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Die Gartenlaube (1866)/Heft 1

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1866
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[1]

No. 1.   1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Goldelse.
Von E. Marlitt.


1.

Den ganzen Tag über hatte es geschneit, und zwar so recht mit Muße und Gemächlichkeit, so daß die Dächer und Fenstersimse dicke, fleckenlos weiße Polster angelegt hatten. Nun brach ein früher Abend herein und mit ihm ein wilder Sturm, der heimtückisch in die niedertaumelnden Schneeflocken fuhr, wie ein Raubthier zwischen eine friedliche Taubenschaar.

Mag auch das Wetter derart sein, daß der gemüthliche Kleinstädter nicht einmal seinen Hund, geschweige denn seine eigenen edlen Gliedmaßen außerhalb der vier Wände wissen will, in der großen Hauptstadt B. merkt man Abends zwischen sechs und sieben Uhr keinen auffallenden Unterschied hinsichtlich der Straßen-Frequenz. Die Gasflammen ersetzen die Himmelslichter, die nicht kommen wollen; um die Ecken jagen die Equipagen in so wüthender Eile, daß die Fußgänger nur durch einen kühnen Sprung an die Häuser Leben und Glieder retten; dafür folgt ein Schwall kräftiger Flüche dem pelzverbrämten Kutscher und dem eleganten Wagen, hinter dessen festgeschlossenen Scheiben reizende Damen ihr blumengeschmücktes Köpfchen mühsam über die ungeheuren Wogen des umfangreichen Gazekleides heben und keine Ahnung davon haben, daß in diesem Augenblick Feuer und Schwefel auf ihre duftenden Locken herabgewünscht werden. Wohlfrisirte Wachsköpfe, inmitten schauderhafter schwarzer und blonder Scalps, still und aufmerksam arbeitende Uhrmacher, süßlächelnde Commisgesichter hinter bauschenden Stoffen und verführerischen Mantillen, und alte verkümmerte Bouquet- und Kranzwinderinnen zwischen hold blühenden, frischen Blumen stehen und bewegen sich in beneidenswerther Sicherheit und wohl durchwärmter Atmosphäre hinter den Schaufenstern, die ein blendendes Licht auf die schlüpfrigen Trottoirs und den vorbeifluthenden Menschenstrom werfen, wobei blaurothe Nasenspitzen, thränende Augen und verzweifelte Kopf- und Armbewegungen an allen alten und jungen Vorübereilenden sichtbar werden.

Doch halt – nicht an allen! Da tritt eben aus einem Seitengäßchen in eine der Hauptstraßen mit leichtem, elastischem Schritt eine weibliche Gestalt. Das enge, verwachsene Mäntelchen schließt sich fest an die schlanken Glieder, und der alte, zerzauste Muff wird dicht an die Brust gedrückt, wo er die Enden eines herabhängenden Schleiers festhält; unter diesem alten schwarzen Gewebe lachen zwei Mädchenaugen im Sonnenglanz frischer Jugend; sie blicken fröhlich in das Schneegetümmel, haften innig an den halbgeöffneten Centifolien und den dunklen Veilchen hinter den Glasscheiben und verbergen sich nur dann unter den langen Wimpern, wenn sich heimtückische Eissplitter unter die Schneeflocken mischen.

Wer einmal gehört hat, wie kindliche Hände, oder auch Hände, die zu einem völlig ausgewachsenen Körper und Kopf gehören, auf dem Clavier eine wohlbekannte Melodie zuversichtlich beginnen, gleich darauf mittels einer Dissonanz den musikalischen Faden zerreißen, mit falschem Fingersatz in alle möglichen Tonarten, nur nicht in die angegebene, greifen, wobei der Lehrer den hochgehobenen, tacttretenden Fuß verzweiflungsvoll sinken läßt, bis endlich die Melodie langathmend und lebensmüde wieder anhebt, um im nächsten Augenblick durch einige leichte Tacte wie über eine weite Ebene dahinzurasen – wessen Ohrennerven einmal auf dieser Folter gelegen haben, der wird begreifen, daß das junge Mädchen, welches soeben zwei Unterrichtsstunden in einem Institut beendet hat, dem Sturmwind freudig die heiße Wange bietet, als einem wackeren Gesellen von System und consequenter Durchführung, dessen mächtiges Brausen ja in Orgel und Aeolsharfe zur wundersamen Melodie wird.

So eilt das junge Mädchen flüchtig und schwebend durch Schneefall und andringenden Menschenstrom, und ich zweifle keinen Augenblick, sie würde auf den schwimmenden Quadersteinen des Trottoirs, umbraust vom Sturm, nicht anders als auf dem Parquet eines Salons auch, dem Leser unter holdseligem Lächeln die graziöseste Verbeugung machen, wenn ich sie ihm vorstellen wollte als Fräulein Elisabeth Ferber. Diese Vorstellung kann nun freilich nicht stattfinden, und das ist mir insofern ganz erwünscht, als ich beabsichtige, den Leser mit der Vergangenheit des jungen Mädchens bekannt zu machen.

Herr Wolf von Gnadewitz war der letzte Abkömmling eines ruhmreichen Geschlechts, das seinen Ursprung zurückleiten konnte bis in ein zweifelhaftes Dämmerlicht noch vor jenem goldenen Zeitalter, allwo der vorüberziehende Kaufmann in irgend einem Hohlweg seine kostbaren Stoffe und Waaren zu adeligen Bannerfähnlein und glänzenden Turnierwämsern wie zu junkerlichen Gelagen unfreiwilliger Weise ablieferte. Aus jenen unvergeßlichen Zeiten datirte auch ein Rad in dem Wappen der Gnadewitze, auf welchem einer der Ahnherren seinen Heldengeist verhauchen mußte, weil er in Ausübung jenes ritterlichen Aneignungssystems allzuviel Krämerblut vergossen hatte.

Herr von Gnadewitz, der letzte seines Stammes, war Kammerherr in Fürstlich X.’schen Diensten, zudem Inhaber hoher Orden und verschiedener Rittergüter, wie auch Besitzer aller Charakter-Eigenschaften, die, seiner Ansicht nach, einem Hochgeborenen zukommen, und die er „vornehm“ nannte, weil dem gemeinen Mann bei der derben Hausmannskost der Moral und dem strengen Muß der Verhältnisse und Sitten jedwedes Verständniß für jene unnachahmliche Grazie und Eleganz des Lasters abgehe. [2] Herr Wolf von Gnadewitz war auch prachtliebend, wie sein Großvater, der das alte Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen, die Wiege seines Geschlechts, verließ, um sich drunten im Thal einen wahren Feensitz im italienischen Geschmack aufzubauen. Sein Enkel ließ das alte Haus droben noch mehr verfallen und erweiterte und verschönerte das neue Schloß um ein Beträchtliches. Herr Wolf von Gnadewitz hatte zwar einen Sohn, der schon mit zwanzig Jahren ein so vollendeter Gnadewitz war, daß selbst das glänzende Bild des Ahnherrn mit dem Rade vor ihm erbleichen mußte. Aber der junge Herr hatte eines Tages, bei Gelegenheit der ersten, großen Jagd im Herbst, einem Treiber mit der Hetzpeitsche einen furchtbaren Schlag über den Kopf versetzt, und zwar mit vollstem Rechte, wie alle eingeladenen Theilnehmer an der Jagd einmüthig versicherten, denn der Tölpel hatte den Lieblingshund des Herrn dermaßen auf die Pfote getreten, daß das Thier für den ganzen Tag untauglich geworden war. Und so kam es, daß kurze Zeit darauf Hans von Gnadewitz nicht allein auf dem Stammbaum in der großen Halle des neuen Schlosses, sondern auch wirklich und leibhaftig an einem Eichbaum des Waldes, und zwar mit einem Strick um den Hals, gefunden wurde. Der geschlagene Treiber büßte zwar, wenn auch nicht auf dem Rade, so doch unter dem Beil, diese Frevelthat; allein das machte den letzten der Gnadewitze nicht wieder lebendig, denn er war todt, unwiderruflich todt, wie die Aerzte versicherten, und so hatte das lange Lied von Raubritterthum, Trinkgelagen, Hetzjagden und Pferderennen ausgeklungen.

Nach dieser schrecklichen Katastrophe verließ Herr Wolf von Gnadewitz sofort das Schloß im Thal, wie überhaupt diese Gegend und zog nach Schlesien auf eines seiner vielen Güter. Er nahm eine entfernte Verwandte, die Letzte einer Seitenlinie seines Geschlechts, in sein Haus, damit sie ihn pflegen solle. Es zeigte sich aber, daß diese Verwandte ein engelschönes, junges Mädchen war, bei dessen Anblick der alte Herr den eigentlichen Zweck ihres Kommens rein vergaß und schließlich meinte, sein sechszigjähriger Rücken sei noch gerade genug, um in den Hochzeitsfrack schlüpfen zu können. Zu seiner tiefsten Indignation jedoch mußte er erfahren, daß auch eine Zeit kommen könne, wo selbst ein Gnadewitz nicht mehr begehrenswerth erscheine, und wüthend wurde er, als das Mädchen ihm gestand, daß sie, ihre hohe Abkunft schnöde vergessend, ihr Herz einem jungen, bürgerlichen Officier, dem Sohn eines seiner Förster, geschenkt habe.

Der junge Mann besaß Nichts als seinen Degen und seine männlich schöne Gestalt, aber er hatte sich eine tüchtige, wissenschaftliche Bildung angeeignet, war liebenswürdig im Umgang und von ausgezeichnetem Charakter. Als Herr von Gnadewitz die schöne Marie infolge ihrer Erklärung verstieß, da führte sie der junge Ferber glückselig als Gattin heim, und hätte in den ersten zehn Jahren seiner Ehe mit keinem König tauschen mögen. Im elften würde ihn zwar ein solches Gelüst noch viel weniger angefochten haben; denn das war das Jahr 1848 – aber es brachte auch für ihn schwere Kämpfe und einen völligen Umschwung seiner Verhältnisse… Er kam in den kritischen Fall, zwischen zwei Pflichten wählen zu sollen. Die eine, die ihm sein Vater schon an der Wiege vorgesungen, hieß: „Du sollst Deinen Nächsten lieben als Dich selbst, vor Allem aber Deine deutschen Brüder“, die andere dagegen, die er sich, wenn auch viel später, selbst auferlegt, gebot ihm, das Schwert für das Interesse seines Herrn zu führen. In diesem Conflict nun siegte jenes Wiegenlied, das kräftige Wurzeln um sein Herz geschlagen hatte, vollständig – Ferber schoß nicht auf seine Brüder, aber dieser Sieg kostete ihm seinen Beruf, seine gesicherte Lebensstellung. Er nahm seinen Abschied und sank bald darauf infolge einer Erkältung gelähmt auf’s Krankenlager, das er erst nach jahrelangem Siechthum wieder verließ. Hierauf siedelte er mit seiner Familie nach B. über, wo er bald eine einträgliche Stelle als Buchhalter in einem bedeutenden Handlungshause erhielt. Es war die höchste Zeit, denn das kleine Vermögen seiner Frau war bei dem Sturz eines Bankgeschäftes verloren gegangen, und nur die mehrmaligen Geldunterstützungen, die Ferber’s älterer und einziger Bruder, ein Förster in Thüringen, der bedrängten Familie zukommen ließ, hatten bis jetzt den Mangel in seiner schlimmsten Gestalt fern gehalten.

Leider sollte dies Glück nicht von Dauer sein. Ferber’s Chef gehörte zu den Frommen im Lande und suchte alle seine Umgebungen mit seinem Bekehrungseifer heim. Auch Ferber wurden diese Bemühungen zugewandt, stießen aber hier auf einen zwar mit ruhigem Ernste geäußerten und durch eine Fülle von Wissen motivirten, aber so entschiedenen Widerstand, daß sich das fromme Gemüth Herrn Hagen’s – so hieß der Kaufmann – darüber schier zu Tode entsetzte. Einem solchen Freigeist Schutz und Brod zu geben und somit geflissentlich den Untergang des Reiches Gottes zu befördern – der Gedanke ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe, bis er mittels eines Entlassungsbriefes sich von dieser Last befreite und das räudige Schaf aus seiner Lämmerheerde stieß.

Um jene Zeit ging auch Herr Wolf von Gnadewitz heim zu seinen Ahnen, und da er während seiner irdischen Laufbahn an dem Grundsatz seines Geschlechtes, keine Beleidigung ungerächt zu lassen, streng festgehalten hatte, so konnte dies Leben wohl keinen würdigeren Abschluß und Endpunkt finden, als in dem Testament, das er eigenhändig niederschrieb, ehe er hinunterstieg in das enge Kämmerlein von Zinn, in welchem seine Gebeine der Nachwelt aufbewahrt bleiben sollten. Dies Actenstück männlicher Consequenz, das einen entfernten Verwandten seiner verstorbenen Gemahlin zum Universalerben ernannte, schloß mit folgender Verfügung:

„In Anbetracht des unabweislichen Anspruches, den sie an meinen Nachlaß hat, vermache ich der Anna Maria von Gnadewitz, verehelichten Ferber, das Schloß Gnadeck auf dem Berge in Thüringen. Anna Maria Ferber wird nicht verkennen, daß ich sie wohlmeinend bedenke, indem ich ihr ein Obdach anweise, das sie mit zahllosen Erinnerungen an das edle Geschlecht, dem sie einst angehörte, umgeben wird. Wohl wissend, daß über jenen alten Hallen stets Glück und Segen geschwebt hat, und diese unleugbare Thatsache genau erwägend, halte ich es dennoch für völlig überflüssig, diesem meinem Geschenk noch Etwas beizufügen ..… Sollte jedoch Anna Maria Ferber, den Werth meiner Gabe nicht einsehend, dieselbe verkaufen oder auf irgend welche Art veräußern wollen, so erlischt sofort ihr Anspruch an das Erbe, und das Waisenhaus in L. tritt an ihre Stelle.“

Herr Wolf von Gnadewitz hatte sich sonach mit Hinterlassung einer beißenden Satire auf sein schwarzbehangenes Paradebett gelegt. Ferber und seine Frau hatten zwar nie das alte Schloß gesehen, allein es war weltbekannt als ein zusammensinkender Trümmerhaufen, den seit wenigstens fünfzig Jahren keine ausbessernde Hand berührt hatte und der bei der Einrichtung des neuen Schlosses im Thal sämmtlicher Hausgeräthe, Wandbekleidungen, ja sogar des Kupferdaches auf dem Hauptgebäude beraubt worden war. Seitdem lagen die schweren Riegel und Vorlegeschlösser eingestäubt und eingerostet vor dem mächtigen eichenen Hauptthor. Die ungeheuren Waldbäume, die sich dicht um den grauen Bau schaarten, woben ungestört ihre breiten Aeste in das üppige Gestrüpp zu ihren Füßen, und bald lag das verlassene Schloß hinter der grünen, undurchdringlichen Wand, wie eine eingesargte Mumie.

Der glückliche Universalerbe, dem der fremde Besitz inmitten seines Waldes sehr lästig war, hätte gern für eine ansehnliche Summe das alte Haus zurückgekauft, allein die vorsichtig ausgedachte Clausel am Schluß des Vermächtnisses schnitt jede Unterhandlung ohne Weiteres ab.

Frau Ferber legte die ihr zugesandte Abschrift des Testamentes, auf die einige schwere Thränen fielen, stillschweigend auf den Schreibtisch ihres Mannes und nahm dann mit doppeltem, beinahe fieberhaftem Eifer ihre Arbeit, eine Stickerei, wieder auf. Ferber hatte trotz aller Bemühungen keine Anstellung wieder erhalten und sah sich nun genöthigt, durch schlecht bezahlte Uebersetzungen, und wenn es an diesen mangelte, mittels Acten- und Notenschreiben sein und seiner Familie Leben zu fristen, wobei ihn seine Frau durch den Erlös für Handarbeiten nach Kräften unterstützte.

So trüb nun auch Ferber’s Lebenshimmel umzogen war, ein Stern tauchte allmählich auf unter den Wolkenmassen und schien die fehlenden äußeren Gnadenbezeigungen des wetterwendischen Glückes ersetzen zu wollen. Eine Ahnung von diesem milden Strahl, welcher dereinst in ein dunkles Leben, fallen sollte, überkam Ferber schon, als er zum ersten Mal an der Wiege seines erstgeborenen Töchterchens stand und in die prächtigen Augen sah, die aus dem feinen Kinderköpfchen ihn anlachten. Sämmtliche Freundinnen der Frau Ferber waren einstimmig der Ansicht, der kleine Ankömmling sei ein reizendes Wesen, ein eigenthümlich bevorzugtes Kind, ja, es sähe so ganz und gar nicht aus, wie das gewöhnliche Menschenkind, wenn es krebsroth zum ersten Mal die Welt anschreie, [3] es sei wirklich, als habe hier die geheimnißvolle Macht irgend einer gütigen Fee obgewaltet.

Sie hielten in corpore das kleine Weltwunder über die Taufe, stritten sich dabei, welche wohl die meiste Zärtlichkeit für das Pathchen hege, und schwuren, dieser Tag werde ihnen unvergeßlich bleiben – ohne Zweifel eine zu hohe und voreilige Anforderung an ihr Erinnerungsvermögen, denn als Ferbers in mißliche Verhältnisse geriethen, da wischte der Egoismus mit hartem Finger über die Denkschrift und siehe da, es blieb keine Spur zurück, daß sie je gewesen.

Diese alte Erfahrung, welche die kleine Elisabeth schon in ihrem neunten Lebensjahre machen mußte, beunruhigte sie übrigens sehr wenig. Die vermeintliche Fee hatte ihr zu den anderen reichen Gaben auch einen unzerstörbaren Frohsinn und sehr viel Willenskraft in die Wiege gelegt; deshalb nahm sie fortan das dürftige Vesperbrod ebenso dankbar und fröhlich aus der mütterlichen Hand, wie ehemals die unerschöpflichen Leckerbissen der zärtlichen Pathen, und als am Weihnachtsabend ein lichterarmer Baum nur einige Aepfel und vergoldete Nüsse bot, da schien ihr gar nicht einzufallen, daß sich früher stets eine ehrenwerthe, stattliche Gesellschaft aller möglichen guten und wünschenswerthen Dinge auf seinen Zweigen eingefunden hatte.

