zu erhalten, die zum Theil gleichzeitig zeigen, wohin ein thörichter Wahn seine Anhänger führen kann.

Im eignen Hause traten mir bereits mehrere Male bedenkliche Anzeichen des Aberglaubens entgegen. Drei oder vier Tage hintereinander ereignete es sich, daß die Magd des Morgens beim Oeffnen des Stalles ein todtes Huhn in demselben vorfand, ohne daß wir uns die Ursache dieser Erscheinung zu erklären wußten. Es war dies recht verdrießlich, um so mehr als es die besten Exemplare meines Hühnerhofes waren, welche mir auf diese unerklärliche Weise starben. Da hörte ich denn zufällig, daß die Leute auf dem Hofe durchaus nicht zweifelhaft seien, auf welche Weise die Hühner um’s Leben gekommen. Ich forschte nach und erfuhr zu nicht geringem Staunen einstimmig aus dem Munde Aller, daß das nicht mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Es mußte durchaus ein mit dem bösen Blick behafteter Mensch, der es nicht gut mit uns meine, auf dem Hofe gewesen sein und seine Augen auf die armen Hühner geworfen haben, was natürlich deren Tod zur Folge gehabt hatte. Ich forderte meine Leute auf, mir doch gelegentlich einmal einen Menschen, mit dem „bösen Blick“ behaftet, zu zeigen, oder mir wenigstens einen solchen zu nennen, aber Alle weigerten sich standhaft dies zu thun und riefen im Tone innigster Ueberzeugung: „Bei Leibe nicht! Das bringt groß’ Unglück!“

Zur Zeit der Ackerbestellung im Frühjahr vertheilten wir an arme, brave Menschen unentgeltlich Kartoffeln zur Saat. Eines Tages stellte sich zu dieser Vertheilung eine unbekannte alte Frau mit ihrem Sack auf dem Rücken ein und stellte sich in die Reihe der Empfänger. Da es aber strenger Grundsatz in unserm Hause ist, nur wirklich Hilfsbedürftigen und Unbescholtenen mitzutheilen, so bestellte ich die Alte, die sich Matschull nannte, auf den folgenden Tag wieder und stellte in der Zwischenzeit Erkundigungen über sie bei dem Ortsschulzen an. Dieselben ergaben kein erfreuliches Resultat. Die Alte genoß keines vortheilhaften Rufes; ihr früherer Lebenswandel war keineswegs moralisch gewesen, hieß es, und jetzt stehe sie, die durchaus nicht hülfsbedürftig war, im Geruch der Zauberei, sie treibe jedenfalls einen Handel mit Kräutersäften, leide an „langen Fingern“, d. h. verwechsele die Begriffe zwischen Mein und Dein mit unzweifelhafter Absichtlichkeit, obgleich ihr noch niemals ein derartiges Factum bewiesen werden konnte, und gelte allgemein als Diebeshehlerin.

Nachdem ich diese Auskunft erhalten, wies ich die Alte mit ihrem Kartoffelgesuch natürlich ab, indem ich ihr gerade heraus sagte, daß ich nichts Gutes über sie gehört habe und sie auch durchaus nicht hülfsbedürftig sei. Als ich dies sagte, befand sich eine unserer Mägde zufällig ganz in der Nähe, und ich bemerkte, wie die alte Matschull einen raschen stechenden Blick auf dieselbe warf, wie um sich zu überzeugen, ob das Mädchen meine Worte vernommen habe oder nicht. Kaum aber hatte die Magd die unheimlich funkelnden Augen der Alten auf sich gerichtet gesehen, als sie schwankte, erbleichte und sich an dem nahen Treppenpfosten festhalten mußte, um nicht umzusinken. Als die Matschull sich gleich darauf entfernte, ohne auch nur ein Wort weiter zu verlieren, aber mit einem Lächeln des niedrigsten Triumphes auf den Lippen, bat mich die Magd himmelhoch, die Alte nicht so abzuweisen, sondern sie zurückzurufen und ihr das Verlangte zu geben.

„Und warum das, Dore?“ fragte ich.

„Weil sie sonst Unheil über das Haus bringt!“ rief das Mädchen händeringend und brach in Thränen aus. „Haben Sie nicht gesehen, welche Kraft ihr Blick besitzt? Wen die ansieht, dem geht es durch Mark und Bein.“

Ich schalt das Mädchen ernstlich über ihren thörichten Glauben und bot alle meine Ueberredungskraft auf, sie von ihrer Ansicht abzubringen – vergeblich. Sie blieb dabei: „Nun, Sie werden es sehen, Sie werden es sehen! Morgen vielleicht schon werden Sie anders denken.“

Aber Gottlob lag dazu auch nicht die geringste Veranlassung vor. Ich hege zwar sehr begreiflicher Weise immer den Wunsch, daß ich vor Heimsuchungen jedweder Art behütet werden möchte, aber nach dem an sich höchst unbedeutenden Vorfall mit der alten Matschull steigerte sich dieser Wunsch in mir zu einem fieberhaften Verlangen. Nicht etwa aus Furcht vor dem bösen Blick der Alten, sondern weil ich hoffte, es müsse den Aberglauben meiner Leute [602] curiren, wenn sie den Beweis in Händen hätten, daß sie kein „Unheil über das Haus“ gebracht habe. Und in der That, mein sehnlicher Wunsch erfüllte sich; es blieb während mehrerer Wochen Alles auf unserm Hofe und im Hause in bester Ordnung; kein Mensch, kein Thier erkrankte oder litt Schaden; Alles gedieh herrlich, und was unternommen wurde, hatte erfreulichen Fortgang.

Aber trotzdem und obgleich ich nicht ermangelte, diese Thatsache gelegentlich recht hervorzuheben, gelang es mir nicht, den Aberglauben zu entkräften.

„Ja, es ist wahr, bis jetzt ist noch Alles gut gegangen,“ hieß es als Entgegnung. „Aber wer weiß, wie es noch kommt!“

So viel Spielraum gestattet also der thörichte Mensch den zufälligen Möglichkeiten, um sich angstvoll an einen schrecklichen Gedanken seiner Einbildungskraft festzuklammern. Sollte uns in diesem Sommer noch der oder jener Unglücksfall, oder irgend ein Mißgeschick treffen, was bei einem großen Hausstande sehr möglich ist, ja worauf man sogar mit ziemlicher Sicherheit rechnen kann, so bin ich überzeugt, daß es heißen wird: „Das kommt von dem Blicke der Matschull!“ Sollte aber Alles so bleiben, wie es jetzt ist, und der Himmel uns gnädig vor jedem Unfall bewahren, dann – ja dann fürchte ich, wird man am Ende gar uns selbst für einen Genossen des Gott-sei-bei-uns halten.

Neulich war uns auf einer Ausfahrt nach dem nächsten Städtchen im Gewirr des Jahrmarktes ein kleiner Hund abhanden gekommen. Das Thierchen ist uns sehr lieb, und sein Verlust war uns recht schmerzlich. Heute plötzlich, nachdem er drei volle Tage fortgewesen, findet sich Jorrick wieder bei uns ein, abgemagert und verschüchtert, aber rührend in seiner Freude des Wiedersehens. Im ganzen Hause ist das kluge, wachsame und allerliebste Thierchen gern gesehen, und der Jubel bei seiner Heimkehr war allgemein. Was aber mußte ich bei dieser Veranlassung erfahren? Und zwar ganz durch Zufall, denn seit dem Besuch der Matschull und meinen ernstlichen Gegenvorstellungen hütet sich meine Umgebung, irgend eine Andeutung ähnlicher Art zu machen.

Ein alter Förster war heute Morgen kurz vor Jorrick’s Rückkehr auf dem Hofe gewesen und hatte das allgemeine Lamento über das Verschwinden des Hundes vernommen.

„Den wollen wir schon wieder bekommen!“ hatte der Alte mit großer Bestimmtheit gesagt, war an einen auf dem Hofe stehenden Wagen herangetreten und hatte dreimal durch die Speichen des rechten Vorderrades hindurch den Namen des Hundes gerufen. Dann aber fällte er den weisen Spruch: „Nun muß das Thier wiederkommen, – oder es ist bereits todt!“ Und Jorrick kam wieder! das Rufen durch das Wagenrad hatte ihn zurückgebracht!

Doch nun zu einem andern Falle, der, wie ich im Beginn dieser Zeilen schon erwähnte, traurige Folgen hatte.

Wenige Meilen von hier entfernt liegt mitten im Walde auf einer sogenannten Blöße das kleine Dorf Branditten. Ein Eigenkäthner daselbst, – d. h. ein Eigenthümer von etwa 6 bis 10 Morgen Landes, nebst Wohn- und Stallgebäude, – Grigat mit Namen, hatte vor Jahr und Tag ein hübsches junges Mädchen aus einer benachbarten Ortschaft geheirathet. Er war ein guter, braver Mann, hatte aber sehr wenig äußere Vorzüge und besaß vor allen Dingen eine gar wunderlich geformte, häßliche Nase, die oft zu Scherz und Neckerei Veranlassung gab. Der Frau war dies sehr verdrießlich, da sie ihren Gatten wirklich lieb hatte; wenngleich man behauptet, daß sie seiner Bewerbung lange Zeit ausgewichen sei, und zwar nur – der Nase wegen.

