Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1872)/Heft 13

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1872
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[201]

No. 13.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Am Altar.


Von E. Werner, Verfasser von „Ein Held der Feder“.


(Fortsetzung.)


Es war gegen Abend, als Günther in das erleuchtete Wohnzimmer trat, wo Fräulein Reich ihn allein am Theetisch erwartete.

„Wo ist Lucie?“ fragte er mit einem raschen Umblick durch das Gemach, in dem das junge Mädchen nicht zu entdecken war.

Franziska zuckte die Achseln und deutete auf das Nebenzimmer, dessen Thür geschlossen war.

„Lassen Sie sie allein, es ist am besten so! Sie erträgt den Zwang nicht, den unsere Nähe ihr auferlegt.“

Günther legte Hut und Handschuhe bei Seite und trat näher zum Tische, seine Stirn war umwölkt.

„Ich habe dem Kinde diese Tiefe der Empfindung nicht zugetraut, am allerwenigsten einem Manne wie dem Grafen gegenüber. Sie muß mit förmlicher Leidenschaft an ihm gehangen haben, daß ihr sein Tod mit solcher Verzweiflung an’s Herz greift.“

Franziska schüttelte den Kopf; sie wagte es jetzt freilich nicht mehr, ihre frühere Behauptung aufrecht zu erhalten, und doch stand die alte Ueberzeugung in ihr fester als je.

„Wenn es nur auch wirklich dieser Tod ist,“ sagte sie kurz, „und nicht am Ende nur die Umstände, die ihn begleiteten!“

Bernhard, der im Begriff war, sich niederzulassen, hielt plötzlich inne und blickte sie überrascht an.

„Wie meinen Sie?“

„Ich meine“ – die Gefragte warf einen Blick auf die Thür des Nebenzimmers und senkte dann die Stimme – „ich meine, daß mir aus Luciens ganzem Wesen weit weniger Schmerz als Angst zu sprechen scheint, geheime, mühsam verhaltene Angst. Ich fürchte, sie weiß mehr von der unglückseligen Geschichte als wir allesammt, die Herren vom Gericht mit eingeschlossen.“

„Unmöglich!“ erklärte Günther entschieden. „Sie war ja mit uns in N., als die That geschah. Freilich auch mir ist in ihrem Benehmen Manches dunkel! Ich habe sie bisher geschont, und die Schonung war auch nothwendig; jetzt aber wird doch nichts Anderes übrig bleiben, als daß ich einmal ernstlich mit ihr spreche und sie auf irgend eine Weise zum Antworten zwinge.“

Franziska machte eine halb verächtliche Bewegung. „Das versuchen Sie einmal! Auch nicht eine Silbe werden Sie ihr abzwingen! Was dem Kinde plötzlich diesen furchtbaren Ernst, diese leichenhafte Starrheit gegeben, mag der Himmel wissen! Etwas Gutes ist es sicher nicht gewesen; aber ich sage Ihnen, sie versteht mit einer Energie zu schweigen, die nichts erschüttert, und wenn das noch länger so fortdauert, dann geht sie uns dabei zu Grunde. Ihre ganze Natur ist wie aus den Fugen gerückt.“

Bernhard gab keine Antwort, aber seine Stirn umwölkte sich noch mehr, während er nachdenkend den Kopf in die Hand stützte. Das plötzlich eingetretene Stillschweigen ward durch den Diener unterbrochen, der den Herrn Landrichter aus E. meldete.

Günther erhob sich rasch. „Sehr angenehm! Fräulein Reich,“ wandte er sich an diese, „bitte, gehen Sie zu Lucie und sagen Sie ihr, daß ich sie für den heutigen Abend dispensire. Ich will sie nicht der Marter einer Unterhaltung aussetzen, deren Hauptgegenstand jedenfalls wieder das unglückliche Ereigniß ist, das nun einmal die ganze Umgegend beschäftigt. Schicken Sie sie zu Bett, morgen werde ich mit ihr reden. Sie kommen aber doch jedenfalls zu uns zurück?“

Franziska nickte zustimmend und verschwand im Nebenzimmer, dessen Thür diesmal nur angelehnt blieb, während Günther dem Besuche, wie er meinte, entgegenging. Er war mit dem Landrichter bekannt und dieser bereits öfter als Gast in Dobra gewesen; er empfing ihn also auch heute in dieser Eigenschaft und lud ihn nach der üblichen Begrüßung ein, Platz zu nehmen. Der Beamte aber blieb diesmal stehen und sagte steif ablehnend.

„Ich danke! Ich komme in amtlicher Eigenschaft.“

„In der That?“ fragte Günther ruhig und völlig unbefangen, denn bei der Menge von Leuten, die er auf seinen Gütern commandirte, konnte allerdings leicht etwas vorkommen, das ein amtliches Einschreiten nothwendig machte. „Aber wir brauchen das doch hoffentlich nicht stehend abzumachen. Darf ich bitten?“

Der Landrichter wies auf’s Neue den dargebotenen Stuhl zurück. „Herr Günther, ich komme in einer sehr ernsten Angelegenheit. Meine Pflicht zwingt mich diesmal zu einem peinlichen Amte. Ich habe den Auftrag, Sie zu verhaften.“

Günther trat zurück und sah den Beamten an, als habe er nicht recht gehört. „Mich verhaften? Mich? Sie sind im Irrthum, Herr Landrichter!“

„Ich bedaure,“ sagte dieser gemessen, „aber hier kann von keinem Irrthum die Rede sein. Der Befehl lautet ausdrücklich auf Ihre Person; ich muß Sie bitten, sich der Nothwendigkeit zu fügen und mir zu folgen.“

[202] Bernhard war an den Tisch zurückgetreten; noch behauptete seine ruhige Natur ihr Recht einem Schlage gegenüber, der vielleicht jeden Andern außer Fassung gebracht hätte; nur etwas bleicher war er geworden.

„Und wessen beschuldigt man mich?“ fragte er langsam.

„Das werden Sie in E. erfahren.“

„Mein Herr!“ In Günther’s Stimme gab sich jetzt doch die verhaltene Aufregung kund. „Ich werde doch wohl das Recht haben zu fragen, weshalb man mich plötzlich aus meinem Hause reißen und in’s Gefängniß schleppen will! Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß ich auch nicht die leiseste Ahnung davon habe.“

Der Beamte zögerte. Vielleicht siegte die Rücksicht gegen den Mann, der ihm bekannt, ja fast befreundet war, vielleicht glaubte er auch durch Ueberraschung zu wirken und ein Geständniß zu erpressen, genug, er setzte die Amtsformalitäten, die hier ohnedies nicht so streng gehandhabt wurden, auf einen Augenblick aus den Augen und entgegnete ernst:

„Der gegen Sie schwebende Verdacht hängt mit der Ermordung des Grafen Rhaneck zusammen.“

Bernhard richