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Die Gartenlaube (1869)/Heft 22

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

No. 22.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



 Maimorgengang.


      So die bluomen ûz dem grase dringent,
 same sie lachen gegen der spilnden sunnen
 in eime meien an dem morgen fruo,
      und diu kleinen vogellîn wol singent
 in ir besten wîse die sie kunnen,
 waz wünne mac sich da genôzen zuo?
      ez ist wol halb ein himelrîche.

  Walther von der Vogelweide.



Maimorgengang, o still Entzücken:
Der Aether strahlt im reinsten Blau
Und bräutlich will der Wald sich schmücken
Mit zartem Grün und Silberthau.

5
Mit weichem träumerischem Schläfern

Strömt rings ein lauer Frühlingsduft,
und mit den Faltern und den Käfern
Durchfliegt ein Blüthenschnee die Luft;
     Die Halden blühn, die jüngst noch dorrten:

10
     Sieh! es ist Alles neu geworden.


Erneut im Licht! so will’s des Lebens
Gesetz, das allen Stoff durchkreist,
Ahriman’s Winter droh’n vergebens,
Der Sieg verbleibt dem guten Geist.

15
Sein weltverjüngend Maienwunder

Weckt Saft und Farbe, Ton und Klang,
Drum schallt von allen Wipfeln munter
Der Nachtigallen Lobgesang.
     Sie jubeln feiner denn in Worten:

20
     Sieh! es ist Alles neu geworden.


Im Kies verstrüppter Uferdämme
Schleicht heut mein Pfad feldaus waldein,
Da spiegeln wilde Birnbaumstämme
Mit Ulm und Esche sich im Rhein.

25
Auch ihn erfreun des Maien Wonnen,

Sein Schuppenvolk taucht wohlig vor,
Der Aal kommt schlängelnd sich zu sonnen,
Lautplätschernd schnalzt der Hecht empor,
     Und murmelnd trägt’s die Fluth gen Norden:

30
     Sieh! es ist Alles neu geworden.


Gekränktes Herz, wozu dein Härmen?
Streif’ ab den fleckendunkeln Rost,
Laß Dich von diesen Lüften wärmen
und schöpf’ aus dieser Landschaft Trost:

35
Kein Leid, kein Groll darf allzeit dauern,

Es kommt der Tag, da Alles grünt,
Da Kränkung, Schuld und herbes Trauern
In goldner Sonne Strahl sich sühnt.
     Auch im Gemüth, wie allerorten,

40
     Sieh! ist dann Alles neu geworden.


Und ruht im kühlen Schooß der Erde
Von allem Schmerz Dein sterblich Theil,
Getrost, getrost! ein kräftig „Werde!“
Beruft Dich einst zu bess’rem Heil.

45
Aus ird’schen Stoffs und Grams Verzehrung

Reift unsichtbar ein frischer Keim,
Den eines andern Mai Verklärung
Zur Blüthe bringt in anderm Heim.
     Dort rauscht’s in höheren Accorden:

50
     Sieh! es ist Alles neu geworden.


Am Rhein bei Dettenheim, den 1. Mai 1869. Victor Scheffel.




Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Bei dieser leidenschaftlichen Geberde der Frau von Herbeck fuhr Miß Sarah schnaubend zurück; sie stellte sich auf die Hinterbeine, dann stürmte sie im blinden Schrecken ziellos durch den Garten. Während aber Frau von Herbeck schreiend im nächsten Seitenweg verschwand und auch der Medicinalrath entsetzt retirirte, ließ sich Gisela ein Stück Weges fortschleifen. Sie hielt den Zügel mit kraftvollen Händen; ihrer Geistesgegenwart und dem unausgesetzten schmeichelnden Zuruf ihrer weichen Stimme gelang es endlich, das erschreckte Thier zum Stehen zu bringen.

[338] Der alte Braun, der wahrscheinlicherweise Frau von Herbeck’s Schreien gehört hatte, kam vom Schlosse hergelaufen. Gisela übergab ihm das Pferd, trug ihm auf, die Beschließerin zu schicken, und kehrte schleunigst zu ihren Schutzbefohlenen zurück.

Sie kam rechtzeitig genug, um zu sehen, wie die rasch erholte Frau von Herbeck scheltend nach dem Thorweg zeigte, während der Medicinalrath den widerstrebenden Knaben grimmig bei der Schulter packte und sein kleines, trotziges Gesicht dem Ausgang des Gartens zuwendete.

„Ihr bleibt!“ rief Gisela und ergriff den Arm des Weibes, das sich eben mit den Kindern entfernen wollte. … Sie war athemlos, nicht allein infolge des wilden Laufes, sondern auch vor Erbitterung. Nie hatte sie dieses Gefühl tiefer Indignation gekannt, das sich jetzt ihrer bemächtigte.

„Frau von Herbeck, auf wessen Grund und Boden stehen wir?“ fragte sie, sichtlich nach äußerer Ruhe und Haltung ringend.

„O liebe Gräfin, das will ich Ihnen mit Freuden deutlich machen! … Wir stehen auf dem Grund und Boden der alten Reichsgrafen Völdern. … Dort unter dem Dach haben genug gekrönte Häupter als Gäste geschlafen; nie aber hat es Raum gehabt für Leute von obscurem Namen. … Die Völdern haben sich niemals der Berührung mit dem Gemeinen schuldig gemacht – sie sind von jeher der Schrecken der Zudringlichen und Unverschämten gewesen. … Und nun sollte dieser geheiligte Boden profanirt werden? … nie und nimmermehr! So lange ich meine Zunge rühren kann, werde ich protestiren! … Liebste Gräfin, ich will nicht allein auf die Rücksicht hinweisen, die Sie Ihren erlauchten Vorfahren unerläßlich schuldig sind – denken Sie doch auch an Ihr eigenes Interesse – wo bleibt der Respect –“

„Ich will keinen Respect, wie Sie ihn meinen – ich will Liebe.“

Die Gouvernante stieß ein höhnisches Gelächter aus.

„Liebe, Liebe? Von diesen da?“ rief sie in ein impertinentes Kichern übergehend, indem sie auf die Taglöhnerfamilie zeigte – „Ein unbezahlbarer Einfall! … Den hätte die Großmama hören sollen!“

„Sie hat ihn gehört,“ sagte Gisela gelassen. „So lange ich denken kann, versichern Sie mir unausgesetzt, der Geist meiner Großmama sei mir nahe – sie richte mein Thun und Lassen – in diesem Augenblick wird sie zufrieden mit mir sein.“

„Glauben Sie? … Da gilt es, einen schweren Irrthum aufzuklären. … Für die majestätische Gräfin Völdern war diese Menschenclasse gar nicht auf der Welt, und kamen ihr ja einmal dergleichen Zudringlichkeiten zu nahe, da war ich in dem Fall, zu hören, wie sie drohte, ,das Gesindel’ mit Hunden forthetzen zu lassen.“

„Ja, ja, die hochselige Frau Gräfin machte nicht viel Federlesens,“ bestätigte der Medicinalrath. „Sie hatte ein ganz außerordentlich entwickeltes aristokratisches Gefühl!“

Gisela war todtenbleich geworden. … Diese zwei Menschen da zerpflückten erbarmungslos den Heiligenschein, den sie eben noch mit glühendem Eifer vertheidigt hatte. … Wußte sie auch, daß die Großmama immer auf isolirter Höhe gestanden, von der es ihr liebeheischendes Kindesherz stets kalt angeweht hatte, so war sie doch nie im Zweifel gewesen, daß dieses zurückweisende Etwas einzig der Sittenstrenge und der Erhabenheit der stolzen Frauenseele entsprungen sei. … Und nun sollte die Vergötterte unmenschlich gewesen sein!

Frau von Herbeck irrte schwer, wenn sie glaubte, mit ihren Enthüllungen das altgewohnte Fahrwasser wieder erlangt zu haben – sie hatte unvorsichtig genug den Zauber selbst gebrochen, dem die junge Seele in blinder Pietät bis dahin unterworfen gewesen war.

Die braunen Augen des jungen Mädchens sahen wohl erloschen, aber mit tiefem Ernst in das Gesicht der Gouvernante.

„Frau von Herbeck, Sie nannten vorhin den Brand im Dorfe ein Strafgericht Gottes,“ sagte sie. „Das Haus dort aber steht noch“. – sie zeigte nach dem Schlosse – „in welchem Jahrhunderte hindurch ein so grausames Unrecht geschehen ist. … Der liebe Gott hat es anders gemeint, als Sie sagen – er hat nicht strafen, sondern segnen wollen – die elenden Häuser mußten niederbrennen, damit es endlich besser werden konnte für die armen Unterdrückten!“

Die Beschließerin kam eilig vom Schlosse her.

„Schließen Sie sogleich die Räume im Erdgeschoß des linken Flügels auf!“ befahl Gisela.

„Mein Gott, gnädige Gräfin, wollen Sie trotz aller Vorstellungen Ernst machen?“ rief der Medicinalrath – der würdige Vermittler zwischen Leben und Tod zitterte innerlich vor Zorn, aber er beherrschte sich doch, während Frau von Herbeck, sprachlos vor Erbitterung, unverhohlen an ihrem Taschentuch riß und zerrte. „So hören Sie wenigstens auf einen vernünftigen Rath!“ beschwor er die junge Dame. „Bringen Sie die Leute nicht in’s Schloß selbst – das geht ein für allemal nicht. … Ich schlage Ihnen den Pavillon dort drüben vor – er ist geräumig –“

„Sie haben wohl vergessen,“ fiel ihm Gisela empört in’s Wort, „daß Sie sich gestern weigerten, auch nur für einige Augenblicke in diesen Pavillon einzutreten, weil die feuchte Luft äußerst nachtheilig auf Ihr rheumatisches Leiden wirke? Sie sagten, der Raum sei höchst ungesund.“

„Ja, das Wasser läuft von den Wänden,“ bestätigte die Beschließerin, unbekümmert um den Basiliskenblick des Doctors. „Auf den Möbeln sitzt der dicke Moder.“

Ohne noch ein einziges Wort zu verlieren, wandte sich die junge Gräfin ab von den zwei Menschen, deren öde Seelen sich plötzlich in ihrer ganzen Nichtswürdigkeit enthüllten.

„Kommen Sie, liebe Frau, Sie sollen für Ihr leidendes Kind ein sonniges Zimmer haben,“ sagte sie zu dem armen Weibe, das an allen Gliedern bebend neben ihr stand. Sie ergriff die Hände der beiden größeren Kinder, die sich ängstlich an den Rock der Mutter gehangen hatten, und schritt mit ihnen nach dem Schlosse.

Die Beschließerin lief voraus.

„Frau Kurz, ich rathe Ihnen wohlmeinend, erst den speciellen Befehl Seiner Excellenz abzuwarten!“ rief ihr die Gouvernante mit erstickter Stimme nach; allein das wackere Weib ließ sich nicht irre machen – die „böse, böse gnädige Frau“ hatte lange genug geherrscht und die Geißel geschwungen, es war hohe Zeit, daß die eigentliche Herrin von Greinsfeld die Zügel ergriff.

„Gott, Gott, welche Scenen erwarten mich!“ stöhnte die Gouvernante und fuhr mit beiden Händen nach dem Kopfe. „Nun wird Er wieder sagen: ,Sie sind alt geworden, Frau von Herbeck!’ … Wenn ich nur an diese impertinente Stimme denke, da zittern mir alle Nerven – ich möchte mich am liebsten gleich im Erdboden verkriechen! … Und Sie werden auch nicht leer ausgehen, Medicinalrath, darauf verlassen Sie sich!“ …

Der Medicinalrath sagte keine Silbe. Er legte den prächtigen, ciselirten Stockknopf an die gespitzten Lippen und pfiff mechanisch, aber fast unhörbar: „Schier dreißig Jahre bist du alt!“ vor sich hin – das that er immer, wenn er ,ganz außerordentlich’ ergrimmt war.


24.

„Alles unverändert, mein lieber Baron Fleury!“ sagte plötzlich eine Stimme hinter dem Bosquet, welches sich vor dem Haupteingang des Schloßgartens hinzog. … Das Pfeifen verstummte sofort, und der Stock mit dem ciselirten Knopf fiel zur Erde.

„Alles unverändert,“ fuhr die Stimme fort, „und wenn jetzt die junge Gräfin Sturm auf dem Balcon dort erschiene, dann würde ich meinen, die letzten fünfzehn Jahre seien nur ein Traum gewesen.“

Der Medicinalrath hob geräuschlos seinen Stock wieder auf, fuhr eiligst abstäubend über seinen Rockkragen, tastete nach der Stirn, ob die blonden, künstlerisch vertheilten Haarreste die gewohnte Linie beschrieben, und stellte sich neben Frau von Herbeck, die athemlos vor Ueberraschung und Aufregung zur Seite des Weges getreten war – hier mußte ja der Fürst vorüberkommen.

Und nach wenigen Augenblicken stand die schmächtige Gestalt des Durchlauchtigsten Herrn in der That vor den zwei bis zur Erde sich Verbeugenden.

„Ah, sieh da – eine alte Bekannte!“ sagte Serenissimus sehr gnädig und reichte der hocherglühenden Gouvernante die feinen Fingerspitzen. „Eine treu ausharrende Einsiedlerin! … Haben schwere Opfer bringen müssen, arme Frau! … Aber das ist nun überstanden – wir werden Sie von nun an oft in A. sehen.“

[339] Frau von Herbeck’s demüthig gesenkte Wimpern hoben sich bei den letzten Worten Seiner Durchlaucht in einem seltsamen Gemisch von Freude, Angst und Schrecken – die schwimmenden Augen streiften verzagt über das Gesicht des Ministers – in welch’ eisiger Kälte waren diese Züge erstarrt! … Die kleine, fette Frau empfand abermals den heißen Wunsch, sich in den Erdboden verkriechen zu dürfen.

„Sie haben einen heftigen Schrecken gehabt,“ sagte der Fürst weiter – „der Brand im Dorfe konnte recht bedenklich werden – aber beruhigen Sie sich, es hat nichts mehr zu bedeuten. Ich komme eben vom Brandplatze.“

„Ach Durchlaucht, das hätte sich überstehen lassen! … Ich kann viel weniger die Alteration über den tollkühnen Ritt meiner kleinen Gräfin verwinden! … Excellenz, ich bin unschuldig!“ wandte sie sich mit flehender Stimme an den Minister.

„Lassen Sie das jetzt!“ sagte er mit einem ungeduldigen Handwinken. „Wo ist die Gräfin?“

„Hier, Papa!“

Das junge Mädchen trat aus dem Seitenweg.

War sie in den wenigen Tagen ihrer Verbannung noch gewachsen? Und was mußte in dieser Seele vorgegangen sein, daß auch der letzte Rest kindlicher Unterwürfigkeit von der Erscheinung abgestreift schien? … So, wie sie da aus dem Gebüsch hervortrat, war sie die gebietende Herrin des Schlosses. Die ganze anmuthvolle Hoheit, mit der einst die Gräfin Völdern die Wirthin gemacht, umfloß auch diese jugendliche Gestalt; nur das verführerische Lächeln fehlte – auf der Stirn des jungen Mädchens lag ein tiefer Ernst.

Der Minister wollte ihre Hand ergreifen, um Serenissimus die Stieftochter in aller Form vorzuführen. Sie schien diese Absicht nicht zu verstehen – Seine Excellenz begnügte sich demzufolge, die Vorstellung mittels einer zierlichen Handbewegung einzuleiten, und das ,Meine Tochter!’ klang so zärtlich innig von seinen Lippen, als sei das verknüpfende Band zwischen ihm und der gräflichen Waise nie fester gewesen, als in diesem Augenblick.

Gisela verbeugte sich mit ungezwungener Grazie. Frau von Herbeck’s Blicke hingen in verzehrender Angst an dieser Verbeugung – sie war „lange, lange nicht tief genug!“ Aber die Züge des Fürsten verloren das Gepräge herzlichen Wohlwollens und lebhafter Freude darum nicht.

„Liebe Gräfin – Sie ahnen nicht, wie viel schöne Erinnerungen Ihre Erscheinung in mir weckt!“ sagte er fast bewegt. „Ihre Großmama, die Gräfin Völdern, der Sie zum Verwechseln ähnlich geworden sind, war einst, wenn auch nur für wenige Jahre, die Seele meines Hofes. Wir Alle werden die Zeit nie vergessen, wo dieser funkensprühende Geist uns das Leben von einer ganz neuen Seite zeigte – damals vergaß man, daß das menschliche Dasein auch Schattenseiten habe. … Die Gräfin Völdern war für uns eine beglückende Fee! –“

„Die ihre bittenden Untergebenen mit Hunden forthetzen ließ,“ dachte Gisela, und ihr Herz wand und krümmte sich unter diesem Schluß, der sich ihr unerbittlich aufdrängte. … Noch vor einer Viertelstunde würde sie der emphatische Nachruf des Fürsten beglückt und stolz gemacht haben – jetzt klang er ihr wie der schneidendste Sarkasmus.

