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Die Gartenlaube (1860)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 42. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Mary Kreuzer.

Aus dem deutsch-amerikanischen Leben.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Der Winter verging und der Frühling kam, ohne daß sich in den äußern wie innern Verhältnissen der Hausbewohner viel geändert hätte. Heinrich schien während der Tage bis zu Neujahr von einer steten Unruhe gepeinigt zu sein; bei jedem Tritte, welchen Mary aus der Hausthür that, sah sie die Augen des Burschen ihr folgen, und erst als George eines Mittags die Nachricht heimbrachte, daß er die „Jungen“ des Majors mit ihren großen Koffern habe fortfahren sehen, schien er beruhigt zu werden; in seinem Wesen dem Mädchen gegenüber aber begann von da ab ein eigenthümlicher Trotz sich geltend zu machen, während seine Blicke, wenn er sich unbeobachtet glaubte, doch oft in stillem Glühen wie festgebannt an der zu voller Jungfräulichkeit aufblühenden Gestalt hingen. Nur der Alte war unverändert sich gleich geblieben, und Mary fühlte in der ganzen Art seines Benehmens, daß er ihr für die ruhige Haltung, welche sie bewahrte, Dank wußte und gut zu machen suchte, so viel er vermochte.

Es war Ausgangs Juni, als von der Familie einer benachbarten amerikanischen Farm die Einladung zu einem Picknick im Grünen einlief. Der gewöhnliche Farmwagen wurde andern Tages bespannt, und Kreuzer mit Sohn und Tochter – die Mutter hatte die Einladung abgeschlagen – die ersteren Beiden im besten Farmerstaate, die Letztere in einem einfachen Kleide, in welchem sie sich indessen wunderbar zwischen ihren Begleitern heraushob, traten, versehen mit allerhand Lebensmitteln, die Fahrt nach dem nur wenige Meilen entfernten Festplatze an. Sie hatten diesen noch nicht ganz erreicht, als ihnen schon helles Mädchengelächter durch die Büsche entgegenklang; surrende Menschenstimmen, durchbrochen von einzelnen Violintönen, ließen sich hören, und bald lag ein offener Rasenplatz, belebt von den verschiedensten Gruppen, vor ihnen. Den Mittelpunkt bildeten die Quarré’s tanzender Paare, zu deren Seite ein fidelnder Neger auf einem Fasse stand, zugleich die Touren der Quadrille ausrufend und den Takt mit dem Fuße tretend, während zu seiner Seite auf dem Boden ein alter weißer Mann, dem die deutsche Ergebenheit in allen Zügen geschrieben stand, sich mit Secundiren abplagte. Rings umher lag ein anderer Theil der eingeladenen Gäste in bunten Gruppen im Grase – weiter hinten brannte ein helles Feuer, neben welchem ein letzter Theil der Gesellschaft sich in voller Heiterkeit mit Kochen und Braten zu beschäftigen schien – es war ein Bild von überraschender Lebendigkeit, was sich plötzlich zwischen den Bäumen des Urwaldes aufthat, und Mary’s Herz begann beim Anblicke desselben in einem Vergnügen zu klopfen, das ihr nach der eintönigen Stimmung des verflossenen Jahres fast fremd geworden war.

Kreuzer fuhr einer Waldecke zu, wo die Pferde und Wagen der übrigen Gäste zerstreut unter den Bäumen standen – die Ankunft der Familie war aber bereits bemerkt worden, und eine sichtliche Genugthuung drückte sich in des Alten Gesicht aus, als er den Festgeber mit seinem Sohne herankommen und ihm, noch ehe das Gefährt anhielt, die Hand zum Willkommen heraufreichen sah. Der letztere, dessen sich Mary aus einigen flüchtigen Begegnungen in der Stadt erinnerte, schüttelte kräftig des Mädchens Hand, nickte dem jungen Kreuzer einen Gruß zu und hob die Erstere nach einem kurzen Sträuben derselben vom Wagen. „Es fehlt gerade noch ein Paar, Miß, kommen Sie rasch mit mir!“ sagte er, während er das leichte Tuch von ihren Schultern nahm und ihr zugleich beim Entledigen ihres Hutes behülflich war, und ehe sich das Märchen nur recht besinnen konnte, sah sie sich schon lustig fortgezogen.

„Nur los, Mary, ’s ist nicht alle Tage Picknick!“ rief ihr der Alte nach, und sie folgte dem jungen Manne, wenn sie auch in ihrer augenblicklichen Verwirrung von dem wortreichen Gespräche desselben kaum etwas hörte.

Erst als sie in unmittelbarer Nähe der tanzenden Paare waren, hielt sie ihren Schritt an und überflog mit einem besorgten Blicke das heitere Schauspiel vor ihr. Sie verstand kein Wort von dem, was der Neger auf seinem Fasse ausschrie, und doch richteten sich augenscheinlich die Bewegungen der Tänzer danach; ein zweiter Blick aber zeigte ihr längst aus Deutschland bekannte Quadrillenfiguren, die Lust vergangener Kindertage erwachte plötzlich in ihr, und mit einem hellen Lächeln reichte sie ihrem Begleiter wieder die Hand, mit diesem einem offenen Platze in der Tänzergruppirung zueilend.

Kreuzer, der inzwischen Pferd und Wagen besorgt, wendete sich wieder dem Tanzplatze zu, und sein Auge hatte schnell Mary’s feine Gestalt unter der Menge der Uebrigen herausgefunden. Das Mädchen bewegte sich mit einer Sicherheit und Grazie in den Verschlingungen der Touren, die sie vor allen übrigen Tänzerinnen auszeichneten, ihr Gesicht strahlte von Heiterkeit und Erregung, während sie dennoch in den Ruhepausen den eifrigen Worten ihres Tänzers nur mit einer Gehaltenheit horchte, die fast über ihre Jahre ging.

Heinrich lehnte beobachtend an einem seitwärts stehenden Baume,

[658] und ein sonderbarer Wechsel von Genugthuung und Bitterkeit ging durch seine Züge. Er mochte die Schönheit seiner Schwester noch nie so empfunden haben, wie jetzt, noch nie aber war es ihm wohl auch so klar geworden, wie weit die Verschiedenheit ihres Wesens sie von ihm trenne. Er hatte sich bis jetzt noch kaum um Mädchengesellschaft und Umgangsformen bekümmert, und seine ganze Schwäche kam ihm Angesichts des leichten geselligen Treibens, in das er sich nicht zu mischen wagte, zum Bewußtsein – mitten unter der Menge lachender Menschen erschien er sich einsamer, als er sich je gefühlt. Da traf sein Auge endlich auf ein bekanntes Gesicht – der Sohn eines benachbarten deutschen Farmers war es, welcher ziemlich eben so verloren als jener unter den Gruppen umher zu spazieren schien. Heinrich hatte nie viel auf die Freundschaft des unbedeutenden jungen Menschen gegeben; jetzt aber erschien sie ihm fast wie ein großes Glück. Er ging ihm entgegen, und noch niemals hatte ihm ein Gruß so wohl gethan, als die Herzlichkeit, mit welcher jener ihm die Hand entgegenstreckte. Bald sah er sich zu einer Gruppe deutscher Farmer-Familien, die sich den Amerikanern abgesondert und weiter rückwärts gelagert hatten, geführt und befand sich wieder unter einem Elemente, das eben sowenig als er selbst sich in dem leichten amerikanischen Gesellschaftstone heimisch fühlte und eben so wenig von den graziösen Schwingungen moderner Quadrillen verstand.

Der Tanz war zu Ende, und noch glühend von der letzten raschen Tour sah sich Mary von einer Anzahl junger Männer umringt, die sich herandrängten, um sich ihr durch ihren bisherigen Tänzer vorstellen zu lassen. Eine Reihe von Namen tönte an ihr Ohr, von welchen sie in der nächsten Secunde nicht einmal den allgemeinen Klang mehr wußte; hier hatte sie auf eine Bemerkung zu hören, dort auf eine Frage zu antworten, und sie hätte sich doch am liebsten nach Vater Kreuzer umgesehen. Da streckte sich ihr plötzlich eine Hand entgegen, und eine wohlbekannte Stimme fragte: „Ich brauche mich doch nicht erst vorstellen zu lassen, Miß Mary?“

Wie ein leiser, freudiger Schrecken blitzte es in ihrem Auge auf, als sie, emporsehend, in James Osborne’s belebte Züge blickte; ein hohes Roth aber übergoß ihr Gesicht, als sie ihre Hand von der seinigen festgehalten fühlte.

„Das ist ein Glück, was nicht alle Tage kommt, und ich hoffe, Sie sind nicht schon wieder versagt?“ fuhr er fort, während sein leuchtender Blick ihre ganze Erscheinung umfassen zu wollen schien, „sprechen Sie, Miß Mary!“

„Ich weiß noch kaum, ob ich überhaupt weiter tanze,“ erwiderte sie, ihre Hand leicht zurückziehend, „ich möchte mich erst nach Mr. Kreuzer umsehen.“

„O, der alte Gentleman steckt mit dem Vater irgendwo tief in der Politik, lassen sie ihn!“ lachte ihr bisheriger Tänzer; „erlauben Sie, daß ich Sie einen Augenblick zu Mutter und Schwester führe, und dann entziehen Sie sich uns nicht wieder!“

Er eilte mit ihr einer nahen Gruppe zu; die Bewillkommnungen wurden aber bald durch den Ruf und die Geige des Negers abgeschnitten; von allen Seiten flogen die Paare wieder nach dem Tanzplatze, und Mary sah sich bald an James Osborne’s Seite in einem der Quarré’s.

„Werden Sie mir glauben, Miß Mary, wenn ich Ihnen sage, daß es mich unendlich glücklich macht, Sie hier zu treffen? Welch ein Freudentag für mich!“ flüsterte er ihr zu. „Es ist ein reiner Zufall, der mich hergebracht!“

„Ich wußte nicht, daß Sie wieder in der Nachbarschaft waren!“ erwiderte sie, ohne die Augen aufzuschlagen. Das frühere Roth war von ihrem Gesichte gewichen; um ihren Mund indessen spielte ein Zug wie tiefinnerliches Glück; sie hob kaum die Augen, aber ein aufsteigendes Lächeln deutete jedes launige Wort an, welches ihr Tänzer ihr hier und da in den Verschlingungen des Tanzes zuwarf.

„Sie wußten nicht, daß ich wieder in der Nachbarschaft war?“ begann er halblaut, als Beide wieder neben einander standen, „aber macht es Ihnen Freude, mich in Ihrer Nähe zu wissen? Wie gewiß hatte ich darauf gerechnet, Sie nach Weihnachten noch einmal zu sehen, ehe ich abreiste – ich habe manche Stunde im Schnee gestanden, um mir eine günstige Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, aber Sie hatten jedenfalls vergessen, daß ein Mensch wie James Osborne existire!“

Mary war bei seinen letzten Worten bleich geworden, sie hob wie in einer plötzlichen Sorge die Augen und ließ sie rasch über ihre Umgebung schweifen – die ganze Scene, welche ihre Heimkunft am ersten Weihnachtstage hervorgerufen, war vor sie getreten, und sie meinte jeden Augenblick Heinrichs finster beobachtendes Auge irgendwo entdecken zu müssen. „Sie reden, als stände nichts zwischen Kreuzer’s und Major Osborne’s Farm, als die Einzäunung!“ sagte sie nach einer Pause langsam aufsehend und begegnete einem eigenthümlich gespannten Auge, mit welchem der junge Mann ihr Gesicht beobachtet zu haben schien.

„Wir sind sogleich an der Reihe, Miß Mary,“ sagte er, das Auge rasch über die Tänzer werfend, „aber ich muß über das, was Sie andeuten, später mehr mit Ihnen reden!“

Das Mädchen fühlte einen kräftigen Druck seiner Hand, als sie ihm in die neue Tour folgte, sie sah, wie er fast nur mechanisch die Bewegungen des Tanzes ausführte und ungeduldig das Ende derselben zu erwarten schien, „lassen Sie uns austreten,“ raunte er ihr zu, als Beide ihre Plätze wieder erreicht hatten, „Sie bedürfen jedenfalls einer Erfrischung; – kommen Sie!“ fuhr er in dem Tone dringender Bitte fort, als er sie mit einem neuen Ausdruck von Besorgniß zögern sah, „es wird nirgends auffallen, und wenn der Tanz vorüber ist, finde ich wahrscheinlich keinen unbewachten Augenblick wieder, um ein nothwendiges Wort mit Ihnen zu sprechen!“

Sie war fast unwillkürlich seinem Drängen einige Schritte gefolgt, und lachend eilte er jetzt mit ihr nach dem Takte der Musik davon. Unweit der zum Kochplatz hergerichteten Stelle stand am Saume des Gebüsches ein Erfrischungstisch, beladen mit Gläsern und mehreren Holzeimern voll zubereiteter Limonade – der Wallfahrtsort der erhitzten Paare, welche von hier aus entweder dem Tanzplatze wieder zueilten, oder promenirend sich im Schatten der breitästigen Buchen verloren. Mary hatte der willkommenen Erfrischung zugesprochen und war dann neben ihrem Begleiter in einer Richtung, die sie Andere gehen sah, weiter geschritten. Indessen konnte sie das unangenehme Gefühl, das sie bei dem Gedanken an Heinrichs Gegenwart beschlichen, nicht von sich streifen.

James war eine Strecke den vor ihm gehenden Paaren gefolgt, bog aber dann in einen einsameren Pfad ein.

„Sagen Sie mir offen, Miß Mary,“ begann er hier, des Mädchens Hand fest ergreifend, „was ist Ihnen über die Osborne’s gesagt worden? Ist die alte Geschichte noch immer so lebendig, daß sie auch Ihnen das Herz damit verbittern mußten?“

„Vater Kreuzer hat mir Alles erzählt, weil es nothwendig war, daß ich es hörte!“ erwiderte sie, ihre Hand leise befreiend, „aber er hat nicht bitter gesprochen –“

„O, ich kenne den alten Gentleman,“ rief der junge Mann erregt, „und weiß auch, daß er längst vergessen hätte, was doch nun einmal geschehen ist, wenn er nicht immer einen neuen Stachel an seiner Seite hätte, der auch auf Ihre Unbefangenheit schon seinen Einfluß ausgedehnt hat. Meinen Sie, Miß Mary, ich hätte den Unterschied nicht schmerzlich gefühlt, der zwischen unserm ersten Gespräche im Schlitten, zwischen Ihrer vertraulichen Offenheit und der Aengstlichkeit, mit welcher Sie heute neben mir gehen und stehen, liegt? Und nun sagen Sie mir doch nur,“ fuhr er stehen bleibend und ihre beiden Hände fassend fort, „was habe ich denn in der ganzen Angelegenheit verbrochen, warum sollen Sie denn gegen Menschen eingenommen werden, nur weil sie Osborne heißen? Glauben Sie doch, daß mein Vater die Uebereilung, die er vor Jahren begangen, eingesehen hat, daß er Mr. Kreuzer so achtet, als es nur Jemand von dessen Nachbarn thun kann, und daß er diesem längst selbst die Hand geboten hätte, wenn er nicht wüßte, welcher feindselige Geist noch immer in Ihrem Hause erhalten und genährt wird. Ich habe geahnt, als ich während der Christzeit Tag für Tag um Ihre Farm streifte, ohne auch nur eine Spur von Ihnen zu sehen, daß der alte Groll sich zwischen uns gestellt habe – soll denn das aber wirklich geschehen, Miß Mary? Sollen denn zwei Menschen, die sich bei der ersten Begegnung schon verstanden, als wären sie alte Bekannte, sich wegen Dingen aus dem Wege gehen, mit denen sie nie etwas zu thun gehabt?“

Das Auge des Sprechenden ruhte mit einem so klaren, innigen Ausdrucke in dem ihrigen, daß sie den Blick nicht davon abwenden konnte. „Ich bin Ihnen nicht aus dem Wege gegangen und ich werde es nicht thun!“ erwiderte sie. „Vater Kreuzer hat mir selbst gesagt, ich brauche es nicht! Aber ich habe Rücksicht zu nehmen –“

„Hat er Ihnen das gesagt, der alte Gentleman? Gott segne [659] ihn dafür,“ unterbrach sie James, ihre sich leise sträubenden Hände fester fassend, „was kann es denn noch für Rücksichten geben, die Sie so unruhig machen?“

Es rauschte im Gebüsche, und Heinrich sprang plötzlich in Beider Weg, einen finstern Blick auf Mary und einen zweiten voll flammender Drohung auf ihren Begleiter werfend. „Was haben Sie hier mit meiner Schwester zu thun, Sir, hier, entfernt von der Gesellschaft im Walde?“ rief er mit bebender Lippe. „Lassen Sie ihre Hand los,“ fuhr er fast schreiend fort, „oder bei Gott, es geht nicht gut!“

Mary hatte in der ersten Ueberraschung ihre Hände aus denen ihres Begleiters ziehen wollen, aber dieser hielt ihre Rechte fest in seiner Linken. „Sind Sie ein Gentleman, Henry, daß Sie sich in Gegenwart der jungen Lady so gehen lassen?“ erwiderte der letztere mit völliger Ruhe, obgleich sein Auge einen seltsamen Glanz annahm und das Blut dunkel in sein Gesicht stieg. „Ich denke, Sie werden nicht verwehren wollen, was mir und Miß Mary recht scheint?“

Das Gesicht des jungen Kreuzer nahm den Ausdruck eines tödlichen Hasses an. „Was den Osborne’s recht scheint?“ stieß er hervor, „haben sie denn nicht bewiesen, daß Lüge und Unrecht bei ihnen zu Hause sind? Die Hand von dem Mädchen, sage ich zum letzten Male!“

„Heinrich, um Gotteswillen!“ rief Mary, welche die Hand des jungen Amerikaners plötzlich an der ihren zucken gefühlt, James aber war, ohne sie loszulassen, todtenbleich einen Schritt vorwärts getreten und stand dicht, Aug’ in Auge, vor seinem Beleidiger. „Wärst Du ein Mensch von Ehre,“ sagte er mit einem eigenthümlich heisern Klange der Stimme, „so würdest Du Deine Beschimpfungen bis zu einer Zeit aufgespart haben, wo mich nicht die Gegenwart einer Lady abhält, Dich nach Verdienst zu züchtigen –“

„Züchtigen – Du?“ brach es in einem schrillen Laute aus dem Munde des Andern, „da nimm es!“ und ein voller Faustschlag fiel in Osborne’s Gesicht.