Ferber unterrichtete seine Tochter selbst. Nie hatte sie eine Schule oder ein Institut besucht, ein Mangel, den man leider heut zu Tage in vielen Fällen einen Vorzug nennen möchte, wenn man bedenkt, daß manche junge Mädchen bei weitem erfahrener die Schule verlassen, als der sorgsamen Mutter lieb sein dürfte, die daheim die Reinheit der jungen Seele streng gehütet und nicht ahnt, daß sie durch die täglich sich mehrenden räudigen Schafe im Schulzimmer Eindrücke empfängt, deren nachtheilige Folgen sich in allen Phasen des späteren Lebens geltend machen.

Elisabeth’s bildsamer Geist entfaltete sich herrlich unter der Leitung der selbst so reich begabten Eltern. Sie trieb die ihr auferlegten Studien mit tiefem Ernst und dem rastlosen Drang, Alles, was sie in sich aufnahm, gründlich zu wissen, damit es ein unveräußerliches, lückenloses Eigenthum ihrer Seele bleibe; das war ihr strenge Gewissenssache und gehörte in das Reich der Pflichten. Der Musik aber gab sie sich mit einer Inbrunst hin, mit welcher der menschliche Geist das umfaßt, was er als seine specielle Sendung auf der Welt erkennt. Bald hatte sie ihre Mutter, die ihre Lehrerin war, weit überflügelt, und wie sie als kleines Kind ihr Spielwinkelchen verließ, wenn sie Wolken auf des Vaters Stirn bemerkte, sich auf seinen Schooß setzte und ihm selbsterfundene goldglänzende Märchen erzählte, so beschwichtigte sie später mit wundervollen Melodieen, die wie klare Perlen in ihrer Seele aufstiegen und die vorher noch nie ein menschliches Ohr berührt hatten, den Dämon finsteren Grames, der oft Ferber’s Gemüth umnachtete. Aber nicht allein dieser Segen erwuchs aus dem seltenen Talent des jungen Mädchens. Das ausgezeichnete Clavierspiel in der Mansarde hatte die Aufmerksamkeit einiger Hausbewohner erregt. Elisabeth bekam auf diese Weise nach und nach mehrere Schülerinnen und später den Clavierunterricht in einem Institut übertragen, wodurch es ihr möglich wurde, die Nahrungssorgen der Eltern bedeutend zu mildern.

Hier nehmen wir den Gang der Erzählung wieder auf und wollen uns die Mühe nicht verdrießen lassen, dem jungen Mädchen zu folgen, das an dem stürmischen Winterabend der elterlichen Wohnung zueilte.


2.

Während des endlosen Weges durch krumme und gerade, dunkle und helle Straßen genoß Elisabeth schon im Geiste das Behagen, das sie beim Eintritt in das heimische Stübchen stets überkam. Da saß, von der kleinen Schirmlampe mild beleuchtet, der Vater am Schreibtisch, lächelnd das blasse Gesicht erhebend, wenn er Elisabeth’s Schritt hörte. Er nahm die Feder, die den ganzen Nachmittag unermüdlich über das Papier geflogen war, in die linke Hand und zog mit der rechten seine heimkehrende Tochter zu sich nieder, um einen Kuß auf ihre Stirn zu drücken. Die Mutter, die, den Nähkorb zu ihren Füßen, gewöhnlich neben ihm saß, um den schwachen Lampenschimmer möglichst nahe zu haben, begrüßte sie mit einem zärtlichen Lächeln und zeigte auf Elisabeth’s Hausschuhe, welche sie vorsorglich in das warme Zimmer getragen hatte. Auf der heißen Ofenplatte zischten einige Aepfel und drüben in der dunklen, behaglichen Ecke neben dem Ofen summte die kleine Theemaschine auf dem Sophatisch, welche nebenbei mit ihrer schwachen, blauen Flamme eine ganze Compagnie Bleisoldaten zu beleuchten hatte, die der sechsjährige Ernst, Elisabeth’s einziges Brüderlein exerciren ließ.

Vier Stockwerke mußte Elisabeth ersteigen, ehe sie den schmalen, dunklen Corridor erreichte, der zu der elterlichen Wohnung führte. Hier nahm sie eiligst den Hut ab, zog eine neue, mit Pelz verbrämte Knabenmütze unter dem Mantel hervor und drückte sie auf ihr blondes Haar. So trat sie in das Zimmer, wo der kleine Ernst alsbald mit einem Freudenschrei auf sie zulief.

Heute aber war die dunkle Ecke am Ofen hell beleuchtet und der Schreibtisch stand verlassen im Dunkel, der Vater saß auf dem Sopha und hielt die Mutter umschlungen; auf den Gesichtern Beider aber lag ein eigenthümlicher Glanz, und wenn auch die Mutter verweint aussah, so erkannte Elisabeth doch auf den ersten Blick, daß die Thränen aus Freude geflossen waren. Erstaunt blieb sie an der Thür stehen und mochte mit diesem Gesichtsausdruck unter der schief aufgedrückten Mütze wohl sehr komisch aussehen, denn beide Eltern lachten laut. Elisabeth stimmte fröhlich ein in das Gelächter und setzte die Pelzkappe auf den dunklen Lockenkopf des kleinen Bruders.

„Da, Herzensjunge,“ sagte sie, indem sie zärtlich sein blühendes Gesichtchen zwischen ihre beiden Hände nahm und küßte, „die gehört Dir. Und auch dem Mütterchen bringe ich Etwas mit in die Wirthschaft,“ fuhr sie glückselig lächelnd fort und legte der Mutter vier blanke Thaler in die Hand, „ich habe heute meine ersten fünf Thaler Honorar im Institut erhalten.“

„Aber Elsbeth,“ sagte die Mutter mit feuchtem Auge, indem sie das Töchterlein zu sich niederzog, „Ernst’s vorjährige Wintermütze sieht noch ganz anständig aus, und Du hättest viel nöthiger ein Paar warme Handschuhe gebraucht.“

„Ich, Mutter? Fühle doch meine Hände an, ich komme eben von der Straße und sie sind so warm, als hätten sie im Ofen gesteckt … nein, das wäre geradezu Luxus. Unser Junge ist größer und stärker geworden, die Mütze aber nicht, drum war diese Ausgabe im Augenblick die nöthigste.“

„Ach, Du liebe, gute Elsbeth!“ rief entzückt der Kleine, „eine so schöne Mütze hat ja nicht einmal der kleine Baronsjunge unten im ersten Stock! … Die wird aufgesetzt, wenn ich auf die Jagd gehe, gelt, Papa?“

„Auf die Jagd?“ lachte Elisabeth, „Du willst wohl auf die unglücklichen Spatzen im Thiergarten schießen?“

„Falsch gerathen, Jungfer Else!“ jubelte der Kleine. „Ja, im Thiergarten,“ fügte er ernsthaft hinzu, „da würde ich schön ankommen … nein, im Wald, im wirklichen Wald, wo es von Hirschen und Hasen wimmelt, so daß man gar nicht erst zu zielen braucht, wenn man einen schießen will.“

„Nun, ich bin sehr neugierig, was der Onkel zu dieser Ansicht vom edlen Waidwerk meint,“ sagte lächelnd der Vater, dann nahm er einen Brief vom Tisch und gab ihn dem jungen Mädchen.

„Lies dies Schreiben, mein Kind,“ sagte er, „es ist vom Försteronkel, wie Du ihn nennst, aus Thüringen.“

Elisabeth überflog die ersten Zeilen, dann aber las sie laut:

… „Der Fürst, dem ein Teller Sauerkraut mit Rauchfleisch bei mir besser zu schmecken scheint, als die Pasteten seines französischen Kochs im Schlosse zu L., blieb vorgestern mehrere Stunden bei mir im Forsthause. Er war sehr leutselig und sagte mir, er wolle mir noch eine Art Forstschreiber beigeben, denn er sähe ein, daß zu viel auf meinen Schultern läge. Da nahm ich die Gelegenheit beim Schopfe, das Wild stand schußrecht und wenn es entwischte, so riskirte ich höchstens ein paar Rehposten in’s Blaue hinein, was ich mir freilich sonst nicht passiren lasse.

Ich erzählte ihm also, daß Dich das Schicksal seit einer Reihe von Jahren verteufelt auf’s Korn genommen habe und Dich zwänge, bei Deinen schönen Kenntnissen und Talenten am Hungertuche zu nagen.“ Der alte Herr wußte gleich, wo ich hinaus wollte, denn ich sprach gut Deutsch wie immer, und bis jetzt hat mich auch noch Keiner falsch verstanden, – es müßten denn die vornehmen Bisambüchsen und Katzenbuckel sein, die um den Herrn scharwenzeln und ihm am liebsten weismachen möchten, das ehrliche Deutsch sei zu grob für fürstliche Ohren und man könne nur auf französische Art mit ihm reden … Nun, der alte Herr meinte also, er sei geneigt, Dich als Forstschreiber anzustellen, weil er mich – nun, [4] hier hat er mir einige Dinge gesagt, die Du nicht zu wissen brauchst, über die ich alter Kerl mich aber ebenso gefreut habe, wie dazumal, als unser alter Schulmeister nach dem Examen zu mir sagte: ‚Karl, Du hast Deine Sache wacker gemacht.‘ .… Nun hat mir der Durchlauchtigste aufgetragen, Dir darüber zu schreiben, und er will auch die nöthigen Befehle geben – dreihundert und fünfzig Thaler Gehalt, Holzbedarf frei. Ueberlege Dir’s, das Ding ist so übel nicht, und der grüne Wald ist mir doch tausend Mal lieber, als Eure vermaledeiten Dachkammern, wo Nachbars Katzen miauen und wo der Rauch aus Millionen Kaminschlünden Euch in die Augen beißt.

Daß Du mir nun aber nicht etwa denkst, ich sei auch so einer von den Fuchsschwänzen, welche die Gnade ihres Herrn benützen, um ihre Angehörigen in’s Aemtchen zu bringen. Siehst Du, wenn Du nicht wärst, was Du bist, d. h. wenn Du Deine Sache nicht gelernt hättest, da bisse ich mir eher die Zunge ab, als daß ich meinen Herrn mit Dir betrügen möchte; hinwiederum würde ich jeden wildfremden Menschen mit Deinen Kenntnissen und Gesinnungen ebenso warm empfehlen, wie Dich … Nichts für ungut, aber Du weißt es ja, daß ich niemalen ein Freund von unklaren Begriffen gewesen bin.

Da kömmt nun aber noch ein Casus, der besprochen sein will. Eigentlich müßtest Du bei mir wohnen, und das ginge auch, wenn Du ein Junggeselle wärst, der nur vier Wände für sein Ich und einen Kommodenkasten für seine Vatermörder und dergleichen Zeugs brauchte. Für eine ganze Familie habe ich jedoch schlechterdings keinen Platz in meinem einsamen, alten Rattennest von Forsthaus, das längst eine eingreifende Cur nöthig hätte; aber die gestrengen Herrn von droben denken nicht eher dran, als bis die einbrechenden Balken den Streusand über die einhundertundfünfzigste Eingabe schütten. Das nächste Dorf ist über eine halbe, die nächste Stadt eine ganze Stunde entfernt vom Forsthaus – läßt sich durchaus nicht einrichten; denn Du kannst bei dem Hundewetter, wie wir’s zum Oefteren hier erleben, nicht so weit laufen.

Da hatte aber die alte Sabine, meine Haushälterin, die hier im nächsten Dorfe geboren ist, einen pudelnärrischen Einfall. Das alte Schloß Gnadeck – der brillante Nachlaß des hochseligen Herrn von Gnadewitz – liegt, wie ich Dir schon schrieb, ohngefähr einen Büchsenschuß weit vom Forsthaus. Nun meinte Sabine, als sie noch eine rüstige Dirne gewesen sei – das ist, nebenbei gesagt, weit über ein Vierteljahrhundert her – da habe sie als Stubenmädel bei den Gnadewitzens gedient. Damals sei das neue Schloß noch nicht vollständig eingerichtet gewesen und habe nicht ausgereicht für die vielen Gäste, die jedes Jahr die großen Jagden mitgemacht hätten. Da sei nun der sogenannte Zwischenbau auf Schloß Gnadeck – wahrscheinlich ein Verbindungsgebäude zwischen zwei Hauptflügeln des Schlosses – ein wenig aufgefrischt und hergerichtet worden. Sie selbst hat droben die Betten machen und lüften müssen, wobei sie sich immer sehr gefürchtet haben will. Na, ich glaub’s gerne; es steckt ja ohnehin unter der alten Bandmütze ein ganzer Wust von Teufelsspuk und Hexengeschichten, sonst ist sie aber eine ganz respectable Person, die meinen Haushalt am Schnürchen hat.

Sie behauptet nun steif und fest, der Bau könne noch nicht so arg zerfallen sein; denn er habe damals sehr fest ausgesehen und gäbe doch vielleicht für Dich und die Deinen noch eine ganz hübsche Wohnung. Möglich wär’s schon; aber ob Deine Kinder sich nicht vor dem Hans Ruprecht und dergleichen fürchten, wenn sie in dem alten Mauerwerk hausen sollen?

Du weißt, daß ich mich schwer geärgert habe über das nichtsnutzige Vermächtniß des ‚hochseligen Herrn von Gnadewitz‘ und es deshalb nicht über mich gewinnen konnte, das alte Nest, seit meiner Versetzung hierher, auch nur ein einziges Mal anzusehen. Auf Sabine’s Aussage hin hat mir jedoch einer meiner Burschen gestern Nachmittag auf einen Baum klettern müssen an der einzigen Stelle, wo man in das Kukuksnest sehen kann; er sagt aber, es läge da drin Alles durcheinander wie Kraut und Rüben. Da war ich nun heute Morgen drin in der Stadt bei den Herren vom Gericht: aber sie gaben mir die Schlüssel nicht heraus ohne eine Vollmacht Deiner Frau und thaten überhaupt so ängstlich, als lägen die Schätze von Golkonda in den alten Rumpelkammern. Keiner von denen, die damals versiegelt haben, konnte mir sagen, wie’s drin aussieht; denn sie waren wohlweislich draußen geblieben in der Meinung, es möchten einige Zimmerdecken die Freundlichkeit haben, auf ihre weisen Köpfe zu fallen, und haben sich begnügt, das Hauptthor mit einem Dutzend handgroßer Amtssiegel zu beklecksen. Wäre mir nun am allerliebsten, wenn wir die Dinge in Gemeinschaft besehen und überlegen könnten; deshalb entscheide Dich möglichst rasch und mache Dich dann mit den Deinen auf den Weg –“

Hier ließ Elisabeth das Blatt sinken und richtete die leuchtenden Augen in athemloser Spannung auf Ferber.

„Nun, und was hast Du beschlossen, lieber Vater?“ fragte sie hastig.

(Fortsetzung folgt.)




Die Sängerrunde am Weinsberger Thurm.
I.


Nur eine Stunde von Heilbronn, durch einen hohen Bergrücken von ihm getrennt, liegt Weinsberg; in zehn Minuten fährt man’s mit der Eisenbahn, und doch wie ganz anders wird plötzlich der Charakter der Gegend! Dort der Neckar mit flachen Ufern, unbestimmte Fernsicht, moderne Häuser, lärmende Fabriken, Wunsch und Blick schweifen in die Weite; hier ein stilles, von grünen Bergen umschlossenes Thal, in seiner Mitte auf steilem, isolirtem Bergkegel die Ruinen der Weibertreu, ihr zu Füßen das alte, amphitheatralisch gebaute Städtchen mit der grauen, romanischen Kirche, der säulengestützten alten Linde. Dem Wanderer wird plötzlich so heimathlich zu Muthe, er möchte hier rasten, ist es ihm doch, als wäre er da einmal in früher Jugend gewesen oder als müsse er die Gegend im Traume einst gesehen haben; fast thut es ihm leid, daß auch dieses trauliche Thal von der modernen Schlange durchzischt wird. In diesem lieblichen romantischen Weinsberg lebte seit 1818 als würtembergischer Oberamtsarzt Justinus Kerner, und die Eisenbahn war noch nicht vollendet, als er starb.

„Aus Weinsbergs Friedhof hebet sich mein Grab,
Wann mit dem Dampfroß ihr vorüberflieget.“

Ja, dort rechts ist der Kirchhof, unter dem epheuumrankten Granitsteine ruht der müde, blinde Sänger im gemeinsamen Grabe mit seiner Gattin. „Friederike Kerner und ihr Justinus“ sagt die einfache Inschrift auf der Metallplatte.[1] Oben am Weg, der zur Weibertreu führt, am äußersten Ende des Städtchens, unweit der Kirche und dem unlängst für Kerner errichteten Denkmal, steht unter Bäumen und Reben schalkhaft versteckt das kleine Dichterhaus, wo einst die Ritter des Geistes ihre Tafelrunde hielten und mit ihnen welches Gefolge von Knappen! Wie in einem romantischen Zauberspiele oder in einer laterna magica wechselten da bunt durcheinander Könige und Bauern, Philosophen, Studenten, Dichter und Edelfrauen, Diplomaten, Pietisten, Somnambule, Verrückte, Teufel, Geister und anderes Volk. Für Alle hatte das kleine Häuschen Platz, bot Jedem gastliche Aufnahme. Wie war das möglich? Dehnten sich die Wände? War hier nicht Zauberei im Spiel? Man hat Kerner oft Geisterseher und Magier genannt. Geister hat er nie gesehen, es auch nie, selbst im Scherze nicht, behauptet, und mit dem Bösen stand er auch nicht im Bunde, aber ein Amulet trug er bei sich, das Alle magnetisch anzog, alle Menschen ihm dienstbar machte: den durch nichts zerstörbaren Glauben, jeder Mensch habe seine guten vortrefflichen Seiten und diese müsse man in ihm erkennen, das Uebrige als menschliche Zuthat geduldig ertragen; in jedem Menschen schlummere, wenn auch oft durch Schlacken versteckt, ein göttlicher Funke, den man wecken und pflegen müsse. Und mit dieser

[5]

Im Garten bei Justinus Kerner. Oelbild für die Gartenlaube gemalt von H. Rustige.
Theobald Kerner.      N. Lenau.      G. Schwab.      Alex. v. Würtemberg.      Carl Mayer.      Frau Friederike Kerner.      Varnhagen van Ense.
Justinus Kerner.      Ludwig Uhland.