Sie fand nicht ein Wort der Erwiderung auf die schmeichelnde Anrede. Seiner Durchlaucht galt dieses Verstummen für „reizende Blödheit des einsamen Kindes“. Er half ihr rasch über die anscheinende Verlegenheit hinweg, indem er ihre Hand faßte und sie nach der prächtigen Linde führte, die nahe am Gitterthor des Schloßgartens ihr uraltes, dickbelaubtes Geäst über eine Gruppe eiserner Möbel breitete.

„Im Schlosse will ich für dieses Mal nicht einkehren,“ sagte er, sich niederlassend. „Die Zeit des Diners rückt heran und wir dürfen die Damen in Arnsberg nicht warten lassen. … Aber einen Augenblick muß ich unter dieser Linde ruhen. … Wissen Sie noch, lieber Baron Fleury? – hier saßen wir meist in den italienischen Nächten, welche die Gräfin so wundervoll in Scene zu setzen wußte. … Da lag das Schloß dort drüben in feenhafter Beleuchtung – der Garten, den Jugend und Schönheit reizend belebten, schwamm in einem Meer von Licht und Duft - welch’ eine berauschende Zeit war das! … Vorüber, vorüber!“

Man übersah von diesem Platz aus allerdings das imposante Schloß und einen großen Theil des herrlich angelegten Gartens. Seitwärts, hinter dem Bronzegitter des Thores breitete sich aber auch das Thalgelände aus – über diesem sonnigen Streifen ballten sich augenblicklich die Rauchwolken in unverminderter Dichtigkeit und ließen den weiterhin dämmernden Bergwald fast verschwinden.

Und wenn man auch alle weitere Gefahr für das heimgesuchte Dorf beseitigt hatte, Gisela begriff doch nicht, wie es dem alten, neben ihr sitzenden Herrn möglich war, angesichts einer solchen Wirklichkeit, sich so schwermüthig in die todte Vergangenheit zu versenken.

Vom Dorfe her kamen jetzt auch die Herren des Gefolges. Frau von Herbeck eilte nach dem Schloß, um Erfrischungen zu bestellen; aber als sie das erste schützende Gebüsch hinter sich wußte, da streckte sie in verzweifelter Angst die Hände gen Himmel – das Gesicht des Ministers verwandelte sich ja heute, sobald er sich auch nur einen Moment unbeobachtet glaubte, in wahrhaft entsetzlicher Weise – nie hatte sie Grimm und verhaltene Wuth so unverhohlen in den steinernen Diplomatenzügen ausgeprägt gesehen.

Eben erhob sich Seine Excellenz, um die Herren seiner Stieftochter vorzustellen, als ein dumpfes Krachen vom Brandplatz herüberscholl, dem ein gellendes Aufschreien vieler Stimmen folgte.

Der Fürst sprang auf man trat in den Thorweg.

„Das letzte brennende Haus ist zusammen gestürzt, Durchlaucht. Dabei war keine Gefahr mehr,“ beruhigte einer der Cavaliere.

„Gehen Sie und bringen Sie sofort Nachricht!“ befahl der Fürst.

Mehrere Herren stoben dahin, als blase der Sturmwind hinter ihnen her.

Fast unmittelbar darauf kam ein Mann um die Ecke der oberen Dorfgasse gesprungen. Es war der Greinsfelder Schullehrer, der nach seiner in der Nähe des Schlosses gelegenen Wohnung lief.

„Was giebt es da drüben, Herr Wöllner?“ fragte Frau von Herbeck, aus dem Thor tretend.

„Gnädige Frau, des Nickel’s Haus ist eingestürzt und hat einen Antichristen unter sich begraben,“ antwortete der Mann fast feierlich, aber auch mit einer Art von fanatischer Wildheit. „Soviel ich gesehen habe, liegt der Amerikaner aus dem Waldhause d’runter. … Gnädige Frau, dort richtet der Herr in seinem gerechten Zorn! Alle Abgebrannten haben ihre Ziegen gerettet, nur dem Weber seine ist verbrannt – er hat auch die Petition unterschrieben, die um Belastung des Neuenfelder Pfarrers in seinem Amt bitten soll!“

„Alberner Schwätzer!“ schalt der Minister verächtlich. Er und der Medicinalrath waren die Einzigen, die neben der Gouvernante das Ende des Berichtes abgewartet hatten.

Der Fürst schritt mit bleichem Gesicht nach der Dorfgasse – vor ihm her aber flog Gisela. … Ein Aufschrei der Verzweiflung hatte sich auf ihre Lippen gedrängt, allein sie waren stumm geblieben – die Kehle hatte sich krampfhaft geschlossen…. Aber die Füße trugen sie ja noch.

Was wollte sie dort? … Die Trümmer wegreißen, die auf seinem Gesicht lagen, mit ihrem eigenen Körper die Flammen ersticken, die ihn verzehren wollten! … Sterben, sterben, elend ersticken unter der grausen Last von Trümmern und glühender Asche sollte so viel Majestät und Herrlichkeit, so viel Thatkraft und mächtiger Wille, ein so zärtlich geliebtes Leben, das sie mit Augen und Händen, mit allen Kräften ihrer Seele behüten mochte!

Eine Säule schwarzen Qualms stieg an dem Ort des Unglücks kerzengerade gen Himmel. Gisela fühlte bei diesem Anblick ihre Füße treulos werden – es legte sich wie eine Wolke vor ihre Augen; sie wankte und schlug mechanisch die Arme um den nächsten Baum.

„Armes Kind!“ rief der Fürst herzuspringend. „Wie mögen Sie aber auch hierher gehen? Das ist nichts für Sie! … Ich beschwöre Sie, kehren Sie mit mir zurück!“

Sie schüttelte den Kopf und rang nach Fassung.

Seine Durchlaucht sah sich rathlos um. Auch die Herren, die anfänglich mit ihm am Thorweg stehen geblieben, waren [340] bereits eiligen Schrittes in der Dorfgasse verschwunden. Zu diesem Augenblick aber schlugen ihre bekannten Stimmen wieder an sein Ohr – heitere Ausrufungen, denen lebhaftes Geplauder folgte. Und jetzt kamen sie zwischen den Häusern hervor – bei Erblicken des Fürsten deuteten sie hinter sich in die Gasse – da bog eben die hohe Gestalt des Portugiesen, inmitten der anderen Herren, um die Ecke.

„Mein Himmel, da sind Sie ja!“ rief ihm der Fürst froh überrascht entgegen. „Welchen Schrecken haben Sie uns gemacht!“

Mit wenigen Schritten stand Oliveira neben dem Fürsten; aber auch vor dem jungen Mädchen, das jetzt auch den Kopf hülf- und haltlos an den Baum zurücklehnte. … Der Mann war ja kein Stein – er hatte ein leidenschaftliches Herz in der Brust, das in diesem Moment aufschrie und gebieterisch seine Rechte verlangte. … Er wußte nur zu gut, was diese braunen, hinsterbenden Augen erlöschen gemacht – er las in dem herzzerreißenden Lächeln, das um die erblaßten Kinderlippen glitt, die ganzen Qualen der letzten Minuten. – Vergangenheit und Zukunft, Pläne und Vorsätze, Welt und Leben verloren plötzlich alle Ansprüche an den Mann – er sah nur das bleiche Mädchengesicht.

Er löste ihre schmalen Hände von dem Baum, legte den Arm stützend um die zarte Gestalt und zog sie fest und innig an sich, als sei es nun auch für immer und ewig. Er sprach kein Wort, während der Fürst und sein Gefolge sich in Phrasen des Bedauerns erschöpften. Niemand fiel die seltsame Situation auf, in der diese beiden Menschen sich befanden. Der hünenhafte Portugiese war ja mehr als jeder Andere dazu berufen, Stütze der Schwachen zu sein – möglicherweise machte es sich sogar nothwendig, daß er die halbohnmächtige Dame auf seinen Armen nach dem Schloß zurücktrug. Zwischen den beiden jungen Leuten lag ja die weite Kluft völligen Fremdseins – man wußte, sie waren sich noch nicht einmal vorgestellt. … „Honni soit qui mal y pense!

Mittlerweile waren der Minister, Frau von Herbeck und der Medicinalrath hinzugekommen – sie standen sprachlos vor der Gruppe.

„Ein Todtgeglaubter ist, Gott sei Dank, wieder auferstanden,“ sagte der Fürst. „Dafür haben wir hier einen Unfall zu beklagen – der armen Gräfin ist übel geworden.“

Der Medicinalrath nahm sofort das Handgelenk des jungen Mädchens zwischen die Finger.

„Nehmen Sie mir die Sorge vom Herzen, Herr Medicinalrath,“ bat Seine Durchlaucht. „Es sind doch wohl nur die schnell vorübergehenden Folgen eines heftigen Schreckens?“

Der Medicinalrath knickte zusammen wie ein Taschenmesser – Serenissimus würdigte ihn zum ersten Mal einer Anrede.

„Ich hoffe es, Euer Durchlaucht, obschon man bei dem eigenthümlichen Leiden der gnädigen Gräfin fast nie den Verlauf eines Anfalles mit Bestimmtheit voraussagen kann. … Gestehen muß ich indeß, daß es mich ganz außerordentlich schmerzt, durch diesen unglücklichen Zufall die mögliche Heilung meiner gnädigsten Patientin Nunmehr wieder hinausgeschoben zu sehen.“

Jetzt trat das Blut wieder in die weißen Wangen und Lippen des jungen Mädchens zurück; aber es ergoß sich erschreckend stürmisch über Gesicht und Hals. Sie war empört über die zweideutige Zunge des Arztes, die auch diese Anwandlung von Ohnmacht mit ihrem früheren Leiden in Verbindung brachte. … Warum sollte und mußte ihr immer und immer wieder diese verhaßte Krankheit unerbittlich octroyirt werden? Und noch dazu diesen vielen Männeraugen gegenüber, die sie neugierig anstarrten.

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie mit leiser, inniger Stimme zu dem Portugiesen. „Ich will versuchen, allein zu gehen.“

Er trat sofort zurück, und sie ging schwankend einige Schritte. Frau von Herbeck wollte ihr die Hand reichen, allein sie wies sie zurück. Stolz, Indignation, aber auch das beseligende Gefühl, daß er unversehrt an ihrer Seite schreite, halfen ihr rascher über die augenblickliche Schwäche hinweg.

Der Fürst warf einen triumphirenden Blick auf den Arzt, als ihre Bewegungen mit jedem Schritt sicherer und elastischer wurden, und nachdem man glücklich den Schloßgarten erreicht hatte, nahm er froh aufathmend seinen früheren Platz wieder ein und zog die junge Dame neben sich nieder.

„Da sehen Sie den Verlauf des Anfalles, mein Herr Medicinalrath!“ sagte er, augenscheinlich sehr heiter gestimmt. „Die braunen Augen unserer Gräfin haben allen Schmelz wieder, und morgen werde ich Ihre letzten Besorgnisse aus dem Felde schlagen. … Aber nun sagen Sie mir um’s Himmelswillen, mein bester Herr von Oliveira, wie war es möglich, daß man uns eine so wahnwitzige Nachricht über Sie bringen konnte?“

Der Portugiese war der Einzige, der sich nicht gesetzt hatte – er lehnte unfern an einem Baum. … Mußte denn dieser merkwürdige Fremde stets aussehen, als protestire er gegen jegliche Gemeinschaft mit denen dort? …

„Wahrscheinlich hielt der Ueberbringer diesen Abschluß des Dramas für sehr pikant,“ entgegnete er mit jenem leisen Zug der Belustigung, der, weit entfernt ein Lächeln zu sein, doch das düster verschlossene Gesicht erhellte. „Er hat gar nicht abgewartet, ob sich der Vorhang von Rauch und Qualm noch einmal heben werde, und so wurde ich zum sterbenden Helden des Stückes.“

Man lachte.

„Wie man mir erzählt hat,“ berichtete einer der Herren, da der Portugiese durchaus keine Lust zu haben schien, den Hergang mitzutheilen, „ist der Eigenthümer des letzten brennenden Hauses gerade in dem Augenblick, wo es dem Zusammenbrechen nahe war, aus A. zurückgekehrt. Er ist wie ein Wahnsinniger nach der Thür gestürzt, um noch Etwas zu retten – Herr von Oliveira aber hat es für angemessen gefunden, ihn zurückzuhalten, und da der Mann in dem Kampfe eine bärenhafte Kraft entwickelt hat, so sind Beide in die gefährliche Nähe des Hauses gerathen. Es ist zusammengestürzt, und einige Augenblicke lang hat man allerdings geglaubt, die Ringenden seien von den Trümmern verschüttet worden. … Durchlaucht, der Mann hat sein Baarvermögen retten wollen, das in irgend einem geheimen Versteck des Hauses verborgen gewesen ist – baare neun Thaler!“

Es wurde wieder gelacht, und nun begann eine allgemeine lebhafte Conversation. Der alte Braun kam und reichte Eis herum.

Währenddem hatte der Portugiese den Baum verlassen und war in die Nähe des Thores getreten – er wies die Erfrischung zurück, die ihm der Lakai bot. … War er so tief versunken in dem Verfolgen der kämpfenden Wolkengebilde am Himmel, daß er zusammenschrak, als eine weiche, bittende Stimme an sein Ohr schlug?

Gisela stand neben ihm. Sie hatte dem alten Braun den Präsentirteller abgenommen und bot ihn dem Portugiesen nochmals hin.

„Mein Herr,“ sagte sie schüchtern, „wollen Sie nicht mit mir unter die Linde zurückkehren?“

„Sehen Sie mich an, ob ich es wagen kann, dem gefeiten Kreis dort nahe zu kommen!“ entgegnete er ironisch, indem er auf seinen Rock deutete – er war noch mit einer dicken Staub- und Aschenschicht bedeckt. „Ich werde im Gegentheil diesen unbewachten Augenblick benutzen, um mich zurückzuziehen.“

Sie hob die braunen Augen bittend zu ihm empor.

„Nun, dann verschmähen Sie wenigstens diese kleine Erfrischung nicht – ich bin so stolz, Ihnen auf meinem Grund und Boden Etwas bieten zu dürfen!“ .

Wie klang das demüthig und unterwürfig von den Lippen, die einst so leicht jenen wegwerfenden Zug annehmen konnten, der auch das Gesicht der hochmüthigen Gräfin Völdern charakterisirt hatte!

Eine leichte Blässe überflog die Wangen des Portugiesen; aber er lächelte.

„Haben Sie vergessen, daß ich Ihnen mit den Waffen in der Hand gegenüberstehe? … Ich verwirke das Recht der Feindseligkeit in dem Augenblick, wo ich die Gastfreundschaft annehme.“

Er sagte das scherzend, und doch lag in Ton und Lächeln eine schmerzliche Beklommenheit.

(Fortsetzung folgt.)

[341]

Der Bürger zweier Welten.

Von Ludwig Bamberger.

In der Literatur giebt es Etwas, das dem sokratischen Ideal von der schönen Seele im schönen Körper entspricht, nämlich das vortreffliche Buch eines vortrefflichen Menschen. Mutter Natur bringt es selten zum ersten jener Ideale, Tochter Cultur nicht häufiger zum zweiten. Darum schon lohnt es der Mühe, stehen zu bleiben, wo eine Erscheinung von solcher Harmonie uns entgegenkommt. Was zudem vermöchte einem Buche mehr Anziehungskraft zu verleihen, als die ihm vorangehende Gewißheit, daß geschriebenes Wort und lebendiger Wandel Eins sind in der Person des Redenden, daß seine Thaten der Beleg sind zu seinen Gedanken? Solcher Art ist Friedrich Kapp und solcher Art sind seine Schriften.

Friedrich Kapp.

Er gehört einer Familie an, deren ältere Generation bereits der deutschen Wissenschaft manchen tüchtigen Arbeiter gegeben hat, studirte die Rechtswissenschaft in Bonn, Heidelberg und Berlin als kräftiger, schlanker, blonder, blauäugiger Recke vom schönsten deutschen Typus. Einen flotteren Kanonier hatte wohl selten die Garde-Artillerie in ihren Reihen, als da er sein Freiwilligen-Jahr zu Berlin absolvirte. Die Bewegung von 1848 fand ihn naturgemäß unter ihren eifrigen Streitern. Er hielt es für Pflicht bei dem Aufstand vom 18. September jenes Jahres in Frankfurt seine Person miteinzusetzen und ließ sich nach unterdrückter Erhebung nur mit Widerwillen von älteren Freunden bereden, einer ihm unvermeidlich bevorstehenden Verhaftung und Verfolgung aus dem Wege zu gehen.