Mary war mit einem Aufschrei zurückgefahren – einen einzigen Moment nur stand der Getroffene wie betäubt, im nächsten hatte er des Mädchens Hand losgelassen, den Burschen gefaßt und ihn zu Boden geschmettert, daß dieser, ohne auch nur noch ein Glied zu regen, liegen blieb, wie er den Boden berührt.

James blickte eine Secunde lang auf den bewegungslosen Körper, dann wandte er, sichtlich seine Aufregung niederdrückend, sich nach dem Mädchen.

„Kommen Sie, Miß, und entschuldigen Sie mich, er hat nur, was er verdiente. Ich werde dann nach ihm sehen.“

„Aber um Gotteswillen, er regt sich nicht!“ rief Mary, wie von Entsetzen gepackt, ihre Hände nach dem Niedergeworfenen ausstreckend.

„Er wird zu sich kommen, seien Sie ohne Sorge, und es ist besser, er findet sich allein,“ erwiderte er, ihren Arm unter den seinigen nehmend, „kommen Sie, der Ort taugt jetzt nicht für Sie!“

„Ich kann nicht, ich kann nicht!“ stöhnte das Mädchen, die Augen starr auf Heinrichs bleiches Gesicht geheftet, „gehen Sie zu ihm, sehen Sie, ob er Schaden genommen, um Gottes Barmherzigkeit willen lassen Sie ihn nicht so liegen!“

Mit finster zusammengezogenen Augen trat James an den Daliegenden heran und faßte ihn bei beiden Schultern, ihn heftig rüttelnd, aber nur eine todte Masse schien seiner Anstrengung zu gehorchen. Jetzt faßte er den Oberkörper und richtete ihn auf – schwer fiel der Kopf zurück und zwischen den Haaren hervor träufelte Blut; ein rascher Blick Osborne’s traf eine aus dem Grase hervorragende mit Blut gefärbte Felsenecke. Langsam legte er den Körper zurück und richtete sich auf. „Ich werde Wasser holen und bin auf der Stelle wieder hier,“ sagte er in einem eigenthümlich klingenden Tone. Mary aber sah in ein verstörtes, aschenfarbiges Gesicht, und als ihr Begleiter, ohne sich umzublicken, davon geeilt war, überkam sie in voller Macht das Entsetzen, dessen Anfänge sie eben erst empfunden. Er war todt, sie wußte es, sie hatte es in des Davoneilenden Zügen gelesen, und nur ihrem fast die Besinnung überwältigenden Schrecken folgend, flog sie den Weg zurück, um den alten Farmer zu suchen.

Nur wie eines Traumes entsann sie sich später der aufgeregten Menschengruppen, welche nach den ersten Worten, die sie zu reden vermocht, sie umgaben, entsann sich des verstörten Gesichts des herbeigestürzten Kreuzer, sah sich wieder neben Heinrichs leblosem Körper, um welchen die Menschen in vergeblichen Belebungsversuchen beschäftigt waren, bis er aufgehoben und davongetragen ward, und fand sich endlich von dem Sohne des Festgebers mit beruhigenden Worten nach einem der wartenden Wagen geführt. „Nehmen Sie alle Kraft zusammen, Miß,“ sagte der junge Mann, „es ist nöthig, daß die alte Lady auf das Unglück vorbereitet wird, ehe sie es durch Unberufene erfährt, und auch für Sie ist es am Besten, wenn Sie den Neugierigen aus dem Wege gehen.“

Damit hatte er die Widerstandslose in den Wagen gehoben, ihr Hut und Tuch eingehändigt und fuhr mit ihr davon.

Mary kam erst wieder zu rechter Besinnung, als sie das heimathliche Farmhaus erblickte; zugleich aber erwachte in ihr auch ein eigenes Gefühl von Angst, wenn sie sich den ersten Schmerzausbruch ihrer Pflegemutter vorstellte. Fast wollte es sie überkommen, als trage sie einen Theil der Schuld an dem entsetzlichen Unglücke. „Lassen Sie mich hier absteigen,“ sagte sie, als der Weg sich nach dem Thore der Umzäunung wandte, „Mutter muß gleich etwas Besonderes vermuthen, wenn sie mich in einem fremden Wagen ankommen sieht!“

Sie sprang zu Boden und folgte dem Gefährte langsam. Sie sah ihren Begleiter an der Hausthür absteigen und im Eingange verschwinden. Eine Minute stand sie harrend und glaubte jeden Augenblick einen Schrei aus dem offenen Fenster hören zu müssen, aber kein Ton wurde laut um sie her, und eine peinigende Unruhe trieb sie vorwärts. Mit hochklopfendem Herzen ging sie dem Hause zu und war nur wenige Schritte noch davon entfernt, als die Thür sich öffnete und die Frau, gefolgt von dem Farmerssohne, rasch heraustrat. Ihr Haar saß so glatt und fest am Kopfe wie gewöhnlich, und nur der krampfhafte Griff, mit welchem sie den Sommerhut in der Hand hielt, verrieth eine ungewöhnliche Aufregung. Ihr Gesicht war fast steinern, und der starre Blick suchte den Wagen. Mary fühlte, als solle ihr das Herz zerdrückt werden. „Mutter, Mutter!“ rief sie, ehe es noch der junge Mann mit einem Winke verhindern konnte. Die Frau aber schien sie nicht zu hören und schritt auf das Gefährt zu. „Ich weiß, daß er meine Stimme vernehmen wird, und hätte auch sein Geist schon halb den Körper verlassen,“ sagte sie, als der junge Farmer ihr beim Einsteigen behülflich war; „nur rasch, und es muß noch Alles gut werden!“

Das Mädchen sah die Beiden davonfahren, sie betrat das Haus, in welchem sich keine lebendige Seele außer ihr zu befinden schien, und wirre Bilder dessen, was die nächsten Stunden bringen würden, schossen durch ihren Kopf. Fast erschrak sie, als die Nase des zottigen Haushundes, der ihre Kleider beschnopperte, ihre Hand berührte. Mit einem Gefühle, als sei jeder Theil in ihrer Brust zusammengeschnürt und gepreßt, setzte sie sich an das offene Fenster, um die Heimkehr ihrer Pflegeeltern abzuwarten. Der ganze verhängnisvolle Vorfall trat in einzelnen Bildern noch einmal vor sie, bis ihre Gedanken an dem jungen Osborne hängen blieben – er war, seit er den Erschlagenen verlassen, nirgends wieder zu erblicken gewesen. Die Worte, welche er zu ihr gesprochen, klangen noch einmal in ihren Ohren wieder, sie sah sein klares Auge auf sich ruhen und fühlte noch einmal den Eindruck, welchen sein inniger Blick auf sie gemacht – dann trat es wie ein Gespenst vor sie, daß gerade Einer der Osborne’s es hatte sein müssen, durch welchen das Unglück herbeigeführt worden. Sie meinte den alten Kreuzer zu sehen, wie er im Schmerze um den Sohn den versöhnlichen Sinn verfluchte, welcher die erste Ursache zu dem Geschehenen gewesen – zwei große, schwere Thränen begannen sich aus ihren Augen loszuringen. Bald aber folgten deren mehr; sie legte den Kopf auf den Arm, und in heißem Weinen fing ihre gepreßte Seele an sich Luft zu machen, es war ihr, als müsse sie jammern über ein ganzes verlorenes Lebensglück.

Es war dämmerig geworden. Mary hatte langsam ihre Ruhe wiedergewonnen und ihre augenblickliche Lage ins Auge gefaßt. Sie war sich in keiner Weise bewußt, einen Vorwurf verdient zu haben, und doch, wenn sie an ihre Pflegemutter dachte, konnte sie die Ahnung von einem bösen Sturme, welchen sie zu bestehen haben werde, nicht von sich weisen, wenigstens aber wollte sie jeder Pein, welche die nächste Stunde für sie bringen konnte, standhaft entgegentreten. Jetzt sah sie eine Gestalt auf das Haus zukommen; es war die Magd, die, als sie das Mädchen am Fenster bemerkte, einen auffallend scheuen Blick nach ihr warf und dann nach der Küche am hintern Ende des Gebäudes eilte. Dieser eine Blick fiel wie ein Stich in Mary’s Herz, aber er befremdete [660] sie nicht; er galt ihr nur als Vorspiel dessen, was noch kommen werde; wußte doch Jeder, daß sie bei der That allein gegenwärtig gewesen war, und die Magd war jedenfalls schon von den Vorgängen unterrichtet.

Es währte jetzt nicht lange, so machte sich das Geräusch eines herankommenden Wagens hörbar. Das Mädchen horchte scharf und trotz des gefaßten Entschlusses fühlte sie ihre Brust sich krampfhaft zusammenziehen. Sie hörte das Thor der Einzäunung öffnen – langsam nahte der Wagen und konnte endlich vom Fenster aus erblickt werden – Mary schlug die Hand vor die Augen und mochte nicht mehr hinsehen. Oben neben dem ausgestreckten Körper des Todten saß die Mutter und hatte den Kopf desselben in ihre Arme geschlossen; daneben ging der alte Kreuzer mit schlaff zu Boden gesenktem Haupte, an seiner Hand den schluchzenden George führend und von zwei andern Männern begleitet. Das Gefährt hielt vor der Thür, die Frau aber schien von nichts Notiz zu nehmen und blieb in der eingenommenen Stellung. „Mutter!“ sagte der Alte, so weich, als Mary noch kein Wort aus seinem Munde gehört, „Mutter, wir sind zu Hause, wir wollen ihn hereintragen!“

Die Frau fuhr auf und blickte um sich. „Ja, tragt ihn nur hinein, aber laßt mich erst sein Bett herrichten, ich habe ihn ja schon oft so in meinem Arme heimgebracht!“ erwiderte sie wie geistesabwesend, legte den umschlungenen Kopf behutsam auf das Stroh zurück und machte Anstalt aus dem Wagen zu steigen. Als aber einer der mitgekommenen Männer zu ihrer Unterstützung herzutrat, brach sie in seinen Armen zusammen.

Der zweite Begleiter der Familie hatte die Hausthür geöffnet und traf hier das Mädchen, welches beim Zusammensinken der Frau dieser zu Hülfe eilen wollte. Mit einem leichten Griffe faßte er ihren Arm. „Halten Sie sich bei Seite, Miß, bis der erste Schmerz vorüber ist,“ sagte er halblaut, „so ein halbgebrochenes Mutterherz redet oft mehr, als es später verantworten kann!“

Mary verstand instinctmäßig die Bedeutung der Worte, zugleich aber wallte ihr ganzes Gefühl dagegen auf, wie eine Schuldbewußte bei Seite treten zu sollen – lieber wollte sie einen ganzen Sturm von Ungerechtigkeit über sich ergehen sehen, „Lassen Sie mich, Sir; habe ich denn etwas verbrochen?“ erwiderte sie, während die Thränen ihr wieder in die Augen drangen, und zugleich trat sie hinaus, auf den alten Farmer zu, der sich soeben von seiner Frau wandte, welche in den Armen des Hülfeleistenden sich wieder aufgerichtet hatte.

„Vater!“ sagte sie weinend seine Hand fassend, „bin ich denn durch das Unglück Euer unwerth geworden, daß die Menschen mich von Euch weg halten wollen?“

Kreuzer drehte langsam das bleiche, tieftraurige Gesicht nach ihr und warf dann einen Blick nach seiner Frau, die von ihrem Begleiter unterstützt dem Hause zuging. „Geh’ nach Deiner Stube, Mary, daß sie Dich nicht sieht,“ erwiderte er wie unter schwerem Seelendrucke, „Deine Zeit zu reden wird kommen. Ertrage jetzt in Geduld, wo wir Schwereres zu tragen haben! – Geh’ zur Mutter!“ wandte er sich an George und schloß sich dann den Männern an, welche Anstalt machten, die Leiche vom Wagen zu heben.

Ein herbes Gefühl von Bitterkeit machte Mary’s Thränen versiechen. Sie hätte ohne Schmerz die schlimmste Aeußerung der Frau ertragen – gegen die kalte Abweisung dss Alten aber war sie nicht gewappnet gewesen. – Sie fühlte, sie war durch dies eine Wort Kreuzer’s außerhalb der Familie gestellt. Aber fast fand sie eine Art Beruhigung in diesem Gedanken – war ihr denn, so sehr sie auch alle Kindespflichten erfüllt, wirklich schon einmal ungetrübt das Gefühl gegönnt worden, Familienglied zu sein? War denn nicht die Zeit, welche sie hier zugebracht, ein stiller fortdauernder Kampf gegen Widerwillen und Unfreundlichkeit gewesen? Sie sollte ihr aus dem Wege gehen! sie wollte es thun; dann aber fielen von selbst auch alle Rücksichten, welche sie dem Hasse der Frau gegen die Osborne’s wohl zu bringen gehabt hätte.

Sie hatte sich langsam weggedreht und war nach der Hinterthür gegangen. In der Küche stand die Magd und lugte durch die Thürspalte nach den Vorgängen im Vorderzimmer, ohne die Eintretende zu bemerken. Mary nahm Leuchter und Kerze und schritt nach ihrem Zimmer im obern Stock hinauf. Dort setzte sie sich auf ihr Bett und versuchte, das Ganze ihrer Lage sich vor die Augen zu stellen; aber immer trat wieder das Gesicht des Todten, wie es in den Armen der geistesabwesenden Frau geruht, vor ihr Auge; und dann mußte sie wieder an James denken, wo er wohl hingekommen und ob er nicht vielleicht schon als Mörder festgenommen worden sei; und dann stand die Scene im Walde wieder vor ihr, und die Nachschauer des Entsetzens, welches sie gefühlt, rieselten über ihre Haut.

Es war dunkel im Zimmer geworden, und ein ihr bis jetzt noch ganz unbekanntes Gefühl von Grauen überkam sie; sie zündete das Licht an, legte den Kopf auf das Kissen zurück und schloß die Augen.

Sie wußte selbst nicht, wie lange sie so gelegen, als etwas wie ein innerer Schrecken sie wieder auffahren ließ. Sie sah nach dem Lichte, das schon zur Hälfte abgebrannt war und in langer Schnuppe kohlte, dann horchte sie – es war ihr, als müsse ein äußeres Geräusch in ihre wirren Träume gedrungen sein. Durch den dünnen Boden klang das Jammern und Wimmern der unglücklichen Mutter zu ihr heraus und schuf in dem Mädchen eine wehe Stimmung wie Verlassenheit und Heimathlosigkeit; noch niemals, wie jetzt, hatte sie so gefühlt, wie fremd sie bisher in der Familie gestanden, und nur zu deutlich trat die Erkenntniß vor sie, daß ihres Bleibens in dem Hause kaum noch lange sein könne. Sie wollte sich eben wieder zurücklegen, als ein behutsames Pochen an dem Fenster laut wurde, und es war ihr plötzlich klar, daß es dasselbe Geräusch gewesen, welches sie erweckt. Mehr gespannt, als erschrocken, sprang sie von ihrem Bette; sie wußte, daß das Küchendach, welches an ihr Fenster stieß, leicht zu erklimmen war, kaum aber frug sie sich, wer Nachts hier den Weg zu ihr suchen möge; das Außerordentlichste wäre ihr heute kaum unerwartet gekommen. Sie setzte das Licht auf die Seite und schob leise das Fenster auf.

„Miß Mary, erschrecken Sie nicht, ich muß zwei Worte mit Ihnen reden!“ flüsterte eine Stimme, und zugleich hob sich ein helles Gesicht vom Dache, auf welchem eine Gestalt im Schatten des breiten Schornsteins ausgestreckt lag.

Das Mädchen ward noch bleicher, als sie war, aber keine Miene zuckte, als sei ihr nur die Verwirklichung einer Ahnung entgegengetreten. „Halten Sie sich ruhig, Mr. Osborne, ich will das Licht löschen!“ antwortete sie kaum hörbar, und im nächsten Augenblicke lag Dach und Fenster im tiefen Dunkel.

„Die Deutschen machen von allen Seiten Jagd auf mich, und auch meines Vaters Haus bietet mir keine Sicherheit,“ hörte sie die flüsternde Stimme wieder, „ich mag ihnen nicht in die Hände fallen, aber ich überliefere mich noch heute dem Gerichte, wenn ich weiß, Mary, daß Sie Zeugniß für mich ablegen wollen. Es bedarf nichts, als der einfachen Wahrheit, um den Mord von mir zu nehmen, Sie wissen es ja, Mary; aber ich bin ein halbverlorener Mensch, wenn ich nicht die ganz bestimmte, unverdächtige Aussage eines Zeugen neben mir habe – und Niemand hat doch das Unglück mit angesehen, als Sie!“

In diesem Augenblicke ließ sich ein kurzes, dumpfes Knurren in nächster Nähe hören. „Um Gotteswillen, der Hund!“ stieß Mary mit unterdrückter Stimme hervor, und horchte mit angehaltenem Athem.

Das Geräusch von Schritten im Grase drang herauf, zugleich auch wurden die Sprünge des Hundes und ein kurzes freudiges Bellen laut. Das Geräusch wandte sich indessen der vordern Thür des Hauses zu, und bald ließ sich von dort das Winseln und Kratzen des ausgeschlossenen Thieres vernehmen.

„Jetzt fort, so lange der Weg frei ist!“ flüsterte das Mädchen dringend, „ich werde Alles sagen, wie es mir mein Gewissen gebietet – verlassen Sie sich darauf.“

„Und es soll Ihnen gelohnt werden, so mir Gott will!“ klang es zu ihrem Ohre; dann vernahm sie ein leichtes Rutschen, einen kaum hörbaren Fall, und Alles war wieder still.

Einige Secunden noch starrte das Mädchen in die Dunkelheit, dann legte sie sich, angekleidet wie sie war, zurück auf das Bett. Eine sichere Festigkeit und Ruhe war plötzlich in ihr Inneres eingezogen, sie wußte jetzt, wie sie stand, sie wußte, daß sie Partei zu nehmen hatte in dem neubelebten Hasse der Kreuzer’s gegen die Osborne’s, und daß sie nicht da stehen durfte, wo ihre jetzige Heimath sie hinwies. Sie grübelte nicht über die Folgen, sie fühlte nur die Befriedigung, mit sich selbst klar zu sein, und wußte, daß sie sich selbst nicht untreu werden konnte.