[6] Religion der Liebe, des Vertrauens kam er Allen herzlich entgegen, bot Jedem die Hand zu freundlichem Willkomm und erfaßte ihn liebreich in seiner Eigenthümlichkeit, und da war Keiner, dem nicht das Herz aufging, welcher Geistesstufe er angehören mochte, dem es nicht warm in der Seele wurde, der sich nicht geistig gehoben fühlte in seiner Nähe. Wie der Muhammedaner die Schuhe auszieht, ehe er den Tempel betritt, so ließ Jeder gern Ansprüche an Comfort und Rang vor der Thür und freute sich der ungezwungenen, idyllischen Einfachheit; war er aber wieder im Gebiete des Lebens, so erfaßte es ihn oft heimwehvoll nach dem kleinen Dichterhause und seinem Justinus.

So schrieb Lenau an ihn, Wien, Januar 1837: „O Freund, Du bist ein sehr guter Mensch, denn in meinen besten Stunden liebe ich Dich am meisten, da geht mir erst Dein Bild recht auf. Du bist einer von den Wenigen, nach denen ich mich umsehen, nach denen ich fragen werde, wenn ich dort ankomme, wo kein Zweifel mehr ist und kein Haß, sondern nur Wahrheit und Liebe!“ Und Ludwig Tieck im März 1853:

„Ich bin jetzt achtzig Jahre und habe schon seit lange eine wunderbare Sehnsucht nach meinem großen, starken, herzlichen Justinus Kerner getragen, ich möchte ihn noch einmal wiedersehen!“

Die Tochter eines armen Lehrers aber schrieb an ihn: „Seit meine Eltern gestorben, fühlte ich mich so unaussprechlich einsam und verlassen, die Erde bot mir nur Unglück und der Himmel keinen Trost, mir war’s, als wären die Sterne für mich ausgelöscht, und in der Seele war tiefe Nacht. Seit Sie mit mir so väterlich und herzlich gesprochen haben, mir so schön den Satz erklärten: die Letzten werden die Ersten sein, und daß meine Eltern meine Schutzgeister geworden seien und mich umschweben, solang ich brav und gut sei, habe ich wieder Vertrauen zu mir selbst und zu Gott und kann wieder beten und heiter sein. Ich zähle die Tage, wann ich Sie wieder besuchen kann.“

Auch wir wollen jetzt eintreten in das gastliche Dichterhaus, um uns in seinen verschiedenen Räumen heimisch zu machen. In seinem Grundstein ruht eine Pergamenturkunde des Inhalts:

„Dieses Haus ward mit Gott erbaut von Justinus Kerner, dem Arzte, der auch Lieder sang, und seiner Hausfrau Friederike, zur Zeit da man schrieb Eintausend achthundert zwanzig und zwei, als des Himmels Gestirne wärmend wie kaum je schauten auf Berg und Thal, aber Europas Fürsten abgewandt von den Sternen des Himmels eiskalt stunden und zuschauten dem teuflischen Morde von Hellas.“

Nicht ohne große Sorgen, denn Kerner und sein Riekele waren arm, ward der Bau dieses Hauses beschlossen; auch ergriff Kerner noch oft die Sehnsucht nach den Wäldern des Schwarzwalds und Welzheimer Waldes, wo er lange als Arzt gewesen.

Wär’ ich nie aus euch gegangen,
Wälder hehr und wunderbar!
Hieltet liebend mich umfangen
Doch so lange, lange Jahr!

Eure Wogen, eure Halle,
Euer Säuseln nimmer müd,
Eure Melodieen alle
Weckten in der Brust das Lied. –

Doch bald war ihm das kleine rebenumrankte Haus inmitten der Gärten eine liebe Heimath geworden und er konnte beglückt singen:

Jetzt, was kaum ich sah im Traume,
Bildete sich wirklich aus!
An dem Berg der Frauentreue
Stehet unter grünen Bäumen
Freundlich unser kleines Haus,
Und geliebter Kinder dreie
Hüpfen fröhlich ein und aus.

Theobald Kerner hat das Haus nach einem Plane seines Vaters, an dessen Ausführung diesen die einbrechende Blindheit hinderte, hübsch restaurirt, doch mit ängstlicher Pietät Zimmer und Einrichtung, die an den Vater erinnern, unverändert gelassen; gerne führt er uns durch die lieben Räume, es freut ihn, von alter Zeit mit uns reden zu können.

Gleich zu ebener Erde gelangen wir in das Zimmer, wo einst die Seherin von Prevorst ihr stilles magnetisches Traumleben lebte, wo später die Besessenen tobten, zwischen Fluchen und Beten hinein das Exorcico te, immunde spiritus erschallte. Die Seherin von Prevorst war bekanntlich jene nervenkranke Förstersfrau aus Kürnbach im Schwarzwald, in deren jahrelangem schmerzlichen Leiden merkwürdige somnambule Momente eintraten, während welcher die Kranke Geister zu sehen glaubte. Später (1826) in Kerner’s Haus gebracht, ward sie von diesem bis zu ihrem 1829 erfolgenden Tode magnetisch behandelt und der Verlauf dieser Behandlung in seiner vielgenannten Schrift „Die Seherin von Prevorst“ veröffentlicht. Einst in einer solchen Nacht, in der exorcirt wurde, sprangen General Kerner (Bruder von Justinus) und Minister Wangenheim schreckensbleich herauf in das Wohnzimmer.

„Es ist nimmer zum Aushalten, es ist das Gräßlichste, was der Teufel im Wahnsinn erfinden konnte!“ rief Wangenheim.

„Ich habe die Schrecken des russischen Feldzugs mitgemacht,“ sagte General Kerner, „aber die Teufelsscene unten überbietet Alles.“

In diesem Zimmer wohnte auch Lenau zur Winterszeit, im Sommer schlief er im Garten gegenüber in dem nach dem Grafen Alexander von Würtemberg sogenannten Alexandershäuschen. Wie oft trug noch um Mitternacht der Wind die Töne seiner Geige herüber! Sein Bild, von Rahl in Wien gemalt, hängt an der Wand. Welch’ herrliches melancholisches Auge, welche schönen geistigen Züge! Wie passend wählte Rahl zum Hintergrund eine öde Haide, eine schwarze Gewitterwolke; es ist als ob sie den Blitzstrahl bärge, der nachher zerrüttend auf Lenau’s Gehirn niederzuckte. Wie Lenau auch längst vor der Katastrophe das Nahen derselben fühlte, sehen wir aus seinem Briefe, Heidelberg, November 1831: „O Kerner, Kerner, ich bin kein Ascet, aber ich möchte gerne im Grabe liegen. Helfen Sie mir von dieser Schwermuth, die sich nicht wegscherzen, nicht wegpredigen, nicht wegfluchen läßt. Mir wird oft so schwer, als ob ich einen Todten in mir herumtrüge. Helfen Sie mir, mein Freund! Die Seele hat auch ihre Sehnen, die, einmal zerschnitten, nie wieder ganz werden. Mir ist als wäre Etwas in mir zerschnitten, zerrissen.“

Und Kerner, ahnend, daß es so traurig kommen könnte, wie es später gekommen, schrieb 1834 an Carl Mayer: „Gott sei mit ihm und dem Ende seines Lebens, vor welchem Keiner glücklich zu nennen ist!“

Im Zimmer nebenan hängt das lebensgroße Bild Mesmer’s mit der Unterschrift: F. A. Mesmer, Dr. M., âgé 76 ans, auteur du magnétisme animal. 1810. Unter diesem steht das Mesmerische Baquet, an welchem einst Isidorus Orientalis (Graf von Löben) Heilung suchte; vor Allem aber interessirt uns der „Nervenstimmer“ der Seherin von Prevorst, sie hat ihn im magnetischen Schlafe gezeichnet, die Construction angegeben, und manche Stunde saß sie davor, ihre zerrütteten Nerven zu heilen. Ueber diesem „Nervenstimmer“ hängt das Bild der Seherin, ein interessantes bleiches Gesicht mit schwarzen Augen, ein Tuch um den Kopf geschlagen, fast wie eine Nonne anzuschauen; und ringsum magnetische, elektrische, galvanische Apparate in voller Thätigkeit, und Kranke an Körper oder Seele gehen ab und zu. Wir sehen, diese Zimmer bleiben schon dazu bestimmt stygischen Kräften zu dienen, doch der gute Stern Kerner’s steht über dem Hause und Vielen wird Genesung.

Gehen wir eine Stiege höher, durchwandeln wir Kerner’s Wohnzimmer, Schlafzimmer, Studirzimmer, das Marienzimmer, so benannt von einem alten lebensgroßen Marienbilde von Alabaster, das einst in der Herbergskapelle im Welzheimer Walde stand und zu dem, wegen der Wunder, die es gethan haben soll, viele Wallfahrten geschahen, wonach sich eine eigene Brüderschaft die „Herbergsbrüder“ nannte – überall alte liebe Erinnerungen! Da noch an der gewöhnten Stelle der Armsessel, in dem Justinus in seinen kranken Tagen saß, da sein Stock, der treue Gefährte seiner Blindheit, da sein Trinkglas, ihm von Lenau 1831 geschenkt, da die Trinkbecher von des Grafen Alexander von Würtemberg Hand gedreht und hier Mesmer’s Doctordiplom auf Pergament unter Maria Theresia ausgestellt. Von der Wand schauen ernste Ahnenbilder, zwischen ihnen, von Ottavio Albucci 1850 gemalt, Justinus, die Maultrommel, auf der er Virtuos war, in der Hand. Unter diesem Bilde hängt ein kleineres, eine liebe freundliche Frau in schwarzem Häubchen darstellend. Das ist sein treues Riekele, die unsterbliche Liebe seiner Jugend, seines Alters, sie, von der David Strauß in seinen friedlichen Blättern so wahr sagte: „Der Dichter ist glücklich zu preisen, der wie Kerner eine Gattin findet, welche einerseits zwar seinem schwärmenden Gefühle den ordnenden Verstand gegenüberstellt, doch aber andrerseits selbst so viel Gefühl und poetischen Sinn besitzt, um das, was des [7] Dichters Brust bewegt, innig mitempfinden und sein Leben im vollen Sinne theilen zu können.“

Treten wir aus dem Wohnzimmer gegen die andere Seite des Hauses, da ist das im Schweizerstil gebaute, getäfelte Speisezimmer mit der Aussicht auf den Garten, den alten sogenannten Geisterthurm und die Weibertreu. Noch steht der schwere eichene Eßtisch in der Mitte. Wie Viele, die mit Justinus fröhlich um ihn saßen, Mathison, Tieck, Schwab, Uhland, W. Müller, Alexander von Würtemberg, Lenau, Varnhagen, Rahel, Schelling, Schubert, Görres, deckt jetzt das Grab, wenn auch nicht die Vergessenheit! Was könnte der Tisch erzählen von Ernst und Scherz, Freude und Leid! Wie sprudelte der Humor, wenn nach dem Nachtessen der weingefüllte Pocal und die Uhlandskappe – eine Sommermütze, die einst Uhland auf der Durchreise zurückgelassen hatte – herumging und Jeder von ihr begeistert einen Vers improvisiren mußte! Und wie geisterhaft still wurde es, wenn Kerner die Lichter löschte und die überirdischen Töne der Maultrommel durch’s Zimmer schwebten, während zwischen Weibertreu und Thurm der Mond hereinschien und von fern die Eule krächzte! Da saß auch der letzte Generalissimus der Polen Rybinski – noch hängt in jenem erinnerungsreichen, von Kerner besonders geliebten Alexandershäuschen drüben, wo er eine Woche wohnte, ein Lorbeerkranz mit den polnischen Bändern, den ihm eine Deputation überreichte, er aber als Besiegter ablehnte – im Winter 1832 mit neun flüchtigen Polen beim Nachtessen; sie waren von verschiedenen Regimentern und hier zusammengekommen, wie sie gerade das Schicksal zusammengewürfelt hatte. Ein lebhafter politischer Streit, in polnischer Sprache unter denselben geführt, nahm eine immer drohendere Haltung an, schon fiel das Wort „Verräther“; da erhob sich rasch Rybinski und sprach mit bewegter Stimme: „Ich bin ein Flüchtling wie ihr und habe euch nichts mehr zu befehlen, doch heute sollt ihr noch einmal mich im Unglück ehren und so befehle ich euch als euer General: Keiner spricht heute mehr ein Wort!“ Wie wurde es jetzt so still am Tisch! Kerner spielte die Maultrommel und mehr als Einem glänzte eine Thräne im Auge, sie dachten wohl an ihre ferne Heimath und an die Wanderung in’s fremde Land.

Hier saß auch auf ihrer Pilgerschaft durch die Welt Therese Milanollo mit ihren Eltern. „Nein, Sie dürfen nicht spielen,“ sagte Kerner, als sie die Violine ergreifen wollte, „bei mir sollen Sie nur Ihre armen Nerven ausruhen!“ Freundlich dankte ihm das müde Kind.

„Wo soll man heute essen?“ fragte jeden Mittag und Abend das Riekele, die Fee Tischleindeckdich, wie sie wegen ihrer Rührigkeit und Gastfreiheit Brentano nannte, ihren Justinus. „Im Zimmer? auf dem Thurme? im Garten? und wo in diesem? unter der Rebenlaube oder dem Apfelbaum oder dem Nußbaum?“

Das war eine Frage, die nicht so leicht abzumachen war, denn der Gedankengang war bei jedem Ort unwillkürlich ein anderer. Unter dem Rebgang, unter dem Apfelbaum, wo der Storch gravitätisch heranschreitend seinen Antheil am Mahl forderte und der Rabe stahl, was es zu stehlen gab, war die Stimmung eine heitere, idyllische; auf dem Thurme oben mit der Aussicht auf die Weibertreu, Löwenstein, das Grab der Seherin, den nahen Rappenhof, wo die Frau von Krüdener einst residirte, gab all das, was nah und fern der Blick streifte, den Gesprächsstoff; unter dem alten, riesigen Nußbaume aber, der sich an die epheuumwachsene Mauer und den grauen Thurm anlehnt, wurde einem legendenartig zu Muthe, war die Stimmung eine ernste, romantische. Hier war ein Tag, wo durch einen glücklichen Zufall die Dichter Schwabens, Uhland, Gustav Schwab, Carl Mayer, Graf Alexander von Würtemberg und mit ihnen Lenau und Varnhagen unter diesem Baume bei Kerner versammelt saßen. Das war eine heilige, weihevolle Stunde! Wie rauschte es da von alten Volksliedern und neuen Gedichten, von Legenden und Märchen! Uhland erzählte, wie er einst mit Kerner den Schwarzwald durchwanderte; unter einer Eiche fanden sie einen Hirtenknaben eingeschlafen. Leise steckte ihm Uhland ein blankes Guldenstück in die Hand, Justinus aber legte ihm eine lange Fingerhutpflanze mit dunkelrothen Blüthen in den Arm und unhörbar eilten sie weiter in der seligen Hoffnung, der Hirtenknabe werde beim Erwachen glauben, eine Fee habe ihn besucht und ihn zu ihrem Dienste auserkoren.

Lenau, in seinem polnischen Röckchen, mit den schwarzen Augen und Haaren und der gelben Gesichtsfarbe selbst an einen Zigeuner mahnend, sprach von den Zigeunern Ungarns und spielte einige ihrer Weisen.

„Mein Alexander, warum so still heute?“ rief Justinus. „Du warst ja auch in Ungarn, erzähle Etwas von den Räubern dort oder von Corsica!“

Wehmüthig schüttelte Alexander das Haupt: „Ich will Dir heute lieber etwas Anderes sagen:

‚Mein Leben gleicht dem alten Thurme,
Verwittert blickt er in die Welt,
Wohl trotzet er noch manchem Sturme,
Bis er in sich zusammenfällt,
Doch sind die Glocken drin zersprungen,
Ein Blitzstrahl traf mir das Gemüth,
Die heitern Lieder sind verklungen,
Nur eine düstre Flamme glüht
Die Phantasie auf dem Altare
Der Dichtkunst noch und wirft ihr Licht
Auf eine stille Todtenbahre,
Bis daß der Leib zusammenbricht.‘

War es eine Ahnung? Der liebe, schöne Alexander, von dem Justinus sagte: „Jeder Muskel ist bei ihm ein Herz!“ war von denen, die damals unter dem Nußbaum beisammensaßen, der Erste, der sterben mußte.