Die Katastrophe von 1849 nöthigte ihn endlich mit so Vielen seines Gleichen den Weg der Verbannung zu betreten. Kapp war damals fünfundzwanzig Jahre alt. Er lebte kurze Zeit in Paris und wurde hier in dem Hause des berühmten russischen Schriftstellers und Patrioten Alexander Herzen Erzieher des Sohnes, zugleich Freund und in gewissem Sinne Mitarbeiter des Vaters, dem er bei der Abfassung seines deutsch erschienenen Buches „Vom anderen Ufer“ (Hamburg bei Hoffmann und Campe 1849) zur Hand ging. In dem Hause des liebenswürdigen, edlen und geistvollen Russen dem er von Paris später nach Genf folgte, wurde der junge Mann mit einer neuen, großen, interessanten Welt bekannt. Französische, russische, schweizerische Politik, kurz, die Welt in allen Maßstäben und ihren modernsten Richtungen trat an ihn heran, wurde wißbegierig und lebensfroh von ihm aufgenommen. Aber die Nothwendigkeit, sich einen selbstständigen Beruf zu gründen, [342] trieb ihn, das schöne Band zu lösen, das ihn an Vater und Sohn festhielt. Er hatte in Genf mit einem älteren Exilsgenossen, dem Mainzer Advocaten und Parlamentsmitglied Franz Heinrich Zitz, Umgang gepflogen. Beide faßten damals den Plan, in New-York eine Sachwalterschaft zur Betreibung deutsch-amerikanischer Rechtsangelegenheiten zu errichten, und Ende 1849 segelten sie auf verschiedenen Wegen in die neue Welt hinüber. Der Plan wurde in’s Werk gesetzt unter Zugesellung eines dritten Flüchtlings, Julius Fröbel, der, willig ihrer Aufforderung Folge leistend, eine eben in Angriff genommene Seifensiederei im Stiche ließ.

In der Firma „Zitz, Kapp und Fröbel“, deren juristische Dienstanerbietungen jetzt in den deutschen Blättern angekündigt wurden, war Kapp der jüngste und unerfahrenste der drei Partner. Zitz, in der Mitte der Vierzig, hatte eine lange glänzende Advocatenlaufbahn, Fröbel hatte als Verleger und Schriftsteller ein vielbewegtes Leben hinter sich. Aber es sollte nicht lange dauern, so entfaltete der kaum über die Studien hinaus gediehene Theoretiker die entschiedenste praktische Tüchtigkeit. Fröbel ließ sich von seinem abenteuernden und combinationslustigen Sinn wieder in eine neue unbekannte Welt treiben, ward Karawanenführer zwischen Texas und Mexico, und Zitz, der bis auf den heutigen Tag Kapp’s Gesellschafter geblieben, überließ diesem zeitweise, während er selbst farmte, die Hauptleitung der Schreibstube (Office). Mit Muth und Fleiß sich in das amerikanische Rechtswesen hineinarbeitend, gelangte Kapp von kleinem Anfang allmählich zu einer geachteten Stellung als Notar und Anwalt. Die eben gegründete Existenz sollte vor Allem zur Befriedigung eines höchsten Herzenswunsches die Mittel schaffen. Eine treue Neigung verband ihn mit der Tochter eines hochstehenden preußischen Officiers, der groß genug dachte, um in dem Augenblick, da die Vernünftigkeit des Schrittes sich nachweisen ließ, sein geliebtes Kind über’s Meer zu dem geächteten Republikaner ziehen zu lassen. Der General war freilich einer der wenigen ungeadelten Bürgerlichen. Er hatte seinen Entschluß nicht zu bereuen. Wie Alles in dieser Existenz schön und ebenmäßig zu werden berufen war, so sollte auch dieser Ehebund heranblühen, mit allen Vorzügen der Bildung und Tugend und mit anmuthreichem Kindersegen ausgestattet.

Weder die Sorge um’s tägliche Brod, noch die Süßigkeiten des Familienlebens vermochten auch nur vorübergehend im Geiste des Wahrheits- und Menschenfreundes den Sinn für die höheren und allgemeinen Interessen zurückzudrängen. Theilnahme am Schicksale der Landsleute in der alten wie in der neuen Heimath, Theilnahme am Leben des amerikanischen Staatswesens, Drang nach wissenschaftlicher Arbeit machten um die Wette ihre Rechte an den vielseitigen, unermüdlichen Mann geltend. Zugleich warf er sein Augenmerk auf die Stellung, welche die deutschen Eingewanderten als Gesammtheit in ihrem Adoptivvaterland einnahmen, denn schon damals gab sich die tiefe Antipathie zu erkennen zwischen der rohen Ueberhebung eigenwilliger und selbstsüchtiger Landsässigkeit und dem menschlich gerechten Freisinn, dessen Mitvertreter die gebildeten Deutschen wurden. Es war die Zeit, da die erste Klarheit in die Scheidung der Namen Republikaner und Demokraten kam und die eine Weile von dem Klang dieses zweiten Namens verführten Deutschen sich nach der Stellung hinzuziehen begannen, die sie zu ihrer unsterblichen Ehre im großen Krieg gegen die Sclaverei späterhin einnehmen sollten. Ein beträchtliches Verdienst um diese Scheidung erwarb sich von der ersten Stunde an Friedrich Kapp. Die Sclavenfrage, das war der gewaltige Gährungsstoff, der damals bereits auf dem Grund der amerikanischen Gesellschaft wühlte. Bei einem solchen Kampf um höchste Humanitätsfragen konnte Kapp nicht in einer Zuschauerrolle stehen. Bei der Präsidentenwahl des Jahres 1856, in welcher Buchanan, der demokratische Candidat, über den Republikaner Fremont siegte, war Kapp bereits einer der hervorragendsten Kämpfer für Letzteren. Auf solche Weise im öffentlichen Leben, wie in seinem sachwalterischen Berufe sich nützlich zu machen, Redner, Advocat, Notar, Gatte, Vater und Freund zu sein, hätte dem Gewissen auch eines Wackeren reichlich genug sein können.

Für Kapp’s Arbeitskraft und Pflichtgefühl war es zu wenig. Er wollte der Erkenntniß, welcher er mit Kopf und Herz angehörte, auch auf dem weiter und tiefer führenden Wege des gedruckten Worts Bahn machen. Den Amerikanern deutsches Wesen zu verständigen, den Deutschen das amerikanische zu entziffern, diesseits und jenseits des Oceans für die richtige Anschauung und die richtige Stellung zu den Dingen warme Sorge zu tragen, das war es, was ihm für seine schriftstellerische Thätigkeit leitender Gesichtspunkt ward und bis heute geblieben ist.

Seine beiden ersten Werke vertreten sofort die doppelte Richtung. Zunächst erschien „Die Sclavenfrage in den amerikanischen Staaten, geschichtlich entwickelt“ (Göttingen, bei Wigand 1854).

In dem vier Jahre darauf veröffentlichten „Leben des amerikanischen Generals Friedrich Wilhelm von Steuben“ (Berlin, bei Duncker 1858), einem umfang- und inhaltreichen Buch, erzählt Kapp die Schicksale eines deutschen Adeligen, der mit Ruhm für die Sache der Union kämpfte, vindicirt den Deutschen ihren Antheil Verdienst um die Ehre der Freiheitswaffen und zeigt ihnen selbst an den Leistungen seines Helden die Tüchtigkeit eines in der Schule der großen preußischen Feldherren erzogenen Anführers.

Nach Verlauf eines Jahrzehents war Kapp tief in das amerikanische Leben der Gegenwart eingedrungen; sein gewinnendes und tüchtiges Wesen hatte ihm nun auch bei dem englischen Element der Newyorker Bevölkerung eine hervorragende Stellung verschafft. Im Jahre 1860 bei der Präsidentenwahl, aus welcher Lincoln hervorging, wurde er in der Stadt Newyork Wahlmann (je dreißigtausend Wähler ernennen einen Wahlmann). So fügte es sich natürlich, daß damals die Reihe wieder an die inneren Zustände kam, seinen Forscherfleiß und Lehrberuf in Anspruch zu nehmen. Das Ergebniß dieser Studien war „Die Geschichte der Sclaverei in den Vereinigten Staaten von Amerika“ (Hamburg, bei Otto Meißner, 1861), ein Schlüssel zum Verständniß der Ursachen und Folgen des darin vorausgesagten und bald darauf ausgebrochenen großen Secessionskrieges, der auch für unsere deutschen Angelegenheiten von unberechenbar heilsamer Wirkung wurde. Denn er bildet ein starkes Glied in jener Kette glücklicher Ereignisse, an welcher vom Jahre 1859 an die gedrückte und entmuthigte Welt wieder in Zuversicht auf die Höhe ihrer humanen Aufgaben sich emporschwang. Es war durchaus derselbe gute Geist, der über den Kaiser Nicolaus an der Küste des schwarzen Meeres, über Franz Joseph in den Ebenen der Lombarbei, über Ferdinand von Neapel in Marsala, über Jefferson Davis in Virginien, über den Marschall Bazaine in Mexico und über Benedek in Böhmen den Sieg davon trug. So verschieden auch die Losungsworte von den Lippen der Kämpfer schallten, so verschieden die Köpfe und Herzen in dem einen oder anderen Lager bewegt waren: es ist doch die nämliche aufsteigende Linie des großen Weltenschicksals, welche durch den Mittelpunkt dieser sämmtlichen Ereignisse hindurchgeht und in ihrer correcten Verlängerung den Thron Isabella’s von Bourbon umgestürzt hat. Nur noch drei ausgehöhlte, von diesem Siegeslauf des neuen Geistes auf den Tod getroffene Gewalten stehen schwankend auf ihren Postamenten: der Bonapartismus, die deutsche Kleinstaaterei und das weltliche Papstthum. Wer leben bleibt, wird’s erleben.

Kapp war Einer und der Besten Einer von den vielen wackeren Deutschen, welche der Sache Lincoln’s und der Union gegen Sclaverei und Particularismus mit höchster Kraftanstrengung dienten und dafür sorgten, daß die beträchtliche Leistung der Deutschen in diesem guten Kampf zur Anerkennung kam, um dem deutschen Element für die Zukunft eine darnach bemessene Stellung in der Republik zu sichern. Zugleich unternahm er es damals, dem Sohne eines fränkischen Bauern ein gleiches Ehrendenkmal zu errichten wie dem adeligen v. Steuben. Er schrieb „Das Leben des amerikanischen Generals Johann Kalb“ (Stuttgart, bei Cotta, 1862).

Im August desselben Jahrs kam Friedrich Kapp von Newyork nach England und machte von da aus eine Reise durch Deutschland. Wie der blühende Mann für die alten Freunde nach so langem Zwischenraum in Zügen und Gebahren kaum eine Spur der über ihn hingegangenen Zeit und Mühen verrieth, wie seine heitere Kraftnatur ihm auf die erste Berührung die Herzen erschloß und wieder erschloß, so öffnete sich auch seine eigene Brust und sog tief und beglückt den Odem der alten Mutter Heimathserde ein. Damals bereits schlug mit starkem Ansatz der Gedanke in ihm Wurzel, daß er zurück müsse nach Deutschland. Nicht weichliche Gemüthsbedürfnisse zogen an ihm. Keinem liegen sie ferner. Die lange Trennung und die reiche Erfahrung hatten sein Auge geschärft für die Erkenntniß der großen Veränderungen, welche im Schooße des deutschen Lebens vorgegangen waren. Zwar in der [343] Politik war wenig oder nichts geschehen, aber die großen Civilisationskräfte Elektrizität und Dampf hatten ihre Schuldigkeit gethan.

Wie er selbst ein Mann zurückgekehrt war, so fand er auch in dem Wesen des Vaterlandes etwas Männlicheres: rüstige, concrete Thätigkeit, erweiterte Gesichtskreise, gesegneten Haushalt, stolzere Unabhängigkeit als früher. Vom Bord des Dampfers, der ihn aus Southampton wieder nach der neuen Welt hinübertrug, noch im Angesicht der englischen Küste, überschauend gleichsam zwei Hemisphären, ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, schrieb er einem Freunde einen jener Ergüsse, in welchen es dem vergänglichen Erdensohne gegönnt ist, den Sinn des großen Ganzen von dem Grunde seines heilig bewegten Herzens zurückzustrahlen. Stolz und freudig preist er die neue Kraft, die durch des Vaterlandes Muskeln strömt, huldigt er der großen schaffenden Macht, welcher das zu danken ist. „Wie viele meiner alten Universitätscameraden,“ so ungefähr heißt es in dem Briefe, „die ich als unreife Juristen verlassen und als servile, kümmerlich vegetirende Beamte wiederzufinden geglaubt hatte, waren in die Industrie übergegangen, haben Haus und Hof und sehen mit Verachtung auf die Sclaverei des Staatsdienstes herab. Der Nimbus der Dienstuniform ist geschwunden. Gewerbe und Intelligenz sind eng verschwistert und fühlen in sich die Macht, welche das alte Zopfregiment, so fest es auch angeklammert sei, unter ihre Füße bringen wird.“ Die Urbilder des Zopfes waren ihm vor Allem die Kleinfürsten. Wie so Viele, denen der particularistische Klatsch jetzt nachlügt, daß sie erst durch den Kanonenerfolg bekehrt worden seien, war seit langen Jahren auch er vom Wirbel bis zur Zehe von der Einsicht durchdrungen, daß der Uebel größtes die Kleinstaaterei ist. Und so stellte er sich, aus Deutschland zurückgekehrt, eine neue Aufgabe, welche dem Erbschaden deutscher Entwickelung direct zu Leibe gehen sollte. Dabei übersah er nicht, daß, um mit Ueberlegenheit und Autorität gegen heimische Mißstände aufzutreten, er sich den Standpunkt auf dem ihm so innig vertrauten amerikanischen Gebiete suchen mußte. Mit dieser Einsicht war auch das Thema gefunden. Er schrieb das Buch: „Der Soldatenhandel deutscher Fürsten nach Amerika. Berlin bei Duncker 1864.“ Es sollte, nach seiner in Briefen abgesprochenen Absicht, wie ein glühend Eisen wirken, welches die Niedertracht und den Schimpf des deutschen Landesvaterthums mit neu aufgerührtem Schmerz in das Gedächtniß der schlaffen, weißblütigen Unterthanen hineinbrenne. Einen besseren Trost auf die Thränen, welche noch heute den würdigen Nachkommen in Hessen, Nassau und Hannover fließen, wüßten wir nicht zu empfehlen.

Die fünf inhaltreichen und anziehenden Bände, welche im Lauf eines Jahrzehents aus Kapp’s Feder hervorgegangen waren, sollten nach seinem Sinn nur Vorbereitungsarbeit für die eigentliche schriftstellerische Aufgabe seines amerikanischen Lebens gewesen sein. Er sammelte an ihnen gewissermaßen nur gelegentlich seiner Forschungen für das ihm vorschwebende Hauptwerk, sein „Standard work“, wie die Engländer sagen würden. Von diesem Grund- und Schlußwerk liegt jetzt der erste Band vor uns: „Geschichte der deutschen Einwanderung in Amerika. Erster Band. Die Deutschen im Staate New-York bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, mit einer Karte. Leipzig, bei Quandt und Händel, New-York bei E. Steiger 1868.“ In dem Vorwort faßt er selbst treffend den Sinn seiner Wirksamkeit zusammen:

„Ich nehme durch meinen augenblicklichen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten eine gewisse glückliche Doppelstellung ein. Als dem Geschichtsschreiber der amerikanischen Deutschen wird mir die lohnende Aufgabe, durch die Erzählung der Geschichte ihrer Vorgänger in meinen hier ansässigen Landsleuten den berechtigten Stolz des freien Bürgers zu heben, sowie ihr Verständniß der amerikanischen Entwickelung und die richtige Auffassung ihrer Stellung im hiesigen Leben zu fördern. Für die Heimath dagegen liefert meine Arbeit einen fast ganz unbekannten, noch lange nicht genug gewürdigten Beitrag zur Krankheitsgeschichte unseres Volksthums während der vorausgegangenen beiden Jahrhunderte und deckt als die Hauptquelle, aus welcher die Massenauswanderung ihre Kräfte schöpfte, die jammervolle Zerrissenheit und Ohnmacht unseres Vaterlandes auf. Also anknüpfend an die Bestrebungen und Kämpfe der Gegenwart, hält die Geschichte der deutschen Einwanderung dem heutigen Geschlecht zur Beschämung für unsere Vergangenheit und zum Trost für unsere nationale Zukunft auf der einen Seite die politische Verkommenheit unseres staatlichen Lebens, auf der anderen aber die bürgerliche Tüchtigkeit der vom heimischen Drucke befreiten Deutschen als treuen Spiegel vor.“

Wegen der Art, wie er den Beruf der Deutschen in der neuen Welt auffaßt, ist Kapp von manchen seiner Landsleute in Amerika heftig angegriffen worden, ein Streit, der übrigens nicht von heute datirt. In der Vorrede zur zweiten Auflage der New-Yorker Ausgabe des Buchs giebt er den Inhalt der ihm gemachten Vorwürfe selbst in folgenden Sätzen an: „Man beschuldige ihn, daß er eine vollständige Amerikanisirung der Deutschen in Sprache und Sitte in Aussicht stelle, daß er dem deutschen Elemente eine blos vorübergehende Bedeutung im amerikanischen Leben einräume, daß er ihm eine nationale Zukunft in Amerika abspreche, daß er sich zu sehr von dem herrschenden Amerikanerthum imponiren lasse und daß es von seinem Standpunkt aus überhaupt verlorene Mühe gewesen sei, das vorliegende Buch zu schreiben.“ Gegen diese Anklagen führt er in der Vorrede seine unbezweifelbar richtige Anschauung durch, daß die deutsche Einwanderung nicht zu einem getrennten Eigenleben, sondern zur ergebnißreichen Verschmelzung mit der amerikanischen Nationalität jenseits des Oceans bestimmt ist. Der zweite Band soll uns die Geschichte der Einwanderung in Pennsylvanien, Maryland, Virginien etc. bringen. Kapp hat mit diesem Buch der Geschichts- und Staatswissenschaft ein durchaus neues Feld erobert und dieses Feld sofort künstlerisch schön und lebhaft anschaulich bearbeitet.

