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Die Gartenlaube (1867)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[145] No. 10.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Aus dem Merkbuche der Gartenlaube.[1]
An die Halben.


Ihr seid nicht dumm, ihr seid nicht schlecht,
Ihr wißt, was Freiheit ist und Recht,
Ihr liebt die Wahrheit, haßt den Schein,
Ihr wollt auch gern freisinnig sein;
Auch habt ihr Alles auf der Welt:
Ihr habt Gesundheit, Freud’ und Geld,
Und Weib und Kinder, Hof und Gut,
Doch fehlt euch Eins – euch fehlt der Muth.




Getrennt.
Von Von F. L. Reimar.
(Schluß.)


Melanie schwieg einige Augenblicke, wie in Erinnerungen verloren, und als sie dann wieder aufsah, begegnete sie den gespannt auf sie gerichteten Blicken ihrer Zuhörerin. „Ich habe Ihnen versprochen, kurz sein zu wollen, Frau Professorin,“ sagte sie, „gönnen Sie mir, daß ich es auch in dieser Minute sein darf! – Genug, es blieb nicht bei dem Malen des Studienkopfs –: ich sah den Maler wieder und wieder und ich fragte meine Principalin nicht mehr um die Erlaubniß dazu. Ich fragte überhaupt nach keinem Menschen, nach keinem Dinge in der Welt: ich sah, ich liebte nur ihn und war selig, daß er mich wieder liebte. Er miethete mir ein Stübchen in der Vorstadt; dort wohnte ich und dorthin kam er, mich zu besuchen – und wenn er nicht kam, so dachte ich an ihn – ich war glücklich! Er zeigte mir auch seine Bilder, erklärte mir, was sie bedeuteten, und lehrte mich auch sonst vielerlei. Mir aber ward das Lernen leicht, denn es war süß, seine Schülerin zu sein!

Die glückliche Zeit dauerte eine Weile – dann aber kam eine andere Zeit und da hörte das Glück auf. Ich sah den Maler nicht mehr in meinem Stübchen; ein Tag verging nach dem andern: er kam nicht. In meiner Angst ging ich auf die Straßen, wo ich mich sonst nicht gern blicken ließ, weil ich dachte, ich könne ihm begegnen – aber ich sah ihn nicht. Verzweifelnd lief ich eines Abends nach seiner Wohnung, die, wie ich wußte, in einem großen und vornehmen Hause war – er war der Liebling aller Großen und Vornehmen – und fragte nach ihm. Der Maler Feldern sei sehr krank, hieß es, und Niemand dürfe zu ihm; er werde wahrscheinlich sterben. ‚Ich aber muß zu ihm!‘ rief ich außer mir: ‚ich will bei ihm bleiben Tag und Nacht, um ihn zu pflegen!‘ Man sah mich verwundert an, man lachte über mich – die Sinne schwanden mir. Was ich noch gesagt habe, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß man mich zuletzt fast mit den Füßen fort und auf die Straße stieß. In meiner Wohnung weinte ich nun Tag und Nacht und bat Gott, mich auch sterben zu lassen. – Ich hörte nichts von ihm, aber eines Tages vernahm ich Schritte auf der Treppe, die mir wie die seinigen klangen, und als ich noch athemlos horchte, that sich die Thür auf und es trat ein Mann herein, den ich im ersten Augenblick für Feldern hielt. Mit einem Freudenschrei sprang ich auf – da sah ich aber, daß es ein Fremder war, vor welchem ich stand; er war ernster, dunkler und nicht so schön wie der Maler. Er sagte mir, daß auch er Feldern heiße und gekommen sei, um mir mitzutheilen, daß sein Bruder gestorben wäre. Sein Ton klang weich und gütig, das fühlte ich noch, als ich in dumpfer Verzweiflung zusammensank, und ich fühlte auch, daß er seine Hand wie erbarmend auf mein Haupt legte. Er sagte mir dann noch, daß sein Bruder ihm auf dem Todbette die Schuld gebeichtet, die derselbe auf dem Herzen gehabt, daß jener ihm meinen Namen genannt und daß er ihm geschworen habe, er wolle sich meiner annehmen und mir seine Hand zur Hülfe leihen. – Den Schwur hat er gehalten, Frau Professorin; er hat mich aus dem Elend gerettet, in das ich ohne ihn versunken wäre! ‚Verzweifeln Sie nicht, Melanie,‘ sagte er, ‚Sie haben noch eine Zukunft!‘ Und dann half er mir, diese Zukunft zu erringen.

Er hatte mir gesagt – und ich selbst fühlte dies auch – [146] daß ich etwas thun, mich zu irgend einem Handeln entschließen müsse, womit ich mich wieder emporarbeiten könne, daß dies aber mit meinem innern Wesens im Einklang stehen müsse. Da sagte ich ihm, ich wolle Schauspielerin werden. Er wollte anfangs nicht gern darauf eingehen, aber ich erklärte ihm, daß es der einzige Beruf sei, für den ich wirkliche Neigung hätte. Nachdem er sich noch eine Weile besonnen, auch meine Fähigkeiten geprüft hatte, sagte er, daß er mich nicht an meinem Vorhaben hindern wolle, nur sollte ich ihn als meinen Lehrer und Berather ansehen. Das versprach ich ihm und in seiner Schule habe ich mich darauf zur Schauspielerin ausgebildet. Später, als ich schon festeren Fuß auf der Bühne gefaßt hatte, war ich einige Jahre von ihm getrennt, während welcher Zeit Feldern nach Ihrer Vaterstadt kam. Als ich ihn nicht mehr sah, fühlte ich mich entsetzlich unglücklich, und da ich nur suchte, wieder in seine Nähe zu kommen, nahm ich ein Engagement in eben derselben Stadt an. Ich sah ihn wieder – aber dies Wiedersehen machte mich elend! In meinem Herzen war eine Leidenschaft aufgekeimt, die es zu verzehren drohte, und doch mußte ich sie vor ihm verbergen, vor ihm – der mich nicht lieben konnte. Der Gedanke an meine Vergangenheit drohte mich oft zu ersticken; nie war er lebhafter gewesen, als dieser edlen, stolzen Männlichkeit gegenüber, und daß er mit barmherziger Milde sich wie ein Freund zu mir stellte, konnte meine Qual nicht mindern. Da kam der Tag, an welchem ich erfuhr, daß er sein Herz einer Andern – Ihnen, Frau Professorin – geschenkt hatte. Ich hatte es geahnt, zuletzt gewußt, und doch überwältigte es mich. Ich konnte ihn nicht wiedersehen – darum floh ich vor ihm!“

„Und später haben Sie Feldern nicht mehr gesehen, nichts wieder von ihm gehört?“ fragte Alma, die ihre Erschütterung kaum noch bergen konnte.

„Ich vermied es, ihm zu begegnen,“ entgegnete Melanie, „bis uns der Zufall an jenem Badeorte zusammenführte; gehört aber habe ich mitunter von ihm, denn ich konnte nicht leben ohne alle Nachricht von ihm und ich wußte mir diese insgeheim zu verschaffen. So erfuhr ich – –“

„Was erfuhren Sie?“ versetzte Alma gespannt und fast scharf, als die Schauspielerin stockte.

„Frau Professorin, was ich jetzt noch zu sagen habe, betrifft nicht mehr mich, sondern Sie – wollen Sie auch dies hören?“ Alma blickte sie unruhig an, Melanie mochte aber in ihren Augen die Erlaubniß lesen, fortzufahren, denn sie sagte: „Frau Professorin, die Welt nennt Sie, nennt Ihren Gatten nicht glücklich!“

„Wer wagt, dies auszusprechen?“ rief Alma in aufwallendem Stolz.

„Zürnen Sie nicht – jetzt nicht!“ flehte Melanie. „Sie haben es selbst gesagt, daß Sie mich hassen, und ich weiß, daß der Grund Ihres Hasses zugleich der Grund Ihres Unglücks, wenigstens des gegenwärtigen, ist. Sie haben sich an dem Badeorte in tiefer Uneinigkeit von Ihrem Gatten getrennt.“

„Gott im Himmel, wie wissen Sie –?“ stieß Alma hervor, das junge Mädchen fast entsetzt ansehend.

„Lassen Sie mich Ihnen, ehe ich darauf antworte, einige Fragen vorlegen! Haben Sie nicht während Feldern’s Krankheit einen Brief von einem Verwandten, einem Baron Wertach erhalten, worin dieser sich zu Ihrem Ritter antrug und Ihnen versprach, die Beleidigung, welche Feldern Ihnen durch ein Verhältniß mit – einer Schauspielerin zugefügt habe, an ihm zu rächen?“

„Das habe ich,“ sagte Alma.

„Sie haben damals den Baron nicht ganz zurückgewiesen!“

„Doch!“ entgegnete Alma stolz. „Ich habe ihm geschrieben, daß ich selbst meine Ehre aufrecht halten und zu vertheidigen wissen würde, die Einmischung eines Dritten nicht dulden könne.“

„So hat er Ihren Worten eine andere Deutung untergelegt, die seinen Wünschen entsprach; wenigstens daraus erkannt, daß Sie eine Ihnen widerfahrene Kränkung zugestanden, und in diesem Sinn hat er in der Person eines Freundes an jenem Badeort einen Spion bestellt, der genau auf alle Vorgänge achten und ihm im rechten Augenblick Bericht erstatten sollte. Durch die Indiscretion dieses Freundes nun war die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf die Verhältnisse hingelenkt, und als man dann Feldern’s und Ihre plötzliche, aber nicht gemeinschaftliche Abreise erfuhr, mit der man einige andere Umstände zusammenreimte, hatte man schnell die Lösung des Räthsels bei der Hand: Es war ein Bruch zwischen Ihnen und Feldern entstanden, weil Sie sein Verhältniß zu – mir entdeckt hatten.“

Alma war außer sich. Mußte es nicht ihren Stolz tödtlich verletzen, daß sie ihre zartesten persönlichen Verhältnisse an’s Licht gezogen und der Unterhaltung des Publicums preisgegeben sah? „Und Sie – Sie hörten das Alles sagen?“ fragte sie.

„Ich hörte es. Wie sollte man sich nicht beeilen, es mir zuzutragen: ließ sich ja doch so manche herbe Bemerkung gegen die Schauspielerin daran knüpfen!“ versetzte Melanie bitter, fuhr jedoch gleich darauf fort: „Im Grunde aber dankte ich doch der Geschäftigkeit der Zungen, denn sie lehrte mich, was ich zu thun hatte.“ Sie schwieg eine Weile, dann sah sie Alma fest an und sagte: „Ich will Ihnen jetzt gestehen, daß es einen Moment für mich gegeben hat, wo die Hoffnung sich jubelnd in meinem Herzen regte, Feldern könne zu mir – und dann in anderer Weise – zurückkehren, denn ich sah, daß er nicht glücklich war. Da aber geschah das Unglück und es kam der Tag, wo ich an dem Lager des todkranken Mannes saß. Er war ohne Bewußtsein; ich glaubte ihn sterbend und da dachte ich mir, wie ich eine Welt darum geben würde, wenn dieser Mund, ehe er für ewig stumm wäre, ein einziges Wort der Liebe für mich ausspräche. In demselben Augenblick öffnete er die Augen, und als er mich über sich gebeugt sah, erkannte er mich und flüsterte: ‚Melanie!‘ Mein Herz drohte vor bangem Entzücken zu springen! ‚Melanie,‘ sagte er noch einmal, aber in unsäglich schmerzlichem Ton, ‚o, warum nicht Alma?!‘ Dann sank er auf’s Neue in Betäubung. – In jener Stunde habe ich den Schwur geleistet vor Gott, daß ich mein Herzblut opfern wollte für das Glück dieses Mannes, und in der gegenwärtigen Stunde, Frau Professorin, habe ich den Schwur gelöst.“

„Gott wird Ihnen das Opfer lohnen,“ sagte Alma tief ergriffen, „Sie haben damit das Lebensglück zweier Menschen erkauft!“ –

Dann aber flogen ihre Gedanken zu ihrem Gatten und es erfüllte sie mit unaussprechlichem Jubel, daß sein Bild wieder rein und makellos vor ihr stand. „Gott sei Dank,“ murmelte sie, „er ist meiner Liebe nicht unwerth!“ Sie deckte die Hände über’s Gesicht und verharrte längere Zeit in schweigendem Sinnen.

Melanie fühlte, daß sie vergessen war; sie erhob sich leise und sagte: „Erlauben Sie, daß ich mich jetzt entferne, Frau Professorin?“

Es kam ein Gefühl von Beschämung über Alma, daß sie der Schauspielerin so kargen Dank gesagt hatte, und in warmer Bewegung ergriff sie beide Hände derselben. „Ich sagte, daß Gott Ihnen danken würde – wie aber sollen wir Ihnen danken?“

Melanie schüttelte den Kopf. „Lassen Sie das,“ bat sie, „es würde schmerzen.“

„Melanie, ich bin hart und unfreundlich gegen Sie gewesen, können Sie es mir vergeben? Es würde ein Stachel in meinem Herzen bleiben, wenn Sie unversöhnt von mir schieden!“

Die Schauspielerin blickte sie mit einem trüben Lächeln an. „In meiner Seele ist kein Groll mehr und keine Bitterkeit. Sie dürfen in Frieden an mich denken.“

„Und was wird aus Ihnen werden?“ fragte Alma beklommen.

„Sorgen Sie nicht um mich!“ entgegnete Melanie. „Wissen Sie nicht, daß meine Kunst mich lehrt, wie man bleiche Wangen blühend macht, wie man lächelt, statt zu weinen, und scherzt, statt zu seufzen?“

„So täuschen Sie die Welt, doch nicht Ihr Herz, Melanie!“ sagte Alma ernst.

Die Schauspielerin schwieg, aber es drangen große Thränen aus ihren Augen und tropften langsam auf die Hände, die gefaltet auf ihrem Schoße lagen. „Wenn Sie später vielleicht hören werden, daß Melanie sich zu einer gefeierten Schauspielerin emporgearbeitet hat, welche zu den Besten ihrer Kunst gezählt wird,“ sagte sie endlich, „so sagen Sie zu sich selbst: ‚sie hat den Preis errungen, den sie als den höchsten erkannte, nachdem sie mit ihrem Herzen abgeschlossen hatte.‘ Wenn Ihnen dann aber eines Tages die Kunde wird: die Schauspielerin Melanie Wolde ist gestorben – so denken Sie: ‚sie hat jetzt das Glück gefunden, welches das Leben nicht für sie hatte!‘“

„Alma war unfähig zu sprechen, aber sie zog die Schauspielerin an sich und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn. In der nächsten Minute hatte Melanie das Gemach verlassen.

[147] Als Alma allein war, drang der volle Strom der Empfindung auf sie ein und sie jauchzte auf, als sie ihre Seele frei fühlte von dem Druck, der sie so lange belastet hatte. Das Regen des Vorwurfs, daß sie Feldern mit ihrem Verdacht gekränkt, ihm schweres Unrecht gethan hatte, kam kaum gegen das Gefühl ihres Glückes auf. Es lag ja in ihrer Macht, ihn reich für das Alles zu entschädigen, indem sie selbst ihm sagte, daß er vollkommen gerechtfertigt sei, indem sie ihm die ganze, volle Liebe zuwandte, die neu in ihrem Herzen aufgelebt war. Ihr Verlangen zog sie auf der Stelle zu ihm und doch zweifelte sie, ob sie ihn nicht zuvor schriftlich von dem Vorgefallenen in Kenntniß setzen, ihn auffordern solle, zu ihr zu eilen und sich das wärmste Willkommen zu holen. Während sie noch überlegte, wurde ihr ein Brief gebracht, an dessen Aufschrift sie die Hand ihres Gatten erkannte und den sie in der lebhaftesten Aufregung erbrach. Als sie ihn las, taumelte sie. Sie faßte mit der Hand an ihre Stirn, als ob sie an ihrem Verstand zweifle, starrte dann wieder auf den Brief und hätte sich gern überredet, daß ihr Auge von einem Blendwerk berückt, daß dies nicht der wahre Inhalt des Briefes sei. Es war umsonst, die Buchstaben standen scharf und klar auf dem Papier und scharf und klar war auch ihr Sinn. Feldern schrieb ohne alle Leidenschaft, ruhig und bestimmt theilte er Alma mit, daß er sich überzeugt habe, in seiner Seele den einzigen Weg gefunden zu haben, auf dem sie Beide fortwandeln könnten, da ein ferneres Zusammengehen unmöglich geworden: es sei derjenige der Trennung. Die letzte Unterredung habe ihm klar in’s Bewußtsein gerufen, was lange schlummernd in ihm gelegen, und mit schwerem Herzen spreche er das schwere Wort aus: Wir gehören nicht zu einander! „Es war ein edles Gefühl,“ schrieb er, „was Dich einst antrieb, Deine Hand in meine zu legen, aber es hat Dich doch irre geführt, denn es wurzelte nicht in Deinem Herzen, sondern in Deinem erregbaren Temperament. Ich mache Dir keinen Vorwurf – vielmehr tadle ich mich selbst, daß ich damals nicht mit der Einsicht des gereiften Mannes Deiner jugendlichen Schwärmerei entgegengetreten bin, unser Beider Lebensglück geschirmt habe. Darum aber fühle ich es jetzt als eine doppelt heilige Pflicht, den Bund zu lösen, der für uns Beide verhängnißvoll geworden ist, Dir Deine Freiheit und damit die Anwartschaft auf eine glückliche Zukunft zurückzugeben.“ Er setzte hinzu, daß er an ihrer Einwilligung wohl nicht zweifeln dürfe, sie aber bäte, ihm ihre Zustimmung mitzutheilen, damit er die einleitenden Schritte zu ihrer Trennung thun könne.