Der Nußbaum selbst hat auch sein Geschichtchen. Im Herbste 1844 ertönte – man wollte gerade zu Bette gehen – vom Garten her zuerst dumpf, dann immer lauter der Ruf: „Hülfe! Hülfe!“ Er kam offenbar vom Nußbaum her und aus den höchsten Aesten. Am Stamm lehnte, wie man bei Laternenschein entdeckte, ein Stock und Ränzchen, eine Stimme von oben aber rief flehentlich: „Ich bitte, mir zu leuchten, daß ich herabsteigen kann.“ Man kletterte mit der Laterne entgegen, und langsam stieg ein blutjunges Studentchen herunter und folgte in größter Verlegenheit in’s Haus, wo es von Kerner freundlich begrüßt wurde. „Ich bin aus Kiel, komme von Heidelberg,“ sagte er. „Ich war auf der Weibertreu, schon im Hinaufgehen schaute ich immer am Haus herauf, hätte Sie gar gern gesehen, hatte aber doch nicht den Muth, Sie zu besuchen. Im Heimweg dachte ich, ich wolle mir wenigstens als Andenken ein paar Nüsse von Ihrem hohen Nußbaume mitnehmen, und kletterte hinauf, hoffte auch, vielleicht vom Baume aus ins Zimmer sehen zu können, unterdessen wurde es aber plötzlich so Nacht, ich sah die Aeste nimmer und konnte nimmer herabsteigen.“

„Das ist brav von meinem alten Nußbaum, daß er Sie nicht herabgelassen hat,“ sagte Justinus, „sonst hätte ich ja jetzt nicht die Freude, Sie bei mir zu sehen; seien Sie mir herzlichst willkommen!“

Die Rasenbank an der Rosenhecke drüben weiß auch Etwas. Da war einst an einem schwülen Nachmittage Gustav Schwab bei einem Buche eingeschlafen; die Andern hielten bald da, bald dort ihre Siesta. Ein frommer Herr vom Rauhen Hause kam zum Besuch, es war auch einer von denen, die glaubten, in diesem Hause müsse ihnen jeder Schritt etwas Sonderbares zeigen. Theobald führte ihn durch den Garten. „Dort schläft Einer,“ sagte der Fremde, „was ist’s mit dem?“

„Das ist ein Somnambuler,“ sagte Theobald, „gehen Sie leise hin und legen Sie ihm die rechte Hand auf die Herzgrube, dann wird er sprechen.“

Voll Freude, so schnell in die Wunderwelt des Magnetismus eingeführt zu werden, schlich der Herr hinzu, doch als er eben seine Hand unter die Weste Schwab’s steckte, fuhr dieser vom Schlaf auf, glaubte nicht anders, als es stehe ein Taschendieb vor ihm, packte ihn am Arm und rief: „Zum Teufel auch, wer sind Sie? was wollen Sie?“ Es gab eine drollige Scene, über die nachher viel gelacht wurde; Kerner sagte: „Mein Theobald hatte eigentlich nicht so ganz Unrecht, jeder Dichter ist ja ein Seher und mehr oder minder somnambul.“

Aber im Juni 1846 da ging es auch lebhaft im Garten zu; es war das große Turnfest in Heilbronn. Die Turner zogen nach Weinsberg und brachten Kerner ein Ständchen; er lud sie in seinen Garten, und einer, Metternich von Köln (er starb in Amerika), hob Kerner mit Riesenstärke in die Höhe und rief: „Damit Ihr ihn Alle sehet!“ Kerner ließ es lächelnd geschehen, doch während sie nachher sangen: „Wo Muth und Kraft“[WS 2] schlich er sich leise davon, holte das Bild Lenau’s und sprach: „Höret die Worte [8] eines alten Mannes! Ich war einst jung und kräftig wie Ihr, jetzt bin ich ein kranker Greis und wenn ich sterbe, geschieht es nach dem wohlthätigen Gesetze der Natur. Doch nicht immer wartet das Schicksal so lange, oft greift es mitten in’s volle Leben; seht hier das Bild Lenau’s und höret das letzte Gedicht, das er dichtete, ehe ihn Wahnsinn umfing:

’s ist eitel Nichts, wohin mein Aug’ ich hefte,
Das Leben ist ein unruhvolles Wandern,
Ein wüstes Jagen ist’s von dem zum andern,
Und unterwegs verlieren wir die Kräfte.
Ja könnte man zum letzten Erdenziele
Noch als derselbe frische Bursche kommen,
Wie man den ersten Anlauf hat genommen,
Da möchte man noch lachen zu dem Spiele.
So aber trägt uns eine dunkle Macht
Wie ’s Krüglein, das am Bronnenstein zersprang
Und seinen Inhalt sickert auf den Grund,
So weit es geht, den ganzen Weg entlang,
Jetzt ist es leck, wer mag daraus noch trinken?
Und zu den andern Scherben muß es sinken.

Darum übt Euren Körper, doch vergeßt dabei nicht die ernste Pflege Eures Geistes, damit man einst an Euren Scherben noch sehen möge, daß Ihr edle Gefäße waret. Dies ist der Segensspruch, den ich Euch auf den Weg gebe; lebt wohl und grüßt mir Eure Eltern!“

Einst kehrte ein müder Wanderer im grauen Kleid, ein Ränzchen auf dem Rücken, bei Justinus ein. Im gothischen Zimmer des alten Thurmes, wo 1525 im Bauernkrieg Graf Helfenstein die Nacht vor seiner Hinrichtung gefangen lag, saßen sie lange allein beisammen, Kerner begleitete ihn auf die Weibertreu und dann das Thal entlang, der kleine Theobald durfte das Ränzchen tragen. Traurig, mit der Welt zerfallen, war der Fremde gekommen, sichtbar getröstet, aufrecht ging er von dannen. Auf dem Berg oben, wo der Weg sich Heilbronn zu hinabsenkt, nahmen sie Abschied von einander. „Die Menschen haben Ihnen eine irdische Krone vom Haupte genommen und Gott hat Ihnen dafür eine himmlische in’s Herz gelegt, seien Sie froh!“ sprach noch Justinus. Stumm drückte ihm der Fremde die Hand und ging schnell weiter. Doch als Kerner schon eine gute Strecke von ihm und kaum noch unter den Bäumen sichtbar war, drehte sich der Fremde noch einmal um und rief: „Dank! Dank!“

Es war Oberst Gustavsohn, der entthronte König von Schweden.




Kleine Ursachen, große Wirkungen.

Ach! Das wird mir nicht gleich schaden,“ so hört man nicht blos Gesunde, sondern sehr oft auch Kranke, zumal Brust- und Magenkranke, sprechen, wenn sie sich ihrer Gesundheit wegen Etwas versagen sollen. Und „hätte ich nur Das nicht gethan!“ wehklagen dann solche Leichtsinnige, wenn jenes Etwas doch geschadet hat. Nun, wo es gewöhnlich zu spät ist, wollen sie aus Furcht vor dem Tode den Vorschriften des Arztes (dem manche für ihre Rettung ihr halbes Vermögen versprechen, natürlich um es demselben, sollten sie wieder gesund werden, nicht zu geben) ganz streng folgen. Jetzt, wo sich ein unheilbares Leiden ausgebildet hat, der allopathische Arzneimittelschatz erschöpft ist und eine Menge Bäder auf den Rath von Medicinal- und Sanitätsräthen heimgesucht worden sind, jetzt werfen sie sich in die Arme der verschiedensten Charlatane; jetzt geht’s aus der Homöopathie in die Hydropathie, von Lutze zu Lampe, aus der Schroth’schen altbackenen Semmel- in die schwedisch-gymnastische Cur. Während Magenkranke in sehr vielen Fällen früher ohne alle Arznei, nur durch ein richtiges diätetisches Verhalten sehr bald gesundet wären, müssen sie sich später bei der gymnastischen Heilmethode abquälen mit: sturzstehender concentrischer Quermagenwalkung, spalthochsitzender Hüftrollung und Magenlinddrückung, streckspaltsitzender Brustspannung, halbstreckgangstehender Vorwärtsdrehung, spaltstehender Doppeltkniebeugung, lastneigender Rückenerhehung, hochstehender Beinvorwärtsdrückung, klafterstehender Planarmbeugung von hinten nach vorn, gehsitzender Wechselkniestreckung, halbliegender Plandrehung u. s. f. im Unsinn.

Krankheiten zu verhüten und den Naturheilungsproceß bei Krankheiten nicht zu stören, das wird in spätern Zeiten, wo der Mensch in der Schule von seinem Körper sicherlich mehr lernen wird als jetzt, nicht blos Aufgabe des Arztes sein, sondern auch vom Laien ermöglicht werden. Dazu braucht er aber vor allen Dingen die Kenntniß auch von den scheinbar sehr geringfügigen, den menschlichen Körper krankmachenden Schädlichkeiten, von denen sogar manche gar nicht wie Schädlichkeiten aussehen.

Wer hätte z. B. noch vor wenig Jahren geglaubt, daß so ein winziges Würmchen, wie die Trichine (s. Gartenlaube Jahrgang 1864 Nr. 7), solch gräßliches Unglück anrichten könnte? Nun man’s weiß, wird durch die mikroskopische Untersuchung des Schweinefleisches dem Unglück, elendiglich unter den heftigsten Schmerzen trichinös zu sterben, vorgebeugt. – Ein fast unmerklicher Luftzug, auf welchen die wenigsten Menschen, selbst die nicht, welche am Fenster arbeiten, achten, hat schon sehr oft die qualvollsten Muskel- und Nervenschmerzen erzeugt. – Der längere Aufenthalt in kühlen Localitäten, wo die Thätigkeit der Haut ganz allmählich ohne wahrnehmbare Empfindungen unterdrückt wird, war sehr häufig die Ursache eines äußerst schmerzhaften acuten Rheumatismus (s. Gartenl. 1856 Nr. 47), dem sich tödtliche Herzentzündung zugesellte. Ein Unterziehjäckchen[2] (s. Gartenl. Jahrg. 1861 Nr. 35), auf dem bloßen Leibe getragen, hätte dies verhindert. – Ein verschluckter kleiner Kern (besonders der Kirsche) veranlaßt durch seine Einkeilung in den Wurmfortsatz (am Blinddarme) sehr leicht den Tod durch Bauchfellentzündung. – Die bedauerlichsten Verkrüppelungen, zumal des Brustkastens, werden in der Regel durch eine falsche Haltung des Körpers erzeugt, die aber von den Eltern und Lehrern erst dann berücksichtigt wird, wenn die Verkrüppelung ganz auffällig und meist nicht mehr zu heben ist. – Cigarren, unmittelbar in den Mund gesteckt und hier mit Speichel derb durchfeuchtet, veranlassen manchmal durch ihre Tabakssauce, welche mit dem Speichel vermischt und verschluckt wird, hartnäckiges Magenleiden (chronischen Magenkatarrh, der eine Magenverhärtung nach sich ziehen kann). Das Rauchen aus einer Cigarrenspitze oder Pfeife würde diesen Schaden nicht machen. – Ein Unterrocksband, das nach der Behauptung der Binderin stets ganz locker gebunden sein soll, trotzdem daß es eine tiefe Querfurche in der Haut der Oberbauchgegend erzeugt hat, trägt sehr oft die Schuld an den Schmerzen in dieser Gegend, sowie an einer Verkrüppelung der Leber (s. Gartenl. Jahrg. 1853 Nr. 26), welche zur Entstehung der mannigfaltigen Suchten (besonders der Zanksucht) beim weiblichen Geschlechte mitwirkt. – Von einem hellen Gegenstande (z. B. von einem gegenüberstehenden weißen Gebäude) zurück- und auf die Arbeit oder auf das Auge geworfenes Sonnenlicht giebt häufig die Veranlassung zu schlimmen Augenleiden. Neugeborne Kinder erblindeten schon manchmal für’s ganze Leben, weil die neugierigen Angehörigen, um die Farbe der Augen des Kindes kennen zu lernen, dasselbe an das Sonnen- oder Kerzenlicht trugen. – Tabaksrauch, von kleinen Kindern und Hustekranken eingeathmet, kann der Lunge äußerst nachtheilig werden. – Kaltwerden des Bauches raffte schon Tausende von kleinen Kindern an der Brechruhr hin, und Verfasser ist der festen Ueberzeugung, daß diese Erkältung, zumal des warmen Bauches in der Nacht, bei Personen, welche in von der Cholera[3] (s. Gartenl. 1854. Nr. 35[WS 3] und 1856 Nr. 38) heimgesuchten [9] Orten leben und die Disposition zu dieser Krankheit in sich tragen, den Ausbruch derselben befördert. Von den vielen Hundert Cholerakranken, mit welchen Verfasser verkehrte, hatte auch nicht ein einziger eine Bauchbinde (die aber auch in der Nacht nicht abgelegt werden darf) getragen.

Vorläufig mögen diese wenig Beispiele hinreichen, um in Kürze auf die Wirkung kleiner und unbedeutend scheinender Ursachen aufmerksam gemacht zu haben. Betrachten wir nun diejenigen Leiden bestimmter Organe etwas genauer, welche gar oft durch scheinbar ganz geringfügige Dinge nicht blos in ihrer Heilung gehindert, sondern sogar lebensgefährlich werden können.

Die Krankheiten des Magens und Darmcanals, zumal wenn sie entzündlicher oder geschwüriger Natur sind und mit Schmerzen, Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Brechen, Durchfall etc. einhergehen, werden am häufigsten durch den Genuß unpassender Speisen und Getränke incommodirt und in der Regel von Seiten der Aerzte durch Arzneimittel maltraitirt. – Kalte und reizende, auch kohlensäurereiche Getränke wirken bei den allermeisten dieser Krankheiten der Heilung dergestalt entgegen, daß bisweilen aus einem heilbaren ungefährlichen Leiden ein chronisches und gefährliches hervorgeht. So kann z. B. der Magenkatarrh dadurch zur Magenverhärtung getrieben werden. Nur beim Blutbrechen ist Kaltes (das Verschlucken von Eisstückchen) zur Stillung der Blutung erforderlich.

Was nun die Speisen betrifft, so muß, zumal bei schmerzhaften Magenleiden (ganz besonders beim Magenkrampfe in Folge eines Magengeschwürs), alles Feste fern bleiben, und wenn dieses auch nur aus kleinen Körnchen oder feinen Schalen bestände. So können z. B. schon Compots aus Beeren ihrer Schalen und Körnchen wegen, Suppen mit Gries, Gräupchen, Nudeln, Reis etc., ungeschältes Obst, undurchgeschlagene Hülsenfrüchte, schlecht gekautes Fleisch etc. dadurch gefährlich werden und sogar den Tod herbeiführen, daß sie sich auf wunde, geschwürige Stelle des Magens oder Darmes auflagern und zur tödtlichen Durchbohrung dieser Organe Veranlassung geben. Schon mancher Nervenfieber-Reconvalescent, den selbst der Arzt außer aller Gefahr erklärte, starb noch und zwar ziemlich schnell, weil sich ein fremder Körper (Weinbeerkern, Pflaumenschale) in ein vernarbendes Typhusgeschwür eingelegt und dadurch eine Darmdurchbohrung (mit nachfolgender Bauchfellentzündung) erzeugt hatte. Man sieht hieraus, mit wie großer Vorsicht derartige Kranke gespeist werden müssen. So ist auch bei der Ruhr, überhaupt bei allen Brech- und Durchfallskrankheiten, ganz besonders aber beim Magenkrampfe, weil dieser in der Regel von einem (runden) Magengeschwüre veranlaßt wird, die Wahl der Nahrungsmittel von weit größerer Bedeutung als die meist ganz unnütze oder sogar schädliche Heilkünstelei.

Wenn also bei Magen- und Darmleiden der Genuß fester Nahrung nachtheilig ist oder doch werden kann, so dürfen natürlich nur dünn- oder dickflüssige (breiige) Speisen genossen werden, die aber trotz ihres Flüssigseins doch auch genug Nahrungsstoffe zur Ernährung unseres Blutes und Körpers besitzen müssen. Und unter diesen stehen zwei natürliche Nahrungsmittel obenan, d. i. weiches Ei (aber ebenso das Weiße wie das Dotter) und kräftige Fleischbrühe; an sie schließen sich dann zwei künstliche Nahrungsmittel, nämlich (an Stelle des Fleisches) das sogenannte Liebig’sche Fleischextract[4] und (um das Fett zu ersetzen) ein reizloses Malzextract[5]. Die Milch, obschon das beste Nahrungsmittel, wird deshalb selten vertragen, weil ihr Käsestoff im Magen (zu Quarkstücken) gerinnt und dann beschwerlich wird.

Gegen Verstopfung, welche sehr gern Magenleiden begleitet, wende man niemals Abführmittel, immer nur Klystiere (von warmem Wasser mit etwas Oel, Salz oder Seife) an, aber freilich müssen diese recht ordentlich in den Darm hinaufgespritzt werden (s. Gartenl. 1855, Nr. 21). – Wer, zumal gleich beim Beginne einer Verdauungsstörung, diesen hier gegebenen Rathschlägen folgt, wird’s sicherlich nicht bereuen sich von Arzneien fern gehalten zu haben.
Bock.




Die Mutter Gottes.
Ein Beitrag zur geheimen Geschichte der französischen Revolution.
I.


Frau von St. Amaranthe[6] war eine der schönsten Damen ihrer Zeit. Diese Eigenschaft hatte 1794 in Paris ihre Vortheile und Gefahren, allein Frau von St. Amaranthe schien sich nur der ersteren zu erfreuen, denn inmitten der Schreckenszeit führte sie ihren Haushalt, ihre Lebensweise in einer den herrschenden Grundsätzen so entgegengesetzten Art, daß alle Welt über die Blindheit oder Duldsamkeit des Wohlfahrtsausschusses von Paris erstaunt war. Frau von St. Amaranthe unterhielt Verbindungen mit den Emigrirten, in ihrem Hause hatten sich vor Ausbruch der Revolution Leute aller politischen Schattirungen bewegt, was allein genügte, die Person verdächtig zu machen; Frau von St. Amaranthe hatte sogar in ihren Salons die Bilder Ludwig’s des Sechszehnten und Maria Antoinette’s an den Wänden hängen, und um das Maß voll zu machen, verheirathete sie ihre sehr reizende, sechszehnjährige Tochter mit dem Sohne des ehemaligen Polizeiministers Sartines, der zwar Paris mit seiner jungen Gattin verließ, dessen royalistische Freunde jedoch von nun an vielfach bei Frau von St. Amaranthe verkehrten. Man erwartete in der Nachbarschaft der kühnen Frau täglich die verhängnißvolle Kutsche mit den Gensd’armen des Wohlfahrtsausschusses vor dem Thore des Hotel St. Amaranthe halten zu sehen, man horchte, ob nicht das bekannte Angstgeschrei ertöne – umsonst. Frau von St. Amaranthe blieb nach wie vor im ungestörten Besitz ihres Glanzes; ihre Gewohnheiten, ihre offen zur Schau getragene Neigung zum Königthume hemmte Niemand und der Zauber ihrer Persönlichkeit schien sie vor Kerker und Schaffot bewahrt zu haben.