[661] Unter ihr waren die Klagen der Frau verstummt, dafür tönte es aber dumpf wie sprechende Männerstimmen, und sie hörte Kreuzer’s Tritt die Stube durchmessen. Bald klappte die Frontthür wieder, und eine neue Stimme wurde laut, von den gesprochenen Worten aber war nichts unterscheidbar, und bald hatte sich über Mary ein tiefer Schlaf gesenkt, jede Erinnerung an die Schrecken des Tages verwischend.

(Fortsetzung folgt.)


Der Schneesturm im Gebirge.[1]

Das Ausgraben der Verschütteten.

     – – Tollheit ist
Der Muth des Menschen,
wenn ein Gott ihm zürnt.
     Stollberg

Zu den ungestümsten und schreckenserregendsten Naturerscheinungen des Hochgebirges gehören die Schneestürme. Von ihrer Heftigkeit, Gewalt und quantitativen Dichtheit der Schneemenge, welche durch die Lüfte getragen die Möglichkeit zuläßt, daß binnen wenig Minuten kurz vorher noch sichtbare Wege gänzlich vergraben und fußhoch überdeckt werden, kann nur derjenige sich einen lebhaften Begriff machen, der die wilden Kraftäußerungen der Elemente im Gebirge schon in anderer Weise kennen lernte. Der Schneesturm in den Alpen ist gleichsam der entgegengesetzte Pol einer anderen, ebenso furchtbaren atmosphärischen Erscheinung, nämlich des Samum der Wüste. Wie dort der rasend einherbrausende Flügelschlag des Wüstenwindes unberechenbare Milliarden glühendheißer Sandkörnchen emporhebt und in jagender Flucht durch die Lüfte trägt, tiefe Mulden hier aufwühlt, um neue, vorher nicht dagewesene, haushohe Hügel dort abzuladen, – so erfüllt der Schneesturm die Luft auf große Entfernungen hin mit dichten, ringsumher Alles verfinsternden Wolken kleiner feiner Schneekrystalle, die Alles durchdringen, an Alles sich einbohren und mit der Atmosphäre eine völlig verschmolzene Masse zu sein scheinen. Die Verwandschaft der mechanischen Thätigkeit dieser beiden schrecklichen Lufterscheinungen ist frappant und bietet selbst bis in die kleinsten Einzelheiten Parallelen dar, freilich eben immer unter den Bedingungen der äußersten Temperatur-Gegensätze.

Der Schnee des Hochgebirges ist, sowohl nach Gestalt und Umfang, als nach Dichtheit und specifischer Schwere seiner einzelnen Körpertheilchen, in der Regel wesentlich verschieden vom Schnee der Tiefebene und des Hügellandes. Wenn er auch unter gleichen Bedingungen entstehen mag, so ist doch höchst wahrscheinlich sein Bildungsproceß ein viel einfacherer; ja, es fragt sich, ob er nicht unmittelbar aus jenen Elementarkörperchen besteht, aus deren nach organischer Anordnung erfolgender Conglomeration sich die Schneeflocke, wie man sie drunten im Lande allgemein kennt, erst construiert. Denn in die Geheimnisse der Schneekrystallisation sind die Naturwissenschaften bis jetzt erst wenig eingedrungen; nur Vermuthungen und Wahrscheinlichkeitsgründe konnten sie darüber aufstellen, in welcher Region und unter welchen meteorologischen Einflüssen die erste Schneebildung beginnt, – und es ist noch eine schwebende Frage, ob der stets nach dem Gesetz der drei- oder sechskantigen oder sechsstrahligen Form sich darstellende, symmetrisch-schöne Schneestern durch das Anschließen kleiner, unendlich feiner, aber schon vorhandener Eisnädelchen entstehe, – oder ob er durch Anhängen (Adhäsion) der dunstförmig im Aether schwebenden Wasserbläschen und deren Gefrieren seine allmähliche Bildung vom Centrum aus herbeiführe. – Die beiden Schneearten, nämlich der Hochschnee und der Flockenschnee, verhalten sich etwa zu einander wie der chemische Gehalt und das specifische Gewicht der schweren, mit vielen Stoffatomen gesättigten Luft tiefliegender Regionen, gegenüber jener feinen, dünnen, leichten, reinen Bergluft, die, je höher man in den Dunstkreis empordringt, um so mehr sich verflüchtigt.

Die große, breite, fette Flocke des Tieflandes ist eine Vereinigung vieler mehr oder minder vollständig ausgebildeter, flächenhaft-krystallisirter Eissterne, die deshalb, weil die Schwere der darin enthaltenen gefrorenen Wassertheilchen nach ihrem räumlichen Umfange in keinem Verhältniß zu der zu durchschneidenden Luft steht, langsam wie ein von den Windwellen getragenes Fallschirmchen aus der Höhe niederschwebt und nur dann eine beschleunigtere Geschwindigkeit annimmt, wenn sie in Temperaturschichten

[662] herabsinkt, welche vermöge größerer Wärmemenge die im Frost gebundenen Wasseratome theilweise lösen und die ganze Flocke durchfeuchten.

Ganz anders verhält sich’s mit dem Hochschnee. Der erste Blick schon zeigt ein ganz anderes Gebilde. Er ist viel feiner, mehliger oder eigentlich sandähnlich, trockener und darum selbstständig beweglicher. Theils zeigt er unterm Mikroskop blos prismenförmige Nädelchen, oder unendlich kleine, aber compacte keilförmige, sechskantige Pyramiden, theils aber stellt er sich auch in einer mehr der sphärischen Gestalt annähernden Weise dar, und zwar so, daß er einen kugelförmigen centralen Körper zeigt, an dem, ähnlich der mittelalterlichen Waffe des Morgensternes, kleine Spitzen nach allen Radien hin ausstrahlen. Daß solch ein seinem Umfange nach kleinerer, wahrscheinlich auch dichterer und darum schwererer Körper in ganz anderem Geschwindigkeitsmaße die Luft durchschneiden kann und darum bewegungsfähiger ist, wenn der Wind ihn treibt, als die netzförmig breite, viel mehr Raum einnehmende Schneeflocke, ist begreiflich.

Vermöge seiner Feinheit profilirt der Hochlandsschnee aber auch die Gegenstände, auf die er fällt, viel feiner, zeichnet deren Contouren viel detaillirter und schließt den kleinsten Formgebilden sich ungemein schmiegsam, – gleichsam nur bestäubend an, wo die volle, flaumige Schneeflocke des Tieflandes in großen behäbigen Linien, oft ziemlich schwerfällig, die beschneiten Gegenstände zudeckt. Diese subtilen Candirungen kann man indessen nur im Herbste, namentlich an Kräutern, verdorrten Samen-Dolden und an den kleinen zierlichen Kryptogamen der Alpenpflanzen wahrnehmen, wenn die Atmosphäre ihre Anfangsversuche im Bestäuben mit gleichsam gefrorenem Nebel macht. Dieses leichte Beschneien ist nicht zu verwechseln mit der auch im Hügel- und Flachlande vorkommenden verwandten Erscheinung des sogen. „Duft“ oder „Pick“, welcher Pflanzen, Steine und andere Dinge krystallisirend überkleidet, wenn dichter Nebel bei tiefer, unterm Gefrierpunkte stehender Temperatur über einer Landschaft lagert.

Es soll nun keineswegs behauptet werden, daß unter allen Umständen die Bildung von Flockenschnee in den Hochalpen unmöglich sei. Vielmehr versichert der bekannte schweizerische Bergsteiger, Herr Weilenmann, daß er während seiner Besteigung des Grand Combin am 10. August 1858 bei einer Höhe von circa 12,000 Fuß über dem Meere und bei einer Temperatur von 6 Grad Wärme in ein dichtes Schneegestöber des dicksten, schwersten Flockenschnees gekommen sei.

Bei der ungemeinen Feinheit der einzelnen Körperchen des Hochschnees ist es aber auch vornehmlich deren große Trockenheit, welche sie auszeichnet. Diese ist Folge der in den oberen Regionen während des ganzen Jahres fast ununterbrochen herrschenden niederen Temperatur. Im normalen Zustande ist der Hochschnee so spröde, so abgeschlossen eigenkörperig, daß er ohne kräftige Wärmeeinwirkung sich eben so wenig zusammenballen läßt, wie eine Handvoll trockenen feinen Sandes.

Mit diesem Material treibt nun der Wind auf den Höhen und in den Einsattelungen des Gebirges, welche 5000 Fuß übersteigen, sein mehr als übermüthiges Spiel, packt plötzlich einige Hunderttausend Kubikklaftern dieses feinen Eisstaubes, wirbelt ihn spielend hoch, hoch in die Lüfte empor, und überläßt es der dort herrschenden Windrichtung, ihn wieder in Form des dichtesten Schneefalles oder zerstreut als glitzernden Eisnadel-Regen abzuschütteln, wo es ihm beliebt. „Der Montblanc raucht seine Pfeife,“ sagen die Thalleute von Chamonny, wenn’s von der Schneekuppel dieses höchsten europäischen Berges bei hellem, tiefblauem Himmel wie Dämpfe aufsteigt und leise verweht wird. Oder der Wind, in seinem radicalen Fegen über die alten Firnwüsten, hebt irgend eine ihm nicht am rechten Platze liegende Ladung solch trockenen Hochschnees auf und schleudert ihn unversehens in tiefere Bergbecken oder Uebergangspunkte, während wenig Minuten Schneebatterien und Querdämme aufbauend oder mühsam ausgeschaufelte Hohlwege nivellirend, wozu eine Arbeiter-Compagnie tagelange Zeit bedurft haben würde. Darum läßt sich auch zwischen diesen bösartigen Neckereien des Windes und dem Fall der eigentlichen „Staublawinen“ oft keine bestimmte Grenze ziehen, weil die Wirkungen des Einen fast jenen der Anderen gleichkommen.

Aber alle diese tollen Luftmanöver sind nichts weniger als eigentliche Schneestürme; der Charakter dieser fürchterlich tobenden Erscheinung ist weit wilder, zorniger, feindseliger. Wehe dem armen Wanderer oder Roßtreiber, der in eine heftige „Tormenta“ – wie der Tessiner den Schneesturm bezeichnend nennt – geräth, – und doppelt Wehe über ihn, wenn er nicht ein von den Unbilden des Wetters längst abgehärteter Mann, – wenn er ein Fremdling aus milderen Klimaten ist, der dem jähen Anprall und der nachhaltig-einbohrenden Wuth der Elemente nicht Entschlossenheit, stählernen Muth, stramme Kraft, zähe Ausdauer entgegen zu setzen vermag! Er ist, wenn nicht Wunder ihn retten, ein Kind des Todes. Schon Tausende fielen dem Ungethüm als Opfer, wenn sie mit den Vorboten eines Schneesturmes unbekannt waren oder, wohlgemeinten Warnungen nicht folgend, ihren Weg fortsetzten. Denn erfahrungsmäßig toben die „Guxeten“ am bösartigsten in jenen Alpeneinschnitten, durch welche Bergstraßen und Pässe hindurchführen, und zwar sonderbarer Weise beim Nordwinde an der südlichen Abdachung und beim Südwinde an der nördlichen am heftigsten. Berüchtiget sind in dieser Beziehung ganz besonders der Große St. Bernhard im Wallis, der Gotthard im Kanton Uri, der Bernhardin und der Panixer Paß in Graubünden. Auf letzterem ward ein großer Theil des russischen Heeres unter Suwarow, bei der Retirade im October 1799 eine Beute der Schneestürme. Nach mündlichen Versicherungen der Bernhardiner Mönche ist in den letzten zehn Jahren nicht ein einziger Mensch am Großen St. Bernhard durch einen Schneesturm mehr um’s Leben gekommen.

Der Aelpler kennt die Zeichen genau, welche den bösen Gast anmelden. Die sonst matte, indifferent gräulich-weiße Färbung des Horizontes, von der die Schneehülle der Berge kaum merklich im Farbentone sich ablöst, wird bestimmter, dicker, gesättigter, man sieht ihr gleichsam den größeren Stoffgehalt an; entfernte Gebirgszüge, deren nackte Felsenknochen deutlich erkennbar heraustraten, werden erst leicht, dann aber immer trüber und dichter verschleiert, bis sie zuletzt ganz verschwinden. Die Luft ist ruhig, sehr kalt, ohne jene kräftige säuerliche Winterfrische zu athmen, welche an heiteren Januarmorgen im Flachlande die vom langen Stubensitzen verdumpften Sinne völlig neu belebt; – trockene, frostige, harte Luft füllt die Atmosphäre. Dazu lagert ringsumher unbeschreiblich lautlose Stille über der erstorbenen Einöde. Das sprungfertige Volk der Gemsen, welches im Sommer tiefe Höhen belebt, wohnt jetzt in tiefer liegenden Forsten, – das pfeifende Murmelthier liegt im Winterschlafe erstarrt in seiner Höhle, und selbst die im Winter kreischend die zerspaltenen, schwer ersteigbaren Granitzinnen umkreisende Bergdohle hat sich in ihr Kluftennest geflüchtet; kein dürres Laub raschelt an den Aesten, denn in diesen Höhen hat der Baumwuchs aufgehört, und die melancholische Legföhre und das Alpenrosen-Gebüsch schlummern tief unterm Schnee – kein Windhauch rieselt Schneekörner über die jähen Fluhsätze – allenthalben herrscht jene bange Stille, welche an schwülen Sommertagen dem Ausbruche eines heftigen Gewitters voranzugehen pflegt. Die einzigen Laute, welche der Wanderer vernimmt, sind sein eigenes tiefes Athmen, das Schnauben der Rosse (wenn er mit dem Schlitten das Gebirge passirt) und das knitternde Aechzen des getretenen Schnees.

Nähert sich nun die Katastrophe, dann hüllen massige graue Wolken auch die näherliegenden Bergspitzen ein und lasten so dick und schwer auf ihnen, als wollten sie für eine Ewigkeit hier Posto fassen. Noch immer ist’s Zeit, die schützende Cantoniera (Refuge, Zufluchtshaus) oder das gastliche Hospitium zu erreichen, wenn es nicht allzufern ist, – aber auch immer dämmeriger wird’s, – der Abend scheint den Mittag übersprungen zu haben. Plötzlich erschreckt den besorglich eilenden, schon halb ermüdeten Reisenden ein heftiger, scharfer Windstoß, der ihm eine Handvoll emporgerafften Schnee entgegenwirft; dann ist’s wieder ruhig, – still rundum, wie vorher. Diese intermittirenden Vorläufer wiederholen ihre Mahnung noch einigemal, gewöhnlich nach immer kürzer aufeinander folgenden Pausen. Es sind die äußersten und letzten Erinnerungszeichen zur Flucht. Denn nun beginnt ein seltsames unheimliches Tönen in den Felsenkammern und Steinschluchten, erst leise und seufzend, dem wimmernde Antwort von der entgegengesetzten Seite folgt, dann vernehmlicher, näher, stärker, aber rasch weit und weiter verklingend in anderen Gebirgsrevieren; es ist, als ob ferne verwehte Stimmen um Hülfe riefen. Diese durch die Luft streichenden Klagen tönen jetzt aus einer dritten und vierten Ecke hervor, aber so getragen, so einförmig und hohl, so ganz anders als im Lande drunten, wenn um die Zeit des Aequinoctiums der Wind durch Kamin und Thürspalten seine jammernden Melodieen heult. – Das [663] Roß vorm Schlitten haut fester mit den Hufen in den unsicheren, lockeren Pfad, und schnaubt öfter und unwillig, – sein Instinct verräth ihm die nahende Gefahr; unaufgefordert strengt es seine Kräfte in erhöhtem Maße an, rascher fort zu kommen – und keuchend folgt ihm sein Treiber. Dem winselnden Unisono gesellt sich jetzt ein tiefer Grundton zu; die dazwischen liegenden Stimmen mehren sich, die Disharmonieen werden voller, und mit ihnen schwillt das Getöse immer wilder, immer mächtiger, immer lauter an und durchheult die Lüfte. Noch wenig Augenblicke, und nun entladen auch die Schneewolken ihren Inhalt und senden einen Hagel feiner, nadelspitzer Eispfeile mit solch unbändiger Gewalt hernieder, daß alle entblößten Theile des Körpers auf das Schmerzhafteste von ihnen getroffen werden. Der fast erschöpfte Wanderer kehrt der Seite, von welcher die Massen am tollsten herabwüthen, den Rücken zu; – aber was hilft’s? Die jagenden Fluthen der Eisnadeln schlagen gleich den brandenden Meereswellen um ihn zusammen, und so wie diese, zu Schaum zerspritzt, dem Orkane sich wieder entgegenwerfen, so ändern auch die seine Schultern bestreichenden Schneestaubwolken ihre Fluchtbahn und greifen in kreiselndem Wirbel den Betäubten von vorn an. Er kann Nichts sehen, und deckt wechselweise mit Arm und Hand und Tuch die Augen, die Wangen, das ganze Angesicht, welches von der schneidenden Kälte und den brennenden Stichen aufzuschwellen beginnt, – er kann nicht athmen, denn die zu Eis verkörperte Luft fährt wie ätzendes Gift durch die Respirationsorgane in die Lunge und bohrt sich bei jedem Athemzuge wie mit tausend Spitzen fest. Er ist hereingebrochen, der furchtbare Schneesturm des Gebirges mit all seinem Entsetzen, seiner gräßlichen Wildheit, und umwüthet Alles, was in seinem Bereiche liegt. Das ist ein Hetzen und Peitschen durch die Lüfte, das tobt und stöhnt und pfeift und braust um die starren Felsenhörner, als ob die Atmosphäre wahnwitzig geworden wäre, und die Zntroduction zum letzten Gericht beginnen sollte. Und in Mitte dieses Aufruhrs steht der Mensch, der Herr des Erdballes, der mit Eisen und Dampf die Materie sich dienstbar gemacht und die Elemente seinem Willen unterjocht zu haben wähnt, – er steht da, ein armes, ohnmächtiges, verlassenes Geschöpf in grausenhafter Schneewüste, eine sichere Beute des Todes, wenn die Sinne ihm schwinden, wenn die letzte Kraft ihn verläßt.