Als Alma’s Mutter, durch die lange Abwesenheit der Tochter beunruhigt, endlich in deren Zimmer trat, fand sie dieselbe zusammengesunken und in einem Zustand halber Betäubung auf ihrem Sopha. Als sie sich erschrocken über sie beugte, starrten ihr die Augen mit einem fast unheimlichen Ausdruck entgegen und bei allen Liebkosungen, allen Zeichen besorgter Theilnahme wiederholte sie immer nur tonlos und traurig: „Er liebt mich nicht!“ Es dauerte lange, bevor die geängstigt Frau den Sinn dieser Worte enträthseln konnte, und erst als sie einen Blick in den offen daliegenden Brief geworfen hatte, auf den Alma mit zitternder Hand deutete, ging ihr einigermaßen das Verständniß auf. Die Wirkung war aber auf sie eine andere, denn sie gerieth in die äußerste Heftigkeit. „Der Elende!“ rief sie, „jetzt endlich läßt er die Maske fallen!“

Das Wort genügte, um Alma aus der Erstarrung ihrer Seele zu wecken. „Mutter,“ rief sie, „versündige Dich nicht an dem Mann, der rein und makellos ist wie kein anderer! Es ist meine Qual und meine Seligkeit, das zu wissen!“

„Und doch sagst Du mir selbst, daß er Dich nicht liebt?“ entgegnete die Mutter erregt.

„Nein, er liebt mich nicht!“ wiederholte Alma, allein es lag nicht mehr die frühere Trostlosigkeit in ihrem Ton, vielmehr schien eine gewisse Ruhe, die Ruhe eines gefaßten Entschlusses über sie gekommen zu sein, als sie hinzusetzte: „aber vielleicht ist Gott barmherzig und läßt mich wiederfinden, was ich verloren habe.“

„Wie, Alma, verstehe ich Dich recht?“ rief die Mutter, „Du „wolltest – –“

„Ja, ich will zu Feldern, Mutter, ich will versuchen, ob er sein Wort zurücknehmen, ob er vergessen kann, was geschehen ist!“

„Alma, um Gotteswillen, gieb Dich nicht selbst auf! So kann, so darf meine Tochter nicht reden! Ich rufe Deinen Stolz an – –“

„Stolz, Mutter? Ja, Du hast Recht, wenn Du mich an meinen Stolz erinnerst; ich bin Feldern Sühne schuldig für diesen Stolz – und sie soll ihm werden!“

Die Mutter war außer sich, aber alle ihre Bitten und Vorstellungen waren vergeblich: Alma blieb bei dem gefaßten Entschluß und hatte nur das Eine Wort: „Wenn Du mich liebst, so bitte Gott, daß er mit mir sei auf meinem Wege!“

Auch die Vermittlung des Onkels, welche die Mutter zuletzt vorschlug, um Alma doch wenigstens vor der Gefahr einer Abweisung zu sichern, lehnte sie entschieden ab. „Ich allein muß den Weg zu dem Herzen meines Mannes suchen,“ sagte sie.

In rascher Fahrt trug die Eisenbahn sie in der Frühe des nächsten Morgens dem Ziele, ihrem und Feldern’s Wohnorte, zu. Hatte sie jedoch den Weg mit einer gewissen inneren Zuversicht angetreten, so fühlte sie sich allmählich von einer immer wachsenden Beklommenheit ergriffen, und als sie von dem Bahnhof aus ihrem Hause zuschritt, drohte ihr Herz von seinem gewaltigen Klopfen zu zerspringen.

Auf dem Flur kam ihr ein neueingetretenes Dienstmädchen entgegen, das die Herrin nicht kannte, und als ihr Alma sagte, wer sie sei, war es ihr, als träte sie in das eigene Haus als eine Fremde. Mit bebender Stimme sprach sie dann die Frage nach ihrem Gatten aus. Er sei nicht daheim, hieß es, würde indeß in einer Stunde zurückkehren. Eine Stunde sollte sie noch durchleben, ehe sie ihn wiedersah!

Sie ließ sich die Zimmer aufschließen, welche sie früher bewohnt hatte und aus denen ihr eine Luft entgegendrang, wie sie in Räumen zu herrschen pflegt, die lange verschlossen gewesen sind, kalt und unangenehm. Die Ordnung war übrigens unverändert: das Geräth stand und lag genau so, wie sie es vor sechs Wochen verlassen hatte; kein Tisch, kein Stuhl war von der Stelle gerückt. Sie erinnerte sich, die Papiere und Bücher auf ihrem Schreibtisch nach dem letzten Gebrauch gerade so hingelegt zu haben, wie sie dieselben jetzt wiederfand – und doch wagte sie keins davon in die Hand zu nehmen, wagte nicht, irgend etwas zu berühren. Es war ihr, als sei die eigentliche Besitzerin, die, welche einst in diesen Räumen gelebt, gestorben, als sei sie selbst ein Eindringling und habe nicht das Recht, hier zu sein. Sie trat an’s Fenster, um nach den Blumen zu sehen, die sie einst geliebt und sorglich gepflegt hatte; man hatte sie den Hauswirthen empfohlen, aber diese mochten ihr Versprechen vergessen haben, denn die Blumen senkten alle traurig die Köpfe und waren verdorrt. Alma’s Thränen rannen leise nieder auf die welken Blüthen und Blätter. Dann fielen ihre Blicke auf die Stelle, wo der Käfig des Vögelchens gestanden hatte, das einer befreundeten Familie für die Dauer ihrer Abwesenheit übergeben worden war. Es war noch nicht wiedergekehrt – Feldern mochte vergessen oder verschmäht haben, es zurückzufordern. Es wäre ihr ein Trost gewesen, wenn sie das Thierchen gehabt hätte, sie sehnte sich in fast kindischer Weise nach einem lebenden Geschöpf, das früher mit ihr in diesen Räumen gewohnt hatte. Die Stille und Oede lasteten mit bleiernem Druck auf ihr und es war ihr, als müsse ihr Herz brechen vor unsäglicher Traurigkeit.

Da drangen leise Flötentöne aus dem anstoßenden Gemach, die sie als den Gesang ihres Vögelchens unterschied. Feldern hatte es also doch zurückgenommen, vielleicht gar in der Erinnerung an sie, deren Herz – wie er wußte – an dem kleinen Liebling hing. Ein grenzenloses Verlangen überfiel sie, die Thür zu öffnen, nicht wegen des Vogels, sondern wegen des Raums, der ihn beherbergte und in dem Feldern wohnte. Sie legte die Hand an den Drücker und zog sie wieder scheu zurück, als sei sie im Begriff, ein Unrecht zu thun, dann aber nahm sie sich entschlossen zusammen und trat über die Schwelle.

Auch hier war Alles wie sonst, – und doch war es Alma, als sei eben Alles, Alles anders geworden, seit sie das Gemach zum letzten Male betreten hatte. Sie trat an Feldern’s Arbeitstisch, der wie früher mit Büchern und Schriftstücken bedeckt war. Neben denselben lag ein Bild; Alma erkannte es als ihr eigenes, das sonst an einer entfernten Stelle der Wand gehangen hatte. War es denn möglich, daß er sie noch mit anderen als kalten, und gar feindlichen Blicken betrachtete? Ueberwältigt sank sie an dem Sessel, vor dem sie stand, nieder, legte ihr Haupt darauf und weinte.

Nach einer geraumen Weile schreckte sie das Oeffnen der Thür [148] auf; Feldern stand vor ihr. Anfangs hatte sie jede Minute, die noch bis zu seiner Rückkehr verfließen mußte, gezählt und sich nun doch von derselben überraschen lassen!

„Alma!“ preßte er hervor, als er sie sah, und seine Hand griff nach der Lehne eines Stuhls, wie um sich daran zu halten.

Bleich, zitternd und unfähig, ein Wort zu sprechen, blickte sie ihn an.

„Warum das Schwere noch schwerer machen?“ fügte er im Tone des Vorwurfs, der aber doch milde klang, hinzu.

Alles, was sie ihm sagen, womit sie sein Herz rühren, seine Liebe wieder zu gewinnen suchen wollte, war in dieser Secunde aus ihrem Geist entschwunden; sie konnte nur in stummer Angst die Hände ringen und fand endlich nur das Eine Wort: „Friedrich, muß es sein?“

„Frage Dich selbst, Alma, ob wir nicht unter dem Gesetz einer furchtbaren Nothwendigkeit stehen!“ sagte er ernst, aber ohne alle Bitterkeit.

„Sie fand wieder keine Antwort.

„Denk’ an das,“ fuhr er fort, „was mir Dein Mund verrieth, in der letzten Stunde, wo wir uns sahen!“

„Friedrich,“ rief sie, „verdamme mich nicht um das, was ich in jener Stunde sprach, wo ich meiner Sinne, meines Denkens nicht mächtig war. Ich weiß jetzt, daß ich schwer geirrt und gefehlt habe – ich habe es auch schwer gebüßt,“ setzte sie leiser hinzu.

„Ich wußte, daß früher oder später ein Tag kommen würde, der mich rechtfertigen mußte, Alma,“ sagte er, „und darum ist es auch nicht jene Stunde, die uns scheidet.“

„Nein, es ist nicht jene, es ist jede Stunde, Friedrich, von der ersten an, wo wir unsere Hände ineinander legten. Kannst Du mir die Schuld jeder dieser Stunden vergeben?“

„Vergeben?“ fragte er mit einem schmerzlichen Lächeln, „vergeben, daß Du nicht glücklich warst?“

„Nein, Friedrich, aber daß ich vergaß, was ich Dir einst gelobte: daß Dein Glück an meiner Seite gesichert sein sollte. Es gab eine Stunde – und ich denke mit bitterer Scham daran! – wo ich Dir in der stolzen Zuversicht meines Herzens meine Hand bot und Dich reich damit zu machen glaubte. Sie fordert ihre Sühne.“

„Alma!“ unterbrach er sie erschüttert.

„Feldern, wie damals trete ich vor Dich hin, aber jetzt fordere ich nicht, ich flehe Dich an: ist’s möglich, so laß mich Dein Weib sein! Um meiner tiefen, unsäglichen Liebe willen verstoße mich nicht und gönne mir noch einmal den Platz an Deinem Herzen!“

Erstaunt, überwältigt hörte er, was sie sprach. „Alma,“ rief er, „Deine Aufwallung reißt Dich hin – schütze Dich, schütze auch mich vor einer Enttäuschung; mein Herz würde sie nicht tragen können!“

„Gott im Himmel, ist’s möglich?“ sagte sie und es klang wie jubelnde Hoffnung durch ihre Frage, „habe ich denn noch Theil an Deinem Herzen?“

Die Antwort hätte sie in seinen tiefen, seelenvollen Augen lesen können, auch wenn die Lippe stumm geblieben wäre. „Weißt Du nicht,“ sagte er, „daß ich Dich mehr liebte, als mein Leben, da ich mich von Dir zu trennen beschloß, und daß ich es nur wollte, weil ich an Deiner Liebe und Deinem Glück verzweifeln mußte?“

Als er ihr einst gestand, daß er sie liebe, hatte sie nicht aufgejubelt im Gefühl ihres sicheren Glücks; sie that es auch jetzt nicht – in demüthiger Bewegung griff sie nach seiner Hand und küßte sie. „Friedrich,“ flüsterte sie, „Du hast mich reich gemacht über mein Bitten und Verstehen; mein Lebenlang will ich Dir dienen und Dir gehorchen!“

In der nächsten Secunde fühlte sie sich von seinen Armen umschlossen und ruhte selig weinend an seinem Herzen. Er aber wußte: Alma war in dieser Stunde sein geworden.




In einem Genfer Landhause.


Ich hatte Karl Vogt seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen. Während dieser Zeit hatte ich die halbe Welt durchwandert und von allen Gütern, die seitdem mit der fliehenden Jugend mir abhanden gekommen, vermißte ich am schmerzlichsten jetzt den alten, guten Humor. Um diesen aufzufrischen und mich zugleich an der Geistesgesundheit eines tüchtigen, ganzen Menschen zu erquicken, wußte ich kein besseres Mittel, als den ehemaligen Reichsregenten in seiner Einsiedelei aufzusuchen. Unbeirrt von dem politischen Hader, der ihn umtobte, sah ich ihn gleichsam über den Dingen stehend, heiteren Gemüths auf das Gewimmel unter sich herabschauend, und wenn ihm der Lärm gar zu toll wurde, manchmal von seiner Alpenhöhe eine Rakete in die wirre Masse hineinfeuernd, daß es blitzte und zündete. –

Eine halbe Stunde von Genf, wo die Arve ihre grauen Gletscherwasser der dunkelblauen Rhone zuführt, traf ich den deutschen Gelehrten in einem bescheidenen, aber traulichen Gartenhause. Als ich an der Gitterthür läutete, sprang mir ein mächtiger St. Bernhardshund laut bellend entgegen. Ich wurde dabei unwillkürlich an das Temperament seines Herrn gemahnt, denn gleich diesem meinte er es lange nicht so böse, als er sich anstellte. Drei muntere Knaben, die im Garten beschäftigt waren, geboten dem Hunde Ruhe, der sich jetzt schweifwedelnd einer Dame zuwandte, welche mir öffnete und auf meine Frage nach dem „Herrn Professor“ mir mit freundlichem Ausdruck antwortete: „Ich will Sie zu meinem Manne führen.“

Dieser jedoch schien mich vom Fenster aus schon bemerkt zu haben und kam mir mit seinem alten Lachen entgegen, einem Lachen, das ihm ganz allein und eigenthümlich angehört und das sich seit zwanzig Jahren nicht um einen Laut verändert hatte: „Grüß Gott, Hans! Direct aus Senegambien? Buben, kommt her, das ist der Gletschermann, von dem ich Euch erzählt habe. Aber wir wollen nicht draußen bleiben, kommt nur Alle herein!“

Wir folgten ihm in’s Studirzimmer. Es war dies ein kleiner, mit vielen Büchern und wenigen Möbeln einfach ausgestatteter Raum, zu dem man durch ein Vorzimmer gelangte, welches den größeren Theil der Bibliothek und die Sammlungen des Naturforschers beherbergte. Das Studirzimmer war durch zwei Fenster erleuchtet, von denen das eine die Aussicht auf den Jura und die rauschende Arve gestattete, das andere mit einer Art Gartenpavillon in Verbindung stand, der jetzt, es war im beginnenden Winter, geschlossen war. Zu genialer Unordnung bot das kleine Zimmer entschieden keinen Raum. Ein gutes Landschaftsbild, die Copie eines Ruysdael, und einige Portraits zogen den Blick von einer langen Schädelreihe und Hirnabgüssen ab, welche zunächst in die Augen fielen.

Die Frau Professor und die Kinder, zu denen sich jetzt auch ein schwarzäugiges Mädchen gesellt hatte, welche ihres Vaters Liebkosungen als eine gewohnte Auszeichnung vor den minder schmeichelhaft behandelten Buben hinnahm, schauten forschend zu dem „Gletschermann“ empor, der ihnen als ein lebendig gewordener Mythus erscheinen mochte. Mich hatte diese Bezeichnung an meine erste Begegnung mit Vogt erinnert, welche auf dem Unteraargletscher stattfand, als er mit Agassiz, Desor u. A. die unaufhaltsame Bewegung des gefrorenen Stromes nachwies.

„Sie haben seit unserer Trennung keine Noth gelitten,“ sagte ich mit einer unverkennbaren Hinweisung auf seinen imposanten Umfang.

„Das war, wie Sie wissen, niemals bei mir zu befürchten, und sollte es jemals dazu kommen, so hielte ich es sicher mit dem weisen Spruche: ‚Noth kennt kein Gebot.‘“

„Davon haben wir auf dem Aargletscher den Beweis erlebt. Denken Sie sich, Frau Professor, als ich damals das Vergnügen hatte, mich Ihrem Gemahl als einen Collegen vorzustellen, der augenblicklich von dem einzigen Wunsche erfüllt sei, seinen Hunger stillen zu können, wurde ich nur schrecklich ausgelacht und Desor behauptete, Freund Vogt habe über Nacht, während sie Alle ahnungslos schliefen, den letzten Proviant bis auf einen kleinen Wurstzipfel aufgegessen.“

„Marianne, sollte diese ehrenrührige Geschichte nicht vielmehr eine Anspielung des Gletschermannes auf seinen gegenwärtigen Hunger sein?“ wandte Vogt sich lachend an seine Frau.