Diese sichere Stellung in einer von Gefahren wimmelnden Epoche war übrigens nicht das einzige Räthsel, welches bezüglich der Persönlichkeit für Frau von S. Amaranthe zu lösen blieb. Welches Ursprungs war sie? Woher kam sie? Niemand wußte es zu sagen. Sie hatte eines Tages das große Hotel gekauft, welches einst der bekannte Schriftsteller Helvetius gebaut und bewohnt hatte, in diesen prächtigen Räumen eröffnete sie Salons, in denen, wie gesagt, die noble Gesellschaft vor und nach dem Ausbruche der Bewegungen verkehrte. Frau von St. Amaranthe behauptete, die Wittwe eines Edelmannes, eines Officiers, zu sein, der am 6. October bei den Vorfällen in Versailles ermordet worden sei. Ueber gemordete, verschwundene oder gefallene Menschen ließ sich nun freilich zu jener Zeit keine genaue Nachforschung anstellen, und so mußte man denn die Behauptung der Frau von St. Amaranthe gelten lassen, obwohl Mancher die Sache anders wissen wollte und namentlich über den Vater der schönen Tochter wunderliche Gerüchte umliefen.

Zum Erstaunen Aller kehrte sogar nach kurzer Abwesenheit der Schwiegersohn der Frau von St. Amaranthe, Herr von Sartines, mit seiner Frau nach Paris zurück, nahm Wohnung in dem Hotel seiner Schwiegermutter und man sah ihn wenige Tage später öffentlich am Arme eines alten Herrn, Namens de Quesvremont, den die Volksstimme als einen Ludwigsritter und geheimen [10] Agenten der Orleans bezeichnete, durch die Straßen von Paris schlendern.

Das war zu viel. Welchen geheimen Beschützer hatte Frau von St. Amaranthe, wie mächtig mußte derselbe sein, wenn er seinen Schützling vor der Ahndung der schwersten Verbrechen gegen die Republik so dauernd zu schirmen wußte? Diese Fragen sich zu beantworten, scheuten die Nachbarn des Hotels St. Amaranthe in der Straße des Lombards kein Mittel. Sie guckten über die Hofmauern, spazierten Abends vor dem Hotel umher und suchten Bekanntschaft mit der Dienerschaft der Frau von St. Amaranthe anzuknüpfen. Allein sie erfuhren nur schon Bekanntes. Einige besonders Neugierige hatten indeß doch die ziemlich wichtige Entdeckung gemacht, daß Frau von St. Amaranthe, ihre Tochter, ihr Schwiegersohn und der alte de Quesvremont wöchentlich zwei Mal zu einer bestimmten Stunde, Abends neun Uhr etwa, das Hotel verließen. Die Späher waren ihnen nachgeschlichen und hatten die Gesellschaft bis in die Gegend der Straße Victor begleitet; dort war sie ihnen entschwunden und hatte sich in dem Gewirr von Gäßchen verloren, das zwischen dem Pantheon und dem Pflanzengarten hinlief.

Allmählich lernten die Neugierigen durch anhaltendes Studium auch die Gäste des Hotels genau kennen, und so mußte sich die Verwunderung immer höher steigern, wenn man bemerkte, daß neben den royalistischen Freunden auch wüthende Republikaner daselbst verkehrten. Hatte Frau von St. Amaranthe es verstanden, die Raserei der politischen Gegner zu beschwichtigen? Fast mußte man ihr diese Macht zutrauen, denn mit Herrn von Quesvremont in derselben Gesellschaft bewegte sich z. B. der Schauspieler Trial. Trial war ein leidenschaftlicher Republikaner und persönlicher Freund Robespierre’s.

Am 2. Mai 1794, nach einem schönen, sonnigen Tage, als der sanfteste Abendhauch über Paris zog, hatte Frau von St. Amaranthe ihre Salons festlich geschmückt. Die Lichter brannten auf den silbernen Candelabern und auserlesene Erfrischungen bedeckten das Buffet des Speisesaales. Gleichwohl war die Gesellschaft nur sehr klein. Sie bestand aus der Wirthin und deren Tochter, aus Sartines, dem Herrn von Quesvremont und einer jungen, ebenso schönen wie geistreichen Frau, welche sich die Marquise von Chastenais nannte. Die Anwesenden schienen in erwartungsvoller Aufregung zu sein und promenirten in den Gemächern auf und nieder, bis die Glocke neun Uhr schlug. Mit dem letzten Schlage eilten sie Alle in den Empfangssalon. Hier warteten sie eine Zeit lang und fuhren unwillkürlich erbebend zusammen, als etwa zehn Minuten nach neun Uhr die Hausklingel heftig gezogen ward. „Jetzt kommt er,“ flüsterten sie Alle. Ihre Gesichtszüge drückten gespannte Erwartung aus, ihre Stellungen waren fast denen der Jäger zu vergleichen, die das Hervorbrechen eines Wildes aus dem Gebüsch belauern. Sie hörten Stimmen im Vorzimmer, dann näherten sich Tritte, darauf ward die Thür geöffnet und der Schauspieler Trial trat in Begleitung eines elegant gekleideten und frisirten Mannes von stolzer und doch bescheidener Haltung in den Saal. Die Anwesenden neigten sich, der Fremde erwiderte höflich den Gruß. Trial ergriff seine Hand und stellte ihn der Gesellschaft mit den Worten vor: „Maximilian Robespierre, der erste Bürger der Republik Frankreich.“

Der Gefürchtete schritt zu Frau von St. Amaranthe. „Du hast gewünscht, Bürgerin,“ begann er, „mich kennen zu lernen? Ich erfülle Deinen Wunsch.“

„Bürger Dictator, ich bin erfreut, Dich zu sehen,“ erwiderte die Wirthin, „ich rechne diesen Tag zu den wichtigsten meines Lebens. Ich bin begeistert für Dich.“

„Wirklich?“ entgegnete Robespierre. „Es klingt so, als wäre es die Wahrheit. Trial hat mir erzählt, daß ich hier Freunde finden werde. Ich – Freunde, wo die Originale dieser Bilder gleich den Heiligen verehrt werden?“ Er zeigte auf die Portraits des hingerichteten Königspaares, die an der Wand hingen.

„Was geschehen ist, das mag man als Werk höherer Hand ansehen,“ sagte Frau von St. Amaranthe. „Wir erblicken in Dir das Mittel, wodurch Gott eine neue Ordnung der Dinge bewerkstelligen will – – wir –“

„Halt, Bürgerin!“ fiel ihr Robespierre ins Wort. „Weißt Du nicht, daß die Republik den Namen ‚Gott‘ auszusprechen verbietet?“

„Du selbst wirst ihn wieder einführen,“ rief die Marquise von Chastenais vortretend, „Du weißt, daß er Dich beschirmt, daß er Deine Person ausersehen hat.“

„Fast muß ich es glauben,“ sagte Robespierre düster lächelnd. „Ihr Alle wißt noch nicht, was geschehen. Vor zwei Stunden sollte ich das Opfer einer Meuchelmörderin gleich wie einst Marat werden.“

„Erschrocken fuhren Alle zurück.

„Ein junges Mädchen hat nach mir gefragt, mich zu sehen gewünscht. Sie schien verdächtig und man hat sie festgenommen. Die Unglückliche hatte Mordwaffen bei sich. Als sie gefragt ward, weshalb sie zu mir wolle, antwortete sie: ‚Ich habe sehen wollen, wie ein Tyrann aussieht.‘ Und Ihr, meine schönen Bürgerinnen, Ihr ruft mich als den Ordner des Erdballs, den Bringer einer neuen Zeit aus, während man mich als Tyrannen erdolchen will?“

„Ich bin noch zu erregt von der Nachricht,“ sagte Frau von St. Amaranthe, „um Dir wohl darauf antworten zu können, aber lasse Dich bei mir nieder.“

Die Gesellschaft saß bald im Kreise zusammen. Anfangs drehte sich das Gespräch natürlich um den beabsichtigten Mordversuch.

„Wie ist der Name des Mädchens?“ fragte Sartines.

„Cäcilie Renault, die Tochter eines Papierhändlers,“ antwortete Robespierre. „Was kann ihr Vorhaben gewesen sein, als Mord? Ich möchte sie gern retten.“

„Kein Stahl ist für Dich geschliffen, Bürger Dictator,“ sagte Herr von Quesvremont mit Emphase. „Du wirst triumphiren über Alle, die Dir entgegen sind. Mögest Du nur das Werk durchführen, wie Du es begonnen. Aber wozu die blutigen Beile? Weshalb die gefüllten Kerker? Als Danton und Hebert gefallen waren, glaubten wir sicher an eine Wendung der Dinge, wir wissen auch, Bürger Dictator, daß Du in Deinem Kopfe Pläne trägst, welche eine Herstellung ruhiger Zustände bezwecken. Du duldest religiöse Zusammenkünfte. Würdest Du sie dulden, wenn nicht eine große Maßregel in Deinem Plane läge, nach welchem das Blut aufhören soll zu fließen, nach welchem endlich aus dem rothen Meere die Sonne eines neuen, schönen Tages heraufsteigen soll?“

Robespierre erhob sich schnell. „Nichts weiter davon! Ich darf diese Worte nicht hören. Ihr sprecht von den Maßregeln der Republik als Aristokrat, der Ihr seid. Ich heilige das Gastrecht, indem ich Dein Wort nicht gehört haben will. Woher wißt Ihr von meinen Planen, meinen Absichten?“

Die Marquise von Chastenais trat zu ihm, legte die Hand auf seinen Arm und schaute ihm fest in’s Gesicht. „Maximilian Robespierre,“ sagte sie mit sanfter Stimme, „es giebt höhere Dinge, als die Menschen dieser Zeit glauben wollen. Blicke uns Alle an. Wir sind die Geweihten eines Bundes, der täglich an Zahl wächst. In der stillen Nacht, im ärmlichen Raume arbeitet dieser Bund an der Aenderung der Dinge. Du kennst ihn, denn einer Deiner glühendsten Verehrer ist der Sprecher, der Priester. Dein Name wird genannt als der eines neuen Weltenerbauers, Du bist der Prophet, der Beglücker sollst Du sein, so verkündet Dich uns die Sibylle, die Schöpferin unserer Vereinigung. Ohne es zu ahnen, hast Du Dir ein Heer geworben, das, mit der Waffe des Wortes aus dem Munde unserer Sibylle hervorgehend, Deine Feinde schlagen helfen wird. Du hast Briefe, Weisungen erhalten, Du weißt, daß Du zählen kannst auf Alle, die zu uns gehören; wir trauen Deinem Genie, Deinem Herzen und rufen Dir zu im Namen unserer Mutter: ‚Wirf es von Dir, das Beil des Blutgesetzes, und sei der Schöpfer einer reinen, neuen Zeit.‘“

Robespierre stand unbeweglich, die Arme über der Brust gekreuzt, die Versammelten anblickend. „Ich befinde mich also unter Mitgliedern des Bundes ‚der Mutter Gottes‘!“ rief er. „Trial, warum sagtest Du mir das nicht? Ja, ja, ich weiß. Es giebt eine solche Loge des Prophetismus. Ich duldete sie bisher, ich werde sie weiter dulden. Mein überspannter Freund, Dom Gerle, hat mich oft davon unterhalten“

„Leugne nicht, Robespierre,“ rief Frau von St. Amaranthe begeistert, „Du gehst mit einem Plane um, bei dem die Hülfe der Erleuchteten Dir nützen kann – muß – soll; Du zeigst bereits offen Deinen Abscheu gegen Blut. Weil wir das sahen, weil wir in Dir den neuen Propheten erblicken, traten wir dem Bunde bei, um Dir näher zu stehen. Baue sie auf, die alten Gottestempel, die der bessere Theil der Nation jammernd vermißt, [11] stelle das Christenthum her, das in Trümmern liegt, und Du wirst glänzen. Maximilian, die Dolche des Mädchens sind eine Warnung, eine Mahnung, unser Beitritt zum Bunde der ‚Mutter Gottes‘ ist eine Huldigung für Dich, ein Anbieten unserer Hülfe, stoße uns nicht zurück, geh’ mit uns.“

Robespierre versank in tiefes Nachdenken. Endlich warf er das Haupt zurück. Seine Blicke waren sanft und wohlwollend. „Ich kenne die Tragweite der Entschlüsse und die Macht der Lehren wohl, welche der Bund faßt und verbreitet. Ich weiß, daß ihm täglich Genossen zuströmen. Wie oft hat man mich schon aufgefordert, das sichere Nest zu zerstören! Ich wies das Ansinnen zurück. Heute bin ich so aufgeregt durch den Mordanschlag, so beruhigt durch Euere Anerkennung. Ja, ich kenne das Weib der Straße Contrescarpe, Katharine Theot, die Mutter Gottes, doch Euere Religion ist die meine nicht. Die Vernunft ist so göttlich, daß sie die einzige Vorsehung dieses Geschlechtes ist; aber arbeitet Ihr auf Euere Weise, laßt mich nach der meinigen wirken, dann begegnen wir uns in einem Punkte und in Monatsfrist wird Frankreich wieder einen Gott haben.“

Enthusiastisch umringten Alle den Dictator, sie ergriffen seine Hände, sie riefen ihm Dank zu, der Becher kreiste und sie leerten ihn auf das Wohl einer neuen, glücklichen Zeit.

Spät in der Nacht trennte sich Robespierre von dem Kreise der neuen Genossen. Er ging mit Trial aus dem Hotel. Als die Thür sich hinter ihm schloß, kehrte Herr von Quesvremont, der den Dictator begleitet hatte, frohlockend zurück. „Alles geht gut, meine Freunde. Der Dictator ist auf dem besten Wege,“ sagte er die Hände der Damen fassend. „Wir bringen ihn noch weiter. Es war ein Glück, daß wir uns in den Bund aufnehmen ließen. Ich sehe den Thron wieder aufgerichtet und die Lilien glänzen. Robespierre wird der Unsere.“

Robespierre ging mit seinem Begleiter die Straße des Lombards schweigend entlang. Das Hotel lag nicht weit von des Dictators einfacher Wohnung in der Straße St. Honoré. Als sie unter dem Thorbogen hervorgetreten waren, kamen plötzlich zwei Männer, bisher hinter dem Vorsprung des gegenüberliegenden Hauses verborgen, über den Damm geschritten. Sie hielten sich dicht zu Robespierre und Trial, machten einen Bogen, gingen wieder auf die andere Seite der Straße und suchten den Beiden entgegenzukommen. Dies gelang ihnen an der Ecke der Straße Féronnerie, woselbst die in Ketten hängende Straßenlampe das Antlitz Robespierre’s hell beleuchtete. Mit einem „guten Abend, Bürger,“ schritten die Beiden, sich fest in ihre Mäntel wickelnd, vorüber. Als Robespierre und sein Begleiter verschwunden waren, standen die Verhüllten still.

„Hast Du Dich überzeugt, daß ich Recht hatte?“ fragte der Aeltere.

„Ich bin erstarrt. Robespierre im Hause der Aristokraten!“

„Es ist Zeit zu handeln. Was meine Leute mir anvertraut, ist richtig Robespierre geht mit einem Plane zur Aenderung der Dinge um. Daher seine Reden von der Wiedereinsetzung eines höchsten Wesens. Ich ahne den Zusammenhang. Die Clique des Hotel St. Amaranthe gehört zu der Gesellschaft, welche in der Straße Contrescarpe ihr Wesen treibt. Die alte Katharine Theot präsidirt diese Versammlungen. Dort wird ein Heer geworben, das im Augenblicke des Umschwunges für Robespierre einstehen soll, wenn er sich mit den Jüngern verbindet, an deren Spitze der Ex-Carthäusermönch, unser ehemaliger College, Dom Gerle steht. Robespierre ist unser überdrüssig, und ich sage Dir, die Köpfe von uns Allen stehen nicht fester, als diese Rübe.“ Er stieß eine halbfaule Rübe mit dem Fuße fort, die inmitten der Straße lag.

„Was gedenkst Du zu thun?“ sagte der Jüngere.

„Handeln müssen wir. Robespierre anzugreifen ist noch nicht Zeit, aber das Complot zu vernichten ist Eile nöthig. Drehen wir die Sache geschickt so, daß alle Welt glaube, es geschehe in Robespierre’s Interesse. Morgen muß im Ausschusse die Verhaftung der Mitglieder jenes Clubs von Propheten beschlossen werden, wir müssen Alle haben. Wird Robespierre es wagen, sie zu retten? Wird er sich so lächerlich machen, die Gaukler zu vertheidigen? Nein. Sie fallen Alle und das Gewürm im Stamme der Republik ist vernichtet, aber der Gewaltige erhält einen Schlag. Die an Milderung glauben, werden sehen, daß er nach wie vor hinrichten läßt, und wehe ihm, wenn er retten will! Er muß schweigend zusehen. Die Geschichte mit der Renault kommt uns gut zu Statten, man macht daraus eine ungeheuere Verschwörung, deren Fäden in London zusammenlaufen, dazu die Gesellschaft der Straße Contrescarpe – es wird sich machen.“

„Daher also die Sicherheit jener Frau von St. Amaranthe!“ sagte der Andere. „Sie war schon lange verdächtig.“

„Uebereilen wir Nichts, aber nützen wir die Zeit.“

Sie waren vor einem Sicherheitsbureau angekommen. In diesen Bureaus befanden sich zu jeder Zeit Wachen und Policisten, welche der Patriot zu seiner Hülfe in Anspruch nehmen konnte. Der Aeltere klopfte an das Thor.

„Wer da?“

„Patrioten.“

Die Wache trat heraus.

„Ist der Bürger Sénart zu sprechen?“

„Hier bin ich!“ rief eine aus einer Tabakswolke kommende Stimme. „Du bist es, Bürger Volksvertreter?“ sagte Sénart an die Thür tretend.

„Sei morgen früh um neun Uhr bei mir, Sénart, ich habe einen Auftrag für Dich.“

„Ich werde mich einstellen, Bürger.“

Die beiden Männer gingen weiter.

„Es wird ein Blitz sein aus heiterm Himmel. Laß ihn nur erst die Posse von der Wiedereinsetzung feiern, dann wirkt der Schlag um so vernichtender. Einen furchtbaren Namen wie den seinigen verlöscht man am besten, wenn man ihn lächerlich macht.“

Sie trennten sich. „Gute Nacht, Vadier,“ sagte der Jüngere.