Vor einigen Wochen nun wurde jenen beiden Leutchen in Branditten ein Kind geboren, und die Freude der Eltern war um so größer, als das kleine Mädchen ungewöhnlich groß und kräftig war. Aber – o Entsetzen! bald zeigte es sich, daß das kleine Wesen die Anlage zu des Vaters ungestaltetem Gesichtserker mit auf die Welt gebracht hatte. Es war ganz unzweifelhaft, daß die kleine Nase das naturgetreue Abbild ihres großen Vorbildes zu werden versprach; derselbe Ansatz, dieselbe Biegung, dieselbe Richtung nach rechts – nur Alles ganz en miniature!

Die junge Frau war ganz außer sich. Sie galt für die größte Schönheit weit und breit, und nun sollte ihr Kind dem Vater, ja sie konnte sich’s nicht ableugnen, dem häßlichen Vater gleichen und, anstatt Verehrung und Bewunderung zu finden, verlacht und verspottet werden! Es heißt in einem allerliebsten Wiegenliede einer Mutter, das ich einstmals irgendwo singen hörte:

Hab’ seine Nase immerhin,
Doch habe auch sein Herz!

Doch konnte sich Frau Grigat zu dieser erhabenen Denkungsweise nicht aufschwingen. Sie grämte sich vielmehr Tag und Nacht über das „Unglück“, von dem sie betroffen worden, und äußerte sogar mehrmals zu einer Nachbarin, daß sie lieber gar kein Kind besitzen möchte, als ein so mißgestaltetes.

„Hm,“ sagte die Nachbarin einmal auf solche Aeußerung, „wenn Euch die Sache so zu Herzen geht, müßt Ihr doch nicht die Hände in den Schooß legen.“

„Wie meint Ihr das?“

„Nun, ich an Eurer Stelle wäre längst zur alten Szivat nach Misaneiken gegangen! Die weiß für Alles Rath, und es wäre nicht das erste Mal, daß sie häßliche Kinder hübsch gemacht hat.“

„Kann sie denn auch eine häßliche Nase gegen eine hübsche vertauschen?“ fragte die junge, Mutter mit sichtlicher Spannung.

„Der Fall mag bisher noch nicht dagewesen sein,“ entgegnete die weise Rathgeberin. „Aber es kommt doch auf einen Versuch an; was kann’s am Ende schaden, wenn’s auch nicht nützt?“

Das war der Frau Grigat einleuchtend, und unter dem Vorwande, eine kranke Verwandte zu besuchen, welche in der Nähe von Misaneiken wohnte, erbat sich Frau Grigat von ihrem Manne die Erlaubniß zu einer kleinen Fußreise. Das Kind nahm sie natürlich mit sich, da sie demselben noch die Brust reichte, und wanderte nun durch Hitze und Staub, Regen und Wind zwei volle Tage, bis sie endlich mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte Misaneiken erreichte.

Frau Szidat hörte mit der ruhigen Würde der Ueberlegenheit die Klagen und Bitten der jungen Mutter an, besichtigte das Kind und meinte dann mit anerkennungswerther Offenheit und Bescheidenheit, daß ihr ein solcher Fall noch nicht vorgekommen sei. „Indeß.“ fügte sie zuversichtlich hinzu, „es ist ja nichts in der Welt unmöglich, und wer nur die geheimen Kräfte der Natur kennt und richtig zu benutzen weiß, der kann mit ihnen Wirkungen hervorbringen, die dem gewöhnlichen Menschen Wunder zu sein scheinen.“

Diese schöne Floskel imponirte der Clientin nicht wenig und steigerte nur um so höher ihre Zuversicht, je unverständlicher und gelehrter ihr die Worte der Alten erschienen.

„Ihr wollt mir also helfen?“ fragte sie erfreut.

„Meinen Willen lenkt eine höhere Macht, – ich muß mich dem Wohle meiner Mitmenschen opfern!“ erwiderte die schlaue Alte.

„Ihr werdet also meinem armen Kinde zu einer andern Nase verhelfen?“

„Das kann ich nicht versprechen! Aber ich will den Versuch machen. Jedenfalls aber wird Eure Tochter nach dem Trank, den ich für sie bereiten werde, so liebenswürdig und klug werden, daß sie doch alle Herzen für sich gewinnen soll, selbst wenn sie ihre alte Nase behalten müßte.“

Frau Grigat seufzte; indeß war doch das Versprechen der hülfreichen Frau nicht zu verachten, und während sie einen blanken Thaler aus dem Schnupftuchszipfel ausband und vor der „klugen Frau“ auf den Tisch legte, bat sie dieselbe, doch ja mit der Mischung des Wundertrankes nicht zu zögern, da sie große Eile habe.

Frau Szidat versprach, noch in derselben Nacht – versteht sich zur Mitternachtszeit – die Kräuter aus dem Walde zu holen und sofort den erforderlichen Decoct zu brauen.

„Und dann,“ rief Frau Grigat, „geben wir ihn gleich morgen früh der Kleinen ein!“

„Bei Leibe nicht!“ warnte die Szidat. „Jetzt ist die Zeit nicht dazu. Hier bei mir darf das auch nicht geschehen, wie denn überhaupt Niemand wissen darf, daß ich Euch gefällig gewesen bin. So etwas wird leicht mißverstanden, und bringt dann beiden Theilen nur Verdruß und Unannehmlichkeiten. Ihr reist morgen früh ruhig zurück in die Heimath, und erst wenn der Mond im ersten Viertel steht, um ein Uhr des Nachts, gebt Ihr dem Kinde ganz heimlich den ersten Löffel von meinem Saft ein. Um zwei Uhr Mittags den zweiten, Nachts um die dritte Stunde den dritten Löffel und so fort, bis die Flasche leer ist.“

Frau Grigat ließ sich diese Vorschrift noch einige Male wiederholen, um sie ja recht genau befolgen zu können, und nachdem sie der Alten noch goldene Berge versprochen, wenn ihr Trank sich wirksam erzeigen sollte, verließ sie dieselbe und begab sich zu der [603] ganz in der Nähe von Misaneiken wohnenden kranken Verwandten. Dort blieb sie einen Tag und eine Nacht, erhielt verabredetermaßen in dieser Zeit den verheißenen Zaubersaft und machte sich mit demselben und ihrem Kinde auf den Rückweg.

Durch die beiden anstrengenden Märsche, die der jungen Mutter begreiflicherweise nicht zuträglich sein konnten, hatte natürlich auch das Kind gelitten. Es begann unruhig zu werden, verlor den Appetit und magerte zusehends ab. Man gebrauchte allerlei Hausmittel; die eine Nachbarin rieth dies, die andere jenes an; aber – es half nichts! Das Kind wurde nur immer schwächer und bleicher. Trotzdem aber stand Frau Grigat nicht von ihrem Vorhaben ab, die Mixtur der Szidat zu erproben, als der Mond in sein erstes Viertel gerückt war.

Der Mann hatte sich zu einem Pferdemarkte begeben, – um so ungestörter konnte sie ihre heimliche Unternehmung in’s Werk setzen. Pünktlich um ein Uhr stand sie von ihrem Lager auf, holte den sorgfältig verborgenen Trank herbei und flößte davon dem Kinde einen Löffel voll ein, den die Kleine geduldig hinunterschluckte. Aber was war das? Kaum hat die Mutter sich wieder zu Bette gelegt, als sie ein ganz sonderbares Geräusch vernimmt, ein leises Stöhnen, Glucksen, Röcheln. Sie springt entsetzt auf und eilt an die Wiege des Kindes, das mit weit aufgerissenen Augen in derselben liegt und die wunderlichsten Grimassen schneidet.

„Aha,“ denkt die thörichte Frau in ihrem fast unglaublich erscheinenden Wahne, „das Mittel beginnt zu wirken! Die Züge fangen ja schon jetzt an sich zu verändern! O, mein Kind wird schön werden, so schön wie ein Engel!“

Immer mehr und mehr veränderten sich die Züge des Kindes; der Blick wurde matter, die Muskeln schlaffer, bis nach Verlauf von wenigen Minuten das ganze Antlitz eine gelbliche, wachsartige Färbung annahm. Die leisen Klagelaute verstummten, der kleine Körper streckte sich – und das Leben entfloh!

Nun erst begriff die Mutter, was vorgegangen war! Mit einem wilden Schrei warf sie sich auf die Leiche ihres Kindes, riß sie aus der Wiege und preßte sie mit verzweiflungsvoller Heftigkeit an ihr Herz. Umsonst, – die kleinen Glieder wurden nur mit jedem Augenblick kälter und steifer! Das laute Schreien und Jammern der Mutter rief die Nachbarn herbei. Der Vorfall ward offenkundig und gab der Staatsanwaltschaft Veranlassung, eine Anklage gegen Frau Grigat auf fahrlässige Tödtung ihres Kindes zu erheben.