„O, durchaus nicht. Bitte, bleiben Sie, Frau Professor!

[149]

Karl Vogt.

Mich führt heute ein viel ideelleres Motiv zu Ihrem Manne, ich möchte nämlich zu ihm in die Lehre gehen.“

„Und was wollen Sie denn lernen, lieber Freund? haben Sie die halbe Welt durchwandert und kommen wissenshungrig heim? Sie sollten uns jetzt sehr viel erzählen.“

„Ich möchte von Ihnen lernen, wie man es anstellen muß, um sich bei allem Wandel der Lebensschicksale ein stets heiteres Gemüth zu bewahren. Sie sind, weiß Gott, noch immer der fröhlichste Mensch, dem man zwischen den Polen begegnen kann, und es scheint wahrlich nicht, daß Sie je den Trauerflor um die verlorne Reichsregentschaft angelegt haben.“

„Ich habe ihr keine Thräne nachgeweint. Damit will ich [150] durchaus nicht sagen, daß jeder Hänfling, der über unser erstes Parlament die Achsel zuckt, darum ein Adler geworden. Uebrigens habe ich mich durch Arbeit frisch erhalten.“

„Das Schicksal, als Emigrant von Hoffnungspolitik zu zehren,“ fügte ich hinzu, „und sich allmählich dabei aufzuzehren, war für einen Mann der Wissenschaft überhaupt nicht zu befürchten. Wenn auch von Ihren persönlichen Erlebnissen seit unserer letzten Zusammenkunft gar wenig zu mir gedrungen ist, so habe ich doch manche Ihrer Arbeiten studiren können, und ich habe mich überzeugt, daß Sie nicht müßig gewesen und seitdem manchen Strauß ausgekämpft haben.“

„Das Kämpfen scheint überhaupt meiner Natur angemessen,“ erwiderte Vogt. „Sie erinnern sich vielleicht meines ersten wissenschaftlichen Straußes mit Leopold von Buch[WS 1]?“

„Davon habe ich nie etwas gehört.“

„Dann will sich Ihnen die Geschichte erzählen, denn sie war nicht ohne Einfluß auf meine späteren Lebensschickale. „Schon im Jahre 1840 hatte mich Agassiz zu einer naturforschenden Versammlung nach Erlangen geschickt, um dort die neue Gletschertheorie und die damit zusammenhängende Erklärung der erratischen Blöcke vorzutragen. Der alte Buch, dessen Verdienste um die Wissenschaft ich gewiß zu keiner Zeit verkannt habe, hatte unglücklicherweise in seiner Jugend über jenes Problem eine Meinung ausgesprochen, die heutzutage höchstens noch ein historisches Interesse hat. Er war schwach genug, mir deshalb wie ein grollender Löwe zu begegnen. Im Garten beim Kaffeetrinken griff er mich leidenschaftlich an, machte dann anderen Tages Frieden und sagte mir Abends auf dem Heimweg: ‚Ich gehe jetzt in’s Theater und Sie gehen nach Hause, um sich auf das dumme Zeug vorzubereiten, das Sie uns morgen vortragen wollen.‘ Am nächsten Tage erhielt ich denn das Wort und ging wohlgemuth an meine Predigt. Buch setzte sich mir dicht gegenüber, seinen dicken Stock mit beiden Händen zwischen den Knieen haltend und das Kinn auf den Knopf des spanischen Rohrs gestützt, schaute er herausfordernd zu mir auf und begleitete meine Rede mit Murren und Knurren. Wir kamen indessen in Erlangen noch friedlich genug auseinander. Unangenehmer wurde die Begegnung zwei Jahre später, als ich mit reicheren Resultaten unserer Gletscherforschungen an die naturforschende Versammlung nach Mainz kam. Leopold von Buch hatte in seinem gereizten Gelehrtenstolz etwas von Gelbschnäbeln fallen lassen, die noch nicht trocken hinter den Ohren seien; er suchte mein Auftreten in der Section zu verhindern. Ich setzte es aber bei dem Präsidenten durch, daß die Reihe der eingeschriebenen Redner auch für mich eingehalten wurde; ich hatte widrigenfalls mit Lärm in der allgemeinen Sitzung gedroht. Man rief mich dann zu rechter Zeit auf die Tribüne. Ich aber ärgere mich über den Alten und glücklich am Ende meines Vortrags angelangt, schließe ich in jugendlichem Eifer mit den Worten: ‚Das Lied der Wahrheit dringt doch durch, ob es von grauen oder gelben Schnäbeln gesungen wird!‘ Sie können sich das Aufsehen denken, welches eine solche Abwehr in der Versammlung hervorrief.“

„Inwiefern hatte aber diese Begegnung einen Einfluß auf Ihre späteren Schicksale?“ fragte ich den Erzähler.

„Ich müßte vielleicht etwas weit ausholen, um Ihnen dies zu erzählen.“

„O, thun Sie es nur, denn ich möchte von Ihnen doch ein wenig mehr als Ihre Schriften kennen.“

„Sie wissen, daß ich als Student drei Jahre in Liebig’s Laboratorium in Gießen gearbeitet habe. Es war von 1833 bis 1835. Liebig hatte stets viel Wohlwollen für mich gehabt und mich auch nicht aus den Augen verloren, als ich später mit Desor bei Agassiz in Neuchâtel an dessen großem Werke über die Anatomie der Süßwasserfische arbeitete und mich an den Untersuchungen über die Gletscherbewegung betheiligte. Agassiz wollte mich nach Amerika mitnehmen; ich schlug den Antrag aus, denn die Yankees haben nie zu meinen Liebhabereien gehört. Ich hatte als Doctor der Medicin regelrecht promovirt, ich hätte mich irgendwo als Heilkünstler niederlassen können, doch ist die Medicin mir stets ein Gräuel gewesen. So zog ich es denn 1844 vor, nach Paris zu gehen und mich dort mit meinen Lieblingsstudien zu beschäftigen. Ich arbeitete im Pflanzengarten, schrieb für die Allgemeine Zeitung Correspondenzen über die Sitzungen der Akademie, begann mein Lehrbuch der Geologie und veröffentlichte bei Cotta meine physiologischen Briefe, die ursprünglich für die Beilage der Allgemeinen Zeitung bestimmt waren und jetzt in dritter Auflage erschienen sind. Im nächsten Winter ging ich nach Nizza. Dort entstand mein Buch ‚Ocean und Mittelmeer‘, von dort aus erhielt ich auf Liebig’s Veranlassung einen Ruf als Professor der Zoologie an die Gießener Universität.“

„Und waren gegen diese Berufung nicht vielfache Bedenken von der Regierung des Großherzogthums Hessen erhoben worden? Ihr Vater war ja lange genug in der Opposition gewesen, bis er sich endlich gezwungen sah, eine Professur an der Berner Hochschule anzunehmen.“

„Und meine Mutter ist eine geborene Follen,“ fügte Vogt hinzu; „so konnte der Sohn freilich nicht auf besondere Gönnerschaft in den regierenden Kreisen zählen. Der Cultusminister Linde wollte auch um keinen Preis meine Ernennung zugeben und begründete seine Weigerung mit der Bemerkung, ich habe mich vor einigen Jahren so unehrerbietig gegen Herrn Leopold von Buch benommen, daß meine Berufung an die Gießener Universität einer Beleidigung jenes Veteranen der Wissenschaft gleichkäme. Der alte Buch aber, als er von dieser Aeußerung des Ministers etwas erfuhr, schrieb diesem einen so entsetzlich derben Brief und verbat sich so ausdrücklich, daß ein hessen-darmstädtischer Cultusminister sich in seine Privatangelegenheiten mische und sie zum Vorwande seiner politischen Maßregeln nehme, daß meine Berufung endlich erfolgte. Indessen hatte ich mir vorgenommen, erst mit dem Beginn des Sommersemesters nach Gießen zu gehen, um dort sogleich nach meiner Ankunft meine Vorlesungen zu beginnen. Den Winter brachte ich in Paris zu. In Gießen hatten die Herren indessen volle Zeit, sich auf das wichtige Ereigniß meines Amtsantritts vorzubereiten. Und wichtig genug war dies Ereigniß, das mögen Sie mir glauben, denn es hatte sich ein unheimliches Gerücht über meine Persönlichkeit verbreitet, ein Gerücht, das die alten Häupter unter meinen zukünftigen Collegen mit Schauder und Grauen erfüllte.“

„Sie erschrecken mich. Hoffentlich wird es keine Criminalgeschichte,“ fiel ich ein.

„In Heidelberg giebt es ein Institut für Zeitungsleser, welches man das ‚Museum‘ nennt, „fuhr Vogt fort. „Dort sitzen an dem einen Tisch die Geheimen Räthe, an dem andern die Geheimen und simplen Hofräthe, am dritten die außerordentlichen Professoren, am vierten die bescheidenen Docenten, und wehe dem Unglücklichen, der es damals wagte, die geheiligte Rangordnung zu verletzen und sich an einem Tisch niederzulassen, der ihm nicht zukam! Im Museum zu Heidelberg war ich im Sommer 1846 auf einer Durchreise gewesen und von dort aus hatte sich das finstre Gerüchte verbreitet, Karl Vogt, der eben nach Gießen berufene Professor, trage – einen Schnurrbart!! Ich trug damals meinen Bart wie heute noch, und Sie sehen wohl, die Natur hat mich in diesem Falle nicht mit außergewöhnlicher Fülle beschenkt. Mein Schnurrbart aber war unter den Posaunenklängen der Fama, bis diese nach Gießen drangen, zu einer entsetzlichen Länge gewachsen. Ja, es hieß, das sei ein Schnurrbart, wie noch kein Sterblicher ihn gesehen, ich könne ihn dreist um den Kopf wickeln und hinten zusammenbinden. Wird er mit dem Schnurrbart auf’s Katheder treten, wird er ihn vorher abrasiren lassen? Diese Frage beschäftigte die gesammte Gelehrtenwelt Gießens während der langen Wintermonate. Wetten wurden eingegangen, von den Alten gegen, von den Jungen für den Schnurrbart. Die Letzteren geriethen in Sorge um ihre Finanzen, sie schrieben mir lamentable Briefe nach Paris, ich solle sie doch um Gotteswillen vor dein Bankerott retten und ja nicht ohne Schnurrbart auf’s Katheder treten. Die Lage wurde schwierig, ich durfte meine jungen Freunde nicht in’s Verderben bringen, mein Schnurrbart mußte vor allen administrativen Gefahren, die ihm von Rector und Senat drohten, geschützt werden. In der äußersten Noth kam mir Erleuchtung. Als ein loyaler Professor hielt ich es für geboten, vor meinem Amtsantritt den regierenden Herrschaften in Darmstadt meine Aufwartung zu machen. Ich fuhr in dem neuesten Frack und in dem vollen Schmuck meines Bartes zum Großherzog, dann zum Erbgroßherzog. Bei Letzterem wurde ich angenommen. Seine Hoheit unterhielten sich mit mir über schweizerische Verhältnisse und die Audienz währte so lange, daß der dienstthuende Adjutant, als ich endlich wieder in’s Vorzimmer trat, sich mit der tiefsten Ehrerbietung von mir verabschiedete. Der [151] Herr Rector magnificus, dem ich darauf einen Tag vor meiner ersten Vorlesung den Antrittsbesuch machte, empfing mich mit sichtbarer Betroffenheit. Sein Gesicht legte sich in die ernstesten Falten. ‚Also doch!‘ lese ich in seinen Blicken, die wie erschrocken an meinem Barte hängen bleiben – aber ich schneide ihm noch zu rechter Zeit das Wort ab und erzähle ihm, wie ich ohne vorgängige Inanspruchnahme eines Barbiers mich sämmtlichen hohen und höchsten Herrschaften in Darmstadt vorgestellt und Gnade bei ihnen gefunden. Ein besseres Argument für die Unbescholtenheit eines so gefürchteten Schnurrbarts konnte es freilich nicht geben; die Jungen hatten ihre Wette gewonnen und die Alten mußten zahlen.“

„Nun Sie einmal so gut im Zuge sind, fahren Sie auch in der Erzählung Ihrer Schicksale fort,“ bat ich. „Ich weiß, Sie sind nicht lange Professor gewesen, als die Märzrevolution losbrach und Sie in die politische Laufbahn führte. Wie sind Sie nur in’s Vorparlament gekommen, da Sie nie vorher einer Landesvertretung angehört haben?“

„Die Vertretung der Stadt Gießen muß wohl für eine erbliche Würde in der Vogt’schen Familie gegolten haben,“ erwiderte er. „Mein Vater war lange Jahre zum Abgeordneten von Gießen gewählt worden, ohne indessen in die Kammer treten zu können, da die Regierung ihm regelmäßig den Urlaub verweigerte.“

„Das waren herrliche Zeiten!“

„Sind nicht viel besser geworden,“ meinte er. „Sie werden indessen kaum errathen, wessen Bemühungen ich meinen Sitz im Vorparlament verdankte. Herr von Sybel, der Geschichtsschreiber des Revolutions-Zeitalters, der später die großen Gestalten des Convents als Lindenmüller und Wühlhuber dargestellt hat, derselbe brachte mich in’s Vorparlament. Mein erstes Auftreten in Frankfurt schien den hohen Herrschaften, denen ich ein Jahr vorher meinen officiellen Besuch gemacht, nicht sehr behagt zu haben, denn als es zu den Parlamentswahlen kam, wurde der Gießener Wahlkreis so auseinander gezerrt, daß ich bis in’s Hinterland reisen mußte, um mich den Wählern vorzustellen. Freund Rahl aus Wien begleitete mich auf dieser Fahrt und hielt den hessischen Bauern vortreffliche Reden und in so vollendetem österreichischem Dialekt, daß sie ihn mit keinem Wort verstanden. Aber das war nur um so besser, denn die Bauern äußerten sich nachher: ‚An dem Vogt muß doch verdammt viel sein, daß die Leute von so weit herkommen, um für ihn zu reden.‘ Sie werden nicht erwarten, daß ich Ihnen jetzt meinen Antheil an den Ereignissen jener Zeit schildre. Ich war vielleicht eher im Exil, als ich es anfangs nach der Höhe der Volksbewegung annehmen mochte.“

„Haben Sie nicht auch an den kriegerischen Operationen theilgenommen?“ frug ich.

„Wenn ich nicht irre, war ich einen Augenblick unberittener Commandant der Gießener Cavalerie. Die Ursache einer solchen Auszeichnung ist mir bis heute fremd geblieben. Lachen Sie nur! Ich lasse mir jene Zeit nicht verkleinern. Es wurde mit Begeisterung gestritten und diese Begeisterung hat mehr denn ein braver Bursche mit seinem Leben bezahlt. Das sollte so mancher überweise Herr nicht vergessen, denn Blut ist ein ganz besonderer Saft‘; einmal für eine Sache geflossen, giebt es ihr eine unvertilgbare Weihe. Aus solchen Niederlagen erstehen dem Volk seine Siege.“

„Uebrigens hat ein Mann der Wissenschaft,“ fügte ich hinzu, „dies vor dem absoluten Politiker voraus, daß er seine Wehr nur vertauscht, nie abzustellen braucht. Und aus dem, was mir auf meinen Reisen von Ihren Arbeiten zu Gesicht gekommen, darf ich wohl den Schluß ziehen, daß Sie als Naturforscher Ihren ehemaligen Gegnern nachhaltiger wehe gethan und der Sache des Volkes bleibender genützt als so mancher glänzender Kammerredner, auf dessen feurigste Ergüsse hin, selbst in den aufgeregtesten letzten Jahren, kein einziger Minister, vom größten bis zum kleinsten deutschen Staate herab, nur sein Portefeuille, geschweige etwas Anderes verloren hat.“

„Das müssen Sie mit dem deutschen Volke ausmachen, das an politischer Initiative seit 48 eher ärmer als reicher geworden,“ sprach er. „Dagegen ist es seit jener Zeit von einer wahren Bildungswuth befallen worden, und die starre Büchergelahrtheit von ehemals konnte bald den wachsenden Ansprüchen auf populäre Darstellung nicht mehr genügen, aber es traten täglich frische Kräfte in den Vordergrund. Durch diesen Heißhunger nach Belehrung ward der Wissenschaft ein weites Arbeitsfeld eröffnet und ich darf es mir wohl als ein Verdienst anrechnen, daß ich mit einem beträchtlichen Theil meiner seitherigen Schriften auf einen größeren Kreis von Lesern gewirkt habe, als dies der althergebrachte dürre Ton eines Fachgelehrten ermöglicht hätte. In den ersten Jahren meines Exils in der Schweiz schrieb ich die ‚Thierstaaten‘ und begann ich die ‚zoologischen Briefe‘, zu deren weiterer Ausführung ich Nizza wieder aufsuchte. Dort erhielt ich 1852 einen Ruf als Professor an die Genfer Akademie, und wenn ich mich auch damals speciell meinen Untersuchungen über die Seethiere widmete, so entstand doch Manches, was in das große Publicum gedrungen ist; so auch das Buch, welches unter dem Titel ‚Köhlerglaube und Wissenschaft‘ so viele Philister und Narren gründlich geärgert hat.“

„Nun haben Sie auch in der Schweiz eine politische Stellung eingenommen. Es ist mir dies um so auffallender, als die Schweizer sich nur schwer dazu entschließen, Ausländer zu ihren eigenen Angelegenheiten heranzuziehen. Und sie scheinen mir darin nicht Unrecht zu haben.“

„Zugegeben! Und die Ausländer, die sich in schweizerische Politik gemischt, haben selten Seide dabei gesponnen. Mit mir indessen stand die Sache anders. Ich war durch meine nächsten Familienbeziehungen so eng mit der Schweiz verbunden, daß ich gewiß nicht als ein Fremder betrachtet werden konnte. Es wird auch keinem Berner in den Sinn kommen, meine Brüder, mit denen er auf der Schulbank gesessen, nicht als seine Landsleute anzusehen. Zu meiner Betheiligung an der Politik bedurfte es deshalb keines besondern Anstoßes, ich hatte die zahlreichsten Anknüpfungspunkte in den eidgenössischen Räthen; die Häupter der radicalen Partei, Stämpfli, Niggeler, Karrer, waren meine Studiengenossen gewesen, mit Fazy war ich schon 1846 auf meiner ersten Reise nach Nizza bekannt geworden.“

„Und so wurde der ehemalige deutsche Reichsregent Mitglied des Großen Rathes der Republik Genf und Vertreter derselben im Ständerath,“ ergänzte ich.