Denn tritt auch eine kurze Pause in dem entsetzlichen Aufruhr ein, kann der Ueberfallene für wenige Secunden die Augen öffnen, so sieht er keine Spur des zu verfolgenden Weges mehr. So tief wie er, oft bis an die Kniee, im frischgefallenen und ab den Bergen zusammengewehten Schnee steht, eben so tief und stellenweise noch tiefer liegt derselbe überall. Darum hat die Vorsicht der Thalbewolmer diesseits und jenseits vielbegangener Pässe schon seit aller Zeit die Einrichtung getroffen, 20 bis 30 Fuß hohe Schneestangen vor Wintersanfang längs des ganzen Paßweges in’s feste Gestein zu setzen, die bei verwehetem Pfade als Allignement dienen. In ergiebigen Wintern ist’s indessen schon vorgekommen, daß an manchen Stellen auch diese Stangen unter dem von allen Seiten zusammengewehten Schnee verschwanden. Denn in der oberen Alpenregion, d. h. in der absoluten Höhe zwischen 5500 und 7000 Fuß über dem Meeresspiegel, nur in der subnivalen oder unteren Schneeregion zwischen 7000 und 8500 Fuß fällt der Schnee in ganz anderer Menge als in der Ebene, wo nicht nur das Quantum des auf einmal gefallenen Schnees weit unbedeutender als im Gebirge ist, sondern wo auch steter Temperaturwechsel mehrmals in einem Winter die ganze Schneedecke wieder hinwegrollt.

Müdewerden, Schläfrigkeit, Hinsinken vor Ermattung, allmähliches Schwinden der Besinnung und endliches Erstarren vor Kälte sind die Progressiv-Stadien des herbeischleichenden Todes. Jedes Jahr fordert seine Opfer. Die Erinnerung an traurige Ereignisse dieser Art lebt traditionell im Munde des Volkes, das am Fuße solcher Bergübergänge wohnt, lebhaft und in Menge fort. Von den vielen Beispielen mögen nur zwei hier einen Platz finden.

Zm Jahre 1817 hatten fünf Hannoveraner einen Pferdetransport in die Lombardei gebracht und befanden sich auf dem Heimwege. Alle waren kräftige, gesunde Männer, die daheim schon manche Unbilden des Wetters erfahren und mit leichter Mühe überwunden hatten. Im Dorfe Bernardino, 11/4 Stunde südlich unter dem gleichnamigen Bergübergange im Canton Graubünden (auf der Linie von Chur nach Bellinzona), wo sie einkehrten, warnte man sie dringend, ihren Weg fortzusetzen, weil ein Schneesturm im Anzuge und deshalb die Passage lebensgefährlich sei. Allein angefeuert durch starken Veltliner Wein und im Bewußtsein des Vollbesitzes ihrer ungeschwächten physischen Kräfte, gaben sie allen Vorstellungen kein Gehör und rüsteten zur verhängnißvollen Reise. Damals bestand die gegenwärtige Kunststraße noch nicht, und das jetzt oberhalb der Victor-Emanuels-Brücke am kleinen Moësola-See stehende sturmestrotzige, feste steinerne Berghaus auf der Uebergangshöhe existirte eben so wenig. Es war somit vom Dorfe Bernardino bis nach Hinterrhein im Rheinwaldthal ein ununterbrochener Marsch von 31/2 Stunden Entfernung, zu welchem aber bei dem durch die gefallene Schneemenge erschwerten Fortkommen mindestens fünf Stunden Zeit nöthig wurden. Die Unbesonnenheit der Fremden konnte ein anwesender Landmann aus dem Dorfe Hinterrhein nicht mit ansehen, und er, der sich selbst nicht getraut hatte, den Heimweg anzutreten, schloß sich nun, als alle Gegenreden fruchtlos blieben, den Tollkühnen an, um ihnen mindestens als Führer zu dienen. Das Unwetter brach in seiner ganzen Furchtbarkeit los, als die Wanderer ungefähr die Höhe des Passes erreicht hatten. Anfangs unter leichtsinnigen Scherzen, dann mit ernstlichem Aufwand aller Kräfte, endlich mit Verzweiflung, kämpften sie wie Männer gegen den übermächtigen Feind an, – allein vergebens. So sehr der wackere Rheinwäldler Alles aufbot, um die Unglücklichen zu retten, so sank dennoch Einer nach dem Anderen, zum Sterben ermattet und bei vollem Bewußtsein resignirend, dem Tode in die Arme. Lange bestrebte sich der opferfähige Gebirgsbauer, mindestens den Letzten zu retten; aber auch hier erkannte er nur zu bald, daß er selbst unterliegen müsse, wenn er seinen Vorsatz nicht aufgebe und den geringen Rest der ihm übrig gebliebenen Kräfte auf seine eigene Rettung verwende. Er erreichte zwar lebend seinen Geburtsort, – aber mit gänzlich erfrorenen Händen und Füßen; Finger und Fußzehen mußten amputirt werden. Er ward zum Dank für seine Menschenfreundlichkeit ein Krüppel.

Ein anderer tragischer Fall ereignete sich auf der Gotthardsstraße in der Nacht vom 9. zum 10. April 1848. Die italienische Post, welche am Nachmittage den Berg in der Richtung von Andermatt nach Airolo überschreiten sollte, hatte, durch enorme Schneemassen aufgehalten, sich bedeutend verspätet. Mit Pferden und Schlitten die Straße zu passiren war unmöglich, und Conducteur Simen entschloß sich deshalb, die Postfelleisen mit den Briefschaften und Paqueten durch Träger über den Gotthard zu befördern. Unter diesen Trägern befand sich auch Joh. Jos. Regli, Steinhauer von Profession. Als die Karawane Urseren verließ, stürmte es zwar wild und warf Schneemassen in dichter Menge nieder; indessen die muthigen Berggänger glaubten dennoch dem Wetter trotzen zu dürfen und drangen tapfer vorwärts. Als sie jedoch etwas über das zweite Drittel des Weges zurückgelegt hatten, brach ein Schneesturm über die Lucendro-Alp mit solch vehementer Gewalt herein und verwehte die Straße dermaßen, daß Alle die Richtung verloren. Rundum war es vollendet finstere Nacht. Der Sturm peitschte wie mit Skorpionen-Geißeln die seiner Vernichtungs-Wuth preisgegebenen pflichtgetreuen Männer. Noch immer hielten sie Stand und suchten trotz alles Ungemaches ihr Ziel zu erreichen. Endlich, als sie ziemlich auf der Höhe des Passes in der Gegend von San Carlo beim sogen. „Wasserloch“ (Valeggia) angelangt waren, vermochte Regli nicht weiter zu kommen. Die Cameraden, obgleich selbst schwer bepackt, versuchten es dennoch, ihren Schicksalsgenossen durch den mehr als drei Fuß hohen weichen Schnee mit fortzuschleppen; aber auch sie verließ allmählich die Kraft und sie erkannten das Gräßliche ihrer Lage, den sicher drohenden Tod, wenn sie nicht den ermatteten Freund aufgeben und zurücklassen würden. Man packte ihn deshalb dicht in Mäntel und wollene Decken, brachte ihn unter eine schützende Felsenwand und ließ sämmtliche Felleisen und Transportgegenstäude bei ihm zurück, um möglichst rasch das Hospiz zu erreichen und Hülfe von dort zu requiriren. Es war nur noch zehn Minuten entfernt, und doch brauchten die Männer fast eine und eine halbe Stunde, bis sie das rettende Asyl erreichten. Sofort brach der Director dieses Samariterhauses, Herr Lombardi, mit Hülfsmannschaft, Geräthen und Laternen auf, den Unglücklichen zu retten. Er kam zu spät. Regli, ganz überschneit, daß man ihn kaum finden konnte, war erfroren.



[664]
Kriegs-Erinnerungen.
Aus dem Tagebuche eines deutschen Officiers der Fremden-Legion in Algier.
II. Ein Löwen-Abenteuer.

Im Frühjahr 1857 befand ich mich mit einer meiner interimistischen Führung untergebenen Compagnie des zweiten Regiments der Fremden-Legion in einem Districte Algeriens, welcher noch am auffälligsten das frühere Gesammtaussehen dieses Landes beibehalten hat; eine um so mehr Wunder nehmende Erscheinung, als er von einer Hauptstraße – der von Oran nach Tlemcen führenden Chaussee – durchschnitten wird. Außer den Stationspunkten zum Wechseln der Pferde für die täglich mehrfach zwischen beiden Städten coursirenden Diligencen findet man kaum eine menschliche Wohnung auf der ganzen Ausdehnung der mindestens zwanzig Stunden langen Strecke, und doch ist die Gegend gut, das Klima gemäßigt, kein Wassermangel und Ueberfluß an Holz. Wer diesen Punkt Algeriens kennt, wird bald Auskunft geben können über den Mangel an Colonisation gerade da, wo das Land derselben alle Hülfsmittel und üppige Vegetation gewährt. Ein hoher und sehr verzweigter Gebirgszug. an dessen südlichem Abhange die Isser (Ouled Isser), ein reißendes und namentlich nach der Regenzeit höchst gefährliches Bergwasser, sich hinschlängelt, bildet den Mittelpunkt zwischen den zwei großen und – jede in anderer Weise – interessanten Städten Oran und Tlemcen. Die tiefen Schluchten, Felsenhöhlen und Thäler dieses Gebirges bergen, mit Ausnahme des Panthers, alle in Algerien heimischen Raubthiere, und namentlich deren König, den Löwen, in unglaublicher Menge. Trotz der häufigen, von Arabern wie von Franzosen angestellten Jagden, trotz aller Arten von Verfolgung, der die wilden Bestien fortwährend ausgesetzt sind, ist ihr Abnehmen kaum merklich, und der Schaden, den sie stiften, ist ungeheuer und schreckt vor jedem Colonisationsversuch zurück. Nur hin und wieder sieht man einen Stamm nomadisirender Araber (Beduinen), welche an einem guten Weideplatz ihr Zeltlager aufgeschlagen haben und die Nacht hindurch in dessen Nähe auf der Lauer liegen, um ihre zahlreichen Heerden vor Löwen und Hyänen zu sichern; auf verschiedenen Punkten der Straße liegen Truppendetachements vertheilt, deren schneeweiße, hohe Zelte aus weiter Ferne schon gegen den dunkeln Gebirgshintergrund sichtbar sind und deren Bestimmung es entweder ist, an der Chaussee die tausenden Reparaturen auszuführen, oder die für größere und schwierigere Erdarbeiten detachirten Strafgefangenen zu bewachen, wobei sie in beiden Fällen zugleich vorkommenden Falles zu strategischen Zwecken verwendet werden.

Meine Compagnie war in drei Posten getheilt, von denen ich den stärksten, ein Unterlieutenant den zweiten und ein Sergeant den dritten commandirte. Ich selbst lag mit 76 Mann und nahe an 100 Strafgefangenen an den malerischen Ufern der Isser, mein Unterlieutenant mit 25 Mann eine Stunde abwärts in der Richtung auf Tlemcen und der Sergeant mit nur 12 Mann in einer Entfernung von über zwei Stunden gegen Oran zu. Diese drei Detachements, sowie die Sträflinge, waren mit Ausbesserungen der Fahrstraße beschäftigt, welche, namentlich im Gebirge, in Folge der ungewöhnlich lange andauernden Regenzeit, erheblich gelitten hatte. Zugleich bildeten wir eine Art von Vorposten gegen die ganz nahe marokkanische Grenze, von welcher her nicht selten zahlreiche Banden von Raubgesindel Einfälle in die ihnen zunächst liegenden Theile der französischen Besitzungen machten und durch Mord, Brand und Plünderung dazu beitrugen, den ohnehin durch die Massen gefährlicher Raubthiere schon übel berüchtigten Landstrich in noch schlechteren Ruf zu bringen.

Meine Zeit war zwischen Beaufsichtigung meiner Mannschaft und dem Vergnügen der Jagd getheilt. Dieser letzteren gab ich mich um so eifriger hin, als dieselbe eine sehr reiche und ergiebige war, und ich in derselben an dem Kaïd der Beni-Djorfa einen vorzüglichen und unermüdlichen Partner gefunden hatte. Wie unter allen – civilisirten wie uncivilisirten – Nationen das aristokratische Element mehr oder weniger vertreten ist, so ist dies auch, und zwar ganz besonders, bei den Arabern der Fall. Sidi Mohamed-ben-Bechir ist ein arabischer Aristokrat vom reinsten Wasser. Der französischen Herrschaft seit ihrem Entstehen entschieden zugethan, Freund der Civilisation und des Fortschritts, und selbst früher Officier in einem der Spahi-Regimenter, haben sein vielfach bewiesener Muth, wo es galt, die Widersacher Frankreichs zu unterwerfen, wie seine unwandelbare Treue zum gegenwärtigen Gouvernement ihm das Officierkreuz der Ehrenlegion und den höchst wichtigen und einflußreichen Posten eines Kaïd, höchsten Chefs, seines Stammes eingetragen. Zudem ist Mohamed-ben-Bechir ein enorm reicher und ein sehr liebenswürdiger Mann, spricht fast geläufig französisch und ist ein passionirter und erfahrener Jäger, der mit derselben Kaltblütigkeit sich einem Löwen entgegenstellt, wie er die Spur eines angeschossenen Wildschweins verfolgt oder einen Hasen schießt. Sein Stamm, welcher die nach Osten zu von meinem Lager gelegenen fruchtbaren und romantischen Thäler der Isser, in den letzten Ausläufen des sogenannten kleinen Atlas bewohnt, hat seit ungefähr zehn Jahren feste Wohnsitze genommen und das nomadisirende Leben aufgegeben; Ackerbau und Viehzucht bilden seinen Reichthum. Inmitten seines Volkes, in einer reizenden Gegend, hat der Kaïd sich eine wahrhaft fürstliche Wohnung gebaut, welche in anziehendem Wechsel orientalische Pracht mit europäischem Luxus und Comfort vereinigt und inmitten ausgedehnter, von tropischer Vegetation strotzender Gärten gelegen ist. Die Entfernung derselben von meinem Lager mochte kaum zwei Stunden betragen, und so kam es, daß ich häufig von der Einladung des alten Kaïd Gebrauch machte, um bei herrlichem Mocca und türkischem Knaster einige Stunden mit ihm zu verplaudern. Da saßen wir dann auf den schwellenden Polstern, unter der halb mit Strohmatten verhängten Veranda seiner Residenz, während junge Negerknaben und weiße Beduinenmädchen uns die kleinen aromatisch-duftenden Kaffeetassen kredenzten, uns die Pfeifen füllten und anzündeten und von Zeit zu Zeit durch Besprengen der Strohmatten eine angenehme und wohlthuende Kühle unterhielten.

Es war an einem Mittwoch, im Mai 1857, als ich mich, einer ausdrücklichen Einladung meines arabischen Freundes Folge leistend, zu Pferde nach seiner Wohnung auf den Weg machte. Mein Unterlieutenant begleitete mich, und gefolgt waren wir von vier Spahis, welche zu einem kleinen, zum Ordonnanzdienst meinem Commando beigegebenen Detachement gehörten. Gegen 2 Uhr Nachmittags trafen wir beim Kaïd ein, wo wir zahlreiche Versammlung fanden; die Vornehmsten seines Stammes und einige Chefs benachbarter Tribü’s waren auf seine Einladung erschienen. Es handelte sich darum, Ort und Zeit für eine große Löwenjagd festzusetzen und dazu die möglichst größte Anzahl von Theilnehmern zu gewinnen.

In den der Wohnung des Kaïd nahe gelegenen Gebirgsabhängen hatten sich seit Kurzem zwei bis drei Löwenfamilien niedergelassen, jedenfalls herbeigelockt durch die zahlreichen Schaf- und Rindviehheerden der Beni-Djorfa, unter denen die nächtlichen Räuber schon mehrfache Verwüstungen angerichtet hatten. Eine entscheidende Jagd, ein wahrer Vertilgungskrieg, ward beschlossen und verabredet, und es verstand sich von selbst, daß mein Camerad und ich in erster Linie unsere eifrige Theilnahme zusagten. Ich versprach außerdem, eine Aufforderung an alle mir bekannten Officiere der Garnison von Tlemcen zu schicken, da ich im Voraus wußte, daß derartige Einladungen stets mit großer Freude angenommen wurden. Die Jagd war auf den nächstfolgenden Montag angesetzt und ein zwischen der Wohnung des Kaïd und meinem Lager belegener Waldpunkt als Sammelplatz ausersehen. In der Nähe desselben sollte sich nach den Berichten arabischer Kundschafter die Höhle einer Löwenfamilie befinden, bestehend aus dem Löwen, der Löwin und zwei Jungen, welche nicht über einen Monat alt sein konnten.

Nachdem alle nöthigen Verabredungen getroffen und ein Theil der Eingeborenen den Heimweg bereits angetreten hatte, machte ich mit dem Kaïd und meinem Unterlieutenant einen Spaziergang in den Gärten, welche die Wohnung einschließen. Wir waren nach etwa halbstündigem Promeniren auf einem etwas erhöhten Punkte angelangt und weideten unsere Augen an dem herrlichen Panorama, welches der Blick auf die vor uns liegende, in allem Glanze des Frühlings prangende Ebene gewährte, als plötzlich ein markdurchdringender Angstschrei aus nicht zu großer Entfernung unser Ohr berührte. Im selben Augenblick sahen wir etwa zwanzig arabische Frauen und Mädchen in wilder Flucht und mit allen Gebehrden [665] des Entsetzens in der Richtung auf den Punkt, wo wir standen, heraneilen. Sobald sie unser ansichtig geworden, ertönten aus Aller Munde die Worte: „Eine Löwin hat Benika geraubt!“ – Benika war eine von den Töchtern Mohamed-ben-Bechir’s. Ich hatte sie nie gesehen, jedoch viel von ihrer außerordentlichen Schönheit gehört. Benika zählte 16 Jahre und war der Liebling ihres Vaters. Wie sie dies häufig that, hatte sie mit ihren drei Schwestern die zur Quelle allabendlich gehenden Frauen begleitet und war dort – wie die in wilder Hast Fliehenden uns berichtet – von einer riesigen Löwin überfallen worden.