Natürlich wurde die Szidat zur Verantwortung gezogen. Sie versuchte zwar anfänglich, ihre Theilnahme an der verübten Missethat abzuleugnen, mußte aber endlich doch die Aussagen der Grigat bestätigen. Da sie indeß der Grigat ausdrücklich gesagt haben wollte, daß das Kind nicht leidend sein dürfte, wenn es den Trank eingeflößt erhielte, – die Grigat wußte sich dieser Mahnung nicht zu entsinnen! – und da eine chemische Analyse ergab, daß das Gebräu allerdings keine absolut giftigen Substanzen enthalte, wohl aber ein übermäßig scharfer Pflanzendecoct sei, der einem gesunden Magen nicht schädlich sein würde, – so ward die Szidat durch das Geschwornengericht von der gegen sie erhobenen Anklage wegen Mitschuld an einer fahrlässigen Tödtung freigesprochen, dagegen aber wegen unbefugter Verabreichung von Medicamenten und betrüglicher Quacksalbereien zu mehrwöchentlicher Gefängnißstrafe verurtheilt.

Frau Grigat, welche erweislich aus Unverstand und Leichtgläubigkeit ihr Kind getödtet hatte, wurde für unzurechnungsfähig erklärt und demgemäß freigesprochen.

Aehnliche Fälle ereignen sich nur zu häufig und liefern den Beweis, wie nöthig es ist, durch Unterricht und Volksschriften endlich auf Beseitigung der tief eingewurzelten Krankheit des Aberglaubens zu wirken.

Cl. J.




Ein Capitel aus der criminalistischen Tagesgeschichte Englands.

Es vergeht zwar kein Tag in England ohne Verbrecher- und Mordgeschichten, aber im August dieses Jahres häuften sie sich mehr als gewöhnlich und regten auch die abgestumpften und daran gewöhnten Nerven auf. Die Bevölkerung Englands gehört zu den dichtesten. Das erklärt viel, ist aber durchaus nicht die Hauptursache des Uebels. In Belgien und an einem Theile des Rheines kommen mehr Menschen auf die Quadratmeile, und man hört nichts von diesen scheußlichen Missethaten, womit die englische Gesellschaft fast alle Tage und Nächte auf’s Neue ärger und ärger gebrandmarkt wird. Auch kommen, statistisch erwiesen, nicht die meisten Verbrechen auf die allerdichteste Bevölkerung in der Welt, auf London. Auch fallen sie häufig nicht auf die Kinder der Noth, des Elends und der Verwahrlosung, sondern ergeben sich vor dem Richterstuhle als wohlberechnete, kaltblütig angelegte und durchgeführte Speculationen mehr oder weniger wohlhabender und gebildeter Menschen. Was ist unsere sogenannte moderne Bildung? In England Geld, Sammet und Seide, Equipage, Reitpferd, zwanzig Dienstboten, Maitreffen, Schwindel an der Börse, in der Politik, Betrug und Satrapie in den Colonien. Nach der „Morning Post“, dem Organe der höchsten Classen, charakterisiren sich die „obersten Zehntausend“, deren Helden und Heldinnen während der Parlamentszeit täglich zu Tausenden im Hyde-Park-Corso reiten und fahren, durch raffinirte sexuelle Unsittlichkeit. Die Zeitung führte mehrere Züge an, unter Anderem, daß die sittlichen Ladies, die so illusorisch auf ihren Pferden paradiren, sich bei den höheren Gentlemen, den jungen und alten Lords, Counts, Viscounts und Baronets, dadurch interessant zu machen suchen, daß sie es den öffentlich anerkannten, unter ihnen reitenden und fahrenden Entretenues, Aspasien, Hetären und Hierodulen in Worten und Manieren, im Benehmen und Geben möglichst nachzuahmen suchen. Die Tugend und Respectabilität sei langweilig, als Humbug und Hypokrisie lächerlich geworden. Ueberhaupt sündige man nicht etwa aus besonderer Sündhaftigkeit, sondern aus Langeweile, um sich die Zeit zu vertreiben.

Grobe Verbrechen, wie Mord und Todtschlag, kommen in den höheren und höchsten Kreisen allerdings kaum vor; man macht Alles „subtil“ ab. Desto ärger ist’s in den Mittel- und untern Classen. Wir lassen eben die hauptsächlichsten Verbrechen, die sich während der letzten Wochen besonders hervordrängten, dicht hinter einander aufmarschiren. Wir übergehen, daß eben zwei Mörder ihrer Geliebten, der eine in Warwick, der andere in Carlisle gehängt worden waren.

In London sollte am 4. September Morgens der gröbste aller Mörder dem Pöbel und der Ruchlosigkeit sein Galgenfest geben. Niemand hat die demoralisirende Kraft und Bestialität dieser Hängescenen drastischer und eindringlicher geschildert, als Charles Dickens. Der Mörder, Namens Youngman, war der Sohn eines Schneiders in Walworth, einem südlichen Theile Londons. Nachdem er verschiedene Dienststellen bekleidet und schon bestraft worden war, zog er wieder zu seinem Vater, um Vorbereitungen zu seiner Verheirathung zu treffen. Eines Tages holt er seine Braut in’s väterliche Haus. Sie schläft mit seiner Mutter, zwei seiner kleineren Brüder in einer andern Stube auf demselben Flur, er selbst im Bette seines Vaters, der sich unten in der Werkstatt ein Lager zurecht gemacht. Braut und Bräutigam kommen Abends ganz vergnügt von einem Ausfluge nach Hause, und Alles begibt sich mit Aussichten auf eine frohe Hochzeit zur Ruhe. Morgens gegen 6 Uhr werden verschiedene Schläfer durch einen unheimlichen Lärm aufgeweckt. Der Wirth des Hauses kommt von unten die Treppe herauf, um nach der Ursache zu sehen. Er prallt zurück, schreit Mord und ruft Polizei. Diese findet einen Knaben mit dem Kopfe die Treppe herunterhängend todt. Sie schreitet über ihn weg und wird von drei andern neben und über einander liegenden, noch blutenden Leichen aufgehalten, Der Mörder steht hinter ihnen im Hemd und empfängt die Polizei mit den Worten: „Hübsche Geschichte das! Meine Mutter that’s. Sie wollte auch mich morden, und indem ich mich vertheidigte, tödtete ich sie. Das ist nichts gegen das Gesetz. glaub’ ich.“ So spricht er über den frischen Leichen seiner Braut, seiner Mutter, seiner beiden Brüder, noch besprützt von ihrem Blute. Die Untersuchung ergab klar, daß er die „Braut“ mit vieler Ausdauer und List überredet hatte, ihr Leben mit 100 Pfund zu versichern und ihm die Police einzuhändigen,

[604] daß er sie ermordet hatte, um sich die 100 Pfund zu holen, Mutter und Brüder, um sie nicht als Zeugen gegen sich zu haben. An diesem Plane hatte er Monate lang gearbeitet und ihn nach seiner Berechnung klug und praktisch durchgeführt. Braut, Mutter, Brüder, welche Namen für das menschliche Herz! – Der Mörder zeigte niemals Spuren von Wahnsinn, aber Gott sei Dank! – in diesem Falle Gott sei Dank! Vorfahren von ihm – väterlicher und mütterlicher Seite waren zum Theil in Irrenhäusern gestorben. Wir können zur Ehre der Menschheit annehmen, daß in seinem Blute der ererbte Wahnsinn lauerte, ihn beherrschte und ihm im Uebrigen nur so viel Verstand ließ, sich in seiner Berechnung 100 Pfund zu verschaffen.

In Road, einem Provinzialorte, lebt eine sehr wohlhabende Familie mit Kindern von zwei Müttern. Eines Morgens fehlt ein vierjähriger Knabe in seinem Bette und ist im ganzen Hause nicht zu finden. Man sucht draußen im Garten und in Gebüschen umher und findet ihn, den Hals durchschnitten, noch blutend in einer benachbarten Düngergrube. Alle Polizeikräfte Prämien und scharfsinnigen Untersuchungen haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt. Charakteristisch ist, daß man eine 14jährige Stiefschwester des ermordeten Knaben, die von ihrer höheren Töchterschule zu den Ferien nach Hause gekommen war, als muthmaßliche Mörderin ziemlich lange im Gefängnisse hielt. Ein 14jähriges Mädchen! Diese erwies sich allerdings schuldlos, aber kurz vorher war ein 12jähriges Mädchen mit ihrer achtjährigen Schwester eines ganz raffinirten Verbrechens überführt worden. Ein Geistlicher, bei dem die beiden Schwestern in Pension gewesen waren, kam in’s Zuchthaus. Die beiden Kinder hatten vor Gericht consequent und kaltblütig ausgesagt und im genauesten Detail beschrieben, wie der Geistliche sie im Beisein seiner Frau geschändet habe. Eltern und Angehörige hatten die Aussagen unterstützt und bekräftigt. So wird der Geistliche von scharfsinnigen Richtern und zwölf Geschworenen nach genau erwiesenem Verbrechen zu schmachvollem Zuchthaus verurtheilt. Hinterher werden Mittel entdeckt, die Aussagen und Beschuldigungen der beiden Kinder als eine planmäßig ausgeheckte Lüge zu entlarven. Dies geschieht in aller Umständlichkeit und Klarheit auf gründlichem, gerichtlichem Wege. Die Kinder von 8 und 12 Jahren hatten die Lügen erfunden und im genauesten Detail ausgeführt, weil sie bei dem Geistlichen nicht gern in Pension bleiben wollten. Allerdings hatten die Eltern geholfen – aber welche Eltern! welche kindliche Gelehrsamkeit!

Um dieselbe Zeit fischte man in einem Flusse bei Frome ein todtes, neugeborenes Kind auf. Mehrere Mädchen wurden um dieselbe Zeit theils schon todt, theils noch lebendig als Selbstmörderinnen aus der Themse gefischt: unglückliche Liebe, ehelose Mutterschaft, gebrochene Versprechungen – das alte Lied! Ein anderes Mädchen brachte sich mit Rattengift um in Gegenwart ihres zukünftigen Gatten, mit dem sie schon länger gelebt, und nachdem sie einen Brief dieses „Gatten“ an seine – Frau in Amerika eröffnet und gelesen. Verschiedene Männer wurden in verschiedenen Situationen, theils an ihren Bettpfosten hängend, theils vergiftet etc. als Selbstmörder gefunden.

Ein Literat unterbrach sich mitten in einer Kritik über ein Buch und ging in’s Nebenzimmer, um sich die Gurgel zu durchschneiden. Ein Geistlicher tödtete sich vor einigen Tagen auf ähnliche Weise. Die Magistrats-Personen von London hatten neuerdings fast täglich mit echten oder unechten Selbstmördern zu schaffen so daß wir nicht mit Einzelnheiten fortfahren wollen.

Was sind unechte Selbstmörder? Sie erinnern an jenen Berliner Schneidergesellen, der, als man die Cholera in den öffentlichen Krankenanstalten noch mit Champagner behandelte, sich wieder und wieder als Cholerakranker aufnehmen ließ, bis die Polizei dahinter kam und ein Actenstück gegen ihn anlegte: „Acta gegen den Schneidergesellen NN. wegen unbefugter Anmaßung der Cholera.“ Der schmutzige Arbeiter oder Faulenzer, der Sonnabend Nacht mit seiner Frau oder Geliebten alles Geld und alle versetzten Kleidungsstücke vertrank, torkelt zur Themse, platscht hinein und macht Höllenlärm, damit ihn der nächste Policeman oder ein mitleidiger Vorübergehender herauszerre, auf die Polizeistation und vor den Magistrat bringe. Hier erzählt er von seiner Noth und Verzweiflung, rührt die Armenbüchse des Magistrats und die Taschen einiger Zuhörer. Er wird vermahnt, streicht das Geld ein, geht zum nächsten Spiritustempel und „stärkt“ sich. Die schlumpige Säuferin hat die letzten versetzten Kleidungsstücke des Mannes vertrunken, ihre Kinder zerhauen und von dem Manne ein geschwollenes, vielfarbiges Gesicht gedroschen bekommen. Mit Blut beschmiert und von Gin stinkend, läuft sie heulend nach der nächsten Themsebrücke und stürzt sich heulend wie ein wildes Thier hinunter. Unten und oben ist alles voller Menschen, Kähne, Boote, Schiffe, Fischer und „Wassermänner“. Sie weiß, daß sie herausgezogen und vor den Magistrat gebracht wird, und hofft auf ein erträgliches, „Trink-“ oder Ersaufungsgeld.

Das sind die unechten Selbstmörder, die wegen unbefugter Anmaßung der Selbstentleibung kurz vermahnt und von gutmüthigen City-Aldermen mit etwas Geld und sonstiger Unterstützung entlassen werden. Sie machen aus unechtem Selbstmord „ein Geschäft“, das freilich in nächster Zeit wegen zu großer Concurrenz nicht mehr sehr profitabel bleiben wird. Die echten suchen immer die Einsamkeit, oder sorgen wenigstens vorher für gutes Gelingen. Leider ist dieser echte Selbstmord eine Manie und Epidemie geworden, die fast täglich ihre neuen Opfer verlangt, als wären Tausende unter dem Zeichen des Saturn geboren. Doch ist’s nicht Saturn, sondern der Satan des Gin und des vergifteten, schweren Biers, Betrug und Schwindel und Verzweiflung.

Auch vereinigen sich oft Mord und Selbstmord. Ein Schneider erschoß sich im Hyde-Park in Gegenwart Tausender von Menschen, die umherspazierten, ritten oder fuhren. Das erste Mal traf er sich nicht ordentlich, er taumelte über einen breiten Sandweg und erschoß sich dann ganz ordentlich. In einer Westentasche fand man seine Adresse: Oxfordstreet, die lebhafteste, heiterste Straße von London. Die Polizei trug den Leichnam nach seiner Wohnung, die verschlossen war. Man öffnete gewaltsam und fand die Frau des Selbstmörders in zersägten Stücken auf dem Fußboden umherliegen. Er hatte, wie sich ergab, die Frau aus Eifersucht ermordet und sie in Stücken fortzuschaffen gesucht, war aber dabei von der Gewalt des Schreckens geparkt und zum Selbstmord getrieben worden. – Eine siebenzigjährige, sehr geld- und häuserreiche Wittwe, allein in ihrem Hause lebend, schmutzig geizig und geldgierig, sich kaum satt essend – scheußliches Bild des Geizwahnsinns, wird in ihrem Hause, viele Tage nach der That, ermordet gefunden. Dreihundert Pfund Belohnung haben noch nicht zur Entdeckung des Mörders geführt.

Das ist eine kurze Blüthenlese aus den täglichen Verbrechergeschichten Englands – lauter Verbrechen aus den letzten vier oder fünf Wochen, glänzenden, luxuriösen Wochen der „season“. Sie sind nichts ungewöhnliches, sondern charakterisiren eben das alltägliche Leben Englands, das Jahr aus Jahr ein, Woche für Woche, Tag für Tag neue ähnliche Stoffe für die Zeitungen liefert.




Ein vergessenes deutsches Denkmal.

In einer Periode nationaler und geistiger Erhebung, wie solche einmal wieder in unsern Tagen, gleich einem frischen Lufthauche in der Schwüle des Sommers, durch das große deutsche Vaterland zieht, mag es als eine nicht ganz müßige Arbeit erscheinen, die Augen und Herzen Aller, auch der vielen Leser dieses Blattes, auf ein Denkmal zu lenken, das der Urquelle deutscher Geschichte, dem Siege über die Römerwelt, geweiht ist, aber, seit Jahren vergeblich seiner Vollendung entgegenharrend, ein Zeugniß deutscher Zerrissenheit und ein Spott des Auslandes dasteht.

Wenn der Reisende im alten Westphalenlande bei Herford oder Bielefeld die Eisenbahn verläßt und das Becken betritt, wo einst die Römerwelt mit den Germanen zusammenstieß, erblickt er in der Ferne nach Süden zu, über das dunkle Waldgebirge hervorragend, das kolossale Denkmal des Cheruskerfürsten Hermann. Das schöne hehre Bild begleitet ihn auf seiner Wanderung so lange, bis er nach wenigen Stunden die freundliche Residenz des Fürsten zur Lippe, das Städtchen Detmold erreicht hat, welches sich in einem reizenden Thale am Fuße des Teutoburger Waldes

[605] ausdehnt, auf dessen höchster Kuppe, der Grotenburg (1195 Fuß), das Denkmal sich erhebt. Von Detmold aus führt eine schattige, anmuthige und bequeme Promenade in den Wald bis zur Höhe des Berges. Liebt der Reisende nun außer schönen herrlichen Natureindrücken zugleich die Geschichte seines großen Vaterlandes, so hat eine Wanderung auf dieser Stätte um so höheres Interesse für ihn, denn sein Fuß wandelt auf classischem Boden. In diesen Schluchten hat die Kraft unserer Vorfahren im J. 9 n. Chr. jene übermüthigen Legionen vernichtet, die der römische Kaiser Augustus vergebens von seinem Feldherrn mit den weltbekannten Worten zurückforderte: „Varus, gib mir meine Legionen wieder!“ Von diesen Bergen, die heute noch ihre Häupter stolz emporheben über die Ebene, hebt das Morgenroth deutscher Geschichte an; dem Siege Hermanns dürfen wir allein es zuschreiben, daß da, wo große Fragen die Welt erschüttern, der germanische Volksstamm gegenüber den Celto-Romanen und Slaven noch immer ein gewichtiges Wort in die Wagschale der Geschichte werfen kann; ihm verdanken wir ferner die Erhaltung unserer Sprache und Sitten. Und ihm, in dessen Seele der große Gedanke entsprang, abzuschütteln das römische Joch der Knechtschaft, und um den sich die zerstreuten deutschen Männer zum ersten Male schaarten und dem Uebermuthe des Eroberers für immer ein Ziel setzten – ihm, dem Befreier, gilt das Denkmal, dessen Säulen sich hier vor Ort erheben. Ein echt deutscher Bau, streben die kühnen Bogen gen Himmel, auch schon in seiner jetzigen, des Standbildes noch entbehrenden Form bildet es ein schönes Wahrzeichen der verbündeten deutschen Stämme.

Das Hermanns-Denkmal auf dem Teutoburger Walde.

Es war am 19. Juli 1833, als der geniale Bildhauer E. v. Bandel[WS 1] aus Ansbach, angeregt durch die hochherzige That Hermanns, und ermuntert durch die aus allen Gauen des Vaterlandes, vom Belt bis zur Adria, vom Rhein bis zur Weichsel, eingehenden reichlichen Beiträge und Zuschriften, im Vertrauen der Vollendung, hier auf dem Schauplatze der unsterblichen That, den Bau begann. Schon am 8. September 1841 konnte unter dem Jubel aller Vaterlandsfreunde das Fest der Grundsteinlegung gefeiert werden. Dann aber trat, hervorgerufen durch das Hamburger Brandunglück und die Wiederaufnahme der Cölner Dombauarbeiten, eine Zersplitterung der Kräfte ein, der Enthusiasmus schwand, die Beiträge flossen immer spärlicher, und nur mit Mühe konnte der Unterbau beendigt und mit einer Kuppel geschlossen werden. So steht das schöne Werk seit dem 17. Juni 1846, so steht es noch heute unvollendet, ohne den Schmuck des Standbildes. Große ernste Zeitverhältnisse zogen über unser Vaterland hin, das Denkmal fiel dem Vergessen anheim, und nur der die Gegend gerade passirende Fremde opferte ein paar Stunden seiner Zeit, es in Augenschein zu nehmen. Im Laufe dieses Jahres jedoch hat der Künstler, ermuthigt durch den im Vaterlande neu erwachten nationalen Geist, sich dem Werke wieder mit Lust und Liebe zugewandt, den früheren Plan hinsichtlich der Statue etwas verändert, um derselben eine größere Haltbarkeit zu sichern, und soll jetzt die Specialpläne zur Wiederaufnahme des Baues ausarbeiten. So dürfte, wenn die Beiträge – wie wohl zu erwarten steht – wieder reichlich fließen, das nationale Werk als ein Zeugniß deutscher Treue und Dankbarkeit, aber auch als ein Zeichen deutschen Brudersinnes und deutscher Eintracht seiner endlichen Vollendung entgegengeführt werden können.

Der Unterbau aus Quadersandstein mißt 93 F., die Statue, aus getriebenem Kupfer bestehend, deren geringster Theil erst vorhanden und im Hermannssaale des Detmolder Museums ruht, wird bis zur Schwertspitze 90 F. umfassen, so daß das Ganze im vollendeten Zustande eine Höhe von 183 F. erreichen wird.

Man steigt jetzt auf einer Wendeltreppe die Stiegen bis zur Kuppel hinan, welche, mit einer Brustwehr umgeben, das Betreten möglich macht, und labt hoch oben Herz und Sinne an dem herrlichen Panorama, das sich hier dem Auge erschließt. Um und neben uns dehnt sich düstere Teutoburger Waldgebirge mit seinen mannichfaltigen reizenden Partien bis zur fernen Porta Westphalica aus, unten im Thale liegt gar lieblich das freundliche Detmold, links blickt die alte Römerstraße der Dörenschlucht[WS 2], und rechts ragt das sogenannte Winnfeld – die eigentliche Wahlstatt der Römerschlacht, hervor. Doch gestattet der empfindliche Luftzug hier oben kein langes Verweilen; man eilt bald hinunter und findet in dem naheliegenden, zum Schutze der Reisenden erbauten Forsthause freundliche Gelegenheit, sich von den Mühseligkeiten des Bergsteigens zu erholen. Ringsum auf der Höhe sind an passenden Stellen Tische und Bänke zum Ausruhen und zur beschaulichen Betrachtung angebracht. Von hier aus führen schöne Waldpfade nach allen romantischen Punkten des Gebirges, nach dem fürstlichen Jagdschlosse Lopshorn, dem Stationsorte des berühmten Sennergestüts; ostwärts über das Winnfeld, neben den Ruinen der Falkenburg vorüber, bringt ein anmuthiger Weg nach den merkwürdigen, vielbesuchten Externsteinen und dem Bade Meinberg. Nicht selten trifft der Wanderer in dieser Waldeinsamkeit auf ganze Rudel von Hochwild, das, in diesen Revieren sorglich gehegt, sehr oft den Reisenden eine freundliche Ueberraschung gewährt.

Wandert man aber bergab nach Detmold zu, so führt der Pfad an einem uralten, aber noch wohlerhaltenen, germanischen Vertheidigungswerke, dem sogen. Hünenringe vorüber, welcher ein großes, kreisförmig eingeschlossenes Lager vorstellt und von all den festen Werken dieses Berges das letzte Ueberbleibsel ist. Unter hohem Buchenforst und neben immergrünen Gruppen von Stechpalmen, die sich zwischen den wie gesäet überall umherliegenden grauen Steintrümmern erheben, gelangt man in einer halben Stunde wieder abwärts in die anmuthigen Promenaden Detmolds. Die Mühe des Hinaufklimmens wird dem patriotischen Naturfreunde gewiß reichlich belohnt durch die Eindrücke, welche sein Herz und Geist dort oben auf Bergeshöhe in sich aufgenommen.

Möge denn recht bald das Denkmal im Schmucke der Vollendung den uneinigen deutschen Völkerstämmen zurufen: „Eintracht macht stark!“

R. Schm.

[606]
Schilderungen aus Amerika.
In den Adirondack-Bergen.
Von Wilh. Heine.[1]
Ein Stück Urwelt – Das Bäumetreiben – Das Flußtreiben – Das Flößen – Cheney, der gewaltige Jäger – Seine Abenteuer mit Panther, Wolf und Bären.

Den Norden des Staates New-York durchschneidet ein Zweig der großen Alleghanykette, die sich von Südcarolina bis hinauf nach Canada erstreckt. Obschon die Landstriche entlang der Meeresküste und entlang den großen Flüssen bis hinauf nach dem Ontario und Eriesee zu den bevölkertsten Gegenden der vereinigten Staaten gehören, so ist dieser Gebirgsstock (allgemein unter dem Namen „Adirondack“ bekannt) aus verschiedenen Gründen beinahe eine völlige Wildniß und Einöde geblieben, die mit Ausnahme von einigen Jägern und im Winter von Holzfällern nur von Bären, Panthern, Wölfen und Hirschen ohne Zahl bewohnt wird.

Ich besuchte während meines Aufenthaltes in Amerika diese wilde romantische Gegend verschiedene Male, und obschon die amerikanische Presse häufig Notizen über dieselbe und Pläne bringt, wie die darin verborgenen Reichthümer am besten auszubeuten wären, so ist dennoch, so viel mir bekannt, in deutscher Literatur dieser Gegend kaum anders als flüchtig erwähnt worden. Die Berge sind reich an Mineralien, und fruchtbare Thäler liegen dazwischen, aber die Einwanderung der Fremden hat sich noch nicht hierhergewendet. Noch liegen die Berge wild und trotzig, von ihrer alten ursprünglichen Urwalddecke umhüllt, von reißenden Wassern durchkreuzt, von Schluchten zerrissen. Ohne gebahnte Wege, nur auf den Führer und den Compaß als Wegweiser verwiesen, ist man genöthigt, Ströme zu durchwaten, Sümpfe zu umgehen und über ungeheuere Strecken vom Winde umgerissener Bäume zu klettern, und zuletzt, wenn die Nacht hereinbricht, hat man sein Lager aus den Zweigen der Fichtenbäume zu bereiten. Dehnte sich nicht eine Kette von Seeen durch die ganze Länge dieser Wildniß, sie wäre vollkommen unzugänglich. Längs dieser Wasserflächen, von der einen zur anderen, und um Wasserfälle oder Stromschnellen herum, rudern die Abenteuerer ihr Boot oder tragen es auf den Köpfen. Nach diesen vorläufigen Bemerkungen möge sich der Leser einen Begriff machen, in was für eine Region wir ihn einzuführen im Begriffe sind.