„Was wiederum einige Philister und Narren bitter geärgert hat,“ entgegnete er. „Ich gab indessen, nachdem mir das Mandat vier Mal anvertraut worden, meine Demission als Mitglied des Ständerathes. Die Nordfahrt mit meinem leider so früh verstorbenen Freunde Berna aus Frankfurt war mir lockender als der Rathssaal, um so mehr, als ich an der vom Prinzen Napoleon nach den arktischen Gegenden unternommenen Reise wegen einer schweren Krankheit nicht hatte theilnehmen können.“

„Wäre die Frage wohl indiscret, wie Sie zu der Ehre gekommen, vom Prinzen zu dieser Reise eingeladen zu werden?“ frug ich.

„Das darf man fragen und wissen,“ gab er zur Antwort. „Wenn ein Prinz mit einem Naturforscher verkehrt, trotzdem dieser ein Republikaner ist, so darf auch ein Republikaner mit einem geistvollen Menschen verkehren, trotzdem dieser ein Prinz ist. Uebrigens habe ich des Prinzen persönliche Bekanntschaft erst nach seiner Nordfahrt gemacht, als ich ihm wie selbstverständlich meinen Dank für seine Einladung abstattete. Diese selbst war auf Veranlassung meines englischen Freundes Charles Edmond geschehen, den ich in Nizza kennen gelernt, als ich eben Seethiere studirte, und der mich dieser Specialität wegen dem Prinzen zum Reisegefährten vorschlug. Doch ich sehe, Ihre Augen heften sich fragend auf jene Reihe von Hirnabgüssen.“

„Was sollen nur alle diese Kindsköpfe?“ lautete meine Frage.

„Kindsköpfe in gewissem Sinne, doch viel weniger als dies, wenngleich ihre Träger nicht gar weit vom Schwabenalter entfernt waren. Dies sind lauter Hirnabgüsse von Mikrocephalen. Wenn Sie sich mit meinen neuesten Arbeiten vertraut machen wollen, so müssen Sie meine Vorlesungen über den Menschen lesen.“

„Ich habe sie in englischer Uebersetzung gelesen und hoffe sie nun zu hören, denn wenn ich recht unterrichtet bin, werden Sie in diesem Winter in Paris einen Cyclus von Vorlesungen über denselben Gegenstand halten.“

„Nicht nur in Paris, sondern auch in Bremen, Darmstadt, Mannheim und Nürnberg. Auch andere Städte haben bei mir angefragt, doch muß ich sie auf nächsten Winter zurückstellen.“

„Diese Art von Wandervorträgen,“ bemerkte ich, „sind in Amerika entstanden und wohl auch dort zur weitesten Ausbildung gelangt. Ganz unberechenbar ist der Einfluß, den sie dort auf die allgemeine Volksbildung ausgeübt, und ein großer Theil der geistigen Cultur, der wir in allen Schichten des amerikanischen Volkes begegnen, ist eine Frucht jener Vorträge.“

[152] „Nun denn, wir wollen uns von den Amerikanern nicht überholen lassen. Aber nicht nur das Publicum gewinnt, indem es sich so auf die bequemste Weise mit den Fortschritten der Wissenschaft vertraut machen kann; diese Wandervorträge sind zugleich von außerordentlicher Anregung auf den Vortragenden selbst und es ist überhaupt gut, daß Jeder der Apostel seiner eigenen Ideen werde und durch die größere Verbreitung derselben auch einen weiteren Kreis von Menschen für die Wissenschaft gewinne.“

Die Frau Professor hatte sich während unserer Unterhaltung entfernt und trat eben wieder ein, um uns zum Thee zu bitten. Wir folgten ihr in’s Speisezimmer und hier entspann sich die lebendigste Unterhaltung, die mir von Neuem Gelegenheit bot, in Vogt nicht blos den scharfen geistreichen Kopf, sondern den gemüthswarmen Menschen kennen zu lernen. Denn sehr Unrecht haben seine Feinde, wenn sie ihm das Gemüth absprechen wollen, vortrefflich aber charakterisirt ihn der jetzt als Flüchtling in New-York lebende H. J. A. Körner, wenn er in seinen „Lebenskämpfen aus der alten und neuen Welt“[WS 2], seiner Beziehungen zu Vogt gedenkend, von dessen ausgeprägtem Humanitätsinstinct spricht.

„Meine Wahrnehmung dieses seines Humanitätsinstinctes erklärte es mir zuletzt,“ sagt er, „wie Karl Vogt, dieser zeitgeizige und Alles bekrittelnde Mann, mehrere Tage bis in die Nacht hinein an einem Weihnachtsbaum für die Kinder seiner Geschwister arbeiten konnte und dabei selbst meine Kinder nicht vergaß, wie er fähig war Mühe und Zeit zu verwenden, den Flüchtlingen auf dem Kornhause Vorträge zu halten und anderweitig für Alle, und für manche Einzelne noch besonders, ‚Mittel des Lebensunterhaltes‘ herbei zu schaffen und endlich später eine zwar schöne, aber doch sehr einfache und nicht eben reiche ‚Berner Oberländerin‘ zu heirathen, sie zart und liebevoll zu behandeln und sich mit seinen Kindern gleich dem zärtlichst fühlenden Vater herum zu tummeln.“

Das beweist denn doch wohl, daß Vogt nicht blos der ewig schlagfertige und kampflustige Verstandesmensch ist.




Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849.
Von Carl Munde.[2]


Die Dresdner Ereignisse von 1849 sind bekannt. Ich war Mitglied des Centralausschusses der Vaterlandsvereine, Stadtverordneter, als solcher und als Commandant der gesetzlich organisirten, obgleich durch und durch demokratischen, Turner-Waffenschaar Mitglied des Ausschusses der Dresdner Bürgerwehr und nahm folglich an allen Beschlüssen dieser Körper Theil, während ich mit meiner Schaar, als der einzigen, die an jenem verhängnißvollen zweiten Mai in geschlossener Ordnung und von ihren ordentlichen Officieren geführt vorrückte, zur Unterstützung des Volkes vorzugehen wagte.

Am fünften Mai, nachdem ich eben auf der dem Schloß am nächsten gelegenen Barricade den Soldaten eine kurze Rede gehalten, wurde vom Schloß und den geistlichen Häusern aus ein lebhaftes Feuer auf mich eröffnet, als ich die Barricade hinabstieg und mitten unterm Feuer nach dem Hotel de Pologne zurückging, durch das ich herausgekommen war. Die Kugeln pfiffen rechts, links und über mir vorbei, wohl fünfzig, ehe mich eine traf. Diese eine traf aber! Ich fühlte deutlich, wie sie durch den linken Unterschenkel ging, setzte indeß mit Hülfe eines spanischen Rohres, das ich wegen eines auf der Barricade vertretenen Fußes in der rechten Hand trug, meinen Weg noch um einige Schritte fort, bis ich die Thür des Hotel de Pologne erreichte und dort meinen Leuten in die Armes fiel. Der Blutverlust war so stark, daß ich bald meine Sinne schwinden fühlte und nur eben noch Zeit hatte, anzuordnen, daß man mich durch das Haus des Bankier Kaskel nach der Löwenapotheke tragen solle, wo ein Verbandplatz angelegt war.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich, in kaltem Schweiße gebadet, auf einem Strohlager am Boden der Apotheke und rechts und links neben mir andere mehr oder minder schwer Verwundete. Ein junger Arzt kniete zu meinen Füßen und untersuchte, meinen entblößten Fuß in der Hand, meine Wunde. Meine Frage, ob Knochen entzwei wären, verneinte er. Am nächsten Tage brachte jedoch mein Diener Hingst meinen Strumpf, in welchem noch einige Knochensplitter staken. Er sagte, er habe schon eine Menge herausgewaschen. Späterhin fand sich, daß das Wadenbein ganz entzwei und die Hälfte des Schienbeines fort war; daß ich also die letzten Schritte, welche ich nach der empfangenen Kugel noch gethan, blos auf einem halben Schienbein gemacht hatte. Das Bein schwoll schnell an und erschwerte die Untersuchung.

Nachdem ich durch einen Freund meiner Frau einige Zeilen gesandt, ließ ich mich in einem Krankenkorbe durch die Scheffelgasse und, da diese an der Wallstraße von einer Barricade gesperrt war, durch das jetzige Hôtel garni von Meisel nach meiner Wohnung in der Oberseergasse tragen, wo mich mein treues Weib unter Thränen der Freude und des Schmerzes empfing. Welche Freude, daß ich wenigstens nicht todt nach Hause gebracht worden!

Da lag ich nun drei Tages ohne anderen Verband, als nasse Tücher, welche ich oft mit frischem Wasser anfeuchtete, und ohne etwas zu essen. Alles, was ich genoß, war eine Flasche Rothwein, welche mir bei meiner Ankunft Jemand reichte und die ich ohne Absetzen ausleerte, so begierig war ich, das verlorene Blut zu ersetzen. Währenddem wurde der Kampf wilder und wilder. Endlich am achten Nachmittags kam mein Freund Dr. Herz zu mir und sagte mir, er fürchte, wir würden nicht lange mehr Widerstand leisten können; wenn ihn nicht Alles täusche, so werde die Stadt noch in dieser Nacht genommen werden. Das bewog mich denn doch, meinen Diener nach einem Wagen zu schicken, um mich nach irgend einem benachbarten Orte zu führen. Nach vieler Mühe hatte er einen Bauer aufgetrieben, der bereit war mich gegen eine Vergütung nach Tharand mitzunehmen.

Es wurde also eine Matratze auf den Boden des Wagens gelegt, ich hinein gehoben, und einige Kleidungsstücke, nebst meinem Säbel, neben mich gelegt; dann stieg meine Frau mit einem dritthalbjährigen Kinde und einer meiner älteren Söhne von etwa fünfzehn Jahren, Albert, auf den Wagen, und zuletzt der Bauer selbst, und nun ging es, begleitet von vier meiner Scharfschützen mit geladenen Büchsen, zum plauenschen Schlage hinaus nach Tharand zu. Eine Stunde von Dresden schickte ich meine Escorte zurück, erreichte Tharand gegen elf Uhr Abends ohne Unfall und fand bei einer uns befreundeten Kaufmannswittwe gastfreie Aufnahme und Pflege.

Früh am Morgen schickte ich nach einem Wundarzte, um meine Wunde untersuchen und einen ordentlichen Verband anlegen zu lassen. Er hatte eben die Sonde eingeführt, als mein Sohn ins Zimmer stürzte mit der Nachricht, Dresden sei genommen und Zuzügler und Flüchtlinge kämen in großen Massen die Straße hergezogen. Er habe Heubner gesprochen, der sogleich hier sein werde.

Hastig folgte ihm dieser und fragte mit kaum erkennbarer heiserer und rauher Stimme: „Wie geht Dir’s, Munde?“

„Schlecht, wie Du siehst!“

„Es ist Alles vorüber. Du kannst hier nicht bleiben. Komm’ mit uns im Regierungswagen.“

„Ich kann nicht sitzen und muß das Bein hoch liegen haben.“

„Gut, so will ich einen Bauerwagen für Dich requiriren; er soll sogleich hier sein.“

„Was denkt Ihr zu thun?“

„Wir setzen uns in Freiberg.“

„Das geht nicht. Ihr könnt Euch da nicht halten.“

„Wir versuchen es; mit den Zuzüglern haben wir über zehntausend Mann.“

[153] „Deren laufen drei Viertheile davon. Macht, daß Ihr weiter kommt.“

„Ich muß fort. Adieu. Auf Wiedersehen in Freiberg!“

Der Arme wußte nicht, welches Schicksal ihm in Chemnitz bevorstand, das er mit Bakunin und Martin todmüde in der nächsten Nacht erreichte. Wir sahen uns wieder, aber nicht in Freiberg, nachdem ich siebzehn Jahre in Amerika und er zehn Jahre in Waldheim verlebt! Bakunin sah ich im Jahre 1861 in New-York, auf seiner gelungenen Flucht aus Sibirien.

Mein Verband konnte nicht angelegt werden. Heubner war so gut wie sein Wort. Der Wagen, mit zwei jungen munteren Braunen bespannt, kam, ehe ich noch mit dem Ankleiden fertig war. Meine Matratze und ich selbst wurden hineingelegt, mein Sohn folgte mit meiner eiligst in ein paar Taschentücher gebundenen Wäsche. Dann setzten sich noch einige Bewaffnete zu mir. Den Säbel ließ ich zurück, da ich mich doch nicht wehren konnte. Nur ein Dolchmesser steckte ich als Waffe zu mir. Und nun kam der sehr schmerzliche Abschied von Weib und Kind, die nach Dresden zurückkehrten. Wußte ich ja nicht, ob und wann ich sie wieder sehen würde. Die Aufregung und die Unklarheit über unsere Lage halfen uns darüber weg. Noch hatte ich immer mehr das Ganze im Auge als mich selber.

Tharand und die Straße nach Grüllenburg fand ich voll flüchtiger Bewaffneter, zu Fuß, zu Wagen und zu Pferd; manche auf erbeuteten Cavaleriepferden. Viele Bekannte drängten sich an mich und schüttelten mir die Hand. Die Meisten hatten die Gesichter mit Pulver geschwärzt, die Augen geröthet, die Stimmen heiser und rauh, die Kleider beschmutzt, zerrissen; die Haare hingen ihnen wild um den Kopf. Manche waren sechs Tage und Nächte nicht von den Barricaden und dem Pflaster weggekommen.

Bald ließ ich Alle hinter mir zurück. In Grüllenburg traf ich den Vortrab der kleinen Armee, welche Dresden zu Hülfe zog – ich will nicht sagen eilte; denn sie kamen zu spät. Ich ließ den Commandirenden herbeirufen und sagte ihm, er könne gleich wieder umkehren, der vierspännige Regierungswagen folge mir auf dem Fuße. Er wollte mir nicht glauben. Es war Prößel aus Chemnitz. Ich sah ihn in New-York wieder, wo er ein Hôtel in Beekman-Street hielt.

Am Hammerberge bei Freiberg trafen wir auf das Gros der Armee. Die Straße war ganz schwarz von Bewaffneten, so weit wir sehen konnten. Nachdem ich ihnen die ersten Nachrichten aus Dresden mitgetheilt und sie zur Umkehr aufgefordert hatte, fuhr ich, so schnell es ging, auf einem Seitenwege aus dem Gedränge nach der Wohnung meiner Schwester, welche glücklicherweise, so wie meine eigene in Dresden, in der Vorstadt lag. Während des kurzen Haltes unter den Zuzüglern hatte ich Gelegenheit zu bemerken, daß die Masse derselben nicht durchgängig aus kampfbereiten Truppen bestand. Da war Freiberger und Chemnitzer Communalgarde, von letzterer eine Abtheilung zu Pferd, welche nicht nur offenbar froh waren, wieder umkehren zu können, sondern die, wie es schien, von den dazwischen eingekeilten Turner-Compagnien zum Kampf getrieben wurden. Ein paar Cavaleristen, welche sich, nach der Meinung der Grauen, zu weit von der Colonne hinweg in’s Feld begeben, wurden wenigstens durch ein paar Kugeln der letzteren schnell wieder zurück gebracht. So lange es Tag war, hielt sich die Armee ziemlich zusammen. Beim Dunkelwerden aber zerstreute sich der ganze Troß wie Asche vor dem Wind, und was etwa noch zusammenhielt, flüchtete nach Chemnitz zu, mit der provisorischen Regierung in der Mitte.