Bei der jüngsten Präsidentenwahl[WS 1] ist Kapp wieder in volle politische Wirksamkeit für die Sache der republikanischen Partei zu Gunsten Grant’s eingetreten. Seit etwa Jahresfrist ist er Commissioner of Emigration, Mitglied der höchsten Aufsichtsbehörde in Einwanderungssachen, ein Ehrenamt, das kein Geld, aber außerordentlich viel Arbeit einbringt. Wir wissen bereits, daß seinem Einschreiten die Besprechung und Abstellung der Mißbräuche zu verdanken ist, welchen gewissenlose Schiffspatrone sich überlassen hatten.

Was könnte man schließlich zur Charakteristik des Menschen und des Schriftstellers Besseres sagen, als daß die umfangreichen und ersprießlichen historischen Leistungen, an denen wir in der flüchtigsten Weise vorüberrauschen mußten, nur den Mußestunden abgewonnen sind, die ihm ein vielbeschäftigter Beruf, starke Betheiligung am öffentlichen Leben, ein großer Familienkreis, stets dienstbereite Gefälligkeit gegen Bekannte und Unbekannte übrig ließen! Es ist die Eigenthümlichkeit wahrhaft arbeitsamer Menschen, daß sie zu Allem Zeit haben, zu Ernst und Scherz. Nur Nichtsthuer klagen über Mangel an Zeit, wie Nichtsleser über Mangel an guten Büchern. Und Kapp’s Schriftstellerei verlangt nicht blos die Zeit, in der die Feder über das Papier läuft. Er ist der gewissenhafteste Forscher bis zum Uebertriebenen, wenn das ein Beschwerdegrund sein könnte. Zum Zweck seiner Geschichte der Einwanderung hat er alle Districte, in denen sie spielt, von Kirchspiel zu Kirchspiel durchzogen, die alten Leute persönlich ausgefragt, jede Familienbibel und jedes Kirchenbuch durchblättert. Die Biographien starren von Quellenangaben. Dies ist der deutsche Forscherfleiß, der in ihm steckt, und zugleich der Respect vor den Thatsachen, den ihn die neue Welt gelehrt.

So ist sein ganzes Wesen eine prächtige Vereinigung alles dessen, was reiche Natur, tiefe Bildung und weite Erfahrung ihm geben konnten. Das reine Feuer der Idealität durchglüht sein ganzes Denken. Jedes Unrecht bringt ihn in Wallung. Dabei ist er doch kühl besonnen, Alles nach dem Maßstab der gegebenen Verhältnisse messend. Er ist deutscher Patriot im höchsten Sinne des Wortes und ein eifriger Arbeiter am Wohle der Vereinigten Staaten. Er jubelt der Wiedergeburt der alten Heimath zu, aber er verlangt mit echt historischem und politischem Sinn, daß in der neuen Heimath der Deutsche sich dem großen Ganzen unterordne, in ihm fruchtbar aufgehen lerne. Dennoch geht ihm wieder sein deutsches Geistesleben über Alles, fühlt er nach Jahrzehnten die Lücke, welche für das Ideal in der realistischen Gesellschaft des emsigen Amerikanerthums unausgefüllt bleibt. Dabei ist Niemand allem Ueberschwänglichen, Sentimentalen, Pathetischen mehr abhold, als er. Im Kreise seiner blühenden Kinder zugleich ein neckischer Gespiele und ein verehrter strenger Lehrer; den Freunden stets ebenso schnell zur Hand, eine gemüthliche Flasche anzustechen, als einen beträchtlichen Dienst zu leisten warm und treu im Sinn, kurz und männlich in den äußeren [344] Liebesbezeigungen; kein süßliches Geküsse – ein rascher Händedruck; keine schönselige Floskel im Briefe – eine Mittheilung und die Unterschrift. Wie in diesen Stücken, in Allem eine Harmonie von Jüngling und Mann, vom idealistischen, gelehrten Deutschen, vom welterfahrenen, sturmerprobten Amerikaner. Kein Wunder, daß solch’ ein Mensch überall Gönner, Freunde, Verehrer fand. Zu geben brauchten sie ihm nicht viel; er schaffte sich Alles selbst und wachte, daß sie ihm nichts nahmen von seiner Bescheidenheit und Selbstlosigkeit. In Anerkennung seiner vielseitigen Verdienste um Wissenschaft und Leben ernannte ihn die Universttät Bonn zum Ehrendoctor bei Gelegenheit ihres Jubelfestes.

Von dem Jahre 1870 hofft Kapp endlich die Erfüllung seines innigsten Lebenswunsches. Seit er Deutschland wiedersah, hat er mit der Arbeit seines juristischen Berufs dahin gezielt, daß er im vorausberechneten Zeitpunkt des erwähnten Jahres es werde durchführen können, mit seiner Familie in’s Vaterland zurückzukehren. Der Umschlag, welchen die Ereignisse von 1866 herbeigeführt, hat seinen Vorsatz nur befestigt. Er ist nun überzeugt, daß er seinen Kindern ein großes und aufwärts strebendes Vaterland geben wird. Sollen wir sagen: Deutschland schuldet diesem in vollster Manneskraft heimkehrenden, hochverdienten treuen Sohn eine würdige, lohnende Stellung? Wir wollen lieber sagen: es kann in Deutschland nicht fehlen, daß mehr als ein wohlverstandenes Interesse sich freuen wird, einer so bewährten und schönen Fähigkeit Verwendung eifrig anzubieten. Auf dem streng politischen Felde könnte im Anfang ein Umstand hinderlich werden. Das Gesetz, daß ein Preuße nach zehnjähriger Abwesenheit seine Nationalität verliert, ist eine der Erbschaften des Polizeistaates. Es ist noch das Gesetz eines Staates, der kein Vaterland ist, sondern eine Beaufsichtigungsanstalt. Können denn Eltern- und Kindespflichten verjähren? Es wäre Zeit, daß diese Barbarei beseitigt würde. Wenn es schon wieder so weit gekommen ist, daß die Vertriebenen der Reactionsepoche von allen Weltenden zurückkommen und ihr Erbtheil am Heimathboden antreten, dann ergeht auch der Mahnruf an die Gesetzgebung, daß sie solche naturwidrige Bannflüche widerrufe!




Noch ein parlamentarlscher Abend bei Bismarck.

Inzwischen ist der Mai in seiner vollen Pracht heraufgekommen. Der Blätterdom im Reichstagspark über den beiden langen Baumreihen hat sich so stolz und lichtgrün gewölbt, wie je zuvor, und auf dem alten sechshundertjährigen Taxus, unter dem einst Mendelssohn-Bartholdy die Ouverture zum „Sommernachtstraum“ dichtete, feiern zahllose kleine Sänger die Flitterwochen. Das Frühjahr führt seinen alten, immer siegreichen Kampf gegen die Pflichten des parlamentarischen Mannes. Auch die ergraute Gewissenhaftigkeit unterliegt den Verführungskünsten der glänzenden Maja. Nicht die Fleißigsten der Fleißigen, der Prinz Albrecht von Preußen, Moltke und Steinmetz, ja nicht einmal die seßhaftesten Männer, wie die Abgeordneten Wachler und Graf Renard, lassen sich mehr im Saal halten. Die Klage über die schlechte Ventilation im Verhandlungssaal ist nur eine unvollkommene Beschönigung ihrer Fahnenflucht vor den Reden des Reichshausleerers Peter Reichensperger, oder vor der schwermüthigen Gründlichkeit des Abgeordneten Kratz oder der schimpflichen Sachkenntniß des mecklenburgischen Grafen von Bassewitz in der Anwendung der mecklenburgischen Prügelstrafe. Alles sitzt unter dem Taxus und hört den losen Hennig oder Unruh Geschichten erzählen, von denen die meisten im Buchhandel nur in versiegelten Exemplaren ausgegeben werden würden. Voriges Jahr, als wir im kühlen Pavillon des Reichstagsparks an Braun’s Rheingauer Weinen die Frage der Weinbesteuerung, des französischen Maßsystems und noch einige andere studirten, ließ uns der argwöhnische Präsident Simson sofort eine telegraphische Klingel von reichlich drei Decimetern Durchmesser auf den Kiosk setzen, die unsre nichts ahnenden Seelen urplötzlich durchschauerte wie die Stimme des jüngsten Gerichts und den armen Gott Bacchus leider für immer aus diesen Räumen verscheuchte.

Heute wird auch dieser Appell an die Furcht, diese Mahnung an das Gewissen der norddeutschen Gesetzgeber meist in den Wind geschlagen. Drinnen versammelt der Restaurateur Müller seine berühmte Fraction vollzählig um die letzten Kibitzeier, die von einem viertel Thaler pro Stück durch die unglaubliche Fruchtbarkeit ihrer Eltern schon auf den proletarischen Preis von „zwei Silber“ herabgedrückt sind, so daß sich der ärmste Mann zum Unterschied von seiner gewohnten „Portion Försterling“ einmal dieser thierischen Kost erfreuen kann. Aber kann das Alles die Stimme Eures Gewissens übertäuben, während drinnen im Saal die drei Parzen Simson, Lasker und von Denzin unermüdlich die Fäden immer neuer Debatten anknüpfen, weiterspinnen und abschneiden? Wir werfen uns stolz in die Brust über Euch Sünder und Zöllner, indem wir zu der legitimen parlamentarischen Erholung der Woche, zu der Abendgesellschaft des Grafen Bismarck, schreiten.

Diesmal waren am Eingang keine Schutzleute zu sehen. Gleich im ersten Empfangszimmer oben bewillkommnete uns Bismarck, verbeugten wir uns vor seiner Gemahlin. Die Letztere war leider auch diesmal nur von einem auserwählten Kreise von Grafen und Herren umringt, so daß eine ungebetene Vermehrung dieser Umgebung ungeziemend erschienen wäre. Ohnedem knüpfte Bismarck sofort bei unserm Eintritt ein Gespräch mit uns an, das er nur unterbrach, um den Neueintretenden die Hand zu reichen: Forckenbeck, der sich unserm Kreise anschloß, Löwe und von Kirchmann von der Linken, die er seiner Gemahlin zuführte. Er sprach über den neulichen Beschluß des Reichstags auf Abänderung des Artikels zweiunddreißig der Bundesverfassung, d. h. auf Bewilligung von Diäten an die Reichstagsabgeordneten. Er stellte dem Beschluß keine große Aussicht auf Annahme beim Bundesrath, und fuhr dann fort: „Ich für meine Person würde von der Bewilligung der Diäten einen großen Vortheil haben. Sie wissen, wie faul meine engern politischen Anhänger, die Herren Konservativen sind. Sie würden, sobald Diäten bezahlt würden, sich in weit größerer Zahl einfinden, weil sie mit mehr oder weniger Grund annähmen, daß die linke Seite des Hauses sich nun vollzählig einstelle.“

Unser Kreis lichtete sich, die Meisten gingen nach dem Billardzimmer. Wir standen noch im Empfangssalon am Büffet, auf dem der ausgestopfte Hase steht. Der Moment schien mir günstig, für meine Leser das Geheimniß dieses hohen Hasen zu ergründen. Ich fragte Bismarck, was es mit dem ausgestopften Balg für eine Bewandtniß habe.

„O sehen Sie, dieser Hase ist brünett.“

„Brünett? Excellenz.“

„Ja, er hat einen dunkelbraunen Kopf und Rücken, während er von Rechtswegen gelb sein sollte. Man müßte eigentlich noch einen Hasen daneben stellen, damit das Naturwunder mehr hervortritt. Er war der einzige brünette unter fünfzehnhundert, die wir an dem Tage schossen.“

Im Billardzimmer fand sich das Gros der Gesellschaft, im Ganzen weniger als am ersten Abend. Die Stiftungsfeier des Juristenvereins hatte fast die gesammte Rechtsgelehrsamkeit des Reichstags nach Charlottenburg entführt.

„Wer ist der junge große Mann hier, mit dem stolz unzufriedenen Gesicht und dunkelblondem Vollbart à la Kronprinz? Gewiß aus einem guten Haus, wenn er auch die Arme etwas linkisch trägt?“ fragte ich einen juristischen Collegen.

„O,“ antwortete er, „der ist seit dem 5. Mai sehr berühmt geworden. Sie dürfen’s aber Niemandem sagen. Das ist der Graf Kanitz, der Zweitjüngste des hohen Reichstags. Am fünften Mai hat er seine Jungfernrede gehalten, die, mit Hülfe der grünen Geschäftsordnung in Simson’s, des Präsidenten, Hand, nach vielen vergeblichen Abstechern in die Irrfelder der hohen Politik unter der berüchtigten Heiterkeit des Hauses schloß.“

„Das Gegenstück von der Kanitz’schen Rede,“ bemerkte ich, „hat uns doch heute Hausmann geliefert, der sonst so wackere Kämpfer gegen die Lippe’sche Mißregierung. Der Mann hat in drei [345] Minuten gerade zweiundzwanzig Mal ‚meine Herren‘ gesagt. Und trotz dieser dringenden Einladung schenkte das Haus ihm kein Gehör, als er für die Portofreiheit der Reichstags-Abgeordneten seine Lanze einlegte.“

„Sehen Sie,“ sagte wieder ein Anderer, „das ist eben die Eigenthümlichkeit der menschlichen Natur, daß weit öfter der Großvater auf den Enkel, als der Vater auf den Sohn seine berechtigten Eigenthümlichkeiten vererbt. Da sehen Sie sich einmal Twesten an, dessen Großvater war Nachtwächter zu Glückstadt in Holstein. Und noch jetzt, wenn sich der Enkel im Reichstag erhebt, wissen Sie im Voraus genau was die Stunde geschlagen hat.“

„Da kann ich Ihnen aber gleich einen entgegengesetzten Fall anführen,“ sagte ein bekannter Berliner. „Sehen Sie sich einmal den alten bösen Ziegler an. Der hält sich für den reinsten Märker unter der Sonne. Er hegt eine Weltanschauung, die im Aussterben begriffen ist. Er behauptet, die Mark sei eigentlich Deutschland, alles Uebrige schlechte Schlacke um den edeln Stein, die Mark habe eine preußische Provinz nach der andern erobert, sie müsse nach und nach ganz Deutschland um sich vermärkern. In einer unbedachten Stunde wagte nun einmal Jemand sich bis zu einem Zweifel an der rein märkischen Abstammung Ziegler’s, mit der in Ziegler’s Augen unbeschreiblich frivolen Behauptung, daß manchmal sogar in der Mark Männlein und Fräulein auch jenseits der Mark zu freien und sich ihr ehelich Gespons auch aus einem deutschen Boden zu holen pflegten, wo der Sand aufhört und die Natur nicht mit einer so außerordentlichen Sorgfalt jegliche Abwechslung vermieden hat. Der alte Ziegler erstickte seinen Ingrimm zunächst in einer kräftigen Verwünschung und versprach den Frevler wider seine heiligsten Heimathsrechte durch die Vorlegung seiner Familienpapiere vor Gott und aller Welt zu brandmarken. Aber diese Vorlegung erfolgte nicht, und der alte Ziegler wurde täglich mürrischer und gelber im Antlitz. Und was erfuhr man schließlich? Der Großvater Ziegler’s war ein ehrlicher Schwabe, ein Riese von Gestalt, der den heimtückischen preußischen Werbern für die Riesengarde König Friedrich Wilhelm des Ersten in die Hände gefallen und in die Mark importirt worden war. Der Mann hieß auch nicht einmal Ziegler, sondern Ziegenberger. Daraus ist nun Ziegler geworden, wie man den Namen Jakob aus Nebucadnezar herzustellen pflegt. Aber hat Ziegler was von einem Schwaben, von einem Riesen oder Soldaten an sich?“

Der Schatten des Generalpost-Directors v. Philippsborn war an uns vorüber geglitten, ohne sich aufzuhalten, als er wiederholt den Namen Ziegler’s nennen hörte. Ihm war offenbar nicht behaglich bei dem Namen, denn Ziegler hatte heute der „fürstenmäßigen Portofreiheit“ ein Treffen geliefert, gegen das die neuliche Rede Becker’s eitel Liebkosung gewesen war. „Ein Ehrenrecht soll die fürstliche Portobefreiung sein?“ hatte Ziegler dem Regierungstisch entgegengerufen. „Ein englischer Lord, dem Sie dieses ‚Ehrenrecht‘ antrügen, würde Ihnen antworten: ‚O for shame, pfui! Wie können Sie mir ansinnen, daß ich die Dienste staatlicher Anstalten, die ich für meine Privatzwecke benutze, nicht bezahlen darf!‘ Und gleichzeitig sagen Sie, wenn wir die fürstliche Portofreiheit aufheben, müßten wir sie mit Geld ablösen. Ein Ehrenrecht ablösen! Wie paßt das? Ich bin überhaupt kein Freund von Ablösungen; im Lauf der Zeiten löst sich Manches von selbst ab. Meinethalben aber, lösen Sie ab. Geben Sie jedem ‚fürstenmäßigen‘ Menschen jährlich tausend Groschenmarken umsonst; das macht auf den Tag drei Briefe, das wird wohl ungefähr ausreichen. Sie nehmen uns die Steuern mit Scheffeln, lassen Sie’s uns durch Aufhebung der fürstlichen Portofreiheit wenigstens wiedernehmen mit Löffeln.“

So weit der Generalpost-Director spähte und blickte, Ziegler war heute Abend nicht anwesend. Er wurde daher sichtlich menschenfreundlicher. Er brauchte nicht zu fürchten, daß er auf eine Interpellation in einer der historischen Ecken hier, wo der Regierungsvertreter so viel stiller halten muß, als am Bundestisch im Reichstag, werde antworten müssen: „Ja, ich weiß noch viel tollere Dinge als Ihr Alle zusammen.“

Mehr als die Gruppen im Billardzimmer hatte mich schon lange die Aussicht in Bismarck’s Arbeitszimmer gefesselt, zu dem links die Thür offen stand.