Unwillkürlich stößt dem Leser die sehr natürliche Frage auf: Was für Leute leben da, und wovon leben sie? Die Antwort darauf dürfte sein: Holzfäller und Jäger. Es ist schwer, sich einen Begriff von der Quantität Holz zu machen, die jeden Winter von verschiedenen Theilen des Plateau’s nach Albany gebracht wird; tausend Menschen befinden sich dann auf derselben Stelle, wo jetzt vielleicht nicht ein einziges lebendes Wesen ist. Speculanten kaufen Land des Nutzholzes wegen und senden im Winter Provisionen für die Arbeiter, die das Holz fällen.

Blockhütten werden in den etwas gedeckt liegenden Schluchten für Menschen und Vieh errichtet, einige Stangen zwischen die Balken der Hütte getrieben, und so gelagert und ausgerüstet erklärt man den Kiefernwaldungen den Krieg. – Ochsen werden getrieben und gewaltige Stämme über ein Terrain fortgeschleppt, wo es kaum möglich scheint, Fuß zu fassen. Oft werden große Strecken der öffentlichen Ländereien nur der Kiefern wegen gekauft, die darauf stehen, und sind diese umgehauen, so läßt man Grund und Boden an den Staat zurückfallen, um nicht die darauf haftenden Steuern zu bezahlen. In den innersten Theilen zwar wird noch wenig Holz gefällt, da es unmöglich ist, dasselbe zu Markte zu bringen; allein so wie die cultivirten Strecken sich jährlich mehr ausdehnen, so nehmen die jetzt obwaltenden Hindernisse allmählich ab, und bald werden Straßen und schiffbare Flüsse jeden Punkt des Adirondack zugänglich machen. –

Hast du, lieber Leser, jemals einen Baum gefällt? Wenn nicht, versuche es; das Experiment ist der Mühe werth, sei es nur des Bewußtseins von Macht wegen, das es verursacht, oder des großartigen Eindruckes, den es hervorbringt, wenn der gewaltige Stamm mit seinen weiten Aesten zuletzt unseren Angriffen zum Opfer fällt und die gehabte Mühe reichlich lohnt. Der erste Hieb verursacht ein leises Zittern bis in den grünen Gipfel; allein wenn Streich auf Streich ohne weiteren Erfolg fällt, scheint es, als ob der alte Waldkönig unserer ohnmächtigen Anstrengungen spotte und sie mit stiller Verachtung ertrage. Endlich jedoch, wenn Fiber nach Fiber getrennt worden und zuletzt das Herz erreicht ist, ertönt ein leises Stöhnen, dann folgt ein Krachen, als ob der innerste Nerv verwundet sei. Der schöne Stamm wankt einen Augenblick, wie um seine gewaltige Masse zu stützen, neigt dann seinen hohen Gipfel und stürzt endlich mit einer Gewalt zu Boden, die Alles rings herum erdröhnen macht. – Da liegt er, seine mächtigen Arme zerbrochen umhergestreut, ein lebloser, zu Boden gestreckter Held. Seine Brüder nicken und zittern einen Augenblick über ihm, als ob sie seinen Fall mitempfänden, und dann ist Alles wieder ruhig.

Doch das Fällen eines einzigen Baumes ist eine Kleinigkeit im Vergleich mit dem Verfahren, das man hier zu Lande „Bäume treiben“ (driving trees) nennt. Man lasse sich durch diese Benennung nicht verleiten, sich gleich einen ganzen Wald von Birnam auf das Schloß Dunsinane vorrückend vorzustellen, wie eine Heerde Schafe, die zu Markte getrieben wird; allein setzen wir uns für einen Augenblick an der Seite dieses Hügels nieder und betrachten wir den gegenüberliegenden Abhang. Gerade über jenem kahlen Flecken in dem dichten Gehölz haben so tüchtige Holzhauer, als je eine Axt schwangen, den Wald während der letzten drei Stunden von ihren regelmäßigen Axtschlägen ertönen lassen, und dennoch ist nicht ein einziger Baum gestürzt. Doch jetzt! seht, einer beginnt zu weichen, krach! krach! krack! krasch! ein ganzer Wald scheint zu fallen, und eine Lücke, so breit wie der Pfad eines Wirbelwindes entsteht. Die Holzhauer arbeiteten den Hügel hinauf und hinab, jeden Baum nur halb anhauend, bis sie zwanzig oder mehr theilweise gefällt hatten. Das thun sie nicht auf gut Glück hin, sondern wählen jeden Baum mit besonderer Berücksichtigung des ihm zunächst stehenden. Wenn nun zuletzt eine genügende Anzahl vorbereitet ist, so fällt man einen Baum, dessen Fall einen andern trifft, der schon angehauen worden, dieser einen dritten u. s. w., bis fünfzehn oder zwanzig auf einmal stürzen. Diese Arbeitsersparniß ohne Maschine nennt man „Bäume treiben“, und tüchtig getrieben werden sie, das muß wahr sein.

Allein nicht nur die Bäume, sondern auch die Flüsse werden getrieben, und dies ist eine der Merkwürdigkeiten des Lebens unter den Hinterwäldlern, wo man Flüsse statt der Straßen und Fuhrwerke benutzt. An den steilen Bergabhängen und längs der Ufer der Bäche, die im Frühjahre zu wilden Bergströmen anschwellen, fällt man im Winter die hohen Kiefern und Tannen und schleppt oder rollt ihre Stämme bis an den Rand des Wassers. Hier schlägt ein Jeder sein Markzeichen auf seine Stämme und wirft sie in den Strom, wenn derselbe vom Regen geschwollen ist. Der geschmolzene Schnee längs der Höhenzüge kommt in einem ununterbrochenen Strom herab, und die Flüsse steigen wie durch Zauberei bis über ihre Ufer hinaus, und eine breite unwiderstehliche Fluth schießt wie ein lebendes düsteres Geschöpf durch den tiefen Wald dahin. Der Schaum zischt und kräuselt sich auf dem dunklen Busen der Gewässer vorbei an den Büschen, die sich vor der Fluth beugen, und den Felswänden, die ernst auf den unten herrschenden Tumult hinabschauen, während die hüpfenden Wellen dahinschießen wie der Pfeil vom Bogen oder vielmehr wie ein sichtbarer Geist, der, in Vollziehung einer geheimnißvollen Botschaft begriffen, die einsamsten und wildesten Pfade der Wildniß sucht. Ich habe die wilden Wogen wie tolle Geschöpfe auf weiter See gesehen und mit fremdartigen Gefühlen die mondbeleuchtete Tiefe beobachtet, als sie gleich der Menschenbrust sich langsam hob und senkte; allein es ist etwas unendlich mehr Geheimnißvolles in der ruhigen und doch blitzschnellen Bewegung eines tiefen dunklen Flusses, ganz allein in seiner Macht und Majestät durch das Herz eines gewaltigen Forstes brausend. Man nimmt ihn kaum eher wahr, als bis man an seinem Rande steht, und dann scheint er ohne Nachsicht auf uns und die Außenwelt ernst vorwärts zu rauschen und einen schrecklichen verborgenen Zweck zu erreichen.

Solche romantische Betrachtungen jedoch beschäftigen das Herz eines Hinterwäldlers selten. Die erste Frage, die er sich stellt, sobald er, seinen Kopf durch die Zweige steckend, den Strom hinauf- [607] und hinabblickt, bleibt: „Ist der Strom tief genug, Stämme zu flößen?“ Ist es so, dann schnell an’s Werk – hinab rollen die Stämme, einer nach dem andern, hinab über Berg und Hang mit Sprüngen, Sätzen und einem Plantsch in’s Wasser!

Heftige Regengüsse hatten einst während meines Aufenthaltes in jenen Gegenden die Flüsse sehr angeschwellt, und durch den Wald wandernd hörte ich bald das unausgesetzte dumpfe Rauschen, das sich aus der blätterüberdachten Einsamkeit erhob. In wenigen Augenblicken stand ich auf einer hervorspringenden Felsenplatte und sah den dunklen schwellenden Strom vor mir, wie er aus dem grottenartigen Blätterdache weit oben hervorbrach, um sich weiter unten in einer ähnlichen Schlucht zu verlieren. Ich stand geraume Zeit in Gedanken verloren und schaute träumend hinab in das großartige Schauspiel.