Die Quelle war etwa 500 Schritte von der Gartenmauer entlegen, von der uns nur ein Sprung trennte. Das arme Kind jetzt noch lebend den Klauen des Raubthieres zu entreißen, war allerdings eine chimärische Hoffnung; allein jede Rücksicht, jede Ueberlegung schwanden bei der fürchterlichen Nachricht; es galt todt oder lebendig den Liebling meines Freundes dem Räuber zu entreißen. Mein Camerad und ich hatten die Absicht gehabt, nach Durchstreifung der Gärten an dem dem Wohnhause entgegengesetzten Ausgangspunkte von unserm Wirthe Abschied zu nehmen und den Heimweg anzutreten. An diesem Punkte befanden wir uns; unsere Spahi’s erwarteten uns mit den Pferden, im Nu saßen wir auf, das Gewehr in der Hand, und im rasenden Galopp ging’s der Quelle zu. Schon waren wir Angesichts derselben, als ein Schuß krachte, und im selben Augenblick sahen wir eine ungeheure Löwin auf dem neben der Quelle gelegenen Gebüsch in furchtbaren Sätzen auf uns zuspringen. Dunkles Blut schoß in reichem Strom aus der linken Seite des wüthenden Thieres. Nur ein geringer Zwischenraum lag noch zwischen uns und ihm. Ich parirte mein Pferd, zielte und gab Feuer. Die Kugel drang der Löwin in die Brust, aber im nämlichen Moment fühlte ich die Krallen des Unthiers auf meinem Schenkel. In rasender Wuth hatte es in einem letzten, mächtigen Sprunge mein Pferd erreicht und mit allen vier Tatzen sich an dasselbe angeklammert. Der fürchterliche Schmerz, den ich empfand, ließ mich die Besinnung nicht verlieren, ich hatte meine beiden Arme frei, da ich mein abgefeuertes Gewehr zur Erde geworfen. Mit Blitzesschnelle riß ich den Säbel aus der Scheide und bohrte ihn mit Aufbietung aller Kräfte der Löwin in die Brust. Noch einmal senkte sie ihre Krallen tief in meinen schon schlimm zugerichteten Schenkel und in Brust und Hals meines armen Pferdes und fiel dann, noch von Schüssen meiner Begleiter durchbohrt, neben mir zusammen. Was von diesem Augenblicke an geschah, war für mich nicht mehr da; der fürchterliche Schmerz und der bedeutende Blutverlust hatten mich besinnungslos gemacht. Als ich zu mir selbst kam, lag ich auf weichen Polstern im Hause des Kaïd; mehrere junge Weiber waren um mich beschäftigt, und ein alter Araber mit greisem Barte wusch und verband meine Wunden.

Meine erste Frage war nach des Kaïd’s Tochter. Sie war gerettet. Man hatte sie besinnungslos neben der Quelle gefunden, an Schulter und Hüfte von den Klauen des Raubthiers verwundet, welches – im Begriff mit seiner Beute davon zu eilen – dieselbe fahren lassen mußte, um sich gegen einen plötzlich erscheinenden Angreifer zu vertheidigen. Dieser Angreifer war einer der Brüder Benika’s, welcher, von der Jagd heimkehrend, durch Zufall sich in der Nähe befand und, bei dem wilden, entsetzten Geschrei der Weiber ein Unglück ahnend, der Erste war, der sein Gewehr auf die Bestie abgefeuert. Die Löwin, ihn nicht sogleich entdeckend und uns im gleichen Augenblick auf dem Kampfplatze erscheinen sehend, hatte sich auf mich, als den Vordersten, mit durch die erhaltene Schußwunde noch erhöhter Wuth gestürzt. Abdallah-ben-Bechir war der Erste, der seiner Schwester zu Hülfe eilte, und auf seinen Schultern gelangte das unglückliche Mädchen in’s Vaterhaus.

Drei Wochen hindurch fesselte mich dieser Vorfall an das Haus des braven Mohamed-ben-Bechir. Der durch meinen Unterlieutenant von der Katastrophe in Kenntniß gesetzte General, welcher in Tlemcen commandirte, kam am folgenden Tage in Begleitung zweier Militärärzte und vieler Officiere und Freunde von mir, mich zu besuchen. Die Aerzte erklärten die Wunden Benika’s für leicht, da dieselben nur durch die Bemühungen der Löwin entstanden, den Körper des Mädchens in eine solche Lage zu bringen, daß sie ihn mit den Zähnen leicht erfassen und fortschleppen konnte. Die Wunden, welche mir das auf’s Höchste gereizte Thier beigebracht hatte, waren bei weitem bedenklicher und erheischten, sobald ich den Transport ertragen konnte, meine Uebersiedelung in das Militär-Hospital nach Tlemcen, welches ich erst Ende September als völlig geheilt verlassen konnte.

Nachdem ich zu meinem Detachement zurückgekehrt, welches inzwischen seinen Lagerplatz verlassen und in gleicher, jedoch entgegensetzter Entfernung von der Wohnung des Kaïd Mohamed-ben-Bechir Position genommen hatte, galt natürlich diesem Letzteren mein erster Besuch. Mit aufrichtiger Freude empfing mich der alte Krieger und stellte mir sogleich seine ebenfalls vollständig genesene Benika vor. Dieses in der That bildschöne Kind Arabiens machte einen merklichen Eindruck auf mich. Der Alte merkte es wohl; mit betrübter Miene und kopfschüttelnd sagte er halblaut: „Schade, daß Du nicht rechtgläubig bist!“ – Und schnell führte er seine Tochter in die inneren Zimmer zurück. War mir doch durch den bloßen Anblick des lieblichen Mädchens schon eine unerhörte Gunst geworden.

Der Kaïd hatte während meines Schmerzenslagers die am Tage des oben erzählten Vorfalls beschlossene Jagd zur Ausführung gebracht. Es war gelungen, den Löwen zu erlegen und seine beiden Jungen lebendig zu bekommen. Ich sah die letzteren in einem wohlverwahrten Hofraum frei herumlaufen; man hatte ihnen einen ebenfalls eingefangenen jungen Schakal zum Gesellschafter gegeben, mit dem sie in größter Gemüthlichkeit spielten.

Kurz vor Beginn der Regenzeit verließ ich mit meiner Compagnie diese Gegend, um in unser Stabsquartier, Sidi-bel-Abbes, zurückzukehren. Ich habe seitdem meinen braven Sidi-Mohamed-ben-Bechir nicht mehr gesehen.




Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient.
Von Claire von Glümer.
VIII.

Wenn wir auf das äußere Leben der Künstlerin in den Jahren 1828–1838 zurückblicken, müssen wir es – trotz mancher von ihrem Berufe unzertrennlichen Kampfe und Täuschungen – als ein sehr glückliches, an Ruhm und Glanz fast überreiches bezeichnen. In ganz Deutschland wurde Wilhelmine Schröder-Devrient abgöttisch verehrt; in Paris und London hatte sie sich ihren Platz neben den ersten Berühmtheiten der Zeit, einer Pasta, einer Malibran errungen; ihre idealen Gestalten der Iphigenie, Doña Anna, Leonore, Agathe waren zu ewigen Typen geworden; selbst das Unbedeutende wurde durch ihre poetische Kraft erhoben, belebt, durchgeistigt; über Ungeschmack, Unwahrheit und die Macht des Herkommens hatte sie in ihrer künstlerischen Thätigkeit unzählige Siege errungen; wo sie erschien, flogen der Künstlerin wie der schönen Frau alle Herzen entgegen – und doch war sie einsam und tief unglücklich.

„Wenn ich mit Beifall überschüttet, durchglüht von der Freude an meiner Kunst nach Hause kam, war ich allein! ich hatte keine Seele, die mich verstand, die sich mit mir freute,“ sagte sie oft, und aus allen Tagebuchblättern, die aus jener Zeit erhalten sind, spricht dieselbe Klage. Sie schreibt: „Mir ist bang und unheimlich – hätt’ ich nur ein lebendes Wesen um mich, einen treuen Hund, irgend ein Geschöpf, das mir ergeben wäre! Wie sehne ich mich nach einem innigen Austausch meiner Gedanken – aber so allein! – und das zu schreiben, was in meiner Brust wogt, ich kann es nicht. Hier fehlt das warme Leben des Wortes von Mund zu Munde, und wo das Wort nicht mehr ausreicht, der Blick in ein Auge, das bis in die Tiefe unserer Seele dringt. – Es ist ein hartes Entbehren, so unverstanden durchs Leben zu pilgern.“ …

„… Heute habe ich beim Tagelöhner Lorenz Gevatter gestanden [666] und habe das menschliche Elend in seiner bejammernswürdigsten Gestalt gesehen. Gott, wie ist es möglich, daß Menschen so leben können? Der schrecklichste Mangel an Allem! Wie schwer versündigt man sich, wenn man klagt und sich unzufrieden fühlt – dorthin muß man schauen, um sich glücklich zu preisen. Und doch, wer weiß, ob das arme Weib auf dem Strohlager nicht glücklicher ist, als ich auf meinen seidenen Kissen. Sie hat ihren Mann, der sie pflegt, stützt und hütet; sie hat ihre Kinder – was ist mir geblieben?“ …

… „Warum kann ich mich nicht daran gewöhnen, allein in diesem Leben zu sein, wie es mir doch vom Geschick bestimmt ist? Grausames Geschick! Du hast mir ein Herz voll Innigkeit gegeben, eine Seele, die eben nur das Bedürfniß fühlt, verstanden, geliebt zu werden – und eben das muß ich entbehren. Ich habe Niemand auf der weiten Erde und fühle mein Alleinsein immer mehr und schmerzlicher, fühle, wie mein Herz blutet, wie es in banger Sehnsucht nach dem Unerreichbaren vergeht, und wie meine ganze innere Harmonie dadurch gestört wird. Ich bin zerstreut, gedankenlos, ungeduldig, verdrießlich. Ich möchte fort, hinaus in Wind und Wetter, soweit mich meine Kräfte tragen – sterben am liebsten, denn so vereinzelt in der Welt zu sein, ist ein traurig herbes Loos!“ …

Diesem Unglück zu entgehen, suchte Wilhelmine mit fieberhafter Hast nach einem Wesen, dem sie ihr sehnsüchtiges, leidenschaftliches Herz zu eigen geben könnte. Zuweilen glaubte sie gefunden zu haben, was sie begehrte. Die Sehnsucht löste sich in Entzücken, alles Gute, alles Schöne sah sie in dem geliebten Wesen, weil sie den ganzen Reichthum der eigenen Seele über dasselbe ergoß. Aber lange konnte der Traum nicht währen. Die Täuschung schwand, mit eigenen Händen entriß sie dem Götzenbilde, das sie sich selbst geschaffen hatte, den letzten Rest des erborgten Schimmers und wandte sich beim Anblick seiner Nichtigkeit voll Schmerz und Zorn von ihm ab. Sie war wieder allein mit ihrem sehnsüchtigen Herzen, und das Suchen begann auf’s Neue, um mit neuen Enttäuschungen zu enden. Wilhelmine hat schwer unter diesen Irrthümern gelitten, innerlich sowohl, wie in ihren äußern Verhältnissen.

Aber dann kam die Ungeduld über sie. Sie wollte nicht unglücklich sein. Sie suchte sich zu betäuben, zu zerstreuen, indem sie jede arbeitsfreie Stunde der Geselligkeit schenkte. Sie war die Fröhlichste unter den Frohen, konnte nächtelang tanzen, singen, lachen, war zu tausend tollen Streichen bereit, bis ihr die nächste einsame Stunde das alte Weh in verstärktem Maße zurück brachte und ihr nun plötzlich das gesellige Treiben ganz unerträglich erschien.

Während ihres Gastspiels in Wien, im Sommer 1830, wo sie von allen Seiten umdrängt und gefeiert wurde, schrieb sie:

„… Wie drückend und peinigend ist es für ein krankhaft erregtes, unruhiges Gemüth, in einer unruhigen, ewig angeregten Umgebung zu leben! Jede Nerve erbebt fieberhaft, und eine namenlose Angst und Beklommenheit treibt uns unstät umher. Es wäre für mich der sicherste Weg in’s Irrenhaus, wenn ich lange in solchem Trouble leben müßte. Ein so tiefverletztes, todtkrankes Gemüth, wie das meine, bedarf in seiner nächsten Umgebung der größten Ruhe, der strengsten Gleichmäßigkeit und Ordnung in der gewöhnlichen Tageseintheilung, denn nur durch die Einförmigkeit der äußern Eindrücke kann in etwas das verlorne Gleichgewicht in der schmerzlich wogenden Brust wieder hergestellt werden. Ein sturmbewegtes Meer, ein brausendes Ungewitter beruhigen die kranke Seele zwar auch, denn die ganze Spannkraft im Menschen ist dann auf das Außerordentliche gerichtet; man vergißt über die Allmacht die Gewalt der eigenen Schmerzen. Musik, die frommen Klänge einer Orgel an geweihten Stätten, der gestirnte Himmel, die untergehende Sonne, eine schöne Gegend, eine Blume, ein guter Dichter – sie lösen den Schmerz in der bangen Brust und entlocken dem Auge, wenn auch schmerzliche, doch wohlthuende Thränen. All das wirkt zerstörend, nicht zu leugnen: man vergeht an einem langsamen, aber süßen Gifte, während ein ungeregeltes, der Ordnung entbehrendes Leben das kranke Gemüth qualvoll zu Grunde richtet. So ist es mir – die Ruhe in meinem Herzen, die Ruhe in meinem Hause fehlt mir.“ …

Und einige Jahre später: … „Dieses Nachaußenkehren nicht gefühlter Gefühle, nicht empfundener Empfindungen, dies Verleugnen seiner eigensten Kraft, mit einem Wort, dies fatale conventionelle Leben bricht alle moralische und physische Kraft, erzeugt Nervenleiden und preßt die Seele gänzlich zusammen. Könnte man doch immer wie man wollte, wie vielen Menschen würde man sagen: „Hol dich der Teufel, du aus Langerweile gemachter Tropf mit einem Menschenangesicht!“ ….“

Wie oft mag Wilhelmine mühsam gegen dies Verlangen angekämpft haben, während sie mit lächelnder Miene im Kreise ihrer Bewunderer stand und eine Fluth geistloser Huldigungen über sich hinrauschen ließ – und wie oft mag ihr Herz bedrückt gewesen sein, während sie „wie eine Freude vor der Welt“ erschien!

„… Ich war erst 23 Jahre alt,“ schreibt sie, „als meine erste Ehe getrennt wurde. Aber ich hatte schon damals allen Schmelz der Jugend verloren, alle Illusionen, die das Leben schmücken. Ich konnte schon damals mit voller Wahrheit singen: „Ich bin ein Fremdling überall!““

Sie ging zu weit, wenn sie so klagte. Die ewige Jugend des Genius ist ihr bis an’s Ende geblieben, und ihr warmes Herz hat Illusionen, die Andern schon bei den ersten Schritten durch’s Leben verloren gehen, bis zum Tode festgehalten. Mißtrauen hat sie nie gekannt; jedes freundliche Entgegenkommen hielt sie für redlich gemeint; in jedem neugierigen Zudrängen sah sie ein warmes Interesse; trotz hundertfacher trüber Erfahrungen ist sie nie im Stande gewesen, Intriguen zu durchschauen oder zu vereiteln, und denen, die es darauf anlegten, sie für selbstsüchtige Zwecke auszubeuten, ist es immer gelungen. Dazu kam ein ganz wunderbares Talent, mit der Vergangenheit abzuschließen. Die Erinnerungen an das Erlebte kamen wohl wieder und kamen mit so furchtbarer Lebendigkeit, daß Wilhelmine alle alten Schmerzen auf’s Neue durchlitt. Die Qual war entsetzlich, aber sie ging vorüber wie ein böser Traum, ohne Einfluß auf die guten Stunden zu üben, die ihr die Gegenwart schenkte. War der Schmerzensausbruch vorüber, der Aufschrei des Zornes oder der Verzweiflung verklungen, so „schüttelte sie die Schwingen“, und die befreite Seele schwebte hoch über allen Nebeln und Wolken im heitersten Sonnenschein. Oft standen ihr noch die Thränen im Auge, welche ihr die Erinnerung erpreßt hatten, und schon flog wieder ein fröhliches Lächeln über ihr Gesichi; irgend eine komische Geschichte war ihr eingefallen – und der Mund, der eben noch so bitter geklagt hatte, ging zu Scherzen und Witzworten über. Jenen unablässigen, herzbeklemmenden Druck, jenes Ermatten und Insichversinken, das die gewöhnliche Folge schwerer Leiden oder leidenschaftlicher Kämpfe ist, hat Wilhelmine erst in der letzten Krankheit kennen gelernt.

Unvermittelt, wie der Uebergang vom Schmerz zur Freude, war aber auch der von Lust zu Traurigkeit. Mitten in der heitersten Gesellschaft, mitten im lebhaftesten Gespräch verstummte sie – ihre Lippen zuckten, ihre Augen wurden trübe. Es überschlich sie ein Erinnern, oder sie empfand inmitten der höchsten Triumphe, denen sie sich eben mit voller Seele hingegeben hatte, wie vergänglich ihre Kunstschöpfungen waren, oder es kam plötzlich jenes Verlangen nach Ruhe über sie, das sie durch ihr ganzes Leben begleitet hat, obwohl die Rastlosigkeit ihrer Natur aller Ruhe widerstrebte.

Wilhelminens Wesen war reich an solchen Contrasten, die von Allen, welche nur oberflächlich mit ihr bekannt waren – und dazu gehören Viele, die ihr äußeres Leben Jahrzehnte lang getheilt haben – falsch aufgenommen und ausgedeutet werden mußten. Nur die Wenigen, denen sie den Einblick in die Tiefen ihres Gemüthslebens gestattete, haben darin die Ausströmungen jener Doppelnatur erkannt, von welcher Goethe sagt:

„Zwei Seelen fühl’ ich, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen.
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen.
Die andre hebt gewaltsam sich vom Duft –“

Mit welchen Schmerzen dies Ringen und Kämpfen verbunden war, läßt sich am besten aus Wilhelminens eigenen Aufzeichnungen erkennen.