So brach wieder eine von den Nächten herein, welche mir so wenig Ruhe brachten und die ich voll Schmerz und Kummer durchwachte. Gegen sechs Uhr Morgens sah ich durch ein Fenster meines Zimmers, von meinem Bett aus, sächsische Cavalerie und reitende Artillerie über den Hammerberg herabkommen. Die Thore der Stadt wurden besetzt und auf dem Marktplatze, auf welchem noch ein Stein die Stelle bezeichnet, wo Kunz von Kauffungen, der Prinzenräuber, enthauptet worden, fuhr man Kanonen auf. Sofort wurde Alles arretirt, was irgend wie verdächtig war. Zum Glück hatte die Polizei zu viel im Innern der Stadt zu thun, um sich um die Vorstädte und mich zu bekümmern. Und ich lag so ungestört den ganzen Tag, ungewiß was aus mir werde würde. Viele meiner Cameraden besuchten mich am ersten Tage. Alle versprachen mir einen Wagen zu schaffen. Keiner konnte Wort halten. Sämmtliche Pferde waren von den Flüchtigen in Beschlag genommen worden. Am nächsten Tage, den 10. Mai, besuchte mich ein Bergmann, Schüttauf mit Namen, der mit mir von Tharand nach Freiberg gefahren, und fragte, ob er etwas für mich thun könne. Ich bat ihn, nach Halsbrücke zu einem Verwandten zu gehen, diesen zu fragen, ob ich ein paar Tage bei ihm bleiben könne, und wenn er eine günstige Antwort erhielt, einen Wagen zu miethen und mit diesem Schlag halb Sieben durch die Hinterthür im Hofe des Hauses sich einzufinden, um mich abzuholen. Im Gasthof zum „wilden Mann“, vorn gegenüber, stand ein Piket sächsischer Reiter. Der Wagen kam pünktlich. Ich nahm Abschied von meiner guten alten Mutter und meiner Schwester. Ich habe keine von Beiden wiedergesehen! Mein Schwager setzte mir eine Berguniformsmütze auf den Kopf und hing mir einen Officiantenmantel um, und so wurde ich in den leichten offenen Wagen gehoben; mein Sohn Albert setzte sich neben mich, und nun fuhren wir auf wohlbekannten Nebenwegen hinter der Stadt – meiner Geburtsstadt – herum nach dem eine Stunde entfernten Halsbrücke zu.

Hier wurde ich vom Vetter Ludwig und seiner freundlichen jungen Frau wie ein Bruder aufgenommen und so bequem installirt, daß ich gern lange geblieben wäre, wenn es sich nur hätte thun lassen. Ich werde nie die Liebe und Pflege vergessen, welche mir in den sechsundzwanzig Stunden, die ich bei diesen treuen Verwandten zubrachte, zu Theil wurde. Allein schon am nächsten Mittag sagte mir Ludwig, daß das ganze Dorf meine Anwesenheit wisse und daß die Polizei sicher am nächsten Tage da sein würde, sobald sie nur in der Stadt ein wenig aufgeräumt hätte.

Wir berathschlagten, wohin man mich bringen könne. Ludwig’s Frau nannte ihren Vater, welcher in Bräunsdorf wohnte und der wohl im Stande sein werde mich zu verbergen. Der Fuhrmann, welcher mich gebracht, wurde wieder engagirt, aber dieses Mal mit einem Korbwagen. Als es dunkel war, wurde meine Matratze wieder eingelegt, ich darauf, dann eine Partie Hausgeräth über mich gepackt, so daß das Ganze wie ein Auszug aussah, eine Plane über den Wagen gezogen, und so ging es in die Nacht hinaus, nach Bräunsdorf zu. Cousin Ludwig und Albert marschirten zu Fuß vor und neben dem Wagen her.

Wir erreichten Bräunsdorf gegen zwei Uhr Morgens und hielten vor dem Hause des alten Herrn an, der nach einigem Pochen sich hören ließ. Er weigerte sich mich aufzunehmen, da es keine zwei Tage verschwiegen bleiben könne. Auf meine Bitte händigte er mir durch Ludwig fünfzig Thaler in einer Rolle ein. Eine andere Summe hatte mir ein edler Freund in Freiberg geliehen, dessen Hülfe ich schon dreizehn Jahr früher mein Leben und meine Gesundheit dankte. Wir waren also gezwungen, unsere Reise fortzusetzen. Ich wußte nicht wohin. Da fiel mir der Gerichtsdirector Schiffner in Mittweida ein, sowie der Abgeordnete Müller von Taura. Wir fuhren weiter auf Haynichen und Mittweida zu, obgleich ich nicht wußte, wie mir die beiden Gesinnungsgenossen helfen sollten.

Bei einem einzelnstehenden Wirthshause vor Haynichen nahm Vetter Ludwig Abschied von mir, um nach Haus zurückzukehren. Wie ich später erfuhr, begegnete er nicht weit vom Gasthofe und am Saum eines Waldes einer Reiterpatrouille, deren Aufmerksamkeit er auf sich zu lenken wußte und die ihn arretirte, um ihn nach Freiberg zurückzuführen, wo er, recognoscirt, sofort in Freiheit gesetzt wurde. Ohne seine Geistesgegenwart und seine Opferbereitschaft hätte die Patrouille vermuthlich mich gefangen.

Ich übergehe die Schicksale auf meiner Fahrt bis zum ersten altenburgischen Dorfe, Wolperndorf. Es war mitten in der Nacht, als wir dort anlangten. Ich lag fast beständig in Schlafwachen und kam erst wieder zu klarem Bewußtsein, als die beiden Männer an dem Thore des altenburgischen Gasthofs pochten, daß das ganze Dorf hätte erwachen mögen. Trotz alles Lärmens regte sich Niemand: es war sicher, daß der Wirth, wegen der vielen, zum großen Theil bewaffneten Flüchtlinge, an denen kaum etwas zu verdienen war, nicht öffnen wollte. Endlich stiegen die Männer über die hohe Mauer in den Hof, und nach vieler Mühe und nachdem sie sich mit dem großen Kettenhund herumgeschlagen, der sie wüthend anfiel, gelang es ihnen, den Wirth und seine Tochter herauszuklopfen.

Ich hörte, wie der Wirth sich weigerte, mich aufzunehmen, und wie er nur durch vieles Zureden, namentlich auch Seitens seiner Tochter, sich bewegen ließ, endlich das Thor aufzumachen [154] und zu gestatten, daß der Wagen in den Hof fuhr. Er lamentirte fortwährend über die Strafe, in die er verfallen würde, wenn man mich bei ihm fände, wurde jedoch sofort entwaffnet, als ich ihm die bewußte Rolle mit fünfzig preußischen Thalern aus dem Wagen langte und ihm rieth, sich davon bezahlt zu machen, wenn ich entdeckt würde, was wir jedoch auf alle Weise verhüten müßten. Als seine Tochter, ein braves und hübsches Mädchen – welchem der Himmel hoffentlich seitdem einen eben so braven Mann und gute Kinder bescheert haben wird – mich aus dem Wagen herausheben sah, bleich und blutig, wie ich es war, brach sie in lautes Weinen aus, fiel ihrem Vater um den Hals und beschwor ihn, ja Alles für mich zu thun, was er könne, um mich vor den umherstreifenden Gensd’armen zu retten. Der Alte versprach es und hat redlich Wort gehalten. Wenn er noch lebt, möge er meinen herzlichen Dank und Händedruck freundlich aufnehmen, der ehrliche und warmherzige Rauschenblatt! – Er hat durch meine Rettung nichts Böses gethan.

Für diese letztere handelte es sich nun zunächst um zwei Dinge: erstens um ein Versteck, wo ich meine Wunde hinreichend heilen lassen konnte, um meine Reise fortsetzen zu können, oder zweitens, um die Mittel und Wege zu augenblicklicher Fortsetzung dieser Reise, bis ich an sicherem Orte meine Herstellung abwarten konnte. Zu einem oder dem andern dieser Wege bedurfte ich die Hülfe von Freunden, sowie der hinreichenden Geldmittel. Um mir zunächst einigen Beistand in der Nähe zu verschaffen, schrieb ich an den Prediger des Ortes, nach dessen Charakter ich mich beim Gastwirth und seiner Tochter erkundigt hatte, und schickte meinen Sohn nach dem Pfarrgut. Der brave Mann besuchte mich sogleich und erklärte sich, nachdem ich ihm über meine Lage und Verhältnisse Auskunft gegeben, ohne Bedenken bereit, mir beizustehen. Er war kürzlich erst verheirathet und versprach mir, als ich ihm von meiner Frau und meinem jüngsten Knaben erzählte, sein junges Weibchen mir zuzuführen. Er hielt Wort, und ich danke der lieben, freundlichen und sehr hübschen jungen Frau manchen Trost und manche Erheiterung in den traurigen vier Tagen, welche ich in Wolperndorf zubrachte. Hoffentlich führt mich das Schicksal vor meinem Tode noch einmal mit ihnen zusammen, damit ich ihnen für all’ das Liebe und Gute, das sie dem fremden Flüchtling erzeigt, nochmals mündlich und von ganzem Herzen danken kann.

Nun schrieb ich an mehrere Freunde und bat sie, ihre Antworten an den Herrn Pastor H. zu adressiren. Dann schickte ich Boten aus, um mich über die Vorgänge um mich her zu erkundigen, zugleich aber, um Mittel und Wege ausfindig zu machen, durch die ich in Sicherheit kommen könnte. Einer meiner Boten brachte mir einige Zeilen vom amerikanischen Consul in Leipzig, Dr. Flügel, dem Verfasser des bekannten großen englischen Wörterbuchs und einem mehrjährigen Freunde. Er bedauerte, selbst nichts Wesentliches für mich thun zu können, rieth mir aber, mich an Dr. Rittler in Altenburg zu wenden, welcher in seinem Hause eine geheime Zufluchtsstätte für politische Flüchtlinge seit Jahren hatte. Ich erinnerte mich, mit dem Doctor in Dresden bekannt geworden zu sein, und schickte denselben Boten sofort mit dem Auftrage an ihn, mir Antwort mitzubringen. Am nächsten Tage kam er mit einem Briefe, in welchem der Doctor mich bat, mich am folgenden Nachmittage, Mittwoch den 16. Mai, drei Uhr, fertig zu halten, vorher aber meinen Bart abzuschneiden und mich sonst möglichst unkenntlich zu machen. Der Bart fiel, wie damals mancher andere, zum großen Bedauern der hübschen Jungfer Rauschenblatt und zu meinem eigenen Leidwesen; denn er war damals noch schwarz. Mein Sohn schnitt mir das Haar kürzer, und es bedurfte nur noch einiger kleinen Veränderungen an meinem Anzuge, um mich Leuten, die mich nicht oft gesehen, unkenntlich zu machen. Denn schon hatten die ertragenen Leiden und der Mangel an Nahrung, zu welcher der Appetit erst später wiederkehrte, in meinen Gesichtszügen, meiner sonst straffen Haltung und selbst in meiner ansehnlichen Größe und kräftigen Gestalt eine sehr nachtheilige Veränderung hervorgebracht.

Die Nacht vor meiner erwarteten Abreise und noch ehe ich die obige Toilettenveränderung an mir vorgenommen, hatte ich noch einen Schrecken. Ich erwachte bald nach Mitternacht durch das wiederholte laute Pochen am Hofthore, und als der Wirth zum Oeffnen aufstand und den Pochenden nach seinem Begehr fragte, hörte ich deutlich meinen Namen und bald darauf einen Wagen in den Hof rollen. In größter Hast weckte ich meinen in einem Bett mir zur Seite festschlafenden Sohn und gab ihm schnell einige Instructionen. Ich selbst aber faßte meinen Dolch, hielt ihn unter die Decke und wartete nun in einer verzweifelten Entschlossenheit der Dinge, die da kommen sollten. Bald hörte ich die Tritte von zwei Männern, welche zur Treppe herauf und, der Wirth mit der Laterne voran, zu meiner Kammerthür herein traten. Sein Begleiter war ein langer Mann in militärischer Haltung, doch ohne Bart.

„Nun, da ist er ja!“ rief er aus, als er mich sah.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“ erwiderte ich.

„Ich bin der Kriegsreservist N. (den Namen habe ich vergessen) und habe unter Ihnen in der Schloßgasse gekämpft. Ich war dabei, als Sie verwundet wurden. Der Bart fehlt und das macht mich unkenntlich. Kennen Sie mich jetzt?“

Ich besann mich, daß ich einmal einem Manne seines Namens Geld geliehen, der es mir nicht zurückgebracht hatte. Dies geschah den Führern der demokratischen Partei damals oft, da viele Lumpen sich an sie drängten, die nur mit der Maske des Demokraten Eintritt in anständige Kreise fanden. Es war mir, als hätte ich sonst noch Uebles über den Mann gehört, doch wußte ich nicht was. Auf jedem Fall hielt ich es für klug, vorsichtig zu sein und ihm nichts von meinen Plänen und Aussichten zu entdecken. Nach einigem Hin- und Herreden fand ich heraus, daß er in Dresden bei meiner Frau gewesen und ihr angeboten, mich zu retten, und daß sie ihm einiges Geld und meine Adresse in Freiberg gegeben. Meine Verwandten in Freiberg hatten ihm gesagt, daß ich nach Halsbrücke gegangen. In Freiberg hatte er auf meine Rechnung einen Lohnkutscher genommen und war mit ihm zu den Verwandten in Halsbrücke gefahren. Dort hatte man ihm meinen Reiseplan mitgetheilt und den Wagen und Fuhrmann beschrieben, mit dem ich abgereist. Unterwegs hatte er den letzteren getroffen und von ihm eine genaue Beschreibung meines Aufenthaltes erhalten. Und so hatte er mich gefunden. Wie ich später erfuhr, hatten meine Verwandten den Lohnkutscher bezahlen müssen, und es schien, die ganze sonderbare Anhänglichkeit war mehr auf eine Prellerei und auf Rettung seiner eigenen Person gerichtet, als auf meine Sicherheit. Sollten wir uns darin geirrt haben, so bitte ich hiermit aufrichtig um Verzeihung.

Am Nachmittag kam Rittler zur festgesetzten Stunde und brachte seinen neunjährigen Sohn Anton mit, damit der Wagen mehr das Ansehen einer Familienangelegenheit erhalte. Durch die Erfahrung klug geworden, schärften wir den Freunden in Wolperndorf ein, Niemand, wer es auch sei, meinen Aufenthalt zu verrathen, und fuhren nach herzlichem Abschied und mit dankerfülltem Gemüth gegen alle die guten Menschen davon. Nur einmal hatte ein Gensd’arm, der Albert gesehen, angefragt, aber zum Bescheid erhalten, daß der junge Mensch auf der Pfarre zum Besuch sei; so viel man wisse, sei er ein Vetter oder gar ein Bruder der Frau Pastorin. Nachdem Rittler sich überzeugt, daß ich geläufig und mit gutem Accent englisch sprach – Engländer hatten mich schon hier und da für einen Landsmann gehalten – kamen wir überein, daß ich als Amerikaner, und zwar als Mr. Charles Murray (das C. M. mußte der Wäsche etc. wegen beibehalten werden), der beim Umwerfen des Wagens ein Bein gebrochen, im Hause des Doctors eingeführt werden und dort an seinem Schaden behandelt werden sollte. Deutsch durfte ich nur wenig und nur gebrochen sprechen, außer wenn wir ganz allein waren. Die Frau Doctorin hatte mehrere Jahre in England gelebt und sprach gut englisch; und so konnte sie die Dolmetscherin machen, und Niemand konnte eine Idee haben, daß Mr. Murray von New-York eigentlich Niemand anders als Dr. Munde von Dresden sei. Um dem Factum das Siegel aufzudrücken, sollte ein junger Engländer, der sich in Altenburg aufhielt und Rittlers häufig besuchte, bei mir eingeführt werden. Und so geschah es denn, und zwar, trotz der vielen Chancen, denen unser Plan ausgesetzt war, mit glücklichem Erfolg. Rittler hatte es eingerichtet, daß wir im Dunkeln in Altenburg ankamen, welches von einem Bataillon Preußen besetzt war. Wir wurden zwei Mal von Schildwachen angehalten. Meines Freundes „Doctor Rittler“ mit einem kräftigen Druck der Hand auf den Nacken seines Söhnleins, der dessen Gesicht zum Wagenschlag hinaus beförderte, hatte ein gleichgültiges „Passirt!“ zur Folge, und so gelangten wir glücklich an des Doctors Haus, wo wir [155] die gute Frau Doctorin und den erwähnten jungen Engländer schon im Flur unser wartend fanden.