„Ist der Eintritt erlaubt?“ fragte ich einen Diener des Hauses.

„Gewiß.“

Ich schritt über die Schwelle. Der tapfere jugendliche Abgeordnete Evelt aus Sigmaringen stand in der Mitte des Zimmers in andächtiger Betrachtung. Ich ahnte, was ihm durch die Seele ging. Er hatte im Jahr 1866 als hochgestellter preußischer Beamter den vorgeschobensten Posten preußischen Landes, seine zweite Heimath, die Fürstenthümer Hohenzollern, vor dem Eindringen der bundestäglichen Heerschaaren nach Kräften zu vertheidigen. Bei lange schwankendem Kriegsglück wäre ihm auch eine nähere Bekanntschaft mit dem Hohenasperg so sicher gewesen, daß selbst sein politischer Gegner Schäffle ihm ein Asyl anbot in seinem Hause. Aber hier in diesem Gemach waren die Pläne zu einer anderen Wendung der Geschicke längst gedacht und durch außerordentliches Kriegsglück so rasch gereift, daß auch Evelt im Süden wenig mehr zu thun blieb, als dem Bundestag im Norden, nämlich feierlich zu protestiren.

Ich sah mich im Zimmer um. In der Mitte desselben, doch rechts fast bis an die Wand gerückt zwischen den beiden Fenstern, die auf die Terrasse gehen, stand Bismarck’s Schreibtisch, ein langes Pult, auf vier Füßen ruhend, zu beiden Seiten des Schreiberaums unter- und oberhalb des Pultes mit offenen Fächern versehen. Der Arbeitsstuhl Bismarck’s ist ein runder Sessel von massivem Eichenholz, ohne Lehne, mit drehbarer Sitzscheibe, die letztere von ansehnlichen Dimensionen. Rechts vom Schreibenden, im rechten Winkel an das Pult stoßend, steht das Actenregal. Acten enthielt es nicht, aber rechts am Fuß des Schreibtisches standen einige verschlossene Portefeuilles. Das Licht fällt von links, gedämpft durch weiße Gardinen und rothseidene Uebervorhänge. Zahlreiche weiße Handschuhe, und Degen so viele, um eine ganze Generalität auszurüsten, sind auf einem Tisch aufgespeichert, der rechts von der Thür steht, durch die wir eintraten. Auf dem Secretair daneben hat der Graf seine Kopfbedeckungen, bürgerliche, dienstliche und militärische, zu einer kleinen Ausstellung vereinigt. Die andere Hälfte der Wand, durch deren Thür wir eintraten, nimmt ein mit blauem Brokat überzogenes Sopha von kolossalen Dimensionen ein. Es ist sehr lang und fast so breit als lang, ohne Rücken- und Seitenkissen, nur am Kopfende ist eine Schlummerrolle angebracht und liegt ein Kissen mit prachtvoller Stickerei und der Anschrift: „Zur Erinnerung an das Jahr 1866.“ An Bildern hängen an den Wänden die lebensgroßen Köpfe des große Kurfürsten, Friedrich’s des Großen, Friedrich Wilhelm’s des Dritten und des Königs Wilhelm in trefflichen Stichen. Neben König Wilhelm die Madonna von Murillo auf der Mondsichel, gleichfalls in Stich, höchlich verwundert über die weltlichen Genossen. An der Wand hinter’m Arbeitstisch endlich eine reizende Uhr in Schweizerhausform, aus Holz geschnitzt, mit Wachtelschlag. Der Kukuksruf hätte eine zu aufregende Nebenbedeutung gehabt. Unter dem Bilde des Großen Friedrich, gerade über dem Haupte Bismarcks, wenn er auf dem Sopha ruht, hängt ein kleines Bild seiner Mutter, deren Andenken er, wie bekannt, höher schätzt als irgend etwas auf Erden. Selbst auf dem einfachen Standpunkt von Mann gegen Mann ist es wohlthuend, daß wir in vielen Briefen, die in letzter Zeit aus seinen Familienpapieren in die Oeffentlichkeit gekommen sind, ein so reiches Gemüthsleben, ein so lebhaftes Natur- und so ausgeprägtes Familiengefühl finden, wie wohl Wenige es in dem trotzigen Kämpfer gesucht hätten.

„Trotz aller Parforce-Jagd auf Anekdoten aus Bismarck’s Vergangenheit,“ sagte mir ein sächsischer Abgeordneter, „die nun schon Jahre lang ohne alle Schonzeit von Sonntags- und Werktagsjägern, von Hesekiel und anderen großen und kleinen Propheten getrieben wird, kann doch niemals auch nur die Hälfte aufgespürt werden von dem, was derselbe Alles gesagt, geschrieben, gethan hat. Und wer einigermaßen ehrlich ist, wird bekennen müssen, daß die frische Ursprünglichkeit und Eigenart der Form seiner Rede kaum wortgetreu wiederzugeben ist. So ist mir eine Unterredung bekannt, die er mit dem Stadtrat P. aus der sächsischen Stadt M. in der Eisenbahnrestauration des Berliner Bahnhofs in Leipzig hatte, die zu dem Köstlichsten gehört, was ich bisher von ihm vernommen habe. Bismarck war nämlich (im Jahre 1863) beim König in Karlsbad gewesen, und reiste im strengsten Incognito über Leipzig nach Berlin zurück. Auf dem Berlin- Anhalter Bahnhof in Leipzig ist über eine Stunde Mittagszeit bis zum Abgang des nächsten Zugs nach Berlin. Mein Stadtrath P. aus M. tritt in den reservirten Speisesalon, Bismarck [346] gleichfalls. Sie waren allein. Der Stadtrath hatte schon in A. von seinem Freunde, dem Bahnhofschef, gehört, mit wem er fahre. Er läßt sich natürlich nichts merken, Bismarck noch weniger, denn er hatte keine Ahnung, daß sein Incognito verrathen sei. Sie setzen sich gegenüber. Der Stadtrath fragt den Kellner, welche Suppe frisch sei.

‚Die hier.‘

‚Gut, geben Sie von der.‘

‚Kellner,‘ ruft Bismarck, ‚geben Sie mir auch von der Suppe.‘

Nach der Suppe bestellt sich mein Stadtrath eine halbe Flasche Mosel.

‚Kellner, bringen Sie mir eine ganze Flasche Mosel,‘ sagt Bismarck.

Dann wird die Karte heruntergegessen. Der Stadtrath wählt – Bismarck immer dasselbe; die Karte geht durch den Kellner immer herüber, hinüber. Zuletzt bleibt sie bei Bismarck liegen. Ein Wort wechseln die Beiden nicht.

‚Kellner, geben Sie mir einmal die Karte,‘ sagt mein Stadtrath.

‚Wollen Sie so gut sein,‘ sagt Bismarck, sie ihm über den Tisch reichend. ‚Sie sehen, ich habe immer dasselbe gewählt wie Sie und bin zufrieden, nur mit dem Mosel bin ich ’reingefallen. Wenn Sie erlauben, werde ich nun auch den Käse essen, den Sie bestellen.‘

Das Gespräch war im Gange, es stockte nicht mehr bis zur Abfahrt. Bismarck schilderte die Schönheit des sächsischen Landes, die Bravheit und den Fleiß seiner Bewohner. Mein Stadtrath, der niemals zu den leidenschaftlichen Verehrern des Herrn v. Beust gehört hat, fragt sein Vis-à-vis wie ihm die sächsische Regierung und Politik gefalle. Das Vis-à-vis fährt in seiner Lobrede auf Sachsen fort. ‚Schlägst Du meinen Juden, schlag ich Deinen Juden,‘ denkt mein Stadtrath, und fängt an, Preußen aus vollem Halse zu loben – mit Ausnahme des Berliners.

‚Ja, da haben Sie ganz Recht,‘ sagt Bismarck. ‚Die Geschichte kennen Sie wohl, wie der Alpenwirth den Berliner Jüngling fragt, ob ’s in Berlin auch solche Berge gebe, und der antwortet: ‚Nein, solche Berge haben wir nich, aber wenn wir welche hätten, wären sie noch höher.‘ Nun, mir ist dasselbe wirklich passirt. Ich habe einmal längere Zeit in Hannover gewohnt und ging eines Tags mit einem Berliner Besuch die schöne Allee nach Herrenhausen entlang. „Sehen Sie nur, diese Prachtbäume,“ sagte ich. ‚I wo? des is ja jar nischt jejen die ‚Linden‘ in Berlin.‘ Ein Jahr später ging ich mit dem Mann ‚unter den Linden‘. Sie hatten ihr sommerliches Aussehen, das Sie wohl als hinreichend öde und traurig kennen. „Na, was sagen Sie nun?“ frage ich meinen Begleiter. „Denken Sie einmal an die Allee nach Herrenhausen.“ ‚Ach, lassen Sie mich jehen,‘ sagt er wieder, ich kann mich immer nich jenug ärjern, wenn mir was Besseres jezeigt wird, als in Berlin.‘ Da haben Sie den Berliner.‘

Dann kam Bismarck auf die niederen Stände in Berlin und speciell auf die Packträger zu sprechen. Er beklagte sich, daß kein Mittel ausreiche, sie zuverlässig zu machen.

‚Gott, machen Sie es doch wie bei uns,‘ sagte mein Stadtrath. ‚Lassen Sie die Leute vor ihrem Dienstantritt vereiden.‘

‚O,‘ sagte Bismarck laut lachend, ‚der Zwirn hält nicht!‘

Inzwischen waren die Thüren zum Speisesaal auch für das große ‚reisende Publicum‘ geöffnet worden, das sich allmählich zum Zugabgang einfand. Der in Leipzig allbekannte Colporteur Hartwig benutzte die Gelegenheit, um seinem fliegenden Buchhandel einen schwunghaften Absatz zu verleihen. Er hatte dabei offenbar noch den geheimen Nebenzweck, dem preußischen Ministerpräsidenten einige ungeschminkte Proben seiner politischen Gesinnung zu geben, denn er wußte natürlich längst, wen er vor sich hatte.

‚Nun, meine Herrn, ist was gefällig?‘ sagte Hartwig, indem er Bismarck an die Seite trat und eine Reihe freisinniger Blätter auflegte.

‚Ich danke.‘

‚Deutsche Allgemeine, Kladderadatsch, neueste Nummern enthalten wieder schöne Geschichten aus Berlin. Da hat der Bismarck wieder -‘

‚Bei wem erscheint denn die Deutsche Allgemeine?‘

‚Bei Brockhaus, mein Herr.‘

‚Geben Sie mir die Zeitung. So, und nun noch die Illustrirte,‘ sagte Bismarck.

‚Sehen Sie, hier ist auch die neueste Volkszeitung. Lesen Sie nur einmal den Leitartikel.‘

‚Wollen Sie mir einen Gefallen thun, guter Mann?‘ sagte Bismarck zu Hartwig.

‚Mit dem größten Vergnügen.‘

‚Nun, so stellen Sie Ihr Geschäft ein.‘“

Ich stieß meinen Erzähler an. Bismarck war in’s Nebenzimmer getreten, das zur Familienwohnung gehört, links vom Arbeitszimmer. Er stand dicht an der Thür. Er konnte hier in seinem Privatzimmer etwas zu besorgen haben. Wir kehrten in den Billardsalon zurück. Mir fiel jetzt erst die kolossale Größe des Bärenfells auf, das unter dem Billard liegt. Es ist so lang wie das Billard selbst. Bismarck hat den Bären in Rußland geschossen, nachdem er ihm fünf Nächte hintereinander aufgelauert hatte.

Der große Nimrod trat so eben an unsern Kreis am Billard heran, lehnte sich mit dem Rücken dagegen, während er sprach, dann setzte er sich auf’s Billard, seine Füße berührten kaum noch den Boden! Und während er auf’s Lebhafteste mit Hennig und uns Uebrigen über allerlei Fragen der innern Disciplin des Reichstags verhandelte, warf er mit der Hand von Zeit zu Zeit eine Billardkugel fast ganz nach hinten, daß sie jedesmal die beiden anderen auf dem Billard berührte.

„Ich werbe heute Abend bei Ihnen um eine Herabsetzung der Beschlußfähigkeitsziffer des Reichstags,“ sagte er unter Anderm. „Ich beurtheile die Sache allerdings lediglich nach meiner Erfahrung. Aber ich versichere Sie, es giebt Fälle, wo ich mich in Fragen, die ich nicht verstehe, ruhig nach einem Gewährsmann umsehe, von dem ich mir die Direction für meine Abstimmung geben lasse, oder dem ich meine Stimme im Bundesrath in den Fragen seines Fachs übertrage. Solche Leute muß es geben, denn es kann unmöglich jeder Alles wissen. Nehmen Sie z. B. an, es wird in einem gewissen Ministerium irgend ein wichtiger Referent krank, so kann das Geschäft oft weit empfindlicher aufgehalten werden, als wenn der Herr Chef selbst unpäßlich wäre. Er weiß ohne den Referenten nicht ein und aus. Das ist auch der einzige Grund, warum sich ein Minister meist langsamer verbraucht, als man eigentlich annehmen sollte. Sehen Sie, ähnlich dachte ich mir Ihre Stellung. Es kann doch ein Abgeordneter auch mit dem größten Fleiß nicht alle Fragen gleichmäßig verstehen. Er muß in bestimmten Fällen den Kopf rechts oder links auf einen Führer richten können, mit dem er aufsteht oder sitzen bleibt.“

Man stimmte dem Grafen im Allgemeinen zu; doch Hennig als sprechender Kern des Kreises warf ihm ein, das Geheimniß der außerordentlichen Ausdehnung mancher Debatten und in Folge dessen der Lichtung der Versammlung sei viel mehr die Redelust einzelner Abgeordneten, als ihre Gleichgültigkeit gegen die Sache.

„Ja, aber giebt es denn in aller Welt kein Mittel, dem zu steuern, was ich eine überreiche Duldsamkeit gegen den Eigennutz der Beredsamkeit nennen möchte?“ rief Bismarck. „Jeder Mensch ist doch schließlich zur Nothwehr, mindestens zum passiven Widerstand berechtigt. Ich denke mir z. B., wenn ein Abgeordneter urplötzlich das Bedürfniß empfindet, zweihundert ehrliche Männer eine Stunde lang mit einer Auseinandersetzung über das beste Rayongesetz der Welt zu unterhalten, wozu ihm aller und jeder Beruf abgeht, oder ein General geriethe plötzlich auf das Gebiet der Naturwissenschaften und spräche über künstliche Fischzucht oder über die Begründung von Arbeitergenossenschaften – da müssen Sie doch ein Mittel haben, dem Manne bemerklich zu machen, daß Sie von ihm nicht viel lernen können.“

„Das einzige Mittel, Excellenz, was in diesem Falle mit der Verfassung und der Geschäftsordnung so lange vereinbar ist, als es der Präsident sich nicht verbittet, ist das: tüchtig mit den Pulten zu klappern und anderweit nach Möglichkeit Lärm zu machen,“ sagte Hennig achselzuckend.