„… Warum kann ich den erhabnen Geist, der sich so oft in meiner Brust niederläßt, nicht festhalten? Alle Quellen meines Gemüthes öffnen sich und strömen Gefühle voll warmen, unbeschreiblichen Entzückens aus. Könnte ich in solchen Augenblicken dichten, es müßte etwas ganz Gutes werden; könnte ich malen, wie wollte ich die weichen, lieblichen, kräftigen, blendenden Farben, in die sich meine Seele taucht, auf die Leinwand hauchen!, könnte ich componiren, wie sollten die Töne, die in tausendfachen Accorden, Harmonien und Liedern in meiner Brust erklingen, gegen den [667] Himmel anstürmen! O mein Gott! könnte ich das Leben, diese Welt, die in mir aufgeht, könnte ich sie hingeben und begreiflich machen! O Geist, Geist, der du so oft meine Brust zu deiner Ruhestätte machst, laß mich dich halten oder hebe mich empor und flöße mir Wissen und Gedanken ein! – und komme nicht blos, um mir die Brust durch deine Last zu erdrücken und zu zermalmen, komme nicht blos, um mir die quälendste Sehnsucht zurück zu lassen! gib mir ein Wort, einen Ausdruck und laß die Quellen alle, die sich dir öffneten, nicht wieder zu ihrem Urquell, in’s Herz, zurückdrängen. Der Raum ist zu klein für solche Strömung – sie wird ihn zersprengen! Thränen und ein Fleck im Mittelpunkt des Herzens, wo es immer wühlt und hämmert, das ist mein Leben.“ …

„… Daß doch der Geist dem Körper so oft Unterthan ist! – das geistige Auge sehnt sich danach, sich zu offnen und das unendliche Licht einzufangen, das mit warmen Strahlen in der Seele aufgeht, – da schließt sich das physische Auge durch die Gewalt einer ermatteten Natur, und jeder klare Gedanke geht unter in wirren, undeutlichen Träumen.“ …

„… O, es ist qualvoll, mit einer Brust, angefüllt mit warmen, wahren, unendlichen Empfindungen, sich in der schalen, leeren, alltäglichen Welt herumtreiben zu müssen und dann nicht einmal in einsamen Stunden den Ersatz zu haben, durch Worte, Töne aussprechen zu können, was man denkt und fühlt! Ein brennend heißer Fleck glüht mir inmitten meines Herzens, von ihm aus theilt sich ein unaussprechliches Weh meinem ganzen Wesen mit. So wie mein Haupt matt auf meine Hand sinkt, so sinkt auch meine Seele kraftlos zusammen. Machtlos und ohnmächtig bleibt all mein Streben, durch irgend eine Aeußerung meinen Zustand zu erleichtern … und doch erklingen die Saiten in meinem Innern so gewaltig und lösen sich auf in mächtigen Accorden und schmiegen sich wieder sanft mit leisen Melodien an mein krankes Gemüth. Aber nur meiner innersten Seele ist dieser Zustand deutlich und fühlbar; sie strebt mächtig empor an’s Licht, gleich einer verborgenen Quelle, die aber Widerstand findet an dem harten Felsen, der ihr den Ausgang weigert, so daß sie in sich selbst versiechen und vergehen muß.“ …

„… Kannst du dich nicht lösen, gewaltiger Schmerz? – nicht einmal Thränen! – da wühlt und wogt es im tiefsten Herzen – wie Felsenmassen drückt es mir die Brust, und keine Erlösung! O mein Gott, kein Leben, das wäre das Beste! Mir ist, als müßte mir leichter, wohler werden, wenn ich eine tiefe, tiefe Wunde in dies arme Herz bohren könnte, damit das Blut frei ausströmen, frei dahin rieseln könnte. Dann müßte diese Beklommenheit, diese Angst aufhören – Luft! Trost! Thränen!!“

„… Welcher Dämon wohnt oft im Menschen, der nicht zu bekämpfen, noch zu verscheuchen ist? – schwache, elende Natur – und doch keine schwache, elende Seele! eine Seele, aller guten, edeln Regungen fähig.“ …

Wilhelmine hatte Recht. Es war etwas Dämonisches in ihr, das mit den Jahren immer schärfer hervortrat. Ein fremder, finstrer Geist, den tausend bittere Erfahrungen ihr angepeinigt hatten, und der – so sehr sie sich sträubte – doch nur zu oft, bald auf längere, bald auf kürzere Zeit, die Oberhand gewann, ihr ganzes Wesen veränderte, ihr Leben vergiftete, indem er sie nicht zum Genuß des noch so schmerzlich Ersehnten, noch so leidenschaftlich Erstrebten kommen ließ und sie oft dazu trieb, denen weh zu thun, die ihr lieb waren. So lange das Sehnen und Ringen dauerte, sah sie nur das Ziel, empfand sie nur das Verlangen, es zu erreichen. Aber sobald es erreicht war, kam der Zweifel, der Ueberdruß. – Sie hatte schon so viel erstrebt, ohne je Befriedigung zu finden, hatte so Vieles mit glühendem Herzen erfaßt, um es bald darauf wieder zu verlieren – besser war es, mit eignen Händen zu zerstören, was doch zerfallen mußte; besser, sich von vornherein zu sagen, daß alle Liebe, alle Freundschaft, alle Erfahrung verweht wie ein Traum. Daß sie Andern weh that, konnte sie nicht hindern; litt sie doch selbst am meisten dabei!

Auch in ihrer künstlerischen Thätigkeit drängte sich dies dämonische Element zuweilen hervor. Daß Wilhelmine durch ihre dramatischen Schöpfungen ebenso begeistert war, wie sie Andere begeisterte, ist schon gesagt, aber zuweilen war es, als müßte sie der eigenen Erhebung spotten. Eine übermüthige Laune kam über sie, und die Scherze und Neckereien, die sie oft in die erschütterndsten Scenen hineintrug, brachten die Mitspielenden in Gefahr, aus der Rolle zu fallen. Unzählige, oft recht derbe Witzworte werden von ihr erzählt, und viele davon sind wahr, – aber wohl die wenigsten nur sind der Ausdruck eines fröhlichen Herzens. Gewöhnlich ist’s der Aufschrei ihrer geängstigten Seele, die von der Nichtigkeit aller Dinge so tief durchdrungen ist, daß sie auf Augenblicke an Allem zweifelt und selbst der eignen Begeisterung nicht mehr zu glauben wagt. Es ist die Stimmung, in welcher der Dichter ausruft:

„Ich lache über alles Menschenwerk,
Weil ich nicht weinen darf.“

Wie Wilhelmine in dieser Stimmung zu vielen Mißdeutungen Anlaß gegeben hat, so hat sie das noch viel mehr durch ihre rücksichtslose Wahrheitsliebe – rücksichtslos gegen sich selbst wie gegen Andere – und durch ihren unbezwinglichen Freiheitsdrang gethan, der die Grenzen des Herkömmlichen nicht immer respectirte. Diese gewaltige Natur konnte sich nicht beugen, nicht einschränken, sie mußte sich immer ganz so offenbaren, wie sie war, Alles so nennen, wie es ihr erschien. Auf Augenblicke konnte ihr das den Anschein der Härte, der Rücksichtslosigkeit geben – und doch war sie das gütigste, weichherzigste Wesen, immer bereit zu helfen und zu fördern, immer bereit das Gute und Schöne anzuerkennen, mochte es ihr in der Kunst oder im Leben, bei Freund oder Feind entgegentreten. Ganz unerbittlich aber war sie gegen die sich spreizende Mittelmäßigkeit, gegen Arroganz, Eitelkeit, Selbstüberschätzung, vor allem gegen das Geschmacklose und Unwahre in der Kunst, das so oft von der Mode beschützt wird. Ihre Meinung darüber zu verleugnen oder auch nur zu verschweigen vermochte sie nicht. Ob sie sich selbst Unannehmlichkeiten dadurch zuzog oder einflußreiche Persönlichkeiten gegen sich erbitterte, zog sie nie in Betracht.

Wilhelmine hat nie in irgend einer Weise danach gestrebt, anders zu scheinen als sie war, und wenn sie bei Andern ein solches Bestreben entdeckte, fühlte sie sich unwiderstehlich zur Opposition getrieben. So ist’s denn auch kein Wunder, daß sie trotz ihrer Güte und ihrer bezaubernden Liebenswürdigkeit viele und erbitterte Feinde hatte. Sie erwuchsen ihr aus Allen, die sich von ihr verletzt oder gedemüthigt fühlten, und deren Zahl war groß – denn Wilhelmine wies sowohl Hochmuth wie Herablassung mit ebenso treffenden als derben Sarkasmen zurück; Geziertheit, Prüderie, vor allem aber erheuchelte Frömmigkeit oder Servilität waren ihr unerträglich, und in ihrem Drange, das Kleinliche, Unwahre, Gemeine zu bekämpfen, ging sie mit äußerster Rücksichtslosigkeit zu Werke. Sie ging dann nicht allein bis an die Grenze des Erlaubten, sie übersprang dieselbe kühn und keck. Kein Wort war ihr dann zu scharf oder zu derb.

Dasselbe hat sie zuweilen ohne äußere Veranlassung gethan. Es war ein übermüthiges Spiel, das sie sich im Gefühl ihrer Kraft erlaubt, – wußte sie doch, daß sie jeden Augenblick im Stande war, die Geister, die sie entfesselte, wieder zu bändigen. Im Grunde der Seele hat sie sich bis an’s Ende die höchste Zartheit bewahrt, obwohl sie zuweilen alle Formen zu mißachten schien, die wir zu ehren gewöhnt sind.

Wenn ihre Freunde sie zur Mäßigung, zur Vorsicht ermahnten, hörte sie sie gewöhnlich ganz geduldig an. „Ihr mögt Recht haben,“ sagte sie dann wohl, „aber ich kann nicht anders! Wär’ ich besonnen, hieß ich nicht der Tell.“

Ein Wesen wie Wilhelmine kann freilich eben so wenig mit dem gewöhnlichen Maß gemessen, wie als Vorbild für Andere betrachtet werden. Uns ist es versagt, ihre Größe zu erreichen – sie war zu gewaltig organisirt, um innerhalb der Schranken auszuhalten, deren wir zu unserem Schutze bedürfen.

Und doch hat sich diese so ganz selbstständige Natur, die sich keiner der gegebenen Formen anpassen konnte, zuweilen gleichsam selber aufgegeben, sodaß sie zum Echo ihrer Umgebung wurde – und diese war leider nicht immer gut! Meistentheils war es freilich nur ein augenblickliches Ermatten, aus dem sie sich schnell wieder aufraffte, ein unbewußtes Sichgehenlassen mit der Strömung – vielleicht auch das Verlangen, einmal in der Weise glücklich zu sein, wie so viele Andere, die sich im engen Kreise behaglich und fröhlich bewegen – denn ach! wie oft hat Wilhelmine schmerzlich empfunden:

„Daß groß sein heiße, keinen Nächsten haben,
Und daß es traurig sei, so groß zu sein.“

Zuweilen aber, wenn die Leidenschaft über sie kam, wenn sie das ersehnte Idol ihres Herzens gefunden zu haben glaubte – [668] war es ein wirkliches Aufgeben aller Selbstbestimmung, alles Urtheils. Trotz ihrer Größe blieb Wilhelmine immer ein echtes Weib, das sich in Liebe unterordnen muß, und maßlos wie ihr ganzes Wesen war auch ihre Hingebung, ihr Vertrauen. Mehr als einmal hat sie am Rande eines Abgrundes erwachen müssen, und sie bedurfte dann aller ihrer Kraft, sich wieder zurecht zu finden. Ein solcher Moment des vollständigen Sichselbstaufgebens war ihre zweite Ehe (mit Herrn von Döring) und die Zeit, welche derselben voranging – ich werde später darauf zurückkommen müssen.




Schloß Stolpen und die Gräfin von Cosel.
(Schluß.)

Schloß Stolpen hat namentlich durch die gefangene Gräfin Cosel eine traurige Berühmtheit erlangt, wenn auch seine frühere Geschichte fast nur Bilder der Grausamkeit und des Vandalismus aufzuweisen hat. Denn hier, wie in jeder respectablen Veste des so gepriesenen Mittelalters, gab es eine Folterkammer und unterirdische Kerker mit schlammigem Wasser gefüllt, worein die Gefangenen vermittelst eines Klobens gelassen wurden; hier rangen tausend ohnmächtige Seufzer der Gemarterten sich an den Mauern empor, um ungehört sich in den Felsspalten zu verlieren. Hier unten büßten calvinistische Prediger ihren Glaubenseifer unter den entsetzlichsten Qualen, während oben ihre Peiniger, die frommen Bischöfe Meißens, geistliche Lieder sangen oder „kühlen Klosterwein“ schlürften.

Die Ueberreste des Schlosses Stolpen,[2] einer ehemaligen bischöflichen Residenz und zu seiner Zeit berühmten Bergfestung, gehören sicher zu den bemerkenswerthesten Denkmälern der letztvergangenen Jahrhunderte. Auf einem 1150 Pariser Fuß über der Meeresfläche erhabenen, sanft aufsteigenden Basaltberge, an dessen Abhänge das Städtchen Stolpen gelegen, ungefähr sechs Stunden von Sachsens Hauptstadt entfernt, erblicken wir dieselben, die noch jetzt, außer in beträchtlichen Ruinen, in vier Thürmen bestehen.

Die Zeit der Eroberung des Schlosses ist unbekannt; seine Gründung jedoch wird den Sorben zugeschrieben, indem man seinen Namen von dem wendischen Worte „Stolp“, auf deutsch Stufe oder Säule, ableitet. Die erste bestimmte Nachricht, welche vorhanden ist, geht dahin, daß im Jahre 1218 der Ritter von Mocco, aus einem adligen wendischen Geschlechte stammend, das Schloß und die Stadt, die übrigens bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts „Jockeym“ genannt wurde, besaß, jedoch dieselben wahrscheinlich schon in dem gedachten Jahre an den Bischof Bruno II. von Meißen für 168 Mark verkaufte. Es blieb nun das Eigenthum und die zeitweilige Residenz der fünf letzten Bischöfe von Meißen, welche daselbst einen glänzenden Hofstaat unterhielten. Die bekannte „Carlowitzer“ Fehde, die sich wegen einer Testamentsforderung seitens des Stallmeisters Hans von Carlowitz an den Bischof Johann IX. entspann, wurde jedoch die Veranlassung, daß diese Besitzung im Jahre 1559 abermals ihren Herrn wechselte, und an den damaligen sächsischen Kurfürsten August kam. Seitdem blieben Schloß und Stadt Eigenthum des sächsischen Regentenhauses.

Basalt-Bildungen an der Abendseite des Schlosses.

Zur Zeit ihrer ersten Besitzer mag die Befestigung des Schlosses Stolpen ohne große Bedeutung gewesen sein, da dieselbe nach alten Nachrichten nur aus einem Bollwerke von Holzstämmen (Gercke sagt: von „geschrotenem“ Holze) bestand, und sie ihre Verstärkung und Verschönerung erst unter der bischöflichen und kurfürstlichen Regierung erhielt. – Das Schloß bestand früher, wie sich an den Ueberresten auch theilweise noch erkennen läßt, aus drei Höfen, die durch Zugbrücken mit einander verbunden waren, in die man aber erst durch die mit starken Brustwehren, gewölbten Thoren und tiefen Gräben versehene „Klengelsburg“ gelangte, die Johann Georg II. 1675 durch den Oberlandbaumeister von Klengel anlegen ließ. Der erste Hof enthielt außer dem St. Donatsthurm (nach Donatus, Bischof von Arezzo genannt, der nächst Johann VI., Bischof von Meißen, Schutzpatron des Schlosses war), dessen Spuren gänzlich verschwunden, die Marterkammer, den Kornboden, den Marstall und eine große Cisterne. Der zweite Hof hingegen enthielt die Hauptveste, rechts einen dicken Thurm, die „alte Schösserei“ genannt, und links den „St Johannisthurm“, in welchem (wie sich der Volksmund ausdrückte) die Cosel wegen rachsüchtiger Drohungen gegen August den Starken gefangen saß. Der gleichfalls mit starken Mauern und tiefen Gräben umgebene dritte Hof enthielt die ehemaligen herrschaftlichen Gebäude, die später der Platzcommandant bewohnte. Diese Gebäude bestanden aus dem Seiger- oder Uhrthurm, der von Kurfürst August erbaut und 1714 zum letzten Male reparirt wurde; neben demselben stand das Destillirhaus, in dem die Kurfürstin Anna Aquavit abgezogen haben soll; sodann dem Siebenspitzen-Thurm, dem Brunnenhaus mit dem über 200 Ellen tiefen, in den Jahren 1608–1630 in Basalt gebrochenen Brunnen, dann dem Kunstthürmchen, genannt nach der darin befindlichen Wasserkunst, durch die aus dem Dorfe Lauterbach das Wasser in doppelten eisernen Röhren auf den Berg getrieben wurde, und endlich aus der Schloßkapelle. Diese war durch den Bischof Thimo zu Ehren der heiligen Barbara erbaut und enthielt sieben Altäre. Die Anzahl der genannten Gebäude wird im Stande sein, einen kleinen Begriff von dem Umfange der Festung zu geben.

Erst zur Zeit des Hussitenkrieges werden die Nachrichten über die Geschichte des Schlosses Stolpen zuverlässig, und vom Jahre 1429 bis zu den sechzig Friedensjahren, die dem dreißigjährigen Kriege vorausgingen, wütheten fast ununterbrochen Feuer und Schwert in seinen Räumen. Da, wo zwei Jahrhunderte früher die Hussiten gehauset, erschienen jetzt, 1632, die Kroaten unter dem Befehle des Rittmeisters Romhof, plünderten die Stadt und ermordeten Jeden, der sich ihnen widersetzte. Der Veste jedoch konnten sie [669] nicht beikommen, denn dieselbe wurde von Bürgern unter der Anführung des Predigers Sperling tapfer vertheidigt. Hierüber erzürnt, zündeten die Kroaten bei ihrem Abzuge die Stadt an, wobei auch das Schloß litt, indem der Wind die glühenden Schiefer des Kirchdachs auf den Siebenspitzenthurm trieb, welcher Feuer fing und nebst allen äußeren Gebäuden ein Raub der Flammen wurde.

Ein Theil des Innern den Schlosses mit dem Brunnen
und dem Fürstenwall.

Durch den 1635 zu Prag mit dem Kaiser geschlossenen Frieden machte sich Sachsen die Schweden und deren Verbündete zu Feinden, was abermals das arme Stolpen empfinden mußte. 1639 erschien der schwedische Feldherr Banner mit 6000 Mann und forderte die Besatzung des Schlosses (dasselbe hatte seit dem Besuche der Kroaten eine kurfürstliche Besatzung erhalten) auf, sich zu ergeben. Der Commandant der Veste leistete keine Folge, und, wie einst die Kroaten, rächten sich jetzt die Schweden, indem sie bei ihrem Abzuge die Stadt einäscherten. Als endlich der Friede in Deutschland wieder eingekehrt, wurden die abgebrannten Gebäude wieder neu aufgebaut und die Festungswerke noch vermehrt. Allein ein böses Geschick waltete über dem Orte. Was Menschenhände verschont ließen, vernichteten die Elemente. Mehrmals suchten die schwersten Gewitter Schloß und Stadt heim, und was diese übrig ließen, zerstörten während des siebenjährigen Krieges die Preußen unter Obrist Warncsi[WS 1]. Vom 3. bis 18. September 1756 verweilten die Feinde in der Veste und führten die metallenen Geschütze mit sich weg, nachdem sie die eisernen Kanonen, Gewehre und Munition in den Schloßbrunnen geworfen und die Wasserleitung vernichtet hatten.