Wie lange ich in dieser halb träumerischen, halb gedankenvollen Stimmung verharrt haben würde, weiß ich nicht, wäre ich nicht plötzlich durch einen von unten her ertönenden Ruf aufgestört worden. Die Felsenwand hinabklimmend erreichte ich bald ein steiles Ufer, an dessen unterem Rande mehrere Leute beschäftigt waren, Stämme in den Fluß zu rollen. Ich sah ihnen eine Weile zu, und ihre Kaltblütigkeit, womit der Eine, halb unter einem ungeheuren Haufen Stämme verborgen stehend, an denselben herumhieb, um ein ihren Lauf hemmendes Hinderniß zu beseitigen, während der Andere die ganze Masse mittelst eines langen Hebels am Fallen verhinderte, nöthigte mir Bewunderung ab. Nach einigen sehr kräftigen Hieben sah ich die ganze Masse sich in Bewegung setzen, und ein unwillkürliches „Hab Acht, hab Acht!“ entriß sich meinen Lippen in solch erschreckenden Tönen, daß der kaltblütige Holzhauer unter seinen Stämmen hervorsprang, als sei er von einer Natter gestochen worden. Gleich darauf aber, über seinen voreiligen Schrecken lachend, ging er wieder an seinen alten Platz zurück, während der Mann mit dem Hebel nicht einmal seinen Kopf umdrehte, sondern nur ein kurzes Brummen hören ließ, was ungefähr so viel sagen wollte als: „Grün-Nase aus der Stadt!“

Es war ein begeisternder Anblick, diese ungeheuren Stämme wie toll dahineilen zu sehen, und sehr bald darauf lehnte ich meine Flinte an einen Baum, zog den Rock aus und einen Hebel ergreifend stand ich hinter einem großen Stamme und schob und arbeitete an demselben herum, bis ich ihn in Bewegung gesetzt hatte, und er mit dumpfem Getön, von Felsen zu Felsen hüpfend, mit einem gewaltigen Sprung in die Mitte des Flusses fiel. Einen Augenblick verschwand er unter Wasser, tauchte wieder auf und stand einen Augenblick still, sich nur um seine eigne Achse drehend, und dann allmählich der Macht der Strömung nachgebend, schoß er dahin, einem unten befindlichen Felsblock zu. Gegen denselben anrennend schwang sich das obere Ende in die Mitte des Wassers hinein und jetzt, von der vollen Macht desselben ergriffen, schoß er, wie plötzlich belebt, schnell dahin.

Ist der Fluß sehr voller Stämme, so bleiben dieselben manchmal an Felsen oder in dem Strauchwerk und den Wurzeln der Ufer hängen und sammeln sich oft bis zu mehrern Hunderten auf einer Stelle. Diese liegen dann still auf der steigenden und fallenden Fluth, während einer der Arbeiter langsam und vorsichtig von einem auf den andern schreitend mit seinen Füßen und einer langen Stange umherfühlt, zu sehen wo das Hinderniß sich befindet. Ist dieses entdeckt, so sucht er es zu beseitigen, was ihm oft mit wenigen Axthieben gelingt, und die ganze verworrene Masse setzt sich oft auf einmal in Bewegung. Jetzt hab Acht, du kecker Waldgesell, dein Pfad ist ein unsicherer, und ein wilder tückischer Strom unter dir! Doch seht, wie ruhig er das Chaos überblickt! Die geringste Eile oder Verwirrung würde ihm vielleicht das Leben kosten, allein er schreitet ruhig und unbesorgt dahin, jetzt einen Augenblick sich auf einem Stamme balancirend, der schnell mit ihm dahin schießt, dann schnell auf einen andern springend, wenn der erste unter ihm zu rollen beginnt, und so nähert er sich allmählich dem Ufer. Er hat dasselbe beinahe erreicht, als plötzlich die ganze schwimmende Masse eine so weite Kluft öffnet, daß er nicht länger von einem zum andern schreiten kann, worauf er jedoch nach einem Augenblicke ruhigen Umhersehens sich auf einen Stamm „à cheval“ setzt und so auf seinem seltsamen Roß den Fluß hinabtreibt, bis sich ihm eine günstige Gelegenheit bietet, das feste Land wieder zu erreichen.

Die Stämme werden auf diese Weise oft zwanzig bis dreißig Meilen weit geflößt, aus den kleinen Flüssen in die größern, über Seeen und durch Ströme, und zuletzt an Ort und Stelle aufgefangen, indem man lange Stangen über den Fluß steckt, die ihren weiteren Lauf hemmen. Gewöhnlich vereinigen sich mehrere Eigenthümer zu einer gemeinschaftlichen Flöße, und ein Jeder sucht sich dann die ihm gehörigen Stämme nach den Markzeichen, die er darauf geschlagen hat, so wie die Bauern ein jeder die ihm gehörigen Schafe aus der Heerde heraussuchen.

Dieses „Flußtreiben“ (driving the river), wie man es hier zu Lande gewöhnlich nennt, bildet im Frühjahr eine der Hauptbeschäftigungen der Hinterwäldler, und es ist merkwürdig zu beobachten, wie der Fluß ein Gegenstand voll des höchsten Interesses wird; sein Steigen und Fallen bildet den Hauptgegenstand der Unterhaltung.

Erzählt man vom Walde, so erwartet der Zuhörer ohne Zweifel auch einige Jagdabenteuer, denn der Schall der Axtschläge hat noch nicht alles Wild hinweggetrieben, und selbst in der Mitte der Civilisation werden noch manchmal wilde Kämpfe mit Bären, Panthern und Elenthieren ausgefochten. Im Herzen des Adirondack lebt noch „ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn“, dessen tolle Abenteuer und Kämpfe seinen Ruf weit und breit verbreitet haben. Einige derselben theile ich Dir, lieber Leser, mit, so weit ich sie aus seinem eigenen Munde gehört habe.

Vor nunmehr länger als zehn Jahren gewann Cheney (damals ein junger Mann) eine so große Neigung für das Waldleben, daß er Ticonderoga verließ und mit der Büchse auf der Schulter in die unbekannte, unbetretene Wildniß eindrang. Dort lebte er Jahre lang von dem Ertrag seiner Jagd. Da er aber fand, daß die schwere und lange Büchse in den oft fast undurchdringlichen Dickichten eine überflüssige Bürde sei, so ließ er sich ein Pistol, etwa zwölf Zoll lang, mit einem Büchsenschaft machen; diese Waffe, sein Hund und sein Jagdmesser bildeten seine einzigen Gefährten. Ich sowohl als andere Besucher jener Gegend bedienten sich seiner häufig als Führer, wozu ihn seine genaue Bekanntschaft mit der Localität vortrefflich geeignet machte. Elenthiere, Hirsche, Bären, Panther, Wölfe und wilde Katzen haben zu ihrer Zeit häufig seine Bekanntschaft gemacht. Einst stieß er plötzlich auf einen Panther, der fertig zum Sprunge wenige Schritte von ihm lag. Er hatte nichts als seine Flinte und sein Messer, während die funkelnden Augen und die zusammengezogene Form des Thieres ihm verkündeten, daß ein Augenblick Verzug, ein Fehlschuß, ein schlechtes Zündhütchen eine jähe Umarmung, vielleicht einen Todeskampf zur Folge haben würde; allein unerschrocken und bedächtig brachte er die Büchse an die Schulter und feuerte just, als die Bestie im Begriff war zu springen. Die Kugel fuhr ihr in’s Gehirn, und mit einem wilden Sprung lag sie zuckend auf den grünen Blättern. Neugierig, zu erfahren, ob es ihn nicht etwas überrascht habe, sich plötzlich in so großer Nähe eines Panthers zu sehen, fragte ich ihn, wie es ihm zu Muthe gewesen sei, als er das Thier so nahe und zum Sprunge fertig gesehen. „Mir war zu Muthe,“ erwiderte er ruhig, „als ob ich es tödten würde!“ Ich war von der Einfachheit der Antwort, die nichtsdestoweniger ganz mit dem Charakter des Mannes übereinstimmte, vollkommen überrascht.

Sein Zusammentreffen mit einem Wolf war noch gefährlicherer Natur. Er stieß plötzlich auf das vor Hunger wüthende Thier, riß seine Büchse an den Backen und feuerte; allein da der Wolf im selben Augenblick einen Sprung machte, so traf die Kugel keine tödtliche Stelle, das wüthende Thier ward noch mehr gereizt und griff ihn mit fletschenden Zähnen grimmig an. Seine einzige Waffe war die abgeschossene Büchse, die er als Keule brauchte; allein der Kolben brach ab, und die ganz toll gewordene Bestie packte den übrig gebliebenen Lauf zwischen die Zähne, um ihn dem Jäger zu entreißen, der, da es jetzt einen Kampf auf Leben und Tod galt, gleichfalls wie ein Verzweifelter focht. In diesem Kampf trat der Wolf auf seine Schneeschuhe und brachte ihn zu Falle. Jetzt dachte Cheney, es sei Alles vorbei, wenn er nicht etwa seine Hunde, die den Wald durchstöberten, herbeirufen könnte, und in der That folgte auch bald einer derselben, ein junger Hetzhund, seiner Stimme; allein kaum hatte dieser die gefährliche Lage seines Herrn wahrgenommen, als er, den Schwanz zwischen den Beinen, wieder in den Wald zurückfloh. In diesem kritischen Augenblick jedoch sprang der andere Hund unter wüthendem Gebell auf die kämpfende Gruppe, und den Wolf im Genick packend, riß er ihn von seinem Herrn hinweg und gab diesem Gelegenheit, seine letzten [608] Kräfte zu einem gewaltigen Schlage zu sammeln und dem Raubthier den Schädel zu zerschmettern. Nach diesem Vorfall ließ er sich sein vorerwähntes Pistol machen.