„Gute Nacht, Barrère.“ –

Katharine Theot, gebürtig aus Baranton, hatte von Jugend auf behauptet, göttliche Eingebungen zu haben. In die Bastille gesperrt, der Salpetrière als Kranke überwiesen, dann wieder entlassen, hatte dieses fanatische Weib die Wirbel der Revolutionsströme benützt, um mit ihren Offenbarungen auf’s Neue hervorzutreten. Dom Gerle, ein ehemaliger Carthäusermönch, Freund Robespierre’s, ein Mann von Talent, in dessen durch klösterliche Einsamkeit verdüstertem Geiste allerlei fabelhafte Plane umhergaukelten, fand sich zu Katharine Theot. Er ward ihr Priester, er deutete ihre Orakelsprüche, er zog bald eine zahlreiche Gesellschaft an sich und die Prophetin, denn der Hang zum Wunderbaren steigert sich in bewegten Tagen reißend schnell. Katharine Theot nannte sich „die neue Eva“, auch „Mutter Gottes“.

Robespierre hatte, das ist sicher, um jene Zeit den festen Willen, dem Blutvergießen Einhalt zu thun. Deshalb mußte ihm eine Genossenschaft wichtig werden, die durch eine Art religiöser Politik auf die Massen wirken konnte, obwohl sein klarer durchdringender Verstand natürlich die Mysterien der Straße Contrescarpe belächeln mußte. Er hörte Dom Gerle’s fieberhafte Projecte an, verfolgte die Secte nicht und baute darauf hin den Plan zu der Feier „der Wiedereinsetzung des höchsten Wesens“. In demselben Grade wie Robespierre für seine Zwecke den Bund auszubeuten suchte, geschah dies von Seiten der Anhänger des gestürzten Thrones. Sie ließen sich in die Gesellschaft aufnehmen, um von hier aus agiren zu können, und so kam es, daß die Bewohner des Hotel St. Amaranthe dem Bunde angehörten. Diese Leute warfen sich noch außerdem mit wahrhaftem Enthusiasmus dem Mysterium in die Arme, das, mit seinem düstern Schleier sie bestrickend, Alle umfing – Alle vernichtete.

Die Einführung Robespierre’s durch Trial bei Frau von St. Amaranthe war auf Wunsch der schönen Dame sowohl, als auch aus des Dictators Verlangen geschehen. Er wollte die Aristokraten kennen lernen, die ihn verehrten. Er fand die blendendste Schönheit, den sprudelndsten Geist, die glühendste Schwärmerei, und er war der Gegenstand dieser Verehrung! Robespierre verfolgte die Aristokraten nicht. Aber seine Schritte waren bewacht. Die Führer der Ausschüsse lauerten ihm auf. Vadier, der Schreckliche, ein unbeugsamer Republikaner, schrie zuerst „Verrath!“ Die Ausschußmitglieder sagten sich, daß Robespierre, der eine Umgestaltung der Dinge vorbereitete, ihre Köpfe nicht schonen, daß die Guillotine gegen Alle gerichtet werden müsse, die sich dem Willen des Dictators entgegen zeigten.

Sie beschlossen zu handeln. Durch Vernichtung der Bundesmitglieder mußte Robespierre deren Hülfe abgeschnitten, er selbst den Leuten, die auf Milderung hofften, als der alte Tyrann dargestellt [12] werden, denn es war kein Zweifel: die Bundesleute, welche so gegen die Republik frevelten, konnte Robespierre nicht retten, er mußte sie bluten lassen, und neben dem Verrath stand er lächerlich da, durch die Huldigungen eines alten Weibes und eines fanatischen Mönches zu einem Propheten gestempelt. Hatte man ihn so isolirt, dann sollte der Schlag gegen ihn fallen. Es traf Alles ein. Der Proceß Katharine Theot’s und ihrer Genossen ist die Ursache zu Robespierre’s Sturz, und erst die Zeit hat die Fäden dieses Netzes bloßgelegt, welche den Dictator umstrickten. Furcht vor seiner Macht war sein Fall.




Eine Alpenstraße.


Noch immer schleppt sich der Weltverkehr zwischen dem westlichen und mittleren Deutschland und Italien auf den gewohnten Straßen mit Hülfe des Postillons und Fuhrmanns träg fort, nur einzig im südöstlichen Deutschland, in Oesterreich, Steiermark und Illyrien überspringt das schnaubende Dampfroß die Alpen, um auf dem Umwege über Triest nach Venetien zu gelangen und so Land und Land auf eine dem modernen Fortschritt angemessene Art zu verknüpfen. Die Technik stand rathlos vor den düstern Schluchten der Tiroler und Schweizer Alpen und ihren steilen Pässen, endlich jedoch rafft sie sich auch hier auf, um bisher unbezwungene Gebiete dem rastlosen Verkehr zu erschließen und die Völker mit eisernen Fäden zu verbinden, die stärker sind als die legitimen Bande sterblicher Dynastien.

Der Brennerpaß, viertausendsechshundert Fuß über dem Meer, ist ein tief eingeschnittenes Hochthal in Tirol, kaum eine Wasserscheide; fast scheinen auf der öden Fläche die Sill und die Eisack zu zweifeln, welche Richtung sie einschlagen sollen. Der Brenner ist der niedrigste Paß über die Alpen in ihrer ganzen Ausdehnung von Frankreich bis zur ungarischen Grenze und daher allerdings für den Bau der Eisenbahn günstiger, als die Alpenübergänge der Schweiz sein werden und die über den Semmering und Karst gewesen sind. Freilich muß die Bahn, bis sie die Höhe erreicht, auch hier manche kühne Biegung machen, manchen Felsenvorsprung durchbrechen, über Schutthalden und Abhänge klettern, so daß dem, welcher von ebenen Gegenden kommt, bei dem Blick in die Schlucht schwindelt; wehe, wenn hier ein Waggon entgleist, er reißt den ganzen Zug viele hundert Fuß tief ohne Rettung in den Abgrund! So wird immerhin die Brennerbahn, wenn sie demnächst vollendet, zu den großartigsten Straßenbauten unserer Zeit gehören. Erfordert sie doch nicht weniger als neunundzwanzig Tunnels, von denen verhältnißmäßig die meisten auf die kurze Strecke von Innsbruck bis Patsch fallen, der längste, der bei Ast im Pflerschthal, über zweitausend Fuß lang, der durch den bekannten Berg Isel bei Innsbruck aber nur um Weniges kürzer ist. Außerdem sind über die verschiedenen Thäler, Schluchten, Abgründe, von den kleineren ganz abgesehen, fünfunddreißig größere Brücken zu schlagen, von welchen siebenzehn aus Eisen construirt werden.

Diese Alpenbahn endet südlich bei Botzen, nördlich bei Innsbruck; die siebzehn Meilen, welche zwischen diesen beiden Städten liegen, führen bergauf, bergab, über Sümpfe und Wildbäche, durch Schluchten und Tobel, daß wohl, wie ein Bäuerlein meinte, die Hennen selbst Steigeisen anlegen müßten. Gehen wir einmal zu Fuß dem Bahnbau entlang und schauen nach, ob nicht bald nun das Dampfroß gerüstet werden kann, über die alte Brennerstraße in’s Wälschland hinab zu sausen. Unser nächster Weg führt hin zur Sillschlucht, an deren Seite sich der Berg Isel hebt, wo der Tiroleraar Frankreichs Kaiseradler rupfte, daß die Federn stoben und der Herzog von Danzig vor Bauern das Laufen lernte … plötzlich dröhnen dumpfe Donnerschläge aus dem Boden; regt sich die Hölle und die in ihr verdammten Franzosen, weil wir ihrer zu spotten gewagt? Der weites Schlund einer Höhle gähnt uns entgegen, wir sehen in der schwarzen Tiefe Lichtchen hüpfen; vorwärts! Mit einem freundlichen Glückauf tritt uns ein Bergmann entgegen, er geleitet uns, doch müssen wir von Zeit zu Zeit vor den Karren ausweichen, welche das im Tunnel losgesprengte Gestein – Thonglimmerschiefer, wie uns ein Geognost sagt – zu Tag fördern. Der Gang unter der Erde nimmt kein Ende, es ist der längste Tunnel des Baues, zweitausendreihundert Fuß! Wir stehen an der Rückwand des Stollens; legen wir das Ohr an’s Gestein, so hören wir durch den Felsen ein leises Tik, Tik, Tik! die Maulwürfe auf der Gegenseite haben auch schon wacker vorwärts gewühlt, und in wenigen Tagen können die hüben und drüben sich die Hand reichen. Ein kleines Fest wird dieses unterirdische Ereigniß verherrlichen.

Froh, wieder oben zu sein an Gottes freier Luft, steigen wir am Kratzbrunnen vorüber gegen Sonnenburg. Von hier überblicken wir eine große Strecke der Schlucht, in deren Tiefe die Sill hinbraust und den Gischt an den grauen Schrofen emporschleudert. Aus dem Abgrund steigen aus Balken, die sich wie Stäbchen ausnehmen und gitterartig gekreuzt sind, erbaute Gerüste, Minen krachen und in riesigen Sprüngen poltern Felsblöcke herab. Die Axt wühlt, die Schaufel schleudert den Schutt in das Wasser, Arbeiter winden die Holzkatze an der Kurbel empor; ein dumpfer Schlag, der sich in langen Tacten wiederholt, und ein Pfahl ist wieder etliche Schuh tief eingerammt.

Diese winzigen Menschlein, die an den Felsen kleben wie Fliegen, wollen die gewaltige Natur der Alpen bezwingen? Ja, sie bezwingen sie, und wir bewundern hier den großartigen Gegensatz geistiger Kraft, welche die schwache Hand stählt, und riesiger Massen rohen Stoffes, deren träger Widerstand Schritt vor Schritt verständig geleiteter Bewegung erliegt. Dieser Kampf erheischt aber auch Opfer! Wehgeheul dringt an unser Ohr. Auf steilem Pfad klettern Arbeiter empor und schleppen eine Bahre, ein Mann liegt darauf und zuckt vor Schmerz, von seinen Gliedern träufelt Blut, nebenan läuft ein Weib und ringt die Hände, gelbe Kinder mit ruppigem Haar stimmen ein in die laute Klage. Wanderer, nimm den Hut ab, das ist ein Märtyrer, der bei der sauren Arbeit für den Fortschritt der Menschheit, als Pionier der Civilisation von einem Stein zerschmettert ward. Ja, er fordert Opfer, dieser Bau, aber nicht so viele wie der Kampf ehrgeiziger Eroberer, Opfer denen wir eine reinere Theilnahme widmen können, als den Dienern des Absolutismus, welche es für Standesehre halten, die Freiheit der Völker zu knechten, oder einige Quadratmeilen Landes zu gewinnen, von dem sie schließlich nichts haben, als ein Grab für den geschundenen und zerfetzten Leib.

Die Leute, die wir hier beschäftigt sehen, sind großentheils Italiener. Die Unternehmer miethen sie gern, denn was sich von Deutschen, mit Ausnahme der Stollenarbeit, verdingen will, ist nur zu häufig zusammengelaufenes Proletariat der schlimmsten Sorte.

Wie man mir erzählte, sah die deutsche Bevölkerung des Wippthales der Ankunft so vieler Italiener, hinter deren jedem man einen Fra Diavolo witterte, mit Angst und Sorge entgegen, die Befürchtungen erwiesen sich jedoch als falsch. Durchschnittlich erwarben sich diese Welschen Achtung durch ihre Arbeitsamkeit, Nüchternheit und Bescheidenheit, der Städter begegnet ihnen viel lieber, als manchen Bauerburschen aus der Umgegend, denn jene sind stets höflich und artig, bei diesen ist man nicht gar selten rohem Schimpf oder Insulten ausgesetzt. Es ist überhaupt gar komisch, wenn sich die frommen „Alttiroler“ so gern ihrer Tugendhaftigkeit rühmen und, um diese jungfräulich zu erhalten, Freimaurer und Protestanten ausschließen möchten, während solche, die Land und Leute genau kennen, mit den statistischen Tabellen in der Hand für Tirol eine sehr große Anzahl zum Theil sehr raffinirter oder gemeiner Verbrechen nachweisen. So ersehen wir auch hier, daß religiöser Fanatismus, den eine herrschsüchtige und eigennützige Kaste pflegt, im umgekehrten Verhältniß zur wahren Sittlichkeit steht. Uebrigens steckt im Tirolervolke ein tüchtiger Kern, und die ehernen Bande der Finsterniß, welche ihm eine pfäffische Clique um die Stirn gelegt, lockern sich zum Entsetzen aller Zionswächter mehr und mehr. Auch hier werden die Wirkungen des Völkerverkehrs den die Eisenbahn im herrlichen Alpenlande einleitet, nicht ausbleiben.

Bleiben wir jedoch vorläufig bei unseren Welschen. Schön sind sie eben nicht die kleinen Burschen mit den zerzausten Haaren, der offenen Brust und dem schlampigen Gewand, aber lustig trällern sie ein Liedchen und es ist recht gut, daß es das Mädchen, welches dort über die Straße geht, nicht versteht, sonst müßte es erröthen. Sie kauern oder stehen um das Feuer, die Polenta ist gahr gekocht und auf ein Bret gestrichen, ein Alter zerschneidet sie mit

[13]

Italienische Arbeiter an der Brennerbahn.
Nach der Natur gezeichnet von M. Schmid.

[14] dem Faden, der wie die Sehne eines Bogens an einem Haselstäbchen ausgespannt ist. Willst Du kosten? Gieb dem Alten einige Kreuzer.

„Da, Alter, gieb mir ein Stück.“

Er reicht Dir ein Stück, Du beißest hinein und versuchst davon zu schlucken. Ja, lieber Freund, das ist keine Polenta, wie sie an der Table d’hôte zu Verona oder Mailand mit einer Garnitur von Wachteln oder Lerchen servirt wird. Unsere Arbeiter rühren Maismehl mit Wasser zu einem zähen Brei, streuen Salz darein und kochen den Teig; das ist ihr Frühstück, Mittagsmahl und Abendessen! Nur diese außerordentliche Mäßigkeit macht es den armen Leuten möglich, von den zehn bis fünfzehn Silbergroschen, die sie als täglichen Lohn erhalten, noch etwas zu ersparen. Diese Mäßigkeit ist es aber auch, welche ihnen an der Etsch im Kampf gegen das Deutschthum das Uebergewicht verleiht, so daß dasselbe immer weiter gegen Norden zurückgedrängt wird. Ein Gütchen auf welchem ein deutscher Bauer nicht mehr fortkommt, nährt noch immer zwei bis drei welsche Familien ganz gut. Dabei unterstützt diese die Kirche, denn Südtirol zählt zur Diöcese Trient; was kümmert sich Rom um das deutsche Volk, das ohnehin die Reformation erfunden und einen Goethe, Schiller und Lessing hervorgebracht, lauter Leute, die nicht zur Messe gingen und keinen Peterspfennig zahlten!

Mittlerweile sind wir an den Brenner selbst gekommen über dessen Paß der Eisenweg gebahnt wird. Es ist allmählich, Abend geworden. Rosige Wölkchen spiegeln sich in dem düsteren See, der den Eingang des Passes verengt aus der dämmerigen Tiefe klimmt die Straße empor. Wie viele Wanderer sind darüber hingeschritten! Dort kräuseln sich Nebel zwischen den Tannen, oder sind es vielleicht die Schatten derer, die vor uns diesen Weg traten? Zuerst schweben in faltigen Gewändern Etrusker vorüber, dann die römischen Legionen im schweren Tactschritt, ihnen folgt der römische Architekt und baut Städte und Castelle, daran schließt sich der Kaufmann mit seiner bunten Waare. Plötzlich ändert sich die Scene: mit breiten Schilden, ungeheuer an Gestalt und Aussehen, kommen die Germanen und ergießen sich im wüsten Schwall der Völkerwanderung über die blühenden Gefilde Italias, Alles verödet und fällt in Wildniß zurück, durch welche hie und da ein Mönch schleicht, um den zerstreuten Barbaren das Evangelium zu predigen. Nach Jahrhunderten beginnen die Römerzüge, wir schauen in Stahl gepanzert die herrlichen Gestalten der deutschen Kaiser. Nach den römisch-deutschen Kaisern zog ein Kaiser im Reich der Geister, zog ein Goethe mit dem Hammer des Geognosten diesen Weg, dann der Anderl von Passeier mit seinen Schützen, dann die Franzosen. Es ist eine uralte Weltstraße, auf der unser Fuß dahinschreitet! Möge die Eisenbahn, was geschichtliche Zwietracht geschieden, fest aneinanderketten, daß der Deutsche und der Italiener, die vor allen Völkern aufeinander gewiesen sind, sich mehr und mehr verstehen, sich innig lieben und verbrüdern!

Kühl bläst der Wind hier auf der Jochhöhe, es fällt der Thau, suchen wir im Posthause Unterkunft, wo bald Niemand mehr einkehren wird. Mit dem Morgen eilen wir nach Sterzing hinunter. Es geht sehr steil hinab, die Eisenbahn muß einen Bogen machen, dessen Radius fast eine Meile beträgt, um den jähen Abstieg zu überwinden. Die Landschaft ist hier entzückend, überwältigend, im größten Alpenstyle. Östlich von dem alten grauen Städtchen dehnen sich bunte, üppige Wiesen. Nun, da stellen sich dem Bau doch keine Hindernisse entgegen? Betritt diese Wiesen, dein Fuß versinkt im Wasser, Tümpel mit schleimigen Algen glotzen dich unheimlich an, als wollte die Natur der Bahn den Weg versperren. Hier versinkt der Schotter im weichen Boden, nur mühsam gelingt es, den Damm zu erhöhen, Tausende von fleißigen Welschen führen Steine herbei, welche der Sumpf verschlingt, und füllen dann selbst siech das Spital. Wir stehen vor dem berühmten oder berüchtigten Sterzingermoose, auf welches die ungalante Volkssage alle alten Jungfern verbannt. Auf dem Wege liegen Stücke eines schneeweißen herrlichen Marmors; wie kann man das kostbare Material aus Carrara zu Wächterhäuschen verschwenden! ruft wohl Mancher. Dort in Ratschinges erhebt sich ein ganzer Berg – er sieht wie angeschneit aus – ein Berg von weißem Marmor, aus dem man Wälder von Bildsäulen meißeln und ganze Städte bauen könnte. Hier ist er ein werthloser Stein, wie jeder andere; hoffen wir auch dabei das Beste von der Eisenbahn, welche die prächtigen Blöcke nach Norden führen soll.