Seit diesem Augenblicke liegt die Veste in Trümmern und wäre bald wieder ein Schauplatz des Kriegselends geworden, als Napoleon 1813 befahl, die Thore und Mauern in Vertheidigungszustand zu setzen. Er selbst hielt sich den 24. und 25. August in Stolpen auf und rühmte die Festigkeit und Stärke der Mauern, die sämmtlich aus Basaltsäulen errichtet sind. Glücklich jedoch entging diesmal der Ort der drohenden Gefahr und mahnt heute durch seine öden Ruinen nur noch an die Nichtigkeit irdischer Macht und Größe, an die Schrecken wilder Eroberungssucht und mittelalterlicher Grausamkeit. Da, wo einst wilder Kriegslärm tobte, wo der Fuß barbarischer Söldner den Boden zerstampfte, wandeln jetzt friedliche Menschen, in den zerfallenen Räumen wie in einem offenen Buche lesend – oder es weiden muntere Ziegen und suchen sich die leckersten Kräuter aus.

Bergschloß Stolpen von der Mitternachtseite.



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Der neue Gesundheits-Polizei-Präsident in der Natur (Ozon).

Sauerstoff, Oxygen, Lebensluft, Feuergeist, der ewige, unermüdlich zerstörende Allbeleber, der Gott aller Lebenswärme und nie rastende Einheizer in dem langsamen Verbrennungstode alles Athmenden, der unsichtbar allgewaltige und allgegenwärtige Geist aller Wasser und Lüfte, dem selbst das stolze Eisen vergebens trotzt und welcher die kostbarste Damascenerklinge mit knisternder, blauer Flamme rasch in Asche verwandeln kann, mit aller Welt und aller Welt bekannt und verwandt, Duzbruder aller möglichen chemischen Familien und Vereine – wer kennt ihn? Welcher umsichtigste Polizei-Beamte könnte sein Signalement schreiben? Geschäft, Stand und Charakter? Alles todt machen oder Alles beleben? Was ist richtig? Beides, Beides! Sichert er nicht durch seine ewige Mordbrennerei allem Sterblichen und Geschaffenen just eine elementare Unsterblichkeit? Uebt er nicht, neben tausenderlei Geschäften, die mächtigste, wirksamste Gesundheits-Polizei?

Wir können ihn nicht in seinen unzähligen bekannten, mysteriösen Functionen verfolgen, da er selbst in den dicksten Lehrbüchern der Chemie nicht vollständig dargestellt wird, und wollen blos eine neuerkannte Wahrheit beleuchten, die sich hauptsächlich als Gesundheits-Polizei des Sauerstoffs offenbart. Dieses Amt verwaltet er besonders in chemischer Verbindung mit der Elektricität (wofür Andere „Magnetismus“ sagen) und unter der Firma Ozon, auf deutsch: Stinker. Schießbaumwollen-Schönbein in Basel muß für diese despectirliche Benennung, die von allen Naturalisten angenommen und beibehalten ward, auch als man gerade das Gegentheil der Verstänkerung erkannt hatte, verantwortlich bleiben. Aber wir denken nicht mehr an die Bedeutung des griechischen Worts, von welchem er den Taufnamen des elektrischen Sauerstoffs herleitete, und verstehen nun unter Ozon hauptsächlich folgende erfreuliche Wahrheiten und Processe in der Natur.

Die wissenschaftliche Welt verdankt dem Hauptarzte des Militär-Hospitals zu Metz, M. Scoutteten, die erste umfassende Zusammenstellung und Beleuchtung aller Entdeckungen und Beobachtungen, die bisher in Sachen des Ozon gemacht wurden. Ihm entlehnen wir in der Hauptsache, was wir in diesem Artikel zu sagen haben.

Schönbein entdeckte zuerst eine übelriechende Substanz, die sich bei den meisten galvano-elektrischen Processen einstellt, und nannte sie Ozon. Er hielt sie zuerst für eine Verbindung von Sauerstoff und Wasserstoff. Weitere Untersuchungen von ihm selbst und andern Chemikern Frankreichs und Deutschlands führten zu der Entdeckung, daß Ozon elektrisirter Sauerstoff sei, Elektricitäts-Oxyd, verrostete Electricität, wenn man in diesem luftigen Gebiete so sagen darf, Präsident und Director der Gesetze atmosphärischer Elektricität, Regulator des Luftdrucks und der Barometer, Thermometer und Hygrometer, Beleber und Auferstehungs-Engel des Sauerstoffs, der beim Athmen, Verbrennen und Verrosten, beim Kochen, Braten, Heizen von Eisenbahn- und Menschenlocomotiven, kurz bei den sonstigen tausenderlei Functionen des Sauerstoffs verzehrt ward.

Die mysteriös klingenden Functionen werden durch Thatsachen anschaulich werden. Ozon, rein ein farbloses, stechend-stinkend riechendes Gas, ist zunächst die allergewaltigste Oxydations-Macht. Es verzehrt Silber und Quecksilber in kaltem, feuchtem (nicht trockenem) Zustande. Es zerstört mit der größten Schnelligkeit organische Materien in der Luft, die so oft als Miasmen, Fieber- und Peststoffe wirken. Nach Dr. Letheby wäre halb London vorigen Sommer an der Themse gestorben, wenn nicht eine ungewöhnliche Quantität von Ozon in der atmosphärischen Luft die organischen Gifte derselben zerstört hätte.

Ozon verbindet sich nicht von selbst mit Wasser. Dies kann aber durch Pressung ozonisirt und so zu der mächtigsten Substanz chemischer Bleichung verwandelt werden. Es verbindet sich mit Chlor, Brom und Jod zu Säuren, die wahrscheinlich chemisch und medicinisch in Ruf kommen werden. Es zerstört am schnellsten das tödtlichste Luftgift Schwefelwasserstoffgas und alle oxydablen Miasmen und ist so die größte Desinfections- (Reinigung von Ansteckungsstoffen) Substanz, die man bis jetzt kennt, die erste Großmacht in der Gesundheits-Polizei der Natur. Auch wird es rasch von einer Menge vegetabilischer und animalischer Substanzen, z. B. Albumin, Caseïn, Fibrin und Blut, aufgesogen, sodaß alles Lebendige in der intimsten Verbindung mit ihm steht. Ein homöopathisches Nichts mehr oder weniger, und Tod wird Leben oder Leben Tod. Ein tausendstel Theil Ozon in der Luft ist wohlthätig, ein anderes Tausendstel mehr – und schon sterben eine Menge kleine Thiere in dieser Luft. In noch größerer Menge erstickt es die stärkste Lunge. Man hat Beweise genug, daß Menschen nach einem einschlagenden Blitze, nicht von dem Blitze getödtet wurden. Auf jeder Stelle, wo es eben eingeschlagen, riecht es wie Phosphor oder Schwefel, d. h. nach Ozon, das sich durch den Blitz bildet, da die Elektricität sich in ungewöhnlicher Menge mit dem Sauerstoff der atmosphärischen Luft verbindet. Jedes Gewitter producirt Ozon, das sofort miasmatische Stoffe zerstört und so, wie es längst sprichwörtlich geworden, „die Luft reinigt“. Als medicinische Gabe wird Ozon eine Rolle spielen, doch wird es dabei wirklich sehr wesentlich auf lächerlich kleine Dosen ankommen, da ein Atom unter tausend Atomen mehr Alles umkehren und die lebensrettende Medicin in Gift verwandeln kann. In einer gewissen kleinen Beimischung erregt es die Lungen zu größerer Thätigkeit und hilft verdauen, Magen, Appetit, „Gedächtniß“ etc. stärken, in größerer erregt es Schwindsuchtshusten und in noch größerer erstickt es Alles, was athmet.

Atmosphärisches Ozon bildet sich hauptsächlich durch die elektrische Thätigkeit in der Luft, besonders Gewitter. Künstlich und chemisch gewinnt man es am besten durch Stäbchen von Phosphor, halb in Wasser getaucht. Ein Glas Wasser mit einigen Stückchen Phosphor darin, so daß sie zur Hälfte herausragen, ist das beste Räucherpulver, das beste Mittel, in Krankenstuben und Hospitälern die Luft rein zu halten. Die Dämpfe, welche von den Phosphorstäbchen ausscheiden, verbinden sich mit Sauerstoff der atmosphärischen Luft zu hypophosphorischer Säure, die sich immer sofort im Wasser auflöst. Diese chemische Combination entbindet Elektricität, die sich mit dem Säurestoff in der Luft zu Ozon verbindet, der nun sofort alle schädlichen Bestandtheile der Luft aufsaugt oder sonstwie beseitigt. (Diese nur angedeuteten chemischen Processe sind nicht für die exacte Wissenschaft, welche sich in Scoutteten’s Werke nähere Auskunft holen mag, sondern für das Publicum.)

Schönbein in Basel und Jame, Apotheker in Versailles, haben Ozonometer oder Ozonoskope erfunden, um die Quantität des Ozon in der atmosphärischen Luft zu ermitteln. Der Ozonometer besteht aus Papierstreifchen, die mit einem empfindlichen Reagens (Jod und Stärke) getränkt sind und verschiedene Grade (10) von blauer Farbe haben. Beinahe Weiß ist 0, das dunkelste Violet Grad 10. Diese präparirten Papierstreifchen werden je zwölf Stunden der offenen Luft (ohne Sonne) ausgesetzt und dann in Wasser getaucht. Vergleichung der Farbe, welche das Papier jetzt annimmt, mit der, welche es ursprünglich hatte, gibt einen Maßstab für die Quantitäten Ozon in der atmosphärischen Luft. (Das Technische des Ozonometers und die große Vorsicht und Feinheit erfordernde Beobachtung muß man in Scoutteten nachlesen oder sich anderweitig darüber unterrichten. Hier würde es uns zu weit von unserer Darstellung der Hauptsachen ablenken.)

Diese Ozon-Messung ist noch sehr unvollkommen und unsicher, da Vieles von der Genauigkeit und Reinheit der präparirten Papiere und dann noch mehr von dem Farbensinne und dem Augenmaße abhängt. Ohne Zweifel wird man bald sicherere Ozonometer erfinden. Die Ergebnisse, die man mit den bisherigen ermittelte, sind schon interessant genug. Man hat z. B. gefunden, daß Ozon in bewohnten, geschlossenen Räumen ganz fehlt, während es sich draußen vor dem Fenster oft ganz entschieden in ungewöhnlicher Quantität kundgab. Dies wird wahrscheinlich zu sichern Ermittelungen über den Unterschied des Stubenlebens und der Beschäftigung und Bewegung im Freien mit Rücksicht auf Ozon führen, eben so zu Mitteln, Ozon in Stuben künstlich zu erzeugen und so die Nachtheile der Stubenluft zu verringern, und wer weiß, zu welchen andern Gesundheitsmitteln. Die Quantität des Ozon in der Luft hat einen entschiedenen Einfluß auf jedes athmende Leben. Im Jahre 1845 litt Aarau bedeutend an Cholera. Director Wolf an der Sternwarte zu Bern beobachtete während dieser Zeit den Ozon-Gehalt der Luft und fand, daß die Cholera in demselben Verhältnisse stieg, als sich der Ozongehalt der atmosphärischen Luft – also deren Kraft, sich selbst zu reinigen, verminderte.

[671] Im Jahre 1855 beobachtete Schönbein in Berlin eine ungewöhnliche Menge von Ozon in der atmosphärischen Luft während einer bösartigen Grippe, die alle Personen ergriff, welche nicht lungenfest waren. Dr. Boeckel hat beobachtet, daß gewisse Fieber stets desto mehr wüthen, je weniger Ozon vorhanden ist. In Straßburg stellte sich die Cholera ein, als Ozon ganz ausgegangen war, und nahm in demselben Grade ab, als sich wieder Ozon in der atmosphärischen Luft einfand.

Scoutteten glaubt aus diesen und andern Beobachtungen schließen zu können, daß Cholera, kalte, Sumpf- und andere Fieber aus organischen, sumpfigen Ausdünstungen hervorgehen oder wenigstens dadurch genährt werden, wenn nicht Ozon genug vorhanden ist, sie zu neutralisiren. Je größer die Hitze, desto mehr solche organisch-miasmatische Ausdünstungen. Fehlt es dann an Ozon und ist eine ansteckende Krankheit schon im Laufe, so nimmt letztere mit der Hitze zu, wie an dem heißesten Tage in Paris, als die Cholera-Pest ihre höchste Höhe erreichte. Der Ueberschuß von Ozon während einer epidemischen Grippe in Berlin, beobachtet von Schönbein, erklärt sich leicht aus dem Ueberschusse, da Ozon auf die Lungen wirkt und die geringste Vermehrung desselben Lungen- und Halsleiden bis zur Entzündung hervorrufen kann.

Aus allen Beobachtungen ergibt sich dies Resultat, daß die gänzliche Abwesenheit des Ozon in der atmosphärischen Luft stets ungesund ist, mindestens in bewohnten Häusern, besonders in Krankenstuben und Hospitälern, wo der Luft alle mögliche organisch-miasmatische Partikelchen mitgetheilt werden, daß also Desinfections-Apparate, wie Phosphorstäbchen in Wasser, gute Gegengifte liefern.

Es ist eine treffende, wenn auch harte Wahrheit, daß wir Alle gegen einander giftig sind. Das theuerste Haupt, das neben uns schläft, athmet Tod für uns, und umgekehrt. Liebe ist schön, aber die Kohlensäure, die auch die heißest Liebenden ausathmen, ist Gift. Neue Untersuchungen und feine Experimente haben klar bekundet, daß Städteluft nicht nur viel schädliche organische Substanzen, sondern auch directe Blutgifte enthält; Städteluft röthet das Blut schneller, erregt es mehr, als Landluft. In Manchester, das sechzehn englische Quadratmeilen bedeckt, regnet es mehr, als irgendwo in England, regnet es auch jährlich 20,000 Centner – Vitriol, das der Regen aus der Manchesterer Luft mit herabspült. Die übermäßig mit faulenden organischen Bestandtheilen, Kohlensäure und Schwefelwasserstoffgas erfüllte Luft begünstigt Krankheiten, reizt das Blut, das Gehirn- und Nervensystem – so daß die Städter im Durchschnitt stets blasser aussehen, lebendiger, reizbarer, geweckter und intelligenter sind, also auch eher gebrechlich werden, Verbrechen begehen oder sterben, als die Leute auf dem Lande. Städte athmen dichter, produciren mehr Krankheitsstoffe und Lungengifte, als das dünner bevölkerte Land. Wer weiß, ob wir nicht bereits einem Mittel auf der Spur sind, außer durch öffentliche und Privat-Reinlichkeit, Ventilation, Wasserleitung etc. auch durch Ozon die Luft der Städte zu verbessern?

Vor der Hand liegt in den großartigen, schönen Gesundheits-Polizei-Maßregeln der Natur ein großer Trost. Sie sorgt durch Donnerwetter mit Knalleffect, durch ungeheuere Wasserflächen, die Elektricität frei machen für den Sauerstoff der Luft, auf eine stille, dauernde Weise dafür, daß Elektricität und Sauerstoff sich stets in bedeutenden Massen zu Ozon verbinden können. Und im Ozon haben Naturforscher aller Nationen gleichmäßig die allermächtigste Gesundheits-Polizei-Behörde erkannt. Was dieses feine, unsichtbare Paar von Luftgeistern noch außerdem in wissenschaftlicher, medicinischer, industrieller und lebenverschönernder Beziehung zu leisten im Stande sein mag, hängt von weiteren ernsten, anhaltenden, feinen Beobachtungen, Experimenten und Entdeckungen der Wissenschaft ab, welche in diesem flüchtigen, feinen chemischen Dioskuren-Paare nach jahrelangen Vorbereitungen und Vorstudien nun wenigstens so viel erkannt hat, daß sie in ihren stolzesten, mit der größten Sicherheit auftretenden Hypothesen einen der einflußreichsten Luftgötter ganz übersah, und daß derselbe von nun an desto sorgfältiger beachtet werden müsse.




Blätter und Blüthen.

Südslavisches Familienrecht. In einer Leipziger Zeitschrift wurde vor Kurzem in einem längern Artikel der Beweis zu liefern gesucht, die „Kroaten, Slovaken etc.“ seien noch nicht „constitutionsflügge“ und deshalb der Wohlthat einer solchen Verfassung nicht werth. Der Schreiber dieser Zeilen, ein geborener Südslave, der mit tausend andern Slaven von Kindsbeinen an deutsche Bildung genossen hat und deren Werth für seine Nation zu würdigen weiß, will es aber versuchen, die Kroaten mit wenigen Zügen den Lesern der Gartenlaube zu schildern und ihnen zu zeigen, daß dieses seit dem Jahre 1848 in Deutschland ohne Grund so gehaßte und verachtete Volk dergleichen wegwerfende Behandlung nicht verdient.

Der Grundzug im Charakter der Südslaven, der in allen seinen Lebensverhältnissen sich wiederfindet, ist seine tiefe Anhänglichkeit an die Familie, an das Haus im weitesten Sinne. Der ganze bäuerliche Grundbesitz der Kroaten und Serben in Oesterreich und der stammverwandten Völkerschaften in der Türkei ist nicht Eigenthum der einzelnen Bauern und Bäuerinnen, sondern der ganzen Bauernfamilien. In jüngster Zeit hat man bei Anlegung der Grundbücher in Kroatien und Slavonien die einzelnen Besitzthümer der Bauern deshalb auch als Eigenthum der „Haus-Kommunion N.“ eingetragen. Ein solches Besitzthum gehört oft mehreren Brüdern, Vatersbrüdern, noch entfernteren Verwandten und deren Weibern und Kindern gemeinschaftlich. Es ist keine Seltenheit, daß man in einer solchen Gemeinschaft 50–100 Personen und darüber antrifft, wenn der Grundbesitz entsprechend groß ist. Jedes Ehepaar mit seinen Kindern hat in den Wohngebäuden eine abgesonderte Schlafstätte; alle übrigen Räume werden gemeinschaftlich benutzt. Zur Leitung der Wirthschaft, zur Schlichtung kleinerer häuslicher Zwiste, zur Geldgebarung und zur Vertretung des Hauses gegenüber der Gemeinde und dem Staate wählen die Hausgenossen den fähigsten Mann, der dann auch von der Gemeinde als Hausvater bestätigt werden muß. In allen wichtigeren Angelegenheiten leisten ihm die Hausgenossen nur dann Folge, wenn seinem Gebote die Berathung aller erwachsenen Familienglieder voranging, und er lediglich den hierbei gefaßten Beschluß vollzieht.