Der Bär schläft bekanntlich während des größern Theiles des Winters. An einer warmen Stelle, in einer Höhle oder unter einem umgefallenen Baumstamm rollt er sich gewöhnlich zusammen und bereitet sich vor, die Zeit des harten Frostes zauberschlössermäßig zuzubringen. Nur von Zeit zu Zeit, wenn gelegentliches Thauwetter eintritt, schöpft er ein wenig frische Luft. Gegen das Frühjahr ist er dann mager und hungrig, und ein Zusammentreffen mit Braun ist dann gefährlicher, als wenn ihn Wohlbeleibtheit gutmüthiger stimmt. Cheney erzählte, daß er eines Tages beim Pirschen plötzlich durch die dünne Schneedecke brach und in das Lager eines Bären fiel, der sich zwischen den Wurzeln eines vom Winde umgestürzten Baumes seine Winterwohnung gewählt hatte. Es war ein warmer bequemer Platz, da der Schnee mehrere Fuß tief lag und ihn vollkommen gegen Frost und Wind schützte. Die unceremoniöse Weise, in der Cheney’s Beine mit Brauns Rücken in Berührung kamen, störten dessen Gleichmuth, und mit einem tiefen Brummen, das den Jäger veranlaßte, seinen Fuß schnell zurückzuziehen, sprang er aus dem Schnee hervor. Cheney hatte sein Messer kurz vorher seinem Jagdgefährten gegeben, der an der andern Seite des Berges jagte, um ihn weiter oben zu treffen, und besaß deshalb keine andere Waffe, als sein Pistol. Das aber konnte er kaum schußfertig machen, als der wilde Gesell ihm auch schon auf dem Leibe war. Unerschrocken zielte er jedoch zwischen die Augen der Bestie und drückte ab. Da versagte das Zündhütchen, und nicht im Stande, ein neues aufzusetzen, ergriff er das Pistol bei der Mündung und hieb damit nach dem Kopfe des Bären. Dieser jedoch parirte den Schlag mit einem Hieb, der die Waffe zehn Schritt weit fortschleuderte, und im nächsten Augenblicke rollten Beide im Schnee. Waffenlos war der Jäger jetzt nur auf seine Körperkraft angewiesen, und in diesem Ringkampfe hatte der Bär so entschieden das Uebergewicht, daß das Ende wenig zweifelhaft schien.

Gerade in diesem Augenblicke kam der Hund wieder seinem Herrn zu Hülfe, und den Bären von hinten angreifend, lenkte er dessen Aufmerksamkeit von seinem Opfer ab. Cheney, schnell emporspringend, sah sich nach seinem Pistol um und hatte das Glück, dasselbe in kurzer Entfernung mit dem Kolben aus dem Schnee hervorragen zu sehen. Er sprang darauf zu, setzte ein frisches Hütchen auf, reinigte den Lauf vom Schnee, befestigte seine Schneeschuhe wieder, die während des Ringens losgegangen waren, und eilte nun dem Bären nach, der, sich mit dem Hunde herumbalgend, den Hügel hinabgerollt war. Des Bären Kräfte waren jedoch zu viel für den Hund, den er bald schrecklich zugerichtet auf dem Wahlplatze zurückließ. „Ganz zerfetzt war er,“ sagte Cheney; „allein ich habe niemals bei einem Hunde solche Courage gesehen. Sobald er merkte, daß ich wieder zum Kampfe fertig war, sprang er auch, trotz seiner Wunden, wie toll hinter dem Bären her. Ich rief ihm zu, daß wir den Schuft haben müßten, und sollte es das Leben kosten, und er setzte ihm nach, eine blutige Spur zurücklassend. „Halt ihn fest!“ schrie ich, und er hielt ihn, bis ich hinangekommen. Ich zielte auf des Bären Kopf, allein die Kugel brach ihm nur die Kinnlade; ich feuerte nochmals, doch ohne ihn zu tödten, obschon die Kugel durch das Gehirn gegangen war, und erst beim dritten Schuß tödtete ich ihn, und ein Hauptkerl war er.“ – „Allein der Hund? was wurde aus dem wackern Hunde?“ – „O!“ lautete die Antwort, „der war schrecklich zugerichtet, ich schaffte ihn nach Hause und pflegte ihn, er ward wieder gesund, hat aber seit jener Zeit nicht mehr viel getaugt, die Rauferei war für ihn zu viel gewesen.“

Ich fragte ihn, ob Elenthiere manchmal den Jäger angriffen. „O ja,“ sagte er „die Kühe mit dem Kalbe thun es zuweilen, und eben so die andern, wenn verwundet oder zu arg bedrängt. Ich war einst jagen, als mein Hund zwei aufstöberte. Ich hörte die Büsche knacken und sah beide gerade auf mich zukommen. Sobald sie mich sahen, senkten sie ihr Geweih und kamen vollen Laufes angestürmt, so daß die Büsche und jungen Stämmchen wie die Pfeifenstiele knackten. Just zur rechten Zeit sprang ich hinter einen Baum und feuerte, als sie an mir vorbeischossen. Die Kugel ging durch das erste Thier hindurch und blieb im zweiten stecken.“

Cheney erlegt alljährlich etwa siebenzig Hirsche. Er hat in seinem Aeußeren durchaus nichts von der Rohheit, die oft den Jägern anhängt, sondern ist ein ruhiger, angenehmer Gesellschafter. Unter Anderem erzählte er mir, daß er einst einem Bären den ganzen Tag lang gefolgt war und mit Einbruch der Nacht endlich den Baum fand, auf den sich Braun zurückgezogen. Allein es war zu dunkel, um zu schießen, und so setzte er sich denn am Fuße des Stammes nieder, um zu warten, bis es Tag geworden und er schießen könne. Nach einer Weile jedoch schlief er ein und wachte erst am hellen Tage auf. Erschrocken sah er empor und fand bald, daß der listige Bursche den Schlaf des Jägers benutzt und sich aus dem Staube gemacht hatte. Cheney sagte, daß er sich in seinem Leben nicht so beschämt gefühlt habe, als von einem Bären übertölpelt zu sein.




Briefkasten.

R. in St. Für diesen Fall empfehlen wir Ihnen das so eben erschienene Buch: „Das Leben Jesu“, von Eduard Baltzer, Sprecher der freien Gemeinde in Nordhausen. Die milde versöhnende Weise des Verfassers, die sich in all seinen Werken und Worten ausspricht, hat sich hier glücklich mit den Resultaten der Forschungen vereint.

Frl. Elise W. in S. Die Auflösung der Charade von Goethe finden Sie in Goethe’s Leben von Schaefer, 2. Aufl., 2. Bd., Seite 226, in Goethe’s Leben von Bichoff, 3. Aufl., 4. Bd., Seite 42.

R. C. in Leipzig. Liegt zu Ihrer Disposition.

R. M. in W. Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man weiß, was hier unter Fechtkunst verstanden wird. Diese zerfällt nämlich
  in Stoßen und Hauen.
Ersteres wieder in deutsches und französisches. Letzteres aber in Schlagen mit Glocken oder Körben. Ueber jedes dieser vier verschiedenen Fechtarten sind zahlreiche Lebrbücher geschrieben, die natürlich von ungleichem Werthe sind.



Berth. Auerbach’s
Volkskalender für 1861.
Mit Bildern nach Originalzeichnungen
von

Kaulbach, Arthur von Ramberg und Ad. Menzel.

Preis 121/2 Ngr.

Auerbach’s Volkskalender nimmt, was Inhalt und Ausstattung betrifft, unter allen Kalendern den ersten Rang ein. Die besten Männer der Wissenschaft, Politik und Kunst haben für den jetzigen Jahrgang mitgewirkt. Wir geben daher, anstatt jeder besondern Anpreisung, nachstehend blos den Inhalt desselben:

Zwei Feuerreiter – der Blitzschlosser. Zwei Erzählungen von Berth. Auerbach, die erstere von Arthur v. Ramberg, die zweite von Ad. Menzel reich illustrirt. – Das Fähnlein der sieben Aufrechten. Erzählung aus dem Schweizer-Leben von Gottfr. Keller. – Wie der Mensch wächst. Beitrag mit 5 Abbild. von Prof. Virchow in Berlin. – Weltgeschichte im Dorfe. Von Berth. Sigismund. – Alltägliches Gespräch. Ein zeitgeschichtlicher Beitrag von dem Redacteur der Berliner Volkszeitung, A. Bernstein. – Natürliche Grenze und was daran hängt. Ein nationaler Beitrag von K. Andree. – Gut Heil! Briefe eines alten Turners aus Süddeutschland.

Verlagsbuchhandlung von Ernst Keil in Leipzig. 

Nicht zu übersehen!
Mit Nr. 39 schließt das dritte Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Unser berühmter Reisender befindet sich bekanntlich augenblicklich bei der preußischen Expedition nach Japan.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bardel
  2. Vorlage: Dörneschlucht