„Ich spräche keine drei Secunden weiter, wenn ich jemals so schätzbare Beweise der Aufmerksamkeit des hohen Hauses erhielte,“ erwiderte Bismarck, „und würde höchstens darüber im Zweifel sein, wie ich einen passenden Schluß finden könnte. Aber denken Sie einmal darüber nach, ob nicht Ihr verehrter Präsident etwas mehr in der Richtung thun könnte. Er hat doch schließlich das kostbare Gut der gemeinsamen Zeit zu verwalten und muß unter Umständen gegen den Eigennutz der Beredsamkeit entschieden rücksichtslos sein.“

[347] „Ja, das Haus wird ihm dafür sehr dankbar sein,“ warf Hennig ein, „aber der Redner, Excellenz –“

„Der wird sich schnell daran gewöhnen!“ rief Bismarck. „Sehr bald wird er sich sagen, wie der Fuchs beim Balgabziehen: ‚das ist ja nur ein Uebergangsstadium‘. Aber wollen die Herren nicht ein wenig soupiren?“

Die Gesellschaft begab sich allmählich durch das Zimmer mit den gelben Gobelins voll chinesischer Thiere, Thürme und Menschen nach dem unsern Lesern gleichfalls bereits vorgestellten Speisesaal. Unterwegs sah man den Abgeordneten Kratz mit dem General von Steinmetz im ernsten Zwiegespräch. Es war die Fortsetzung des Dialogs über das Rayongesetz, der neulich zwischen demselben gutkatholischen Appellations-Gerichtsrath und dem Sieger von Trautenau, Nachod und Schweinschädel sich eine Stunde lang abgespielt hatte.

Rechts von diesen Herren stand der Hesse Braun (Hersfeld) mit dem Admiral Jachmann. Es ist unglaublich, wie viel Beruf der Binnenländer, der nie die See hat rauschen hören, in sich fühlt, sich mit seemännischen Dingen zu beschäftigen. Vielleicht hat der Admiral von derartige Gesprächen mit Landratten her einen Theil jenes breiten Lächelns sich angewöhnt, das stereotyp seine edeln großen Lippen ziert. Andererseits bildet sich ja bekanntlich der Prinz Alfred von England durch fortwährende Seereisen zu dem ihm durch Staatsverträge zugesicherten Beruf aus, den Thron von Coburg-Gotha zu besteigen. Aber diesmal lachte der Admiral nicht. Braun-Hersfeld hatte an ihn die einfache, aber inhaltsschwere Frage gerichtet:

„Die Blätter und der Telegraph haben uns die aus England erfolgte Ankunft des größten Panzerschiffs der norddeutschen Marine, des ‚König Wilhelm‘, in Kiel mit einer so gleichgültigen Geschäftsmiene gemeldet, als ob wir tagtäglich über drei Millionen Thaler für so ein Schiff zu verausgaben hätten. Haben Ew. Excellenz das Schiff bereits besichtigt?“

„Ich werde es morgen sehen.“

Der Abgeordnete mußte sich damit zufrieden geben. Aber das erste Mal wäre es nicht, daß die Eifersucht Englands auf die heranblühende deutsche Marine sich bis zu einer fehlerhaften Construction der auf englischen Werften bestellten deutschen Schiffe gesteigert hätte!

Auf dem Wege zum Büffet kam ich noch einmal an Bismarck vorüber. Er hatte soeben mit dem Abgeordneten Stadtsyndicus Albrecht aus Hannover sich in ein Gespräch eingelassen, demselben Albrecht, der im vorigen Jahr das Herzeleid durchmachen mußte, daß ihm infolge des sogenannten „Nothgewerbegesetzes“ der übliche Ochse streitig gemacht wurde, den sonst seit rechtsverwährter Vorzeit die Fleischergilde zu Hannover dem Stadtsyndicus zu gestellen gehabt hatte. Um den Ochsen handelte es sich nun dermalen nicht, denn ihn hatte Albrecht sich mannhaft erstritten. Aber die Frage, die Bismarck vorlegte, schien ebenso fein und ebenso bestritten, denn wir hörten Bismarck noch sagen: „Nun, Ihnen sind die Haare ausgegangen und mir auch, da haben wir wenigstens einen wichtigen gemeinsamen Anknüpfungspunkt und werden uns leichter verständigen.“

Das Büffet hatte wieder alle Reize norddeutscher kalter Küche entfaltet. Auch diesmal hatte sich an der rechte Wand als „ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht“ ein Tisch mit Abgeordneten besetzt, unter denen wir den feinen, geraden Polizeipräsidenten v. Köln Devens, die beide wackeren Söhne rother Erde Evelt und Hosius, und den mürrischen ehrlichen Günther-Sachsen namhaft machen. Sehr bald erschien auch Bismarck und setzte sich zwischen Evelt und Devens. Er weilte über eine Viertelstunde an diesem Tisch, seinem Maiwein lebhaft zusprechend.

„Wie schmeckt Ihnen mein Maiwein?“ fragte er unter Anderem Evelt.

„O, vortrefflich, Exceellenz!“

„Sonderbar, daß ich den Waldmeister am südlichsten in Heidelberg gefunden habe, als Student. Meine süddeutschen Commilitonen lernten den Maitrank aber immer erst durch uns Norddeutsche kennen. Sie z. B. in Hohenzollern werden gar keinen Waldmeister mehr produciren.“

„O ja,“ sagte Evelt. „Bei uns wächst der vorzüglichste Waldmeister – aber ich muß mich meinerseits auch rühmen, den Schwaben zuerst die zauberhafte Verwendung desselben gelehrt zu haben.“

„Das ist der Segen Ihrer Rauhen Alp,“ sagte Bismarck wieder. „Lägen Sie tiefer, so würden Sie keinen Waldmeister mehr hervorbringen.“

Sehr lange sprach der Tisch über die Herabsetzung der Beschlußfähigkeitsziffer des Reichstags, die auch hier Bismarck warm befürwortete, obwohl er zugestand:

„Ich habe kaum erwartet, daß der Reichstag zur Zeit der Fliederblüthe mit einer Gewerbeorduung von hundertzweiundsiebenzig Paragraphen fertig würde.“

Aber er hörte hier auch manch’ freies Wort.

„Wir werden sofort die Beschlußfähigkeitszahl herabsetzen,“ hieß es, „aber nur unter der Bedingung, daß Diäten gezahlt werden und daß der Bundesrath monatelang vor Eröffnung des Reichstags alle Gesetzesvorlagen fertig berathen hat, so daß die Abgeordneten der verschiedensten Parteien nach dem Wort ihrer Führer während der Session in An- und Abwesenheit sich theilen können.“

Eine Gruppe Abgeordneter, mehrere Kellner mit verschiedenen Tellern und Gläsern wandelten zwischen mir und den Sitzenden vorüber. Als ich wieder an den Tisch trat, erzählte Bismarck vom General v. Strotha etwa Folgendes:

„Der Mann war ruhig in Frankfurt Commandant der Bundesgarnison, da trifft ihn ein Telegramm des damaligen Ministerpräsidenten Grafen von Brandenburg, sofort nach Berlin zu kommen und sich im Ministerium einzufinden. Strotha fährt über Hals und Kopf nach Berlin und hier sofort zu Brandenburg.

‚Ich habe Ew. Excellenz rufen lassen, um Sie zu bitten, das Ministerium des Kriegs zu übernehmen.‘

‚Mich? Um Gotteswillen, was fällt Ew. Excellenz ein? Ich bin dazu ja in gar keiner Weise geeignet.‘

‚Ja, das hilft Alles nichts, lesen Sie hier diese Cabinetsordre Sr. Majestät des Königs, der Sie zum Kriegsminister wünscht.‘

Strotha liest mit großer Bestürzung und sagt:

‚Ja, wenn Se. Majestät befiehlt, muß ich freilich gehorche.‘

‚Nun, lieber College,‘ fährt Brandenburg fort, ‚nun müssen Sie aber auch heute um zehn Uhr in der Kammer erscheinen.‘

‚O bewahre!‘

‚Ja, das hilft Ihnen nichts, sehen Sie hier ein anderes Schreiben Sr. Majestät, welches ausdrücklich verlangt, daß Sie das Kriegsministerium der Kammer gegenüber vertreten.‘

‚Dann muß ich freilich gehorchen,‘ sagt der neue Kriegsminister mit einem bangen Seufzer.

Er will sich eben entfernen, um wenigstens noch etwas zu memoriren für seine muthmaßliche Jungfernrede, da sagt Brandenburg:

‚Das wissen Sie wohl, College, daß Sie in Civil in der Kammer erscheinen müssen?‘

Strotha stand sprachlos vor Entsetzen.

‚Ich habe gar keins,‘ stotterte er endlich.

‚Ja, da müssen Sie sich bis zehn Uhr einen Anzug besorgen, der König will es so.‘

‚Dann muß ich freilich gehorchen,‘ erwidert Strotha beklommen, sich hinausschleichend. Aber er wußte sich zu helfen. Er nahm sich eine Droschke und fuhr zum Mühlendamm, wo die Trödler wohnen. Um zehn Uhr aber sah man in der Kammer einen Mann sitzen am Ministertisch mit unendlich hohem Kragen, Frackärmeln, die ihm bis über die Hände reichten – kurz einen wundervollen neuen Kriegsminister.“

Der ehrliche Günther-Sachsen, der sich niemals verstellen kann und sonst so finster dreinblickt, schaute den Bundeskanzler mit unverhohlenem Vergnügen an; der Kreis wurde immer heiterer, belebter.

„Warten Sie, Günther,“ sagte der Lausitzer Mosig v. Aehrenfeld, der Erbfeind des Landesältesten v. Thielau, „ich sehe, Sie sind ganz bezaubert von Bismarck; ich werde Ihre Abtrünnigkeit einer gewissen Zeitung in Leipzig denunciren.“

Inzwischen waren auch die Frau Gräfin und deren Töchter eingetreten und hatten am Büffet Platz genommen. Es war spät geworden und daher wohl Zeit zum Abschied. Der liebenswürdige Wirth reichte uns die Hand, vor den Damen verbeugten wir uns und verließen das Haus.



[348]
Bilder aus dem Schwarzwalde.
V. Von St. Georgen bis zum Wald hinaus.

Als ich in der Nähe von St. Georgen, dessen marktfleckliches Bild dem Leser noch von Nr. 11 im Gedächtniß ist, gedankenvoll dahin und an einem alten Bauernhause vorüberschleuderte, störte meine Innerlichkeit plötzlich ein schwarzes, bänderreiches Häubchen. Unter dem Häubchen zeigte

In der Nähe von St. Georgen.
Nach der Natur aufgenommen von Theodor Pixis.

sich ein feines, jugendliches Antlitz, welches, obgleich nur einem Bauernmädchen gehörend, doch jedes städtischen Fräuleins würdig gewesen wäre. Das Gesichtchen saß auf einem zierlichen Hals, welcher seinerseits aus einem weißen Hemd hervorbrach. Hierauf folgte ein rothes, mit Goldstreifen besetztes Mieder und bauschige, kurze, schneeweiße Aermel, welche einen vollen runden Arm nur halbwegs verhüllten. Das Mädchen lehnte auf dem Rücken der Sommerbank und schaute lächelnd dem Spiel der Tauben zu, die in Sand und Gras ihr Futter zusammenlasen. Als sie meiner ansichtig wurde, wollte sie sich aufrichten, um meines Grußes gewärtig zu sein, allein ich begann sofort. „Halt, halt, edles Mädchen, ihr seid so bildmäßig gestaltet und gestellt, daß ich Euch alsbald in meiner Mappe verewigen muß. Bewahrt Eure Haltung, ich bitte Euch herzlich, nur fünf Vaterunser lang, bis ich Euch gezeichnet habe.“ Sie schien mich zu verstehen, in meinen reinen Blicken die Unschuld meiner Absicht zu lesen und legte sich ganz genau wieder über die Lehne, wie sie vorher gelegen war. Also begann ich zu zeichnen und war in kurzer Zeit mit der freundlichen Arbeit fertig. ich weiß nicht, ob es mir gelangen ist, die Anmuth dieser Gestalt so faßlich wiederzugeben, daß der Beschauer seine Freude daran haben kann, aber daß ich es nach meinen besten Kräften versucht habe, ist gewiß und unbestritten.

Während ich darauf zu Hause die flüchtige Skizze in’s Reine arbeitete, erwachte leider ein ungeregelter Schöpfungstrieb und an der Stelle, wo die Tauben gefludert hatten, entstand allmählich ein junger Mensch mit lockigem Haar, angenehmen Zügen und zierlichem Schnurrbärtchen. – Ach, welch’ ein niedliches Pärchen! dacht’ ich mir – und wenn erst ein gewandter Schriftsteller den Text dazu schreibt – was kann er da Alles daraus machen! Damals glaubte ich nämlich, es werde irgend eine ändere Kraft reicher an Phantasie als ich, die Erklärung meiner Bilder übernehmen. – jetzt dagegen, da mich diese Hoffnung getäuscht und die Ausgabe auf meine eigenen Schultern gefallen, jetzt empfinde ich eine große Verlegenheit, indem ich selbst nicht weiß, wer der Jüngling eigentlich ist. Nach der offenen Mappe, die er in den Händen hält, sollte man ihn am ehesten für einen Maler halten. Manche könnten daher meinen, ich hätte mich da selber anbringen wollen, aber ich bin weder so jung, noch, wie ich glaube, so hübsch. ich sehe jetzt leider ein, daß es viel leichter ist, in unbewußtem Triebe einen solchen Jüngling neben ein Mädchen hinzusetzen, als seine Persönlichkeit und das gegenseitige Verhältniß glaubwürdig zu erläutern, und darum ziehe ich es vor, der Goethe'schen "Lust am Fabuliren“, von welcher jedes heitere Menschenkind sein Portiönchen erhalten hat, in unseren Lesern selbst die Ausmalung der fernerweiten Schicksalsgruppirungen zu diesem Bild vom ersten Finden an völlig zu überlassen. Der Wanderstab will ohnedies jetzt weiter getragen sein. Von dem unvergeßlichen Sanct Georgen zog's mich nach Villingen, einer uralten Stadt, welche bereits außerhalb des eigentlichen Schwarzwaldes liegt. Die Berge verlieren sich, die Landschaft wird hügelig, fruchtbarer, aber minder angenehm zu beschauen. Das Städtchen hat übrigens allerlei Merkwürdigkeiten, von denen man in der Welt draußen wenig weiß. Es ist da zum Beispiel ein alter Römerthurm, ein Münster mit zwei dicken, mittelalterlichen Thürmen, gothischem Altar und gemalten Fenstern; im Waisenspital ein gothischer Kreuzgang; ein Rathhaus mit merkwürdigen Sälen, Wappen, Holzschnitzereien, Gefängnissen und Folterwerkzeugen. Ueberdies legen sich die Einwohner mit Fleiß und Geschick auf die Industrie. Man fertigt Tücher, Steingutwaaren, [349] Maschinen und namentlich auch die bekannten Uhren, Ueberdies ist man hier sehr gebildet, hält reich ausgestattete Lesezimmer, gesellige Vereine, seine Gasthäuser etc. Es that mir leid, daß meine Zeit denn doch zu Ende ging und daß ich nicht mehr Weile hatte, das anziehende Städtchen näher zu studiren. Eben deßwegen will ich aber auch nicht mehr darüber sagen.

Von Villingen zieht der Trachtenzeichner gewöhnlich nach Schwenningen hinauf, einem großen Dorfe, das schon im Königreich Würtemberg,

In Rottweil
Nach der Natur aufgenommen von Theodor Pixis.

nicht weit von der Quelle des Neckar gelegen ist. Auch hier viele Betriebsamkeit und allerlei Fabriken. Freundlich aufgenommen und verpflegt habe ich da manches Bildchen gezeichnet, was ich aber nicht darbieten will, da ich wohl schon zu viel Raum in Anspruch genommen habe. Doch will ich nicht verschweigen, daß die Mädchen ein schwarzes, enges Käppchen tragen, das einen großen Theil der Stirn bedeckt. Mieder, Jäckchen und der kurze Rock - auch sie sind schwarz; hochroth dagegen die Strümpfe. Ein hochrother Strumpf ist immerdar ein prachtvoller Anblick und hat mein Herz jeder Zeit erfreut, ob er mir nun zu Meran, im Montavon oder in Schwenningen entgegen getreten ist. Uebrigens trifft man hier viele schlanke, schöngebaute Gestalten, und der Anblick eines Kirchgangs an einem sonnigen Sonntag, wie er mir zu Theil wurde, ist eine beneidenswerthe Augenweide.