Die gewonnenen Erträgnisse werden im Herbste eines jeden Jahres an die Theilfamilien des Hauses mit Berücksichtigung der Zahl ihrer Glieder vertheilt, nachdem voraus Steuern und Hausauslagen bezahlt, und das im Hause für das Jahr nöthige Quantum von Lebensmitteln ausgeschieden worden ist. Kein Hausgenosse kann seinen ideellen Grundantheil veräußern oder verpfänden; er ist eben nur Mitfruchtnießer, die Familie aber ist allein die Eigenthümerin. Stirbt ein Glied der Familie, so werden nur jene Kleider und Geräthe, die zu dessen persönlichstem Gebrauche dienten, unter seine Kinder oder näheren Verwandten vertheilt. Sein Grundtheil aber wächst den Ueberlebenden von selbst zur Nutznießung zu, denn die Familie als eigentliche Grundeigenthümerin ist nicht gestorben.

Will ein Mitglied der Hausgenossenschaft auswärts arbeiten, so steht ihm dies jederzeit frei; nur muß er einen Theil seines Verdienstes in die Hauscasse abliefern. Der Einzelne kann auch das Haus ganz verlassen, er wird bei seinem Austritte wohl auch mit einem Nothpfennige ausgestattet. Sein Wiedereintritt in das Haus wird mit Rücksicht auf den Werth, den die Arbeitskraft in Kroatien hat, gern gestattet. Das Mädchen, das dem Hause von ihrem Bräutigam entzogen wird, erhält eine kleine Ausstattung; sie wird vollberechtigte Hausgenossin in der Familie ihres Gatten.

Das sind die wesentlichsten Rechtssätze des südslavischen Familienlebens. Einem Juristen, der das römisch-germanische Recht mit dem heillosen Grundsatze „societas mater discordiarum“ in sich ausschließlich aufgenommen hat, wird freilich dabei grauen; er möge aber bedenken, daß jedes Volk seinen eigenen Geist hat, so gut, wie jeder Einzelne, und daß die Producte der verschiedenen Nationalideen eben auch verschieden sind. Wer sich über die hier geschilderte tausendjährige Nationalsitte eines Näheren belehren will, dem empfehle ich das treffliche Buch von Utiesenovic: „Die Hauscommunionen der Südslaven“, Wien 1859 bei Manz u. Co. – Das ganze Institut beruht im Wesentlichen auf dem Geiste der Familienliebe, der in dem Südslaven so mächtig ist; es ist der Communismus in der edelsten, praktisch allein möglichen Form. Um die segensreichen Wirkungen desselben nur anzudenken, berühre ich, daß ein Bauern-Proletariat dadurch unmöglich wird, daß die jüngeren Geschwister nicht mit wenigen Gulden vom älteren Erben ungerechter Weise abgefertigt werden und nicht heimathslos umherirren müssen, daß die Zerstückung der Bauerngüter vermieden wird, daß man das Dienstbotenunwesen kaum kennt, daß das obschon unwissende Volk dennoch nicht roh ist, daß die Criminal-Statistik Oesterreichs hinsichtlich der Südslaven eine bedeutend geringere Zahl von Verbrechen ausweist, daß zahlreichere und frühere Ehen geschlossen werden etc.

Aus der oben hervorgehobenen Gewohnheit der Kroaten, im Familienkreise die wichtigeren Angelegenheiten zu berathen, folgt nun, daß dieselben auch zur Selbstverwaltung in größeren Kreisen nicht so unreif sind, als die Leipziger Zeitschrift annimmt. In den Gemeinden und in den Bezirken wissen die Vorsteher sehr gut, daß das Volk für keinen Schulbau, keine Straße etc. gern Arbeiten oder Zahlungen leistet, bevor die Vorsteher in einer improvisirten Volksversammlung den Nutzen der Neuerung dargethan, auch wohl die alten Männer angehört baben. Was dem Volke an Einsicht mangelt, wird durch die Bereitwilligkeit, sich belehren zu lassen und die eigene Ansicht nicht mit Parteihartnäckigkeit auf Kosten des Ganzen durchsetzen zu wollen, reichlich ersetzt.

Das Familienleben, wie es hier geschildert wurde, durchdringt das ganze Bewußtsein des Volkes. Die Dörfer führen oft den Geschlechtsnamen einer Familie in der vielfachen Zahl. Der Wirthshausbesuch ist [672] gering, die Gastfreundschaft im Hause desto größer. Der Fremde erscheint wie ein naher Verwandter, der das Haus besucht. Die Gemeinde – das Volk – betrachtet man als immer größere Familienkreise; der Kaiser wird als ein oberstes Familienhaupt angesehen. Wenn dem Kroaten nach seiner Ansicht in der Gemeinde oder bei Gericht Unrecht geschieht, geht er gleich selber zum Banus nach Agram, oder nach Wien zum Kaiser. In letzter Zeit ist das allerdings etwas anders geworden.

Ich möchte noch das Verhalten der Kroaten im Jahre 1848 berühren. Damals hatten die Ungarn seit mehr als zwanzig Jahren schonungslos die slavische Sprache unterdrückt, trotz allen Familienrechtes das ungarische Erbrecht und Grundtbeilungen eingeführt, und die slavische Nation in allen Punkten auf das Tiefste verletzt. Die Erbitterung der letzteren gegen die Ungarn drohte schon 1845 auszubrechen; im Jahre 1848 bedurfte es nur eines Befehls der Regierung, daß der letzte Mann gegen die Ungarn zu Felde zog. Von Ungarn aus wurden die Kroaten gegen Wien geführt. Daß der durch Entbehrungen aller Art demoralisirte undisciplinirte Landsturm in Wien so arg wüthete, mögen die verantworten, welche ihm die Plünderung Wiens zusagten und erlaubten.




„So sprach ein Fürst“. (Stuttgart, 1860.) Unter diesem eigenthümlichen Titel ist jüngst „von dem Neffen und Erben des Dr. F.“ nach dessen eigenem Wunsche ein Buch, Memoiren eines Fürsten, veröffentlicht worden, welches vielen Lesern als eine Dichtung erscheinen dürfte, obschon die Herausgeber alles Ernstes im Vorwort versichern, daß die Aufzeichnungen echt sind und weder Indiscretion noch Täuschung obwalte. Wir wollen daher unsere gelinden Zweifel unterdrücken, wenn wir auch nicht verhehlen können, daß unser Suchen und Forschen, welcher von allen Fürsten dieser edel und groß denkende Mann sein könne, nur auf zwei Namen haften blieb, die eine entfernte Möglichkeit für die Authentität der Memoiren bieten. Das Werk selbst ist geistvoll geschrieben und verräth in jeder Zeile, daß sein Verfasser sich in den Kreisen der feinsten Bildung bewegt hat; es behandelt die socialen und politischen Fragen der Jetztzeit mit Geist und Geschmack, während uns der würdigste Geist staatsbürgerlicher Freiheit aus jeder Seite entgegen weht. Wenige Stellen aus den ersten Abschnitten mögen genügen, dies zu bestätigen und auf das Werk selbst aufmerksam zu machen.

„Was thut Ihr für das Volk?“ so fragt der Fürst, „Ihr haltet es fleißig zur Schule an, damit es Euch nicht beunruhigt und den Katechismus der Unterthänigkeit wohl auswendig lernt; Ihr sorgt für seinen Hunger, und das ist löblich, doch für Eure Pferde thut Ihr dasselbe; – Ihr dressirt es zu Soldaten, die Polizei nöthigenfalls kräftig zu unterstützen – andere Heldenthaten haben sie seit mehr als einem Menschenalter nicht begangen – schließt nun einmal Euren Erziehungscursus, entlaßt das Volk aus der Schule, gebt ihm die Toga, öffnet ihm das Forum, als freier Mann betrete es die Arena der höchsten Kräfte.“ –

„Ein einzelner deutscher Staat kann nur etwas sein, wenn das ganze Deutschland etwas ist. Die Erfahrung lehrt, daß das ganze Deutschland in der Reihe der Staaten wenig oder nichts ist; es ist gemißachtet und gemißbraucht. Machen wir es also zu etwas! Da wir aber nicht auf das Ganze unmittelbar wirken können, so laßt uns in unserem Theile ausführen, was das Ganze zur Größe leiten muß. Dies kann nun nicht das System kleinlicher Bewachung und Beschränkung sein, das wir bisher verfolgt, denn dies hat uns zur Schande, zur Unbedeutsamkeit geführt. Ein neuer Geist muß den erschlafften Gliedern eingeflößt werden, der Geist der Einheit und Freiheit, jener Geist, der die ersten Völker des Welttheils zum Wettkampf auf der großen Arena der Weltgeschichte beseelt, welchem wir müßig, staunend, klügelnd und unbeachtet zugesehen – jener Geist, der noch immer die Nationen zu Macht und Größe geführt hat. – Die Einheit können wir kleiner Theil nicht machen, aber wir können den Sinn der Menschen dafür erziehen. Die Freiheit aber können wir geben. – Und wenn Euch Diplomaten und Politiker denn einmal das Gelüsten festhält, nur unter einer Maske zu spielen, so gebrauchet nun Eure Künste zu einem edlen Zweck, spielt unter der Maske der Unterdrückung die Rolle der Freiheit, statt daß Ihr sonst nur zu oft unter der Maske der Freiheit dieser die tödtlichsten Wunden versetzt habt.“

„Wir sind seit dem Frieden souverain; keine Macht der Erde bestimmt uns; die Throne von Rußland, Frankreich und England sind uns nur ebenbürtig; aber sieh, eine Macht ist über uns, eine unausweichliche, allbezwingende, niederdrückende und verzehrende Macht: das Kleine. Ihr können selbst Götter nicht widerstehen. Unser Gesichtskreis ist ein gar enger, die Verhältnisse, in denen wir leben, sind klein, und die Menschen, mit denen wir zu thun haben, sind durch diese Verhältnisse klein geworden. Ja, betrachte nur die Menschen, die unsere Höfe belagern, sind sie nicht gründlich verächtlich? Es sind Lakaien, nichts weiter, die sich mit nachgeäfften Formen und klingenden Namen zu Theatergrößen aufblähen. Kaum gelingt es ihnen noch, den simpeln Bürger und Bauer zu blenden. Hinter den Coulissen, wenn sie nicht auswendig gelernte Phrasen herzusagen und einstudirte Bücklinge anzubringen haben, hinter den Coulissen erscheint ihre ganze Leerheit. und ihr Flitterstaat bedeckt zu oft nackte und hungrige Armuth. Ich habe sie studirt. Diese Menschen haben keinen Gott, kein Vaterland, kein Gewissen, keine Idee, als uns – um unsere Mienen, unsere Worte, unser Wohlgefallen drehen sich die Kreise ihres flachen Lebens – mit der kleinlichsten Eifersucht schnappen sie nach kleinlichen Auszeichnungen, mit der hungrigsten Gier reißen sie sich um die Brocken von ein paar Thalern Gehaltszulage. Dabei dünken sie sich bevorzugte Wesen, brüsten sich mit ihrem Adel zum Hohn unserer Sprache, die mit dem Werte „Adel“ Würde und Unabhängigkeit bezeichnet, und sehen mit Verachtung auf die Bestrebungen der edlen Männer herab, die unter wenig ermuthigenden Umständen ihr Volk auf eine ehrenvollere Stufe unter den Nationen zu heben bemüht sind, welche unsere Ohnmacht mit Hohn oder Mitleid betrachten.“

„Der Begriff „Deutscher“ ist so unbestimmt, daß ich ihn nicht besser definiren kann, als einen Menschen, der im eigenen Lande ein Ausländer ist.“

Der Leser wird mit uns fragen, wer der Fürst sein mag, der also gesprochen? Vielleicht, daß die Zukunft das Dunkel erhellt, wie die Vorrede des Buches wenigstens andeutet. Das Buch muß nothwendig auf authentischen Mittheilungen oder Manuscripten fußen, und wenn einzelne Andeutungen und Thatsächlichkeiten uns nicht ganz täuschen, so kennen wir den geistreichen Fürsten, dessen Ideen und Aussprüche darin wiedergegeben sind. Glücklich konnte sich der Fürst in seiner Stellung mit diesen Anschauungen unmöglich fühlen!




Die Muttermilch durch Kuhmilch zu ersetzen bleibt immer mißlich und wird häufig eine Quelle schwerer Krankheiten der Säuglinge. Denn die Kuhmilch enthält viel zu viel Käsestoff (3 Mal mehr als die menschliche), und wenn man dies durch Verdünnung der Milch verbessern will, so fehlt es alsdann an den zur Kindesnahrung nicht minder wichtigen Zucker- und Fett-Bestandtheilen der Milch. – Offenbar eignet sich daher der Milchrahm (die Sahne, der Schmetten), weil er fettreicher und käseärmer ist, weit besser dazu, unter gehöriger Verdünnung als Ersatz der Muttermilch für menschliche Säuglinge zu dienen. Man muß ihm dann nur noch ein wenig Zucker hinzusetzen. Ein amerikanischer Arzt, Dr. Cumming, hat ausgerechnet, wie viel für jede Altersstufe der Kinder von Wasser- und Zuckerzusätzen auf je 1000 Theile guten Milchrahm erforderlich sind. Wir glauben manchen unserer Leser und Leserinnen durch Mittheilung von Cumming’s Tabelle einen Gefallen zu erweisen.

Bei einem Alter
des Kindes
sind erforderlich auf
Zusatz von Wasser
1000 Th. Rahm
von Zucker
von 3–10 Tagen 2643 243
10–30 2500 225
1–2 Monaten 2250 204
2–3 1850 172
3–4 1500 144
4–5 1250 124
5–6 1000 104
6–7 875 94
7–9 750 84
9–11 675 78
11–14 625 73
14–18 550 67
über 18 500 63




Aus dem Familienleben der Störche. In einem Dorfe, dessen mit Stroh gedeckte Gebäude mit vielen Storchnestern besetzt waren, bemerkten die Bewohner des einen Hofes, daß oft, wenn der Storch des auf ihrem Hause nistenden Paares sich entfernt hatte, die Störchin von dem Storche eines anderen im Dorfe befindlichen Nestes besucht ward, aber dann auch jedesmal, nachdem der gegenseitigen Zärtlichkeit ein volles Genüge geschehen war, nach dem in dem angrenzenden Garten befindlichen, mit Wasser angefüllten Flachsrötteloche flog und sich eifrig abbadete. Während nun einstens wieder der fremde Storch sich bei der Störchin, um des eigenen Gatten Stelle zu vertreten, befand, bedeckten die Bewohner des Hofes – um zu sehen, was die Störchin dann wohl beginnen werde - das Flachsrötteloch so dicht mit Baumzweigen, daß die gewohnte Abwaschung nicht stattfinden konnte. Als nun darauf, nachdem der fremde Buhle sich entfernt hatte, die Störchin sich zu baden beeilte, aber die Unmöglichkeit, zum Wasser zu gelangen, einsah, ließ sie traurige klagende Laute hören, und begab sich unter bemerkbaren Zeichen von Unruhe wieder auf ihr Nest. Kaum dort angekommen, stellte sich auch der eigene Gatte ein, flog aber nach kurzem Verweilen mit heftigem Geklapper in die Höhe, machte förmlich bei sämmtlichen auf den andern Dächern des Dorfes hausenden Störchen die Runde und kehrte, von diesen sämmtlich begleitet, zu seinem ungetreuen Weibe zurück. Sämmtliche Störche, theils auf dem Dache neben dem Neste stehend, theils dieses umkreisend, gaben durch ihr unabgesetztes Klappern der Vermuthung Raum, daß eine ernste Berathung stattfinde. – Und so war es denn auch! – denn plötzlich stürzten sie sich alle auf die Ehebrecherin und vollstreckten mittelst ihrer langen spitzen Schnäbel das berathene und ausgesprochene Todesurtheil, worauf sie den Leichnam aus dem Neste und von dem Dache herabstürzten.

Die Störche flogen jeder wieder nach seinem Neste, auf welchem nun aber auch jeder, den Hals abwechselnd hoch aufrichtend und auf den Rücken biegend, ein lange anhaltendes Geklapper begann, welches wahrscheinlich für ihre Familien eine Geschichtserzählung des erlebten Drama’s enthielt. – Allen denen, die diese Erzählung für Erfindung halten sollten, diene zur Nachricht, daß dieses Ereigniß vor ohngefähr vierzig Jahren auf dem Ackerhofe von Jürgen Schaper in dem Dorfe Weddendorf, Kreis Gardelegen, Regierungsbezirk Magdeburg, stattfand und Zeugen noch vorhanden sind.




Berichtigung. In dem Artikel „Schloß Stolpen und die Gräfin von Cosel“ in Nr. 40 muß es heißen „Anna Constantia von Brockdorff“, anstatt Burgsdorff.




Für „Vater Arndt“
gingen bei Unterzeichnetem wieder ein: 12 Thlr. Ertrag einer von der Gesellschaft „Thalia“ in Ronneburg veranstalteten Abendunterhaltung – 4 Thlr. 6 Ngr. aus einer Gesellschaft in Egeln (durch B. Michelmann).
Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Als Probe aus dem demnächst bei H. Costenoble erscheinenden Buche: „Berlepsch, die Alpen in Natur- und Lebensbildern“, circa 30 Bogen mit 16 Abbildungen von E. Rittmeyer, dem Illustrateur der Tschudi’schen Alpenwelt. Berlepsch lebt bekanntlich seit elf Jahren in der Schweiz und kennt Land, Berge und Leute wie sich selbst.
  2. Alle historischen Notizen über Stolpen, wie die Gräfin Cosel, sind entlehnt aus Gercken’s „Historie von Stolpen“, einem Schriftchen vom Premier-Lieutenant von Scharlach, „die Geschichte der Stadt und des Schlosses Stolpen“, und aus Förster’s „die Höfe und Cabinete Europa’s im 18. Jahrhundert.“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint ist: Obristleutnant von Warnery