„Ick war sähr mude,“ drückte aber bald mein lebhaftes „pleasure“ aus, Jemand zu finden, „who could speak English“, als sie Beide mich in dieser Sprache anredeten, und wurde, auf das Drängen des Doctors sofort zur Treppe hinauf und zu Bett gebracht, wobei der kräftige junge Englishman hülfreiche Hand leistete. Bald waren wir allein, d. h. der Doctor, seine Frau und ich, und nach kurzer Unterhaltung fühlte ich, daß ich Ursache hatte, meinen Freund Flügel und mein Geschick zu segnen, das mich in den Schooß einer so lieben und guten Familie gebracht, einer Familie, welche lange Uebung in solchen Werken der Barmherzigkeit hatte. Denn sie waren nicht nur gut, sondern auch klug und schweigsam, da während eines Aufenthalts von mehr als sechs Wochen auch nicht ein Hauch von meiner Anwesenheit nach außen hin verrathen wurde, ja meine Gegenwart sogar den vom Doctor absichtlich in’s Quartier genommenen preußischen Soldaten gänzlich verborgen blieb.

Rittler hielt es für das Beste, daß ich bei ihm blieb, bis meine Knochen wieder zusammengeheilt und die Wachsamkeit der Polizei nachgelassen haben würde. Und so richtete ich mich denn häuslich ein, und zwar in einem kleinen Gartenzimmer, das einen von Laubwerk versteckten Ausgang nach dem etwas hochgelegenen Garten und einen andern nach innen hatte, der leicht durch einen Kleiderschrank versetzt werden konnte. Das einzige Fenster ging in den Hof und war theilweise von Weinlaub verborgen, so daß man von außen nicht herein sehen konnte, während ich das Vergnügen hatte, die preußischen Pickelhauben auf ihren Pflöcken an einer gegenüber befindlichen Galerie zu betrachten, wenn ich Neigung dazu fühlte. Ich fand unter diesen Umständen die Kraft, mich mit einer literarischen Arbeit zu beschäftigen, die ich später in Brüssel an den Mann brachte und die noch jetzt zahlreiche Käufer findet.

Durch den Doctor und einige politische Freunde, welche er vorsichtig bei mir einführte, erhielt ich Nachricht von den Ereignissen im Süden Deutschlands und von dem Verfahren gegen unsere Freunde in Sachsen. In den ersten Tagen kamen viele Flüchtlinge durch Altenburg, von denen hin und wieder einer von Doctor Rittler verbunden oder auch in der Umgegend versteckt wurde. Er freute sich immer königlich, wenn er einmal wieder Jemand durchgebracht hatte, und erzählte mir wohl auch von Flüchtlingen einer früheren Zeit, denen er selbst mit Geld oder in dessen Ermangelung mit ihm werthen Kleinodien fortgeholfen und von denen er nicht selten mit Undank belohnt worden. Mit Vergnügen erinnerte er sich des General Bem, den er an einer Schußwunde behandelt und dessen ihm geschenkten Siegelring er am Finger trug und noch heute trägt. Als er ihm eine Kugel aus dem Rückgrate zog und ihn bat, ihm diese Kugel zum Andenken zu lassen, erwiderte der General: „Behalten Sie sie, behalten Sie sie; ich werde schon mehr bekommen.“

Um die Polizei von meiner Fährte zu bringen, schrieb ich gleich in den ersten Tagen einen Brief an meine Frau, den ich an ein befreundetes Parlamentsglied in Frankfurt schickte, mit der Bitte, ihn dort auf die Post zu geben. Ich zeigte meiner Frau darin an, daß ich glücklich in Frankfurt angekommen und im Begriff stehe, nach Baden abzureisen, wo mir ein Commando angetragen worden sei. Meine Wunde am rechten Fuße habe nicht viel zu bedeuten. Der Brief wurde natürlich geöffnet, und bald darauf sah ich aus meinem Steckbrief, daß ich am rechten Fuße durch einen Schuß leicht verwundet sei. Jener Steckbrief enthielt zweiundzwanzig der am meisten gravirten Namen, unter denen ich mich nicht zu schämen brauchte, da Männer wie Richard Wagner, Professor Semper, Dr. Köchly, Regierungsrath Todt, Leo von Zichlinski, Marschall von Biberstein etc. darunter waren.

So gut unsere Vorsichtsmaßregeln getroffen waren, so war ich doch weit entfernt, mich vollkommen sicher zu fühlen. Meine Briefe an meine Frau gingen durch die Hände einer vertrauten Freundin aus den hohen aristokratischen Kreisen Dresdens und die ihrigen durch die des Consuls Flügel in Leipzig. Erst später war ich genöthigt, in ersterer Beziehung eine Aenderung eintreten zu lassen, „da die Dame manchmal verreiste“. Wie leicht war es möglich, daß ein Brief in unrechte Hände gerieth, oder eines von den Paketen mit Wäsche und anderen Bedürfnissen, welche an mich geschickt wurden, meinen Aufenthalt entdeckte! Allein nicht nur auf directem, sondern auch auf indirectem Wege drohte mir Gefahr.

Rittler hatte mehrere der Dresdner Flüchtlinge in der Nähe von Altenburg versteckt, die er häufig besuchte. Unter ihnen befand sich auch Todt. Plötzlich erhielt Rittler aus Leipzig Nachricht, daß man Todt in seinem Hause vermuthe und eine Requisition an das Altenburger Stadtgericht kommen werde, um nach ihm zu suchen. Ich drang darauf, daß der Doctor sofort nach Leipzig reiste und nähere Nachrichten einholte. Schon am Abend brachte er diese: Todt hatte an einen seiner Freunde, den geheimen Rath W., geschrieben und ihm eine Rechtfertigungsschrift zugesandt, deren Inhalt er den Freund bat dem Minister mitzutheilen und ihm so eine straffreie Rückkehr anzubahnen. W. übergab die ganze Geschichte dem Minister, und während man Todt längst in Baden oder der Schweiz geglaubt, wußte man nun, daß er sich noch in der Nähe befand, und ergriff sogleich Maßregeln, seiner habhaft zu werden. Eine Haussuchung bei Rittler konnte nun zwar nicht Todt, aber wohl mich zu Tage fördern, weshalb Alles geschehen mußte, um sie zu verhüten, da es kaum möglich war, mich selbst ohne Aufsehen fortzuschaffen.

Mein Entschluß war schnell gefaßt: Ich dictirte meinem Sohne einen Brief in die Feder, durch welchen der Schreiber den Doctor Rittler ersuchte, irgend an ihn kommende Briefe (unter Couvert) an eine bestimmte Adresse in Frankfurt zu schicken, und in welchem er die Hoffnung aussprach, daß ein alter Universitätsfreund ihm gern den erbetenen Dienst leisten werde. Der Brief wurde mit dem Universitäts-Spitznamen des Regierungsraths, „Pascha“, unterzeichnet, mit einem T, das zufällig vorhanden war, versiegelt, adressirt, ein wenig schmutzig gemacht und wieder aufgebrochen.

Mit diesem Briefe ging der Doctor früh am Morgen zum Stadtrichter und theilte ihm mit, daß er erfahren, er werde wegen eines unbedeutenden Gefallens, welchen er dem sächsischen Regierungsrathe Todt gethan, in polizeiliche Ungelegenheit gerathen. Er komme also lieber gleich freiwillig zu ihm, um ihm den Hergang mitzutheilen. Er habe den gegenwärtigen Brief vor Kurzem erhalten und in Folge der an ihn ergangenen Bitte zwei oder drei Briefe nach Frankfurt befördert, und das sei die ganze Verbindung, in welcher er mit Todt gestanden, von dem er nicht wisse, ob er noch in Frankfurt oder weiter gegangen sei. Der Stadtrichter freute sich sehr über die Mittheilung, bat den Doctor, mit nach dem Stadtgericht zu kommen, um sie zu Protokoll zu geben, und entließ den Maleficanten mit freundlichem Dank. Er mußte ja nun sehen, wie Alles zusammenhing, und konnte durch sofortige Beantwortung der Requisition – die allerdings noch im Laufe des Tages ankam – seinen Eifer und seinen Scharfblick beweisen. Wir aber waren sicher vor der Haussuchung, da man, selbst wenn man der Angabe Rittler’s keinen Glauben geschenkt hätte, voraussetzen mußte, daß gewandt, wie er es war, er seinen Todt längst aus dem Hause geschafft haben würde, ehe die Polizei ihren Eintritt daselbst machte. Rittler beeilte sich natürlich hierauf, Todt aus seinem Versteck zu entfernen, und brachte ihn auch glücklich fort nach der Schweiz, wo der Arme bald darauf starb, seine Familie in traurigen Verhältnissen zurücklassend. Es ist bekannt, daß Todt, so wie Heubner, einer der Triumvirn war, welche während der Maitage die provisorische Regierung darstellten. Rittler bemerkte, daß er fortan jedesmal, wenn er eine solche Expedition auf das Land machte, von der Polizei scharf beobachtet wurde, welche er indeß immer zu täuschen wußte.

Mein Bein machte mittlerweile unter den nassen Compressen gute Fortschritte, so daß ich versuchen durfte – wenn die Lust rein war – mit Hülfe von Krücken ein wenig in den Garten zu hinken und dort der so lang entbehrten Sonne zu genießen. Ein oder zwei Mal wäre ich indessen beinahe erwischt worden: das erste Mal von unserer Einquartierung und das andere Mal von der Frau Minister S–b, die nebenan wohnte und manchmal einen nachbarlichen Besuch im Garten machte. Beide Male waren die betreffenden Thüren aus Versehen nicht verschlossen worden.

Um jene Zeit machte mir mein theures Weib die Freude, in Gesellschaft Consul Flügel’s mich zu besuchen. Es war ein Wiedersehen und zugleich ein Abschied, vielleicht ein Abschied für immer; denn ich war fest entschlossen, mich eher zu erdolchen als mich fangen zu lassen, und hatte das Todeswerkzeug deshalb Tag und Nacht zur Hand. Ich will nicht versuchen meine Gefühle zu [156] beschreiben, als wir uns auf meinem Lager in fester Umarmung hielten und Keines ein Wort zu sprechen vermochte. Körperliche Schmerzen und Seelenpein, wie ich sie mehrere Wochen lang ertragen, vermögen auch den stärksten Mann bis in’s Innerste zu erschüttern. – Mit zarter Schonung ließen uns unsere Freunde allein, bis wir uns gesammelt hatten, und nun Eines nach dem Andern herzu kam. Die Freude war tief und innig, aber kurz; denn schon am Abend des nächsten Tages trieb Freund Flügel zur Rückkehr. Leider trübte er mir den schönen Tag durch Täuschung einer Hoffnung, welche mich in den letzten Tagen sehr aufgerichtet. Die Sache verhielt sich folgendermaßen:

Der Consul hatte einen Secretär, Karl Schmidt, aus Schmölln, welcher mir sehr ergeben war und der mich nicht nur öfters besuchte, sondern auch tagelang die ihm bekannte Umgegend absuchte, wenn etwas Verdächtiges im Winde war. Dieser brave junge Mann wurde eines Tages mit einem Pelzhändler aus Canada (Karl Meyer aus Montreal) bekannt und nachdem er sich überzeugt, daß dieser mit einem englischen Consulatspasse nach England zu reisen im Begriff stand, wo er den Paß nicht weiter brauchte, bat er ihn, ihm den Paß von England zurück zu schicken, da er damit einen Freund des amerikanischen Consuls aus großer Gefahr retten könne. Herr Meyer versprach mit Vergnügen seine Bitte zu erfüllen, und Schmidt zeigte mir bald an, daß der Paß in Dr. Flügel’s Händen sei, der ihn mir selbst mitbringen werde. Er brachte wirklich den Paß mit, welcher mich sicher über die deutsche Grenze gebracht haben würde; er ließ mich ihn sehen; aber ich konnte ihn weder durch Bitten noch durch Vorwürfe bewegen, mir ihn zu lassen, obschon der Paß nicht von ihm ausgegangen, noch er sonst ein Recht darauf hatte, noch auch ein Mensch erfahren konnte, daß er durch ihn in meine Hände gelangt sei. Denn daß ich eher gestorben sein als einen der Betheiligten genannt haben würde, wußte Jeder der mich kannte. Er wollte mir den Paß nachschicken, wenn ich außerhalb der deutschen Grenzen sein würde. Die übergroße Gewissenhaftigkeit, die der Freund zuweilen walten ließ, war es, die ihn vorspiegelte, er könne seine Stelle als Consul verlieren! – Er verlor sie später dennoch, ohne mein Zuthun. An einem andern Orte habe ich bereits erzählt, wie es mir durch persönliche Verwendung in Washington gelang, sie ihm wieder zu verschaffen.

Rittler schlichtete unsern Streit, worin ich, der dem Freunde so tief Verpflichtete, nur mit schwachen Waffen kämpfte, indem er mir sagte, er habe bestimmte Hoffnung bald einen andern Paß für mich zu erhalten. Und so ging der englische Paß, oder mit einem Schlage den bisherigen Mr. Charles Murray in Mr. Charles Meyer verwandeln sollte, wieder nach Leipzig zurück und mit ihm die gute Absicht des menschenfreundlichen Canadiers verloren. Es ist mir immer leid gewesen, ihm meinen Dank nicht einmal persönlich abstatten zu können; doch habe ich während meines langen Aufenthalts in Massachusetts nie Gelegenheit gehabt, einen Ausflug nach Montreal zu machen.

Ein paar Tage nach der Abreise meiner Frau brachte mir Rittler in der That einen königlich sächsischen Reisepaß in blanco, nebst dem vollständig ausgefertigten Passe eines seiner Freunde, der im Begriff war, mit seiner Familie nach Amerika auszuwandern, von derselben Behörde ausgestellt, so daß das Document in bester Form nach meinem Gefallen ausgefüllt werden konnte. Der Beamte, welcher mir den Paß sandte (nicht den ersten, den Rittler von ihm empfangen), kam später in Untersuchung, entkam aber durch die List und Geistesgegenwart seiner Frau aus dem Gefängnisse, indem sie den ihn verfolgenden Polizeidiener in den Keller fallen ließ und ihn da einsperrte, und ließ sich in Amerika nieder. – Es war ein Glück für mich, daß nicht alle demokratische Beamte so ängstlich waren, wie Freund Flügel, sonst hätte ich, trotz aller Liebe und Freundschaft, die mir sonst erzeigt wurde, zu Grunde gehen müssen. Möge der Retter in der Noth, welcher, so viel ich weiß, in Philadelphia lebt, meinen späten Dank auf diesem Wege nicht verschmähen. Ich und meine Familie haben ihn und die Seinen tausendmal gesegnet.

(Schluß folgt.)




Unter dem Krummstabe.


Unter den Städten Deutschlands ist die alte Juvavia, wenn nicht eine der schönsten, gewiß eine der interessantesten. Man muß nur so einmal beim Morgengrauen eines Frühlingstages von Berchtesgaden abgereist sein und nun, wenn die Sonne hell emporsteigt, sich der Stadt nähern. Der Untersberg, dessen seltsame Form die Phantasie des Volkes von jeher so sehr beschäftigt, daß sie in ihn bald den Kaiser Karl den Großen, bald ein ganzes Volk von Zwergen versetzt, der Berg mit den blutrothen Marmorwänden will das Auge noch immer festhalten; eine ganze Kette beschneiter Bergriesen schließt sich ihm an. Doch ein Bild von sanfterem Reize läßt den Wanderer bald nur immer vor sich schauen. Aus den weiten grünen Wiesenmatten, aus welchen ein zarter weißer Dunst aufschwebt, um gleich wieder zu zerfließen, tauchen Wäldchen von Ahornen, Buchen, Linden auf, grüne Anhöhen beschränken bald da, bald dort den Blick, nun steigt ein mächtiges Schloß empor und hebt sich mit seiner gelbgrauen Fronte gegen den blauen Himmel ab. Das ist Hohensalzburg. Ein ganzes Geschwader von Krähen, das die Risse und Schornsteine des halbverfallenen Baues verlassen, setzt sich in diesem Moment in Bewegung, zieht kreischend über unsere Köpfe hinweg und seltsame Schatten flattern und huschen über den hellgrünen Plan. Nun zeigen sich Alleen und Avenuen, dahinter glänzende Kuppeln, alte Thürme, neugeweißte Häuser und nach einigem Gepolter über ein schlechtes Pflaster setzt uns der Wagen auf dem Residenzplatz ab.