Von Schwenningen wandelte ich nach der Stadt Rottweil, welche, mehr berühmt als groß, in einer sehr schönen Gegend liegt. Sie bedeckt eine ziemlich steile Anhöhe am Neckar, der hier noch sehr jung ist, und zählt viele Denkmäler ihrer einstigen Bedeutung. Hier in dieser weiland freien Reichsstadt ward ja des heiligen römischen Reiches kaiserliches Hofgericht aufgeschlagen, und der steinerne Stuhl, auf dem der Hofrichter öffentlich zu Gerichte saß, steht noch unter den alten Linden im Garten des Waisenhauses. Der herrliche Bau der Stadtpfarrkirche schaut weit in's schwäbische Land hinaus. Viele sachkundige Reisende zieht auch der thracische Sänger Orpheus an, ein schönes Mosaik, welches weiland die hier angesiedelten Römer hinterlassen haben. Ein wahrer Genuß ist es, durch die erkerreichen Straßen der Stadt zu schlendern und die mannigfaltige. Bauart der alten Häuser zu betrachten. Stattliche Brunnen erquicken den durstigen Wanderer - eine etwas naive Phrase, da der durstige Wanderer viel lieber in’s Wirthshaus geht, als an den Brunnen. Auch sonst ließe sich noch viel Erhebliches sagen, was ich aber gelehrteren Touristen überlasten will.

In der Nachbarschaft ist auch die Tracht sehr niedlich, und ein hübsches Landmädchen, das eben am Stadtbrunnen stand, habe ich allsogleich aufgenommen und theile es hier bereitwillig mit. Leider war die Jungfrau in der Natur viel schlanker als auf dem Bilde, oder vielmehr: leider ist sie auf dem Bilde viel untersetzter ausgefallen, als sie in Wirklichkeit war. Vielleicht drücken auch die hohen Gebäude der Nachbarschaft etwas auf ihren Wuchs. Ihr gegenüber steht wieder ein junger Mensch, welcher aus ihrem Kruge trinkt. Soll's etwa doch ein „durstiger Wanderer“ sein, deren Vorkommen am öffentlichen Brunnen ich oben selbst als sehr unwahrscheinlich bezeichnen mußte? – Meine Verlegenheiten beginnen schon wieder. Wenn mich der geneigte Leser sehen könnte, wie ich dieses schreibe, so würde er schon die ersten Schweißtropfen auf meiner Stirn bemerken. Es ist ein Elend, daß ich mir die jungen Leute nicht anders als paarweise denken kann, daß ich neben ein Landmädchen – fast unwillkürlich – immer einen jungen gefühlvollen Menschen aus der Stadt hinzeichnen muß. Was wird aber das Publicum sagen, wenn ich in Bildern, die auf Wahrheit Anspruch machen, hartnäckig Menschen zeichne, von denen ich selbst nicht weiß, wer sie sind? Indessen – zu geschehenen Dingen muß man das Beste sagen. Ich könnte eben so gut behaupten, daß der junge Mann ganz und gar an seinem Platze sei und eine sonst sehr empfindliche Lücke ausfülle. An und für sich hat die Situation auch nichts Unnatürliches, nicht einmal etwas Ungewöhnliches. Es ist seit Elieser's und Rebekkas Zeiten (I. Mose 24) schon öfter vorgekommen, daß ein junges Mädchen einem Mannsbild zu trinken gab, und hier geschieht es eben auch. Insofern wäre mein Holzschnitt allerdings noch zu halten, aber ich gelobe aufrichtig, keine Bilder mehr zu zeichnen, die der Exegese so unüberwindliche Schwierigkeiten bieten.

Ehe ich jedoch die Feder niederlege, welche diese Textstücke mit stillem Vergnügen gesündigt, muß ich’s wie der Wanderer [350] machen, der aus einem schönen Thal auf einen Berg gestiegen. er dreht sich um, setzt sich, nach Umständen, nieder und betrachtet mit Behagen Alles, was erst so glücklich hinter ihn kam und nun so freundlich vor ihm liegt. Nur trifft bei mir gerade das Umgekehrte zu, denn ich bin aus dem Schwarzwald eine gute Strecke heraus und denke, nun schon etwas herabgekommen, mit dem Gefühl billigen Dankes an das lebensvolle Bergrevier mit all seiner Kurzweil und Nutzbarkeit zurück.

Der Schwarzwald! Man braucht just kein Schwabe zu sein, auch sonst ein redlich deutsches Gemüt versäumt die Gelegenheit nicht, sich das Herz aufgehen zu lassen, wenn es sich in eins der Thäler zurückversetzt, wie das der Murg, des Gutach, das Simonswalder, oder vor die Wasserfälle von Allerheiligen und von Triberg, oder an die Bergwände mit dem Laubwaldgrün, an die germanisch begeisternden Eichenhaine und an die dunklen Christbaumwälder der Tannen und Föhren, deren Massenfarbe dem Wald seinen Namen gegeben.

Und hält nicht selbst der Geist noch einmal so leicht solche Wanderfahrt durch die fröhlich durchmessenen Herrlichkeiten, weil selten ein schlechter Weg üble Erinnerungen hervorruft und im ganzen badischen Land dem Mann, welcher sich einen Wagen zulegen kann, nirgends eine Chausseegelderhebestelle eine störende Empfindung verursacht? – Wär's auch, daß den Wanderer hie und da ein Glas Bier weniger angemuthet, so hat ihn sicherlich zu Hornberg und Lichtental Gambrinus wieder mit seinem Reich versöhnt; dagegen ist ihm reiner Wein, d. h. Landwein, überall eingeschenkt worden, besonders da, wo die köstlichen Bachforellen ihn daran gemahnten, daß der Fisch schwimmen will. Und wie könnte ein Theil des Waldvolks katholisch sein und nicht für treffliche Mehl- und Eierspeisen und sonstige Fastenerquickung die fromme Uebung bewähren? Es wird hart halten, der Erinnerung etwas vorzuführen, von dem man sich mit Reue über vergeblich todtgeschlagene Zeit abwenden müßte.

Nur eine Bemerkung machte mir um einen großen Theil der eigentlichen Waldbevölkerung Sorge, und ist sie auch schon von befähigteren Männern ausgesprochen, so erachte ich dies nicht für einen Grund, daß ich gerade in der Gartenlaube darüber schweigen soll. Wie oft bemerkt, finden in vielen Thälern und einsamen Walddörfern zahlreiche Familien ihr ausgiebig Stück Brod in der Wanduhrmacherei. Selbst die kleinen Finger der Kinder erhalten dadurch eine nutzbare Beschäftigung, weil die Theilung der Arbeit auch bei der Herstellung der weltberühmten "Schwarzwälder“ von der lieben Notwendigkeit längst eingeführt ist. Solche Industrie kann nur unter dem Schutz des Waldes blühen, wo das Leben billig und das Holz nicht theuer ist. In den Städtchen des Landes mag man sich höher versteigen, wie z. B. von der Kuckucksuhr bis zur Drehorgel hinauf, die in fremde Länder geht, wo sie die Virtuosen der Messen und Jahrmarkte vermehrt, oder wo der Russe nach ihr tanzt und Thee dazu trinkt. Aber die ehrwürdige Pendeluhr, welche des deutschen Bauern Stubenecke ziert, vermag preiswürdig nur der Mann im Walde zu liefern Und eben deswegen ist es mir ein betrübender Anblick gewesen, daß mit beträchtlichem Schweiß so viele ehemalige Waldflächen ihrer sämmtlichen Baumwurzeln beraubt werden, um den Boden zum Kartoffel- und Getreidetragen zu zwingen. Jeder neue Kartoffelacker wird aber in der Zukunft nimmermehr so viel Nahrung und Nothdurft befriedigen, als er durch das Holz, das er für die Handindustrie lieferte, einst sichere Einnahme brachte, und das Mißverhältniß zwischen Menschenzahl und Nahrung wird wachsen, bis die unentbehrlichen Hölzer zu theuer für den gewohnten Erwerb und die Kartoffeln doch nicht billiger sein werden. Das ist's, was mich mit Besorgniß für einen großen und jetzt noch so leidlich zufriedenen Theil des Waldvolks im Schwarzwalde erfüllt und weßhalb auch ihnen der Zuruf gebührt, der doch hie und da jetzt mehr als sonst mit Nachachtung gehört wird "Schonet eure Wälder!“

Und nun lege ich meine Feder nieder, die ich nicht ohne Bescheidenheit geführt zu haben glaube. Ich stellte mir, wie schon Eingangs ansgesprochen, keine andere Aufgabe, als dem Bildchen einige erklärende Worte beizugeben, und diese Erklärungen wieder durch einen leichten Reisefaden mit einander zu verbinden. Wenn ich das verehrliche Publicum behelligen wollte, so hätte ich freilich noch allerlei kleine Auftritte, harmlose Abenteuer, unschuldige Schäkereien mit Schwarzwäldern und Schwarzwälderinnen zu erzählen. Manches könnte sich vielleicht sehr pikant machen, allein es ist doch am Ende bester, hier zu schließen, als dem Leser ein Interesse für kleine persönliche Erlebnisse zuzutrauen, die in unsrer großen Zeit ja ganz und gar verschwinden.




Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens.

Von Dr. J. Schwabe.
(Schluß.)
Der Mond und sein Einfluß auf das faulende Holz und das Wetter. - Anziehungskraft des Mondes. - Das Freitagswetter. - Die Hellsehenden und ihr Traumleben. - Die Magengrube und die verschlossenen Briefe. - Eine Somnambule in Halle. - Die Phantasie und die Naturerscheinungen.


Der Glaube an einen besonderen Einfluß des Mondes auf das Wachsthum der Pflanzen beruht auf ganz mangelhafter Beobachtung und entbehrt jeder Begründung. Da heißt es, Holz, das bei zunehmendem Monde gefällt sei, faule schneller, als bei abnehmendem Monde gefälltes. Aber nie und nirgends hat man davon gehört, daß diese Behauptung auch nur durch ein einziges verständig angestelltes Experiment geprüft worden wäre. Einer schwatzt jene Albernheit dem Andern nach, aber keiner von ihnen hat daran gedacht, zwei gleich gesunde, gleich alte Bäume von gleicher Art, den einen bei zu und den andern bei abnehmendem Monde zu fällen und unter gleichen Verhältnissen aufzubewahren und dann das Verhalten des Holzes zu beobachten. Eben so steht es mit der Behauptung, daß gewisse Pflanzen nur gedeihen, wenn sie bei abnehmendem Monde gepflanzt werden, während es sich bei anderen umgekehrt verhält. Bekanntlich gedeiht nicht Alles, was gepflanzt und gesät wird, und trifft es sich nun hier und da, daß die nicht gedeihenden Gewächse bei zunehmenden Monde gepflanzt wurden, während dies bei abnehmendem Monde hätte geschehen sollen, so wird der Fall als eine neue Bestätigung jener Regel wohl gemerkte die Fälle aber, wo Pflanzen nicht gedeihen, die zur rechten Mondzeit gesät waren, werden den Witterungsverhältnissen zugeschrieben!

Nun aber das Wetter! Auf dieses hat doch der Mond erfahrungsgemäß einen bedeutenden Einfluß? Die Antwort lautet: nein! der Mond hat nicht nur keinen bedeutenden, sondern nicht einmal den mindesten nachweisbaren Einfluß auf unser Wetter, und wenn man sich auf die Erfahrung beruft, so erwidere ich, daß es gerade die Erfahrung ist, welche die Meinung von der Wettermacherei des Mondes widerlegt. Freilich meine ich nicht diejenige Erfahrung, welche der einzelne ungeübte Beobachter macht, der es sich gelegentlich merkt, wenn einmal Regenwetter zur Zeit des Neumondes oder heiteres Wetter bei Vollmond eintritt, sondern diejenige Erfahrung, welche man auf Sternwarten und meteorologischen Stationen macht, wo Tag für Tag mehrmals die allgemeine Beschaffenheit des Wetters, der Barometerstand, die Windrichtung und der Feuchtigkeitsgrad der Luft schriftlich aufgezeichnet werden. Nun ergeben die über vierzig Jahre lang auf der Münchener Sternwarte mit großer Sorgfalt geführten Tabellen, daß an den Tagen des Vollmondes, des Neumondes und der beiden Viertel das Wetter sich nicht häufiger und nicht seltener ändert, als an jedem beliebigen anderen Tage. Nur solche Erfahrungen können Anspruch auf Geltung machen.

Man überschätzt im gewöhnlichen Leben überhaupt den physikalischen Einfluß des Mondes auf unsere Erde gar sehr.

Dieser Einfluß kann nach den uns bekannten Naturgesetzen nur auf dreierlei Wegen stattfinden. durch die Anziehungskraft des Mondes, durch das reflectirte Sonnenlicht, welches er uns zusendet, und durch Zuführung von Wärme. Die Anziehungskraft (Schwerkraft) des Mondes, an sich schon fast siebenmal geringer als die der Erde, verschwindet für die auf der Erde befindlichen Gegenstände zu nichts, da der Mond zweiundfünfzigtausend Meilen entfernt ist und seine Anziehungskraft daher von der Erde unendlich [351] weit überwogen wird, so daß die Wirkung der Schwerkraft des Mondes auf die irdischen Dinge wohl mathematisch berechnet werden, aber ihrer extremen Kleinheit wegen nicht zur Wahrnehmung gelangen kann. Läßt man, wenn der Mond über uns steht, eine Seifenblase oder eine Flaumfeder in der Luft schweben, so bemerkt man nicht die leiseste Wirkung von der Anziehung des Mondes. Wie verhält es sich nun aber mit jener Naturerscheinung, die wir Ebbe und Fluth nennen? Sie hängt bekanntlich von der Anziehung des Mondes und der Sonne ab, wobei die des viel kleineren, doch viel näheren Mondes um ein Drittel stärker wirkt, als die Anziehung der Sonne. Der durch diese vereinte Anziehung entstehende Fluthhügel enthält ungefähr hundert Kubikmeilen Wasser, eine Masse, die in runder Summe die Kleinigkeit von tausend Billionen Centnern wiegt. Aber man würde sehr irren, wenn man sich das Verhältniß so dächte, als würde jene enorme Last vom Monde in der Weise gehoben, wie etwa ein Mann ein Centnergewicht hebt oder wie ein Magnet einen Nagel anzieht. Blickt man auf die spiegelglatte Fläche eines noch so großen Landsees, während der Mond in unserem Zenith steht, so wird man nicht die mindeste fluthartige Erhebung des Wassers bemerken. Die Bedingungen zur Entstehung des Fluthhügels sind durch die außerordentlich große Verschiebbarkeit der Wassertheilchen an einander und durch die ungeheuere Ausdehnung des Wasserbeckens, welches man den stillen Ocean nennt, über mehr als einen Erdquadranten gegeben. Es wirken hierbei Ursachen zusammen, die hier auseinander zu setzen zu weit führen würde. Jede physikalische Erdbeschreibung giebt darüber Aufschluß.

Zur Bestätigung des Einflusses des Mondes auf das Wetter hat man sich darauf berufen, daß er, wie auf den Wasserocean, auch auf den Luftocean, die Atmosphäre, wirken und hier eine Art Fluth und Ebbe hervorbringen müsse. Theoretisch war dies auch schon lange angenommen, aber jahrelanger, subtiler Beobachtungen an den feinsten Barometern bedurfte es, ehe es gelang, außerordentlich kleine Schwankungen als die Wirkung der Anziehungskraft des Mondes nachzuweisen. Was wollen diese Schwankungen sagen gegen das in unseren Breiten oft mehrere Linien auf einmal betragende Schwanken des Barometers, welches in seiner letzten Ursache durch Wärmedifferenzen bewirkt wird und also auf die Sonne zurückbezogen werden muß? Wir finden demnach auch hier keinen Grund, dem Mond Einfluß auf das Wetter zuzuschreiben.

Die andere Art der möglichen Einwirkung des Mondes auf die Erde beruht in dem Licht, mit welchem er die dunkeln Erdennächte erleuchtet. So schätzbar dieses Licht für den nächtlichen Wanderer ist, wie für die städtischen Cassen, deren Straßenbeleuchtungsbudget durch den Mond wesentlich erleichtert wird, so ist doch der physikalische Einfluß, welchen das Licht des Mondes auf die Erde ausübt, ein äußerst geringer. Das Licht, welches uns der Vollmond spendet, beträgt nach zuverlässigen Berechnungen jedenfalls weniger als ein Zweihunderttausendstel von dem, welches wir von der Sonne empfangen. Wenn wir also von dem Einflusse des Lichtes auf das Gedeihen und Wachsen irdischer Organismen sprechen, so darf man ja die Sonne nicht vergessen und muß ihr immer eine wenigstens zweihunderttausend Mal größere Einwirkung zuschreiben, als dem Monde. Hieraus erhellt auch, daß es allen verständigen Haltes entbehrt, wenn man dem Eintritte der Lichtphasen des Mondes eine besondere Wirkung zuschreibt. Diese Phasen treten ja auch nicht auf einmal, sondern ganz allmählich wachsend oder abnehmend ein, und ebenso allmählich wie der volle Mond bis zum Neumond abnimmt, so vermindert sich auch sein Lichteinfluß von jenem kleinen Bruchtheil des Sonnenlichtes bis auf Null.

Noch weit kläglicher aber sieht es mit der Wärme aus, die der Mond der Erde zuführt. Nur durch langwierige Beobachtungen und mit Hülfe äußerst feiner Instrumente brachte es Melloni dahin, Wärmestrahlen des Mondes nachzuweisen. Ihre Wärme ist aber so gering, daß eine brennende Kerze aus einer Entfernung von fünfzehn Fuß uns dreimal mehr Wärme zustrahlt, als der Mond.

Es giebt bekanntlich noch sehr viele andere Arten des Mondaberglaubens. Beschränken wir uns auf die angeführten Beispiele und lassen wir den „guten Mond“ still am Wolkenhimmel hingehen, ohne ihm Dinge aufzubürden, an denen der harmlose Freund unserer Nächte völlig schuldlos ist.

Aber auf das Wetter muß ich doch noch einmal zurückkommen. Es giebt einen weit verbreiteten Glauben, dem zufolge das Wetter sich vorzugsweise gern und häufig Freitags ändern soll. Ja es existirt sogar ein altes Sprüchwort:

„Was wir den Sonnt’g für Wetter han,
Das fängt den Freit’g zu Mitt’g an.“

Es läßt sich nichts, was einem vernünftigen Grunde auch nur entfernt ähnlich sieht, hierfür anführen, und man pflegt daher auch in diesem Falle zu sagen, obgleich man den Grund der Erscheinung nicht kenne, so stehe doch die Thatsache fest. Diese Thatsache steht nicht nur nicht fest, sondern sie wird durch die Erfahrung gradezu widerlegt. Man sieht indeß aus diesem Beispiel auf’s Neue, wie höchst mangelhaft die Beobachtungen gewöhnlich angestellt werden. Wenn einer einmal an zwei oder drei Freitagen nach einander bemerkt hat, daß sich das Wetter änderte, so hält er sich für berechtigt zu sagen, nach seiner Erfahrung habe der Freitag Einfluß auf das Wetter. Nach den bereits erwähnten vierzig Jahre lang geführten meteorologischen Tabellen fielen von zweitausend Wetterveränderungen zweihundertneunundsiebenzig auf den Sonntag, zweihundertfünfundachtzig auf den Montag, zweihundertzweiundneunzig auf den Dienstag, zweihundertneunundsiebenzig auf den Mittwoch, zweihundertneunundachtzig auf den Donnerstag, zweihundertdreiundachtzig auf den Freitag und zweihundertdreiundneunzig auf den Sonnabend. Summa zweitausend. Die Thatsachen oder vielmehr die Zahlen sprechen!

Wollen wir den naturwissenschaftlichen Prüfstein: sorgfältige Beobachtung überall, und ganz besonders da, wo etwas gegen den streng gesetzlichen Gang, den die Natur immer einhält, zu verstoßen scheint – wollen wir diesen Prüfstein noch an einem letzten Beispiel anwenden, so lade ich meine Leser zu einer kurzen Betrachtung dessen ein, was man Hellsehen oder Somnambulismus im weiteren Sinne dieses Wortes nennt.

Es giebt unleugbar Zustände von krankhafter Reizung oder Erhöhung der Nerventhätigkeit. Wir beobachten z. B. nicht selten bei nervösem Zahnschmerz, daß die Geruchsnerven eine ungewöhnliche Schärfe ihrer Function entwickeln. Gewisse auf das Gehirn einwirkende krankhafte Reize, wie Wurmkrankheit, fehlerhafte Blutbildung etc. veranlassen häufig einen entweder abnorm tiefen oder einen sehr unruhigen Schlaf mit mehr als gewöhnlich lebhaften und zusammenhängenden Träumen und lautem Sprechen. Einzelne solcher, namentlich bei sensiblen bleichsüchtigen jungen Mädchen vorkommender Fälle gewähren nun allerdings einen ganz interessanten Beobachtungsgegenstand. Das Verworrene, Zusammenhangslose, was der Traum gewöhnlich hat, macht einem geordneten, zufammenhängenden Traumleben Platz, welches sich für den Beobachter in ebenso zusammenhängenden Schlafreden kund giebt. Im Traum erhält aber nie und nimmer jemand Kunde, weder über sich selbst noch andere Personen und Gegenstände, die er nicht schon auf gewöhnlichem Wege empfangen hätte. Der Traum ist immer nur ein Erinnern, Reproduciren, wobei freilich der Phantasie des Träumenden voller Spielraum zu den buntesten und wunderlichsten Combinationen gegeben ist. Dasselbe gilt auch von jenem erhöhten Traumleben, welches man Hellsehen oder Somnambulismus genannt hat. Für den psychologischen Forscher wird die Beobachtung der Aeußerungen dieses Traumlebens immer von großem Interesse sein. So wie wir aber hören, daß die Schlafende – denn wir haben es hier fast immer mit jungen oder alten Mädchen zu thun – daß also die Schlafende Dinge spricht, von denen ihr erst im Traume die Kunde zu kommen scheint, wenn sie beginnt zu prophezeien, wenn sie sagt, wo Dinge verborgen sind, von denen sie dem Anschein nach keine Kenntniß haben konnte, und ganz besonders, wenn sich dann jene Dinge an dem von der Somnambule angegebenen Platze zum allgemeinen Erstaunen wirklich finden: dann waffnen wir unser geistiges Auge mit der Brille des stärksten Zweifels, und dulden wir nicht, daß das edelste Geschenk, welches wir vom Schöpfer empfangen haben, unser gesundes Urtheilsvermögen, von den Nebeln einer krankhaften Phantasie umdüstert werde! Sollte aber jemand Gelegenheit haben, einer somnambulistischen Vorstellung beizuwohnen, wo ein Magnetiseur am Bett der Schlafenden steht, die niest, sobald der erstere eine Prise nimmt, wo die Somnambule einen auf ihre Magengegend gelegten versiegelten Brief liest, – dann empfehle ich ihm des Herrn von Bockum-Dolffs geflügeltes Wort: „ich verlange, daß man mir meinen Hut bringe.“

Unzählige Mal ist das Kunststück des Lesens verschlossener, [352] auf die Magengegend gelegter Briefe schon producirt worden. Darum ist es sehr zu verwundern, daß jener Preis von zehntausend Franken, welchen vor mehr als vierzig Jahren die Pariser Akademie der Wissenschaften ausgesetzt hat, noch bis heute nicht verdient worden ist. Jene Summe ist nämlich derjenigen Somnambule versprochen worden, die vor einer Kommission der Akademie ein von dieser mitgebrachtes, versiegeltes, auf die Magengrube der Somnambule gelegtes Schriftstück zu lesen vermag. Wie gesagt, der Preis ist noch heute zu verdienen, und wenn ich recht unterrichtet bin, so hat sich in dieser langen Zeit, ungeachtet der erlassenen öffentlichen Bekanntmachungen, noch nicht einmal eine einzige Somnambule dazu gemeldet, jene Prüfung zu bestehen. Ich denke, die Somnambulen werden selbst am besten wissen, daß gewisse Vorbereitungen dazu gehören, um einen verschlossenen Brief mit dem Magen zu lesen; vor allem Andern, daß man vorher wissen muß, was darin steht. Wie vortrefflich gleichwohl diese mysteriöse Lectüre bisweilen ausgeführt wird, davon finden wir eine hübsche Probe in Schleiden’s Studien. Es sei mir gestattet, sie hier mitzutheilen.

Es waren, so erzählte dem Verfasser der Studien der bekannte Arzt Himly, es waren alle meine sorgfältigsten Bemühungen, mich von der Wahrheit der magnetischen Erscheinungen zu überzeugen, vergebens gewesen; immer hatte meine Gegenwart den Eintritt der Ekstasen verhindert, oder ich war auf so grobe Täuschungen gestoßen, die keiner weiteren Beobachtung würdig waren. Da beschloß ich endlich, eine Reise nach Halle zu unternehmen, wo unter der Aufsicht eines der berühmtesten Professoren und Gelehrten eine, wie behanptet wurde, ganz unzweifelhaft hellsehende Somnambule die wissenschaftliche Welt in Erstaunen setzte. ich wurde von jenem Manne freundlich aufgenommen, wohnte allen Erscheinungen bei, und selbst bei der allerkritischesten Prüfung war es mir unmöglich, auch nur eine Spur eines gespielten Betruges zu entdecken. Eines Morgens, als die Somnambule im Schlaf lag und soeben vorhergesagt hatte, daß sie sich diesmal, wie auch sonst zuweilen geschehen, recht wohl aller Begebenheiten, die während ihres Schlafes vorgefallen, erinnern werde, wurde ein Billet von einer Freundin gebracht. Ich nahm es dem Ueberbringer ab, und im Einverständniß mit dem Arzte erbrach und las ich es (in Gegenwart der Schlafenden) laut vor. Es enthielt die Bitte um eine Stickerei. Der Brief wurde der Somnambule auf die Magengrube gelegt und von ihr ohne Schwierigkeit wörtlich abgelesen. Wir warteten mit Interesse das Ende des Schlafes ab, welches nach einer Stunde erfolgte. Nach einigen Reden über ihr Befinden fragte die Dame, ob nicht ein Billet an sie gekommen sei. Wir erstaunten und wünschten den Inhalt desselben von ihr zu erfahren, den sie auch sogleich ganz wörtlich mittheilte. Da entfaltete ich das in meiner Hand gebliebene Papier; es enthielt nichts, als das von mir selbst geschriebene Wort: Attrapée! (ertappt!) ich reiste natürlich sogleich völlig aufgeklärt ab. Die Somnambule fuhr aber nichtsdestoweniger fort, noch lange unter der Leitung jenes berühmten Mannes ihre Rolle zu spielen, den ich seitdem nicht für einen Betrüger, aber für einen sehr einfältigen Betrogenen halte. So weit Himly, und gleichen Erfolg haben, setzt Schleiden hinzu, ohne eine einzige Ausnahme, alle mit gleichem Scharfsinn angestellte Proben gehabt.

Obgleich man von Denen, die sich für eine Somnambule interessiren, gewöhnlich behaupten hört, es liege für die Kranke gar kein denkbarer Grund vor, jenen Zustand zu simuliren, so trage ich doch nicht das geringste Bedenken, alle Fälle der höheren Schlafkunst in zwei Kategorien zu bringen; in der einen herrscht das Motiv der Gewinnsucht, und man muß leider gestehen, daß der gewerbmäßige Somnambulismus meist ein sehr lucratives Geschäft ist; zu der zweiten Kategorie zähle ich die Fälle, wo der Wunsch, sich interessant zu machen, das Motiv zum Hellsehen bildet. Und man wird mir gewiß zugeben, daß es für ein bleichsüchtiges Mädchen, dem das Loos bisher zugetheilt war, ziemlich unbeachtet zu bleiben, etwas ungemein Reizendes hat, plötzlich der Gegenstand andachtsvoller Aufmerksamkeit und Bewunderung zu werden. Hat doch dasselbe Motiv ein junges Mädchen im Krankenhause zu Kopenhagen vermocht, sich jahrelang fast täglich Glasscherben, Nadeln, abgebrochene Messerklingen etc. mit den größten Schmerzen unter die Haut zu bohren, wo sie dann Entzündungen und Geschwüre erzeugten. Sie dachte, man würde nicht begreifen können, wie jene Gegenstände unter die Haut kämen, und hoffte sich dadurch den Aerzten und dem Publicum interessant zu machen, wie sie selbst gestand, als man sie endlich bei ihren Manövern ertappte.

Noch Vieles wäre über diesen Gegenstand zu sagen, auch über Anderes noch, was in dieses Thema einschlägt, wie Psychographie, Sympathie, moderne Gespenster etc. Allein es ist Zeit, mich der Regel zu erinnern, daß, wenn an einem Aufsatz nichts zu loben ist, es doch immer bereitwillige Anerkennung findet, wenn er zur rechten Zeit schließt.

Ich wünsche nicht den Eindruck gemacht zu haben, als sei ich ein Feind der Phantasie. Nur da möchte ich die Phantasie mit Erfolg bekämpfen, wo sie nun einmal nicht hingehört; wo es gilt, Naturerscheinungen zu beobachten und zu erklären, leitet sie unser Urtheil irre und ist daher von diesem Gebiete streng fern zu halten. Die Phantasie ist etwas Schönes, aber die Wahrheit ist so schön, daß, wenn beide sich im olympischen Saal begegnen, Goethe’s Lieblingsgöttin vor der Wahrheit sich demüthig neigt und den schönsten ihrer Blumenkränze ihr auf das strahlende Haupt drückt. Und ständen der Phantasie auch nicht die unergründlichen Tiefen des Menschenherzens zu Gebote, stände ihr nicht das Reich der Farben und der Töne offen, sie würde immer noch genug Stoff in der ästhetischen Naturbetrachtung finden; denn nicht davon, nur von der Beobachtung und Forschung möchte ich sie ausgeschlossen wissen. – Die Welt als Ganzes wie im Einzelnen betrachtet, der gewaltige Lichtball, unsere Sonne, wie das Vergißmeinnicht am Bache, die unzähligen Weltkörper, welche uns vom nächtigen Himmel herab ihre Strahlengrüße aus unermeßlicher Ferne zusenden, wie die unscheinbare Muschel am einsamen Meeresstrand – das Alles sind so große Wunder, daß es wahrlich der Phantasie bei der Naturbetrachtung nie an Nahrung fehlen kann; sie wird immer dem bunten Schmetterling gleichen, der über tausend duftigen Blüthen einhergaukelt und vor Uebermuth und in der Luft vor all’ dem lockenden Ueberfluß nicht weiß, auf welche Blüthe er sich zuerst niederlassen soll.




Bock’s Briefkasten.

Warum heiße Sandbäder in vielen Fällen den warmen Wasserbädern vorzuziehen sind? Da, wo man durch anhaltend angewendete große Wärme krankhaftes im menschlichen (und thierischen) Körper erweicht, aufgelöst und aufgesogen zu sehen wünscht, ganz besonders bei chronischen Gelenkleiden und sogenannten Rheumatismen, da sind heiße Sandbäder deshalb von größerer Wirksamkeit als warme Wasserbäder, weil erstere bei einem weit höheren Temperaturgrade viel längere Zeit angewendet werden können, als letztere. Während ein warmes Wasserbad von einigen dreißig Grad Wärme kaum zu ertragen ist und man nur kurze Zeit darin zubringen kann, läßt sich in einem heißen Sandbade von vierzig bis fünfzig Grad Wärme stundenlang (zumal in einem örtlichen Bade) verweilen. Wenn Manche den Salzen, die sich in den warmen Wasserbädern aufgelöst vorfinden, eine besondere heilsame Wirkung zutrauen, so mögen sie sich sagen lassen, daß unsere Körperoberfläche mit einem ziemlich undurchdringlichen Hornpanzer (mit hornartiger Oberhaut, Epidermis) überzogen ist und daß das im Badewasser Aufgelöste während der Zeit des Badens nicht in das Innere des Körpers eindringen und drinnen curiren kann. Die warmen Wasser- und Moorbäder, welche zur Cur empfohlen werden, nützen nur durch ihre Wärme und stehen jedenfalls den heißen Sandbädern nach. Daß diese von den Heilkünstlern zur Zeit noch nicht so empfohlen werden, wie sie es verdienen, hat seinen Grund darin, daß solcher Bäder nur noch wenige und erst seit kurzer Zeit existiren, daß ihre Einrichtung ziemlich schwierig ist und daß noch wenig über deren ausgezeichnete Wirksamkeit bekannt gemacht wurde. Verfasser, der seit einigen Jahren die großartige Wirkung dieser Bäder in Köstritz zu beobachten Gelegenheit hatte, ist fest überzeugt, daß das heiße Sandbad eine große Zukunft hat, und er möchte den Badedirectionen anrathen, sich baldigst zur Anlegung heißer Sandbäder zu entschließen. Es könnte ja dann auch nach jedem Sandbade noch ein Mineralbad genommen werden, um diesem seinen alten guten Ruf nicht zu verderben. – Die dem Verfasser zur Zeit bekannten Orte, wo künstliche Sandbäder existiren (natürliche werden von der Sonne an sandigen Plätzen und Flußufern hergestellt), sind: Köstritz, an der Eisenbahn zwischen Zeitz und Gera, mit lieblicher waldiger Umgebung, reizenden Parkanlagen und berühmten Blumengärten; – Dresden, beim Herrn Dr. Flemming; – Leipzig, in der pneumatischen Heilanstalt; – Berka bei Weimar; – Travemünde, mit Bädern aus erwärmtem Seesande. Sollten noch irgendwo solche Bäder bestehen, so bittet Verfasser um Benachrichtigung. Bock.     




Inhalt: Maimorgengang. Gedicht. Von Victor Scheffel. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der Bürger zweier Welten. Von Ludwig Bamberger. Mit Portrait. – Noch ein parlamentarischer Abend bei Bismarck. – Bilder aus dem Schwarzwalde. V. Von St. Georgen bis zum Wald hinaus. Mit Abbildungen. – Aus der Rumpelkammer des modernen Aberglaubens. Von Dr. J. Schwabe. (Schluß.) – Bock’s Briefkasten.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Präsidentenwwahl