Bald verengt sich das Thal wieder zur waldigen Schlucht; wo der Fluß Platz ließ, sind Wiesen und Einödhöfe. Das Gehänge ist mit Granittrümmern überstreut, wie von einer Titanenschlacht. Nur mit Trauer betritt der Deutsche die „Sachsenklemme“ bei Oberau. Hier wälzten 1809 die Schützen Steinlawinen auf die unglücklichen Sachsen, welche als Rheinbündler im Troß des modernen Attila fochten. Brixen erheitert den Blick eben auch nicht, die Gegend ist zwar freundlich, aber unaufhörlich klingen die Glocken, junge Priester in allerlei Gewändern und alte Betschwestern mit gekniffenen Gesichtern und spitzem Kinn huschen an dir vorüber; ja, du bist zu Brixen, dem Sitz des Bischofs, des Bischofs Gaßner, der die Anträge auf Ausschließung der Protestanten stellte. Und doch war früher fast ganz Tirol schon protestantisch, die Ketzer wurden aber durch Blut und Flammen in den Schooß der katholischen Kirche zurückgeführt. Zu Brixen fielen in wenigen Wochen siebenundvierzig Köpfe unter dem Beile des Henkers. Das ist die jungfräuliche Glaubenseinheit, für welche alttirolische Fanatiker schwärmen!

Wir schreiten durch das herrliche Thal der Eisak vorwärts. Das enge Städtchen Klausen mit seinen Capuzinern lockt uns nicht, und hinter Klausen verengen sich die berüchtigten Schluchten des Kuntnerweges. Mit rasendem Ungestüm zwängt sich der Fluß durch die Porphyrblöcke, die Flanken des Berges sind aus großen Steinbrocken, welche die üppige Vegetation des Südens trügerisch umzieht, zusammengesetzt, der Regen löst die Fugen und überschüttet die Straße mit Geröll und Trümmern. Weil hier nirgends fester Fels ansteht, durch welchen man Stollen und Tunnels schlagen könnte, so stößt der Bau der Eisenbahn auf fast unbezwingliche Hindernisse und muß oft über das Bett des Flusses gelegt werden. An den schauerlichen Abgründen kleben die Gerüste, auf den Steinblöcken hocken rittlings die braven Welschen und bohren die Mine, die manchmal sie sammt dem Steine in die Luft schleudert. Dennoch sind sie guten Muthes und von rastloser Rührigkeit.

Bald braust der Dampfzug durch diese Schluchten, kein Mensch denkt an die heroische Anstrengung, die es brauchte, ihm den Weg zu brechen, und wer mag sich dann an die zahlreichen Opfer erinnern, welche ohne Kreuz und Grabstein auf dem Friedhöfe von Botzen modern?

Doch wir wollen nicht mit traurigen Worten vom Leser scheiden, wir rufen ihm eine herzliche Einladung nach Tirol zu. Wenn auch die Glaubenseinheitler manchmal wie Uhus dreinschauen, sind sie doch nicht so schlimm, selbst nicht der grimmige Richler und der dicke Scharmer; – den Freunden in Tirol, welchen wir so manche Mittheilung für diesen Aufsatz schulden, Handschlag und Gruß!
L. M.




Blätter und Blüthen.


Coburgische Erinnerungen an König Leopold von Belgien. Es war ein Sonntagmorgen im September 1826, der mir, als die Nachricht von dem Tode des Königs Leopold kam, wieder frisch vor die Seele trat. Der „Prinz Leopold“ (auf echt coburgisch: Prinz Lehpold) war damals auf Besuch in der Heimath und wohnte in seinem reizenden Landschlößchen Füllbach, das etwa eine halbe Meile südlich von Coburg im Itzgrund liegt. An die Anwesenheit dieses ganz besonderen Lieblings des Coburger Völkchens knüpfte meine Mutter einen kühnen Plan für mein Fortkommen in der Welt. Ich war schon fast ein halbes Jahr „aus der Schule“, und noch wußten weder meine Eltern noch ich, was aus mir werden solle. Meine Mutter hätte mich am allerliebsten einst als Prediger auf der Kanzel gesehen. Aber das Geld für die Bücher und der Eintritts-Louisd’or für das Gymnasium – das waren für die Verhältnisse meiner Eltern unerschwingliche Summen. Da meinten nun Beide, daß, wer ein Dienstchen beim Prinzen Leopold bekomme, sein Glück am besten gemacht habe. Da mein Vater wegen seiner dienstlichen Stellung als Hofmusikus nicht persönlich beim Prinzen für mich bitten zu dürfen glaubte, so gingen die Mutter und ich allein an das große Werk. Ich mußte ein „sehr schönes Schreiben“ entwerfen, und da ich im Schönschreiben geschickt war und auch meinen Aufsatz herzustellen verstand, so bauten meine Eltern schon auf dieses „Schreiben“ allein nicht geringe Hoffnungen.

Im besten Staat machten wir, meine Mutter und ich, an jenem [15] Septembersonntage uns früh auf den Weg nach Füllbach. Meine Mutter trug das sorgfältig in ein weißes Taschentüchlein eingewickelte „Schreiben“ im Handkörbchen. Auf dem halben Wege von Coburg nach Füllbach liegt Dorf, Vergnügungsort und Schloß Ketschendorf. Bis dahin gingen wir ganz munter. Meine Mutter war, wie jede gute Mutter, von den Vorzügen ihres Sohnes so fest überzeugt, daß sie mit wahrer Siegeszuversicht sprach: „Wenn er Dich nur ordentlich ansieht, muß er Dich gleich gern haben. Und das herrliche Schreiben dazu! Es wird gewiß was!“ Sobald aber Nichts mehr zwischen uns und – der Entscheidung über mein Schicksal lag, da fiel ihr erst der Gedanke auf’s Herz, daß ich ja dann jedenfalls von hier und von ihr fort müsse. Das mit so viel Freude ausgemalte Glück, „beim Prinzen Leopold zu sein“, hatte bis jetzt diesen Gedanken kaum aufkommen lassen. Jeder Schritt weiter ward jetzt schwerer, und da ist nun gar schon der Weg, der von der Chaussee links ab zum Schloß Füllbach führt! Hätte meine Mutter nicht geglaubt, sich vor dem Vater schämen zu müssen, sie wäre noch vor dem Schloßthor mit mir umgekehrt. So aber trat ich keck hinein, und meine Mutter eilte, nachdem sie mir mein Schreiben in die Hand und mich an’s Herz gedrückt hatte, so wehevoll, als gält’ es schon jetzt ein ewiges Scheiden, den Parkanlagen zu, als wollte sie sich dort vor Jedermann und vor der nächsten Viertelstunde verstecken.

Der Diener, der meinen Vater kannte, meldete mich sogleich, und nicht gar lange, so ward mir eine Thür aufgemacht, die ich doch ein wenig bedenklich betrachtet hatte. Prinz Leopold schien soeben den Frühstückstisch verlassen zu haben und stand am Fenster. Ich blieb bei der Thür stehen. Er hieß mich näher treten. Da ich dies nur um einige Schritte that, so mußte er den Befehl wiederholen, und zwar mehrmals, so daß ich hübsch stationsweise vorrückte, bis ich ziemlich dicht vor ihm stand. Dann setzte er sich auf einen Stuhl am Fenster, und nun begann folgende Unterhaltung:

„Wie heißt Du und wer bist Du?“ Ich sagte es.

„Und was. willst Du?“

„„Ich möcht’ was werden.““

„Was hast Du denn gelernt?“

„„Rechnen und Schreiben, aber tüchtig.““

„So! Das muß aber jeder ordentliche Mensch können; warum lernst Du denn nicht mehr dazu?“

„„Ja, ich ging’ freilich gern auf’s Gymnasium, aber –““ Ich stockte.

„Nun, was fehlt dazu?“ Ich stand plötzlich in großer Verlegenheit und Befangenheit da. Es wollte mir nicht über die Zunge, ich hielt es für ein Unrecht gegen meine Eltern, irgend Jemandem zu sagen, daß sie kein Geld dazu hätten. Jedenfalls war die Ursache dem Prinzen nichts Neues, denn er fragte nun:

„Es fehlt wohl am nöthigen Geld dazu?“ Und ich, froh dies nicht selbst sagen zu müssen, platzte heraus:

„„Ja, ja, Herr Prinz Lehpold, Sie haben’s errathen!““ Im selben Augenblick erschrocken über meine Worte, denn ich fühlte doch, daß sie eigentlich anders hätten sein sollen, blickte ich verwirrt, wie irgend eine Hülfe suchend, nach dem Fenster – und sah drüben, an einen Baum gelehnt, meine Mutter, wie sie das Tuch vor die Augen hielt und ganz gewiß weinte. Da wurde mir es angst und bange und ich rief: „„Ach Gott, meine Mutter! Gelt Herr Prinz, Sie nehmen mich nicht mit fort? Ach, ich will nur gleich zu meiner Mutter““ – und damit eilte ich der Thür zu.

Der Prinz, der der Richtung, meines Blicks gefolgt war, rief jetzt: „Warte nur, gieb mir erst Dein Bittschreiben!“

Ich hatte es, aus Gewohnheit, wie ich meine Schulbücher zu tragen pflegte, unter dem linken Arm stecken. Schon an der Thür stehend, wandte ich mich um und sagte: „„Ach es hilft ja doch nix!““

„Gieb nur her, vielleicht hilft’s doch was,“ sagte der Prinz und lächelte dazu.

Ich that’s und sprang dann fort und weiß heute noch nicht, wie ich durch die andern Thüren, die Treppe hinunter und zum Thor hinaus gekommen bin, denn ich rannte zu, bis ich zu meiner Mutter kam, der ich schon von Weitem, um sie zu trösten, zurief: „Es ist nix, Mutter, sei nur gut, es ist ja nix!“

Und das war ihr wirklich ein Trost, ein Glück. Sie umschlang mich, wie einen Wiedergefundenen, und eilte mit mir, als ob sie mich einer großen Gefahr entziehen müsse, zum Park hinaus. Erst auf der Landstraße erzählte ich, was der Prinz gefragt und gesagt habe, nur das Letzte: „vielleicht hilft’s doch was!“ hatte ich vergessen. Und doch war’s die Hauptsache gewesen, denn wenige Tage später wurde mein Vater zum Prinzen berufen, dem er eine Summe einhändigen ließ, die mehr als hinreichte zum Gymnasiums-Louisd’or und zur Anschaffung aller nöthigen Bücher. So verdanke ich’s dem König Leopold, daß ich das Gymnasium besuchen und mich zu der Laufbahn vorbereiten konnte, auf der ich’s bis hierher gebracht.

Warum mit solch einfachem Stück Familiengeschichte an die Oeffentlichkeit treten? Wenn ein bedeutender Mann aus dem Dasein schied, so erhalten auch die kleinen Züge Werth, die das Bild seines Charakters und Lebens vollenden helfen; wir haben es in diesen „Erinnerungen“ nicht mit der politischen Gestalt des edlen Königs zu thun, sonst würden wir vor Allem hervorheben müssen, daß er ein Fürst aus demselben Thüringen war, welches bis jetzt den Völkern in und außer Deutschland schon mehr als einen Fürsten gegeben, welcher mit der rechten Gewissenhaftigkeit und Verfassungstreue die Achtung vor dem Principe der Demokratie mit der Würde der Krone zu vereinen verstand; wir möchten einige neue Züge dem bekannten Bilde des edlen Menschen hinzufügen, und deren Mittheilung wird noch verzeihlicher sein, wenn zugleich die Dankbarkeit sie hervorruft. Zur Entschädigung für Diejenigen, welchen das Obige nicht voll genug wiegt, möge die folgende Beigabe dienen.

In den kleinen deutschen Ländern bestehen bekanntlich noch heute engere Beziehungen zwischen Fürstenhaus und Volk, als in großen; in ihnen herrscht, trotz Constitution und Verfassungsleben, noch ein Stück patriarchalischen Staates. Das Volk verfolgt mit zäher Treue die Schicksale der einzelnen Persönlichkeiten und wählt aus ihnen seine Lieblinge nach deren Herzenswerth oder würdigen, dem Heimathstolz wohlthuenden Handlungen und Schicksalen. Zu den in ihre Heimath und ihr Fürstenhaus verliebtesten Deutschen gehören aber ohne Zweifel die Coburger, und dazu genießen sie das Glück, daß Niemand dies ihnen verargt, weil sie zu dieser Verliebtheit ein auch auswärts anerkanntes gutes Recht haben: ihre Heimath ist schön und ihr Fürstenhaus hat sich aus einem kleinen und ehedem in Deutschland wenigstens nicht mehr als gleichgroße bedeutenden zu einem von europäischem Glanze emporgehoben, und zwar nicht blos durch äußere Schicksalsgunst, sondern durch den Werth einzelner Persönlichkeiten desselben.

Als Prinz Leopold mit seinen Brüdern Ernst (dem Erbprinzen und spätern Herzog) und Ferdinand (später von Coburg-Kohary und Vater des Königs Fernando von Portugal) und seinen vier Schwestern (von denen die älteste Gemahlin des Grafen Emanuel Mensdorff-Pouilly), die zweite eine Herzogin von Würtemberg, die dritte Großfürstin von Rußland, die vierte erst Fürstin von Leiningen, dann, als Gemahlin des Herzogs von Kent, Mutter der Königin Victoria geworden) die Kinderjahre im Schlosse zu Coburg zusammen verbrachten, bildeten sie wohl um das Elternpaar einen wunderschönen Kranz, denn die Natur hatte sie Alle herrlich gestaltet; aber fürstlicher Luxus erzog sie nicht. Das Land war durch die Leiden der französischen Revolutionskriege tief verschuldet und dem Hofhalte nur ein spärliches Einkommen zugemessen. Uns wurde als Kindern von den Eltern oft genug vorgehalten, wenn unsere Wünsche über das bescheidene Maß ihres Vermögens hinausgingen, wie selbst die Prinzen und Prinzessinnen mit so wenig zufrieden gewesen wären. Im Arbeitsstübchen der fürstlichen Kinder gab’s keine polirten Möbel, der blanke Tisch von Tannenholz und ungepolsterte Stühle waren ihr Hausrath, in der Kleidung wurden sie sehr einfach gehalten und Spielsachen durften nicht viel kosten. Dagegen wurde an Lehr- und Lernmitteln nicht gespart, und die Freuden der Natur und das Spielen mit anderen wohlerzogenen Kindern der Stadt mußten ersetzen, was an Luxus ihnen versagt war.

Diese Eindrücke der Kindheit und Jugend erhielten sich, namentlich in Ernst und Leopold, frisch bis in das späteste Alter. Denn wie Ernst später als Herzog sein Ländchen in einen großen Garten verwandelte, wie er sogar viele schöne, alte Bäume den Bauern abkaufte, unter der Bedingung, daß sie nicht abgeschlagen werden dürften, wenn sie die Zierde einer Landschaft waren, wie er die Parke der Stadt, der Rosenau und des Kallenbergs fast zu einem Ganzen verband und im feinen Uebergang von der Natur zur Kunstanlage wahrhaft Bewundernswerthes schuf: so fühlte auch Leopold noch in den späteren Jahren, wo königlicher Glanz ihn umgab, sich am wohligsten in der kleinen schönen Heimath und an den alten Spielstätten seiner Kindheit.

Vor dem Judenthor bei Coburg zeigt man noch heute ein Gärtchen, in welchem Prinz Leopold als Knabe manche glückliche Stunde verlebt hatte. Da waren die Beete, die er selber pflegte und vor denen er den kindlichen Sinn an dem Gedeihen seiner Blumen erquickte. Es wurde später sein Eigenthum, und nie, weder als Prinz von England, noch als König der Belgier, verweilte er in Coburg, ohne stundenlang in seinem Gärtchen zuzubringen. Und mancher gute Coburger Bürgersmann, der mit den knorrigen Laubhallen des Gärtchens und dem Fürsten alt geworden war, erinnerte sich bei diesem Anblick, welch bildschöner Knabe einst der Leopold war, aus dem jetzt so ein großer mächtiger Herr geworden, und wie wunderbar das Schicksal ihn geführt habe.

In der That hängt diese Bildschönheit mit dem wunderbaren Schicksale des gesammten Coburger Hauses eng zusammen. Zu dem großen Glücke bahnbrechend war aber eigentlich die Schönheit der Töchter dieses Hauses. Vor einigen Jahren las man im Morgenblatt Briefe der Erbprinzessin Auguste von Coburg aus Petersburg in die Heimath, in denen sich so einfach und rührend die Sorge der Mutter für die Zukunft ihrer Kinder ausspricht. Sie war im Jahre 1795 einer Einladung der Kaiserin mit zweien ihrer Töchter gefolgt, und der Erfolg jener Reise war die Vermählung der coburgischen Prinzessin Juliane Henriette Ulrika mit dem Großfürsten Constantin, und der Erfolg dieser Vermählung die spätere Ernennung des Prinzen Leopold zum russischen General; in dieser Stellung gewann Prinz Leopold die besondere Gunst des Kaisers Alexander, in dessen Gefolge er, nachdem er sich, wie seine Brüder, im Kampf gegen Frankreich ausgezeichnet und in der Schlacht bei Lützen sich das Theresienkreuz erfochten hatte, nach dem Einzug in Paris mit nach England kam.

In England blühte am Thron die schöne Königstochter Charlotte, und um sie hatte die Politik bereits ihre Netze gezogen. Sie war für den Prinzen von Oranien und dessen Erbland Holland war zum Abhängigkeitsloose Hannovers bestimmt. Eine solche Festsetzung und Ausbreitung der englischen Macht auf dem Continent widerstritt jedoch der russischen Politik, und darum saß beim festlichen Bankett der schöne ritterliche Prinz Leopold, dessen jugendlicher Geist durch den Ernst des Kriegs früh zu edler Männlichkeit gediehen war, neben der englischen Kronprinzessin, und mit dem Siege des Coburgers über den Oranier war zugleich der der russischen Politik über die geheime englische entschieden. So verlor der niederländische Prinz jetzt die Braut an denselben Rivalen, an den er später die Hälfte seines Königreichs verlieren sollte.

Die jungen Herzen hatten vielleicht keine Ahnung von dem russischen Spiel; sie waren glücklich, so glücklich, daß diese Erdenseligkeit den Neid der finstern Mächte zu bald erregte. Anderthalb Jahre nach der Vermählung starb die Kronprinzessin. Die Kummerfurchen von dem tiefen Seelenschmerz sind nie aus Leopold’s Antlitz wieder verloschen. Man denkt hier unwillkürlich an das blutsverwandte Herz und den gleichen Schmerz der Königin Victoria.

Um so inniger zogen den Prinzen die alten Heimatherinnerungen an. Er besuchte Coburg häufig, namentlich so lange seine Mutter noch lebte. Die Herzogin-Wittwe bewohnte das Palais (coburgisch: das „Schlößle“) hinter dem Theater. In demselben hatte der alte Held Friedrich Josias [16] seine Tage beschlossen; ihm zu Ehren zierte es früher die goldene Inschrift: „Peractis laboribus“. In demselben verweilte Leopold auch nach der Mutter Tode gern. Dort saß er eines Abends auf dem Altan in kleiner Gesellschaft. Da schlich sich ein Coburger Sängerchor in die Nähe und sang in die stille Dämmerung hinein das damals neue Lied: „In der Heimath ist es schön!“ Der Eindruck dieses Liedes ist auf jedes heimathliebende Herz ein sicherer; auf den Prinzen wirkte es so tief, daß ihm die hellen Thränen über die Wangen rollten.

Mit derselben Treue blieb Leopold als Prinz wie als König dem Völkchen seiner Heimath zugewandt. Mit seinen reichen Mitteln war er stets zu unterstützen und zu helfen bereit, wo eine gerechte Bitte ihm vor Augen kam. Manche Unternehmung der Coburger, wie, z. B. der Kunst-, Industrie- und Gewerbe-Verein, hätte ohne seine Unterstützung gar nicht in’s Leben treten, oder, wie die Sonntagsschule für Lehrlinge und Gesellen, nur kümmerlich bestehen können. Und in wie viele arme Familien verzweigte sich seine stille Wohlthätigkeit! – Seine herzlichste Zuneigung aber hatten die Kinder und ihre Freudenfeste. Das Gregoriusfest (coburgisch: „der Griorges“) mit seinem öffentlichen Aufzug aller Schulkinder der Stadt mit ihren Fahnen und großer Kinderlust auf dem Anger (Schießhausplatz) bei Coburg versäumte er nie, so oft er in der Heimath war. Und als er einmal zu spät dazu von der Reise angekommen war, veranstaltete er sich selbst den Jubel noch einmal. Die paar tausend Kinder wiederholten ihren Festzug mit den vielerlei Costumen, als Ritter und Tiroler, Schlotfeger, Gärtner und Gärtnerinnen etc. Da standen auf dem Anger lange, lange Tafelreihen voll Kuchen und Wein, über die das kleine Volk herfiel. Er wandelte mit seelenvergnügten Augen von Gruppe zu Gruppe, überall mit Hoch und Kußhändchen und all den treuherzigen Liebesbezeigungen der Kinder empfangen. Zu dieser fröhlichen Schaar gehörte damals auch ich, und als ich, dreißig Jahre später, dem „König Leopold“ mein „Coburger Quäckbrünnle“ (tausend Schnaderhüpfl in Coburger Mundart) widmen durfte, gedachte ich dieser Lust, indem ich mein Widmungsgedicht mit den Verschen schloß, die auch diese Erinnerungen an den Unvergeßlichen schließen mögen:

„Und nu’ muß ’s halt raus:
Für den Kuchen un Wei’,
Majastet, is’ dös Büchle
Voll Varschle jetz Sei’!

Die Dankbarkeit is’ halt
Wos Schöns auf der Walt:
Wos a’ Jung’ hot gekriegt,
Kann a’ Mah’ nuch vergalt’.“

Friedrich Hofmann.




Onkel und Neffe. Wohl schwerlich gab es einen größeren Contrast zwischen zwei Menschen als den zwischen Heinrich Heine, dem großen Dichter, und seinem Onkel Salomon Heine, dem großen Bankier.

Man kennt den lebenslustigen, Niemanden schonenden, nie sparenden, jeden unterstützenden, genialen Neffen, der, als ein Dichter von Gottes Gnaden, sich für den Beherrscher aller mit Geld gesegneten Menschen hielt. Die Rothschilds, die Foulds, die Meyerbeers und andere Millionäre wissen davon ein Lied zu singen, ganz wie das schöne „Lied von der Reue“ im Buche der Lieder, das immer auf’s Neue anfängt.

Ganz besonders aber sah er seinen Onkel (da der Vater, der ältere der Brüder, frühzeitig gestorben war) als ein damals noch nicht entdecktes Californien an, wobei es oft unentschieden blieb, wer mehr gewaschen wurde, der das Gold gab, oder der es bekam.

Salomon Heine, der bekanntlich über so viele Millionen gebot, der reichste Mann des reichen Hamburg, war auch genial, auch voller Witz. und Humor und hatte vor seinem Neffen das voraus, daß er nie seine Zeit mit Poesie verloren und sein Leben lang nur solchen schriftlichen Arbeiten obgelegen hat, die fünf- und sechsprocentige Renten abgaben, oder sonst vortheilhaft discontirt werden konnten. Beide, Onkel und Neffe, fühlten heimlich und unausgesprochen im Innern ihren gegenseitigen Werth und ihre volle Bedeutung, geriethen aber, zusammengekommen, allezeit in baldigen Conflict. Der Onkel, der durch Mühen, bewunderungswürdige Thätigkeit und intelligenten Fleiß so kolossale Reichthümer selbst erworben, blieb immer, seinem Principe nach, einfach, nie verschwenderisch, allezeit den Werth des Groschens hochschätzend, was ihn jedoch nie verhindert hat, Hunderttausende für wohlthätige Zwecke wegzuschenken. Der Neffe, der den Werth des Geldes gar nicht kannte, immer bereit war so zu leben, als ob er über Millionen zu verfügen hätte, schien in der That in der Idee befangen zu sein, als ob der reiche alte Onkel nur deswegen auf Erden wandelte, um seine enormen Ausgaben und Schulden zu bezahlen. Und das hat der brave gute Onkel nicht selten gethan; bei welchen Gelegenheiten es aber an kräftigen Sermonen auch nicht gefehlt hat.

Onkel und Neffe, von Herzen edel und gut, konnten bei dieser großen Verschiedenheit des Alters und so direct entgegengesetzten Ansichten vom praktischen Leben nicht sehr lange harmonisch neben einander gehen; zwei so positive Pole! Das war denn auch wohl mit die Hauptursache, daß Heinrich nie lange in Hamburg auszuhalten pflegte und die erste Gelegenheit, das heißt wenn der Onkel sich tüchtig anpumpen ließ, benützte, um verschiedene Reisen zu unternehmen.

Heinrich hatte bereits die Tragödie Radcliff geschrieben, die um so pikanter war, als er einen Hamburger Mann, den der Onkel mit Aufträgen unbedingten Vertrauens beehrt hatte, der sich jedoch, wie es sich später erwies, sehr schuftig benommen hatte, mit vollem Namen unter die im Stücke vorkommenden Gauner eingereiht hatte. (Beiläufig gesagt, wurde späterhin, aus Familienrücksichten, der Name des Gauners umgeändert.)

Als der Onkel einstmals in aller Gemüthlichkeit seinen Morgenkaffee schlürfte, sagte der Neffe zu ihm: „Ich muß das Land meines Radcliff, ich muß England sehen.“

„So reise,“ entgegnete der Onkel.

„Aber in England ist sehr theures Leben.“

„Da hast ja unlängst Geld bekommen!“

„Ja, das ist für das tägliche Brod, aber für den Namen, für die Repräsentation habe ich auf Rothschild einen guten Creditbrief nöthig.“

Und richtig, der gute Onkel gab dem Neffen, der unlängst erst eine hübsche Summe erhalten, von der Mutter hundert Louisd’or Extra-Reisegeld bekommen, zur Repräsentation einen Creditbrief von vierhundert Pfund Sterling, d. h. 10,000 Francs, sammt dringender Empfehlung an Baron von Rothschild in London mit.

Die Abschiedsworte des Onkels lauteten noch: „Der Creditbrief ist nur zur formellen Unterstützung der Empfehlung, mit Deinem baaren Reisegeld wirst Du schon auskommen. Auf glückliches Wiedersehen!“ Und was that der Dichter? Er war kaum vierundzwanzig Stunden in London als er sich bereits auf dem Comptoir Rothschild’s mit seinem Creditbriefe präsentirte und die zehntausend Francs gemüthlich einstrich.

Dann ging er zum Chef des Hauses, Baron James von Rothschild, der ihn sofort zu einem solennen Diner einlud. Der Onkel Salomon Heine saß eines Morgens abermals gemüthlich beim Kaffee, rauchte seine lange Pfeife und öffnete die von London eingelaufenen Geschäftsbriefe. Es war gerade so viel Zeit seit der Abreise seines Neffen aus Hamburg verstrichen, als die nächste Post aus London zur Meldung seiner glücklichen Ankunft daselbst nöthig hatte. Der erste Brief, den der Onkel öffnete, war die Anzeige von Rothschild, daß er das Vergnügen gehabt, seinen berühmten, charmanten Neffen persönlich kennen zu lernen, und die Ehre genossen, den Credit von zehntausend Francs auszuzahlen. Die Pfeife fiel dem Alten aus dem Munde, hoch sprang er von seinem Lehnstuhl auf und rannte mit dem Schaum vor dem Munde in dem Zimmer auf und ab. Die gute Tante (von der ich die Beschreibung dieser ganzen Scene habe) sah erschrocken auf ihren Mann, der nur von Zeit zu Zeit die Worte ausstieß: „Der Teufel hole Rothschild mit seinem Vergnügen und sammt der Ehre, die er gehabt hat, mein Geld auszuzahlen!“ Dann wandte er sich zu seiner Frau: Ich sage Dir, Betty, der kann mich ruiniren.“ Den ganzen Tag über, jedem Bekannten an der Börse, erzählte er die große Begebenheit und rannte Abends noch zu unserer Mutter mit den bittersten Klagen. Ich glaube, hätte Goethe den zweiten Theil seines Faust damals schon veröffentlicht gehabt, der Alte hätte sich hingestellt und mit Mephistopheles declamirt:

„Bei wem soll ich mich noch beklagen,
Wer schafft mir mein erworbnes Recht?
Ich bin geprellt in meinen alten Tagen,
Hab’ nichts verdient, es geht dem Onkel schlecht.“

Unsere Mutter schrieb sofort eine lange Epistel an den mittlerweile in London ungemein flott lebenden Sohn und bat um Aufklärung, um Rechtfertigung.

Die kam auch mit der folgenden Post, aber in sonderbarster Weise. Eine Stelle in diesem Briefe lautete wörtlich: „Alte Leute haben Capricen; was der Onkel in guter Laune gab, konnte er in böser wieder zurücknehmen. Da mußte ich sicher gehen; denn es hätte ihm im nächsten Briefe an Rothschild einfallen können, demselben zu schreiben, daß das mit dem Creditbriefe nur eine leere Form gewesen, wie die Annalen der Comptoirs der großen Bankiers Beispiele genug aufzuführen wissen. Ja, liebe Mutter, der Mensch muß immer sicher gehen,“ und nun machte er noch den malitiösen Zusatz: „der Onkel selbst wäre nie so reich geworden, wenn er nicht immer sicher gegangen wäre.“

Nicht unbedeutend war die Scene, als der geniale Neffe zum ersten Male wieder vor den erzürnten Onkel trat.

Vorwürfe über grenzenlose Verschwendung, Drohungen des Onkels, nie wieder sich mit ihm zu versöhnen – alles dieses hörte Heinrich mit der größten Ruhe an.

Als der Onkel endlich mit seinem Sermon zu Ende war, da hatte der Neffe nur die eine Antwort: „Weißt Du, Onkel, das Beste an Dir ist, daß Du meinen Namen trägst,“ und ging stolz aus dem Zimmer.

Diese kecke Aeußerung hat der Millionär lange nicht überwinden können, aber sein gutes Herz versöhnte sich doch bald mit dem Genie des Neffen, dessen Zärtlichkeit bestimmt so lange vorhielt, als das Honorar des letzterschienenen Buches.

„Denke Dir,“ sagte einst der Onkel zu mir, nachdem er mir Obiges erzählt hatte, „er rechnet es sich noch zur Tugend an, daß ich ihm für seine Briefe an mich kein specielles Honorar zu zahlen brauche,“ denn Heinrich hatte wirklich einst im Uebermuth ihm geschrieben: „Jedes Wort, das ich schreibe, ist baares Geld für mich.“ Der edle Onkel hat es dennoch nicht unterlassen, dem Neffen eine lebenslängliche reichhaltige Pension auszusetzen, denn in seiner Seele erfreute er sich des hochberühmten, aber sehr theuren Neffen.




Wir theilen diese interessante Scene als Vorläufer aus den „Erinnerungen an meinen Bruder Heinrich Heine. Von Staatsrath Maximilian von Heine“ mit, deren Veröffentlichung die Gartenlaube demnächst beginnen wird.
D. Red.




Neuestes Zeloten-Gesangbuch. Der Inhalt der protestantischen „Gesangbücher“ war von je ein so verschiedener, als es Richtungen und Schattirungen im Protestantismus gab, denn jede irgendwo herrschende Richtung war stets vor Allem darauf bedacht, das Gesangbuch nach ihrem Geist umzuschaffen. Dies ist jüngst auch im Elsaß geschehen, und welcher Geist die dortige strenglutherische Pfaffenpartei erfüllt, das zeigen nicht nur die vielen alten geradezu rohen Schilderungen von der Empfängniß Mariä und dergl. in diesem „Gesangbuch für Christen Augsburg’scher Confession“, sondern vor Allem die von wahrhaftem Uebermuth der Priester-Macht strotzenden Beichtlieder. Als Beweis dafür wird der folgende Vers genügen:

Und wenn die Sünd’ wär’ noch so groß,
So werden wir derselben los
Durch Kraft der Absolution,
Die verordnet hat Gottes Sohn;
Wem der Priester auflegt seine Hand,
Dem löst Christ auf der Sünden Band
Und absolvirt ihn durch sein Blut;
Wer’s glaubt, aus Gnad, hat solches gut.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Wir brauchen unsern Lesern nicht auseinanderzusetzen, was unsere deutsche Literatur, ja unser deutsches Volk in Justinus Kerner besaß. Wer kennt nicht den gemüthvollen Humoristen, den herzenswarmen Lyriker, der zu den hervorragendsten Mitgliedern der schwäbischen Dichterschule zählt, den Verfasser der „Seherin von Prevorst“, den Sänger jenes hinreißenden Abschiedsliedes „Wohlauf noch getrunken den funkelnden Wein!“[WS 1] das wir Alle schon gesungen haben, im Freundeskreise, wenn wir „nicht mehr beim ersten Glase saßen“. –
    D. Red.
  2. Von allen Unterziehjäckchen fand Verfasser am bequemsten und zweckentsprechendsten die von Crêpe aus der Rumpf’schen Fabrik in Basel.
  3. Bei der Behandlung der Cholera ist die Hauptsache, dem durch die flüssigen Entleerungen seines Wassers beraubten Blute so schnell als möglich wieder Wasser zuzuführen. Und hierzu dient am besten das Trinken heißen Wassers (vielleicht mit etwas Wein oder Rum und dergleichen versetzt), nur muß dieses Wasser so oft und so reichlich als möglich gereicht werden. Da der Cholerakranke sehr apathisch ist, so muß er auf jede Art zu diesem Wassertrinken gezwungen werden, selbst durch „Trinken oder Sterben?“ In einem Cholerahospitale sind deshalb vor allen Dingen viele und energische Wärter nothwendig, weil höchstens drei bis vier Kranke von einem Wärter so gepflegt werden können, wie es der Zustand verlangt. Wenn freilich die Aerzte und Wärter vom öftern Darreichen des heißen Wassers deshalb abstehen, weil der Kranke nicht trinken mag, dann steht’s schlecht um die Kranken, zumal wenn die Aerzte der Opiumtinctur ihr ganzes Vertrauen schenken.
  4. Das Liebig-Pettenkofer’sche Fleischextract genieße man in guter, fetter Fleischbrühe, wodurch es schmackhafter und noch nahrhafter wird.
  5. Unter den Malzextracten kann der Verfasser nach seiner Erfahrung ganz besonders empfehlen: Das chemisch-reine, von Dr. Linck bereitete Malzextract, welches ganz frei von Weingeist und Kohlensäure ist, nur einen kleinen Zusatz feinen Hopfens hat und in Stuttgart von Heinsius verkauft wird; das kleberhaltige Malzpräparat des Dr. Döbereiner in Freiburg an der Unstrut, welches außer seinem Eiweiß-(Kleber-)Gehalte auch noch die phosphorsauren Salze der Gerste enthält; das Trommer’sche Malzextract. Diese Malzextracte können in Wasser, Bier, Milch etc. genossen werden und nach Bedürfniß in kleinerer oder größerer Quantität (s. Gartenl. 1862, Nr. 19).
  6. Gewiß erinnern sich unsere Leser und namentlich unsere Leserinnen noch mit Vergnügen der geistreichen Skizze „Prinzessin Champagner“ (1865 Nr. 43 und 44), in welcher dieselbe Frau von St. Amaranthe, welche die Hauptperson der obenstehenden geschichtlichen Skizze bildet, im Cabinet der Madame Tussaud zu London eine so hervorragende Rolle spielt
    Die Red.

Anmerkungen (Wikisource)