Ja, auf dem „Residenzplatz“, denn Salzburg hält seine Erinnerungen als Hauptstadt eines geistlichen Fürstenthums fest. An diese Zeit erinnert die ganze Architektur dieses Platzes, erinnern die hohen, vielstöckigen Häuser mit den italienisch platten Dächern, erinnern der majestätische Residenzbau, die Domkirche, vor allem aber der Hofbrunnen. Dieser Brunnen, den Erzbischof Guidobald von Thun um’s Jahr 1668 vom Italiener Antonio Dario ausführen ließ, galt schon im vorigen Jahrhunderte für das schönste Werk dieser Art im ganzen deutschen Reiche; er ist, vom flüssigen Element belebt, wirklich imposant. Vier ungeheure Flußpferde bäumen sich nach den vier Weltgegenden und sprühen das Wasser aus Maul und Nüstern, vier Atlanten tragen keuchend eine riesige überfließende Muschel, oben spritzt ein Triton jauchzend den Wasserstrahl in die Luft. Die Muschel, die Atlanten, die Pferde, alle sind weißer Marmor und Monolithen. Der Cicerone sagt uns, daß das untere Wasserbehältniß, die Stufen nicht mitgerechnet, hundertsiebenundsiebzig Fuß im Umfange habe. Doch wenn schon die Größe imponirt, das Kunstwerk wirkt ganz besonders durch seine Eigenthümlichkeit. Bei der Auszierung eines erzbischöflichen Palastes waren die vollbusige Amphitrite mit ihren üppigen Gesellschaftsdamen nicht vorführbar, die Composition mußte einen ausschließlich männlichen Charakter haben und ihre Wirkung ist nun die einer durch nichts gemilderten Strenge. Doch wenn man beim Eintritt in die Stadt auf den Prunk, den Reichthum, den starren Glanz ihrer Vergangenheit aufmerksam gemacht werden sollte, so war eine passendere Einführung nicht denkbar.

Wenn wir uns nun diese Erzbischöfe aus alter Zeit etwas näher rücken wollen, da müssen wir z. B. in dem so außerordentlich interessanten städtischen Museum vor dem Bildnisse des Erzbischofs Wolf Dittrich Halt machen. Er regierte zu Anfange des siebenzehnten Jahrhunderts. Ein finsterer, bärtiger Mann im Harnisch, wie ein zorniger Mars. Seine Geliebte ist die schöne Salome Alt, für die er das nahe Schloß Mirabell erbaute. Er hatte mit ihr mehrere Kinder. Sein Werk ist der alte Marstall, für hundertunddreißig Pferde bestimmt. Von jeher nach der Propstei von Berchtesgaden lüstern, machte Erzbischof Wolf Dittrich 1611 einen Einfall in das Ländchen unterhalb des Watzmanns; der Propst von Berchtesgaden jedoch, bairischer Prinz, sammelte seine Mannen, fiel bald über Salzburg her und Wolf Dittrich floh nach Kärnthen. Er wurde eingeholt, zuerst in der Festung Werfen eingekerkert, dann zurückgebracht. Er starb 1612 in einem Kerkerloch der Burg Hohensalzburg und liegt auf dem St. Sebastiansfriedhofe in der Gertrudscapelle begraben.

Dieses Hohensalzburg, das die Stadt überragt, ist das, was man mit dem herkömmlichen Ausdruck „eine ehrwürdige Veste“ bezeichnet. Aber es ist etwas Eigenes um die Ehrwürdigkeit des

[157]

Der Friedhof von St. Peter in Salzburg.
Nach der Natur aufgenommen von E. Heyn.

[158] Alters bei schrecklicher Vergangenheit und blutigen Thaten. Schon die Bezeichnungen: Schlangenrondell, Giftthurm, Thurm des heimlichen Gerichts, flößen kein sonderliches Behagen ein, und wer z. B. in Regensburg bereits die Torturkammern mit ihrem gräßlichen Apparat und die heimlichen Verließe, die schaurigen Oubliettes mit ihren Fallthüren gesehen, der schenkt sich gern die Wiederholung solcher Eindrücke. Die Rundsicht von den oberen Galerien dieses Schlosses soll prachtvoll sein, da aber der Eintritt nicht ohne Förmlichkeiten stattfinden kann, ziehen wir den Blick vom Mönchsberg vor.

Weniger rauh und düster sind die Bilder, die wir von den Erzbischöfen Salzburgs zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts erhalten. Da folgen auf einander: Graf Thun, Graf Harrach, Freiherr von Firmian. Graf Thun ließ in Salzburg sieben Kirchen bauen „und hinterließ trotzdem Geld im Schatze“. Graf Harrach lebte prächtig und machte Schulden, „es ging Alles stets in Freuden zu“. So der alte Kryßler in seinem Buche: Neueste Reisen 1729. Leopold Eleutherius Freiherr von Firmian war sparsam, an seiner Marschallstafel speisten täglich blos sechszehn bis achtzehn Personen, aber er unterhielt, theils in der Stadt, theils auf seinen Lustschlössern, zweihundertundfünfzig Pferde, was für einen Apostel Dessen, der auf einer Eselin Füllen ritt, ganz genug sein mag. Im Marstall am Mönchsberg fraßen sämmtliche Pferde aus marmornen Krippen und Eleutherius Firmian rühmte sich, „daß dergleichen selbst in Versailles nicht zu sehen sei“. In der Sommerreitschule wurden Thierhetzen gehalten, damals ein äußerst beliebtes Vergnügen. Diese Reitschule, ein in den Felsen eingehauenes Amphitheater mit drei Reihen von Galerien, ist äußerst sehenswerth. Von der ersten Reihe aus sahen die Hofleute und die begünstigten Damen der Stadt zu. Es wird unter ihnen so manche Adelheid von Walldorf gewesen sein. …

Seine erzbischöflichen Gnaden waren ein großer Liebhaber der Jagd, sein Schwestersohn, Graf von Arco, war Oberjägermeister. In Belvedere stand ein herrliches Fasanenhaus. Seine liebste Landwohnung war in Hellbrunn. Da gab es einen Garten mit allerlei Wasserkünsten, Teichen, Bassins, in deren hellen Wassern Forellen und Saiblinge schwammen und mit Lebern von Ochsen und Kälbern gespeist wurden. Die Wasser trieben allenthalben kleine Mühlen, oder auch Figuren von Scheerenschleifern und Töpfern. Trat man in die oder jene Grotte, wurde man mit dem „Vexirwasser“ übergossen.

Der Domherren gab es unter Erzbischof Firmian zweiundzwanzig mit ungeheuern Dotationen, es waren sämmtlich Grafen des heiligen römischen Reichs. Er selbst hatte die Bischöfe von Freising, Regensburg, Passau, Brixen, Gurk, Chiemsee, Seccau und Lavant unter sich, seine jährlichen Einkünfte wurden auf achthunderttausend Gulden geschätzt.

Wir haben uns bei diesem Erzbischof Leopold Eleutherius Firmian etwas aufgehalten, weil er als der Bedrücker und Verfolger der Protestanten Salzburgs seinen Platz in der Geschichte hat. Unter seiner Regierung, 1729 bis 1733, wanderten, um den Leiden zu entgehen, die sie von ihm zu erdulden hatten, dreißigtausend brave Menschen aus und trugen ihre Thätigkeit in andere deutsche Länder, auch bis nach Holland und England; die Geschichte ihrer Leiden und ihrer Auswanderung ist bekannt. Die Volksmenge des Fürstenthums aber sank darnach auf einhundertundneunzigtausend herab und man kann sagen, daß von dieser Zeit an der Verfall der Stadt datire.

Und mögen das nun manche Leute für äußerst kindisch halten, ich gestehe, daß alle diese Erinnerungen schon nach wenig Stunden Aufenthalts in der schönen Stadt an der schönen, grünen Salzach mir die Romantik des Ortes verleiden. Wie berauscht komme ich jedesmal an, ich fühle, daß ich auf einem entzückenden Erdenflecke stehe, aber alle diese Klöster, Kirchen, Capellen und Kreuzgänge mit dem aus ihnen strömenden Weihrauchduft, die uralten Holzstiegen, aus deren Schatten Crucifixe hervortauchen, diese Lichter aus den geöffneten Kirchenpforten wirken bald ganz unleidlich auf meine Nerven. Die Namen Mönchsberg, Capuzinerberg, Nonnenthal, Lorettogasse beunruhigen mich; doch da seh’ ich auch eine Hexenthurmgasse und sie führt vermuthlich zum alten Hexenthurm, dem Verließ für Zauberer und Hexen, von denen die letzte hierorts vor etwas mehr als hundert Jahren – 1750 – verbrannt wurde. Ach, der gespenstige Spuk des Mittelalters ist fürchterlich – ich mache wohl bald, daß ich fortkomme und ihn nicht mehr sehe.

Das alte Erzbisthum ist freilich verweltlicht, die Revenuen des Salzburger Erzbischofs, des Nachfolgers Derer, die vom Kaiser Ew. Liebden titulirt wurden und die auf den Reichstagen den ersten Sitz auf der geistlichen Fürstenbank hatten, stehen jetzt sogar denen des Erzbischofs von Olmütz oder Prag nach; sie betragen kaum mehr als zwölftausend Gulden. Seine Eminenz selbst kann mich weder einkerkern, noch torquiren lassen, wie in der guten alten Zeit, noch ausweisen, wie im „Jahrhundert der Aufklärung“ geschah – und dennoch ist die alte erzbischöfliche Zeit in Salzburg doch noch zu lebendig, als daß ich da leben möchte. Ueber den Geist der Duldsamkeit, der dort zu Hause, hat mich eine erbauliche Geschichte selbst nahe berührt.

Der Vater eines meiner Freunde, ein würdiger alter Herr, den ich lieb hatte, war von seinem Arzte nach Venedig geschickt worden, starb aber auf der Reise in Salzburg. Was war natürlicher, als daß man ihn in Salzburg begrabe? Aber der alte Herr war ein Jude gewesen; in den katholischen Kirchhof konnte er selbstverständlich nicht hineinkommen, der Sohn ließ im Anzeigeblatt inseriren, daß er dreihundert Gulden für ein Grundstück auf einem Felde oder in einem Garten geben wolle. Sogleich verbot man ihm, seinen Vater hier begraben zu wollen, er solle ihn fortschaffen. Ein Professor der medicinischen Facultät an der Salzburger Hochschule, der kein Landeskind war, nahm sich, über so viel Intoleranz empört, des jungen Mannes an. Er wies in einer Zuschrift an das erzbischöfliche Consistorium nach, daß ein kaiserlicher Soldat jüdischer Confession in Salzburg gestorben und dort auch begraben worden sei. Die Antwort erfolgte: „Man wisse das, es sei leider aus Irrthum geschehen und werde sich nicht wiederholen, der Fall werde der einzige bleiben.“ Unter freiem Himmel, in einem Wagen, mußte der Leichnam im Sarge bleiben, bis ein Kutscher gefunden wurde, der ihn auflud und bis Prag führte. Dies trug sich im Jahr 1853 zu.

Und da es nun Abend geworden, besuchen wir noch den uralten, so unendlich pittoresken Friedhof von St. Peter, unfern der Domkirche. Es ist der, in welchen uns das beiliegende Bild versetzt. Welch’ überraschend schöner Anblick ward mir zu Theil! Oben die drohenden Mauern und Thürme der alten Veste, zur Linken über den Dächern und Kuppeln der Stadt die Gipfel der nahen Berge; unmittelbar vor uns die Nagelfluewand des Mönchsbergs. Längs dieser laufen Bogengänge mit Familiengräbern, deren Denkmäler bis in das vierzehnte Jahrhundert zurückgehen. Marmorne Basreliefs, ganze Figuren, Epitaphien! Links erhebt sich die düstere Margarethenkirche aus dem Jahr 1485, seitab steht die Katharinencapelle mit dem Grab des heiligen Vitalis und, an die Felswand hingebaut, die Kreuzcapelle. Von dort führt eine in den Stein gehauene Treppe in die Einsiedelei des heiligen Einsiedlers Maximin, welcher hier mit andern frommen Brüdern gewohnt und beim Einfall der Heruler (478) den Martertod gefunden haben soll. Abermals nichts als Capellen, Heilige, Marterplätze, Kreuze, und darunter – auf dem kleinen Raume – haben die Jahrhunderte das aufgehäuft, was von uns übrig bleibt: mit Rasen und Blumen bedeckten Staub. Die letzten Sonnenblicke glänzen auf den Votivtafeln, der halbverwitterten Vergoldung der Kreuze, den welken Blumenkränzen. Hier liegt Michael Haydn, der Bruder des Tondichters der „Schöpfung“, begraben. Doch was will Michael Haydn in der Stadt bedeuten, wo Mozart das Licht gesehen?

Diesem Friedhof widmete Lenau die schönen Verse, über welche, was selten bei ihm, der Schimmer eines Auferstehungsglaubens hinspielt:

O schöner Ort, den Todten auserkoren,
Zur Ruhestätte für die müden Glieder!
Hier singt der Frühling Auferstehungslieder,
Vom treuen Sonnenblick zurückbeschworen.

Wenn alle Schmerzen auch ein Herz durchbohren,
Dem man sein Liebstes senkt zur Grube nieder,
Doch glaubt er leichter hier: wir seh’n uns wieder,
Es sind die Todten uns nicht ganz verloren.

Der fremde Wandrer kommend aus der Ferne,
Dem hier kein Glück vermodert, weilt doch gerne
Hier, wo die Schönheit Hüterin der Todten.

Sie schlafen tief und sanft in ihren Armen,
Worin zu neuem Leben sie erwarmen;
Die Blumen winken’s, ihre stillen Boten.

Alfred Meißner.
[159]
Aus deutschen Gerichtssälen.[3]
Nr. 1. Zwei Brode.


Der Vater winkte seiner Tochter Schweigen zu, als Beide durch den Gerichtssaal hindurch auf die Anklagebank geführt wurden und das Mädchen dem von Scham und Furcht beklommenen Herzen durch lautes Weinen Erleichterung zu schaffen suchte. „Was wir gethan haben,“ sprach er leise zu ihr, „müssen wir verantworten. Der Schuld folgt die Strafe.“

Mit diesen Worten hatte er seinen Platz in den Schranken eingenommen und stand in ehrerbietiger Haltung dem Gerichtshofe gegenüber. Es war ein Mann von ungefähr sechszig Jahren, eine jener kernigen Figuren, die auf den ersten Blick Vertrauen und Mitgefühl erwecken. Daß er Soldat gewesen, ließ sowohl seine ungezwungene und doch straffe Stellung als auch die in diesem Theile des preußischen Staats nicht gewöhnliche Reinlichkeit seines ärmlichen, überall geflickten Anzuges erkennen, während die knochige und fast braune Hand den Tagearbeiter verrieth. Unter der aus Deutschen und Polen gemischten Bevölkerung der Provinz dem Stamme der Ersteren angehörig, trug auch sein Gesicht den Typus dieser Race. Charakteristisch und anziehend wurde es aber durch die ergebungsvolle Resignation, die sich in dem sonst offenen Blick aussprach, sowie durch die tiefe Schwermuth, welche auf seiner Stirn lag und zu der die von der andauernden Sorge schärfer als vom Alter gefurchten Wangen eine hinreichende Erklärung gaben.

Nachdem der Vorsitzende des Gerichtshofes die üblichen Fragen nach seinen persönlichen Verhältnissen an ihn gestellt und der Angeklagte sie beantwortet hatte, wurden dieselben Fragen auch seiner Tochter vorgelegt. Es war jedoch unmöglich, das Mädchen zu einer Antwort zu bewegen. Das deutsche Weib hat eine fast unüberwindliche, tief in seinem ganzen Wesen wurzelnde Scheu vor gerichtlichen Verhandlungen, in denen es nicht etwa nur die Rolle des Zuschauers spielt. Hebt es ja doch die ältere Generation gern noch immer rühmend hervor, daß weder Mutter noch Großmutter jemals „zu Gericht“ gegangen sei, und selbst die jüngere Frau kann sich beim Eintreffen einer gerichtlichen Vorladung nur schwer des Gefühls entschlagen, als drohe irgend ein Unglück, das man durch ein vorläufiges Vergessen des richterlichen Befehls wenigstens hinauszuschieben versuchen müsse. Daher denn auch die Befangenheit, die Einsilbigkeit und Unbestimmtheit des deutschen Weibes gegenüber dem selbstbewußten Auftreten und dem klaren und gewandten Vortrage von Polin und Französin. Aber nun gar in den für die Verbrecher errichteten Schranken zu stehen unter der Anklage wegen schweren Diebstahls, – wer möchte dem achtzehnjährigen Mädchen zürnen, dem von allen Seiten das Zeugniß eines bisher makellosen Lebenswandels gegeben wurde, wenn es, bis in das Innerste erschüttert, sich nicht zu fassen vermochte und statt der Worte nur Thränen hervorbringen konnte! Der Vorsitzende, ein zartfühlender Mann, stand deshalb auch bald davon ab, weiter in sie zu dringen. Er überließ es dem Vater, die an sie gerichteten Fragen zu beantworten, oder ergänzte die Antwort aus den Acten und es erfolgte dann die Vorlesung der Anklage.

Während derselben senkte sich das Haupt des Alten tiefer und tiefer und seine Brust arbeitete gewaltig. Erst als der Staatsanwalt geendet hatte und die Frage an ihn gerichtet wurde, ob er sich schuldig bekenne oder nicht, hob er den Kopf wieder empor. Man ersah aus den Bewegungen seines Körpers, daß er all’ seine Kräfte zusammen raffe, um die Antwort zu geben, welche die letzten Tage seines Lebens mit einem untilgbaren Flecken beschmutzen sollte, nachdem er sechszig Jahre voll drückender Armuth und schwerer Entsagungen die Ehre seines unbescholtenen Namens als sein höchstes Gut gewahrt hatte.

„Ich bekenne mich schuldig,“ erwiderte er endlich mit gepreßter und doch im ganzen Raume des Gerichtssaales hörbarer Stimme. „Ich habe die beiden Brode, von denen die Anklage spricht, meinem Nachbar genommen, – gestohlen!“ fügte er wie im Gespräch mit sich selbst hinzu. „Der Nachbar hatte gebacken und das Brod auf den Boden seines Wohnhauses getragen. Ich wußte das, nahm Nachts eine Leiter, stieg auf sein Dach, riß einiges Strohwerk heraus, zwängte mich hindurch und nahm zwei kleinere Brode mit mir.“

„Und wurdet Ihr bei der That ergriffen?“ fragte der Vorsitzende.

„Nein, Herr Präsident. Aber der Nachbar warf den Verdacht auf seinen Knecht und der arme Mensch sollte aus dem Dienste entlassen werden. Da ging ich zu ihm und gestand, daß ich mit meiner … daß ich die Brode gestohlen hätte.“

„Habt Ihr den Diebstahl allein, ohne Beihülfe einer andern Person verübt?“ fragte der Vorsitzende weiter.

Eine lange Pause entstand. Der Mann faltete seine Hände, als wolle er Gott bitten, ihm die Antwort auf diese Frage einzugeben, und starrte einige Augenblicke wie gedankenlos in den Saal, in dem das tiefste Schweigen sich verbreitete. Ein leises Schluchzen seiner Tochter brachte ihn wieder zu sich. Er wandte sich zu ihr und sah sie mit einem Blick unbeschreiblicher Wehmuth und Liebe an. Dann legte er beide Hände wie zum Segen auf ihren Kopf, zog sie an sich heran und, indem er sie heftig an seine Brust drückte, rief er mit bebender Stimme: „Ja, ja – ganz allein!“

Es lag etwas tief Ergreifendes in dem Vorgange. Dieser alte Mann mit grauem Haar, der bisher stolz gewesen war auf das allgemeine Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit – er bekannte ohne Rückhalt die That, soweit sie ihn selbst betraf, in Ergebung die Strafe und Schande erwartend, die sie in ihrem Gefolge haben mußte. Aber seine Tochter, auch sie durch sein Bekenntniß preiszugeben der Verurtheilung wegen Diebstahls, der Entehrung in den Augen der Menschen und der Haft im Gefängniß, in welchem sie den Auswurf ihres Geschlechts kennen lernen mußte und in der näheren Berührung mit den Lastern der verschiedensten Art vielleicht moralisch vernichtet wurde, – das vermochte er nicht über’s Herz zu bringen, dafür lieber eine Lüge!

Der Vorsitzende wußte wohl, daß die Antwort dem wirklichen Sachverhalte nicht entsprach, achtete indeß mit Recht das Motiv dieser Lüge und ging deshalb nicht näher auf die Antwort ein. Nachdem er einige Augenblicke die Acten durchblättert, wandte er sich an die Tochter.

„Sie sind der Theilnahme an dem von Ihrem Vater begangenen und eingestandenen Diebstahl angeklagt. Sie werden beschuldigt, am Fuße der Leiter Wache gehalten zu haben, während Ihr Vater die Brode vom Boden herunterholte. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht?“

Die Tochter hatte sich inzwischen einigermaßen gefaßt. Mit einem schüchternen Blick auf den Vater, der, das Gesicht mit beiden Händen verhüllt, in Gedanken versunken schien, antwortete sie leise und schnell, als ob sie die wieder hervorquellenden Thränen verhindern wollte, ihre Stimme zu ersticken:

„Ja, ich habe Wache gehalten und, während der Vater die Brode vom Boden holte, die wankende Leiter gestützt. Sie konnte umfallen und der Vater sich beschädigen. Ich bekenne mich schuldig.“

„Mein Gott, mein Gott!“ seufzte wie vernichtet der Alte, als er dies Geständniß gehört hatte. Und dann sich händeringend gegen die Richter wendend, rief er im Tone der Verzweiflung: „Gnade, Gnade für mein armes Kind!“

„Hatten Sie die Verübung des Diebstahls vorher mit Ihrem Vater verabredet?“ fragte der Vorsitzende.

„Nein, kein Wort ist darüber unter uns gewechselt. Ich hörte meinen Vater nach Mitternacht aufstehen, sich ankleiden und fortgehen. Eine unerklärliche Angst befiel mich, denn mein Vater ist noch niemals zur Nachtzeit fortgegangen. Es kam mir vor, als müsse etwas Besonderes geschehen, und so ging ich ihm nach. Als ich hinauskam, sah ich ihn im Mondenschein an des Nachbars Haus gehen, eine Leiter an das Dach legen und jetzt fiel mir plötzlich ein, daß dieser Tags zuvor gebacken hatte. Wir [160] hungerten schon seit längerer Zeit. Ich ahnte nun die Absicht meines Vaters, meinen fast erliegenden Geschwistern Speise zu verschaffen … und … so ist’s geschehen, wie ich und der Vater es schon erzählt haben.“

„So scheint Euch also die Noth zu der That veranlaßt zu haben …“

„Nur die Noth, die bitterste Noth,“ fiel der Alte dem Vorsitzenden in das Wort. „Ach, meine Herren, wenn Sie Weib und Kinder haben, werden Sie sich denken können, was es heißt, die Seinigen vor Hunger weinen zu sehen. Ich habe spät geheirathet und außer meiner Tochter noch fünf jüngere Knaben. Dazu meine alte achtzigjährige Mutter, die seit vierzehn Jahren gelähmt ist. Und nun die Noth und Theurung des letzten Jahres, die uns zwang, die einzige Kuh und alles Hausgeräth zu verkaufen, bis endlich nichts, nichts mehr übrig war. Ich arbeitete, so viel ich konnte, mein Weib und meine Tochter halfen, – aber auch die Arbeit hörte in Folge des Krieges endlich auf, die mir, dem alten und durch jahrelange Entbehrungen mürbe gewordenen Manne, ohnedies nicht mehr so bezahlt wurde wie den jüngeren Leuten mit kräftigen Armen. So ging es bis einige Tage vor dem Diebstahl. Da wurden die letzten Kartoffeln gekocht, die nicht mehr ausreichten, uns zu sättigen, – dann hungerten wir zwei Tage lang. Ich hielt es schweigend aus, auch mein Weib und meine Tochter trugen es still, aber die Jungen klammerten sich an mich und schrieen: „Vater, laß uns nicht Hungers sterben!“ Und meine Mutter, meine arme, alte Mutter, – sie bat Gott flehentlich um ein baldiges Ende. Mein Weib rieth mir, meiner Mutter Bett, – das Einzige, was wir noch hatten, – zu verkaufen, aber sollte ich der ihr Sterbelager entziehen, die mir das erste Lager bereitet hat? Das hätte mir Gott, wie ich glaube, trotz seiner Barmherzigkeit nicht vergeben. So ist es gekommen, Herr Präsident, daß ich die That beging; ich habe die reine Wahrheit gesagt, als ob ich vor Gott stände. Ich bin schuldig, ich weiß es wohl, strafen Sie mich, so hart Sie wollen. Aber meine Tochter, mein armes, unglückliches Kind – ach, machen Sie das nicht für ewig elend! Lassen Sie mich für sie büßen!“

Das preußische Strafgesetzbuch[4] gestattet in sehr vielen Fällen dem Richter nicht, ein Vergehen mit Berücksichtigung aller dabei obwaltenden besonderen Umstände zu beurtheilen und darnach die Strafe zu bemessen. Es hat nicht allein, wie es vollkommen gerechtfertigt ist, die äußerste Höhe des Strafmaßes, sondern auch – und hierin liegt sehr häufig und namentlich bei den Vergehen gegen das Eigenthum und gegen die Sittlichkeit eine Beschränkung des richterlichen Arbitriums, deren Beseitigung im Interesse der Gerechtigkeit nicht dringend genug empfohlen werden kann – nach der andern Seite hin eine Schranke gezogen und ein sogenanntes niedrigstes Strafmaß fixirt, unter welches der Richter nicht heruntergehen darf, mag auch der concrete Fall noch so entschieden eine noch mildere Beurtheilung des Thäters in Anspruch nehmen und mag sich das Gefühl des Richters noch so sehr sträuben, eine Strafe zu verhängen, die mit dem wirklichen Verschulden sich nicht vereinbaren und die Gerechtigkeit eben nur als eine formelle erscheinen läßt. So ist von Thätern und Theilnehmern an einem mittels Einbruchs und Einsteigens in einem bewohnten Gebäude verübten Diebstahl eine mindestens halbjährige Gefängnißstrafe nebst verschiedenen Zusatzstrafen verwirkt[5] und demgemäß lautete denn auch der Strafantrag des Staatsanwalts gegen Vater und Tochter, da es nach dem offenen und der Anklage überall entsprechenden Geständniß Beider einer Beweisaufnahme nicht bedurfte.

Während der Gerichtshof sich zurückgezogen hatte, um die Entscheidung zu fällen, näherte sich der Staatsanwalt dem Alten, der seinen Kopf wieder in die Hände hatte sinken lassen und wie gebrochen auf der Anklagebank saß, drückte ihm in herzlicher Weise sein Mitgefühl aus und forderte ihn auf, die Gnade des Königs anzurufen, die ihm und seiner Tochter sicherlich zu Theil werden und, wenn auch vielleicht nicht den Erlaß der ganzen Strafe, doch eine erhebliche Herabsetzung derselben zur Folge haben würde. Der alte Mann dankte innig gerührt für den wohlwollenden Rath. „Aber,“ fuhr er fort, „was mich betrifft, so lassen Sie mich die Strafe verbüßen, wie sie mir auferlegt wird. Das Herz meines Königs, ich weiß es wohl, ist milde und zur Barmherzigkeit geneigt. Aber was hälfe es, wenn er gegen mich Gnade für Recht ergehen ließe! Er kann die That selbst nicht ungeschehen und mich nicht wieder ehrlich machen, – und das bleibt doch die Hauptsache. Außerdem wird sich meine Familie leichter durchschlagen, wenn ich nicht bei ihr bin, denn ich verdiene weniger und brauche eben so viel wie ein jüngerer Mann. Für mich ist das Gefängniß der beste Platz, – vielleicht bringt es mich schneller an unser gemeinsames Ziel, wo auch dem Aermsten eine freundliche Stätte bereitet ist. Nur meine Tochter, das unschuldige Kind, die muß den König bitten! Sie darf nicht mit Mördern und Spitzbuben zusammengeworfen werden, – das hieße sie verderben an Leib und Seele.“

Die Richter traten wieder ein und das Urtheil wurde gemäß dem Antrage des Staatsanwalts verkündet: Vater und Tochter – sechs Monate Gefängniß, Untersagung der Ausübung der bürgerlichen Ehrenrechte und Stellung unter polizeiliche Aufsicht auf die Dauer eines Jahres! Der Alte hörte den Spruch mit stiller Ergebung an, aber das Mädchen konnte den tiefen Schmerz nicht beherrschen. Mit einem Schrei des Entsetzens über die harte Strafe fiel sie ihrem Vater um den Hals, hielt ihn lange unter dem heftigsten Schluchzen umfaßt und bat dann, indem sie ihn streichelte und küßte, als ob nur er des Trostes bedürfe, die Richter flehentlich, man möge ihr gestatten, auch die ihrem Vater auferlegte Strafe mit zu verbüßen. Erst als ihr mehrmals erklärt worden war, daß dies gesetzlich unzulässig sei, ließ sie den Vater, dessen innere Bewegung die hervorbrechenden Thränen verriethen, so weit los, daß er sie aus der Anklagebank hinausführen konnte.

In der Mitte des Saales blieb er noch einen Augenblick stehen und fragte den Vorsitzenden, ob es ihm erlaubt sei, vor Antritt seiner Strafe noch einmal nach Hause zurückzukehren. „Fürchten Sie nicht, daß ich mich der Strafe entziehe,“ sprach er mit zitternder Stimme. „Ich will nur die Meinigen noch einmal sehen, Abschied nehmen von Weib und Kindern und den Segen meiner alten Mutter empfangen. Morgen komme ich wieder und stelle mich zur Haft.“ Als ihm diese Bitte gewährt worden war, dankte er mit ehrerbietiger Verbeugung und verließ mit seiner Tochter den Gerichtssaal.




Dem Mädchen wurde die Gnade des Monarchen im weitesten Umfange zu Theil. Der Vater aber trat am nächsten Tage seine Strafe an, nachdem er schmerzlichen Abschied von den Seinigen genommen hatte. Es war ein Lebewohl auf Nimmerwiedersehen. Das Gefängniß rieb die Kräfte des Mannes mit rapider Eile auf. Nach kaum drei Monaten trug man ihn zu Grabe und er hatte das gemeinsame Ziel erreicht, wo auch dem Aermsten eine freundliche Ruhestatt bereitet ist.
H. Black.




Ein Autodidakt. Die Zeitungen haben unlängst von einem schlichten Bauer in Vorarlberg erzählt, der sich unter den ungünstigsten äußeren Verhältnissen soweit gebildet, um einen Roman schreiben zu können, welcher sich augenblicklich bereits im Druck befindet und demnächst in einem Leipziger Verlage erscheinen wird. Im Anschlusse hieran können wir ergänzend mittheilen, daß der ländliche Autor, befragt, wie es ihm, der nur den Unterricht seiner Dorfschule genossen, möglich geworden sei, sich ein solches Wissen und Können zu erwerben, ausdrücklich erklärt hat, daß es nur die „Gartenlaube“ gewesen, welche durch die treffliche Form ihrer Artikel und namentlich ihre ausgezeichneten Naturschilderungen so fördernd auf seine geistige Ausbildung eingewirkt und sein schriftstellerisches Talent geweckt habe.




Inhalt: Aus dem Merkbuche der Gartenlaube. Für gewisse Abgeordnete. – Getrennt. Novelle von F. L. Reimar. (Schluß.) – In einem Genfer Landhause. Mit Portrait. – Meine Flucht von Dresden nach New-York im Jahre 1849. Von Carl Munde. – Unter dem Krummstabe. Von Alfred Meißner. Mit Abbildung. – Aus deutschen Gerichtssälen. 1. Zwei Brode. Von H. Black. – Ein Autodidakt.




Die Deutschen Blätter, Literarisch-politische Feuilleton-Beilage zur Gartenlaube, Nr. 9 enthalten: Die oceanische Weltpost. – Umschau: Amerikanische und preußische Hinterlader. – Das fünfzigjährige Doctorjubiläum Ranke’s. – Fromme Zuchtmeister. – Herstellung der Briefmarken – Neue Ausgaben. – Eine Hochschule für Techniker und Industrielle. – Die Wiener Kunstindustrie. – Vier Tage in Athen. – Literarischer Scandal.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Uns vielfach geäußerten Wünschen entsprechend, beginnen wir hiermit die Veröffentlichung einer neuen Reihe von Blättern aus unserm Merkbuche, die früher sich so vielen Anklangs zu erfreuen hatten.
    D. Red.
  2. Nicht um alte Wunden wieder aufzureißen, sondern lediglich um der vielen Freunde willen, die Munde durch seine Schriften wie durch sein Wirken diesseit und jenseit des Oceans gefunden, theilen wir die obenstehende interessante Episode aus dessen bewegtem Leben mit, aus deren ganzer Darstellung erhellt, daß dem Verfasser jede Parteigehässigkeit fern liegt.
    D. Red.
  3. Mit den vorstehenden Mittheilungen eröffnen wir eine neue Rubrik unserer Artikel und bemerken ausdrücklich, daß die darin erzählten Scenen nicht fingirte sind, sondern sich lediglich auf wirklich erlebte Gerichtsverhandlungen beziehen. Zugleich bitten wir, außer unsern ständigen Mitarbeitern, alle Richter und Staatsanwälte, die sich durch die obige Skizze dazu angeregt fühlen sollten, uns sachlich interessante Episoden aus ihrem Berufsleben mittheilen zu wollen.
    D. Red.
  4. Dasselbe gilt vom Strafrecht mehrerer anderer deutschen Staaten.
  5. §§. 215. 218 Nr. 2. (349 Nr. 3) 222. 223. 34 ff. des Strafgesetzbuchs für die preußischen Staaten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Leopold von Buch, geb. 26. April 1774 auf Schloß Stolpe bei Angermünde in der Uckermark, † 4. März 1853 in Berlin
  2. Herm. Joseph Aloys Körner, Leipzig und Zürich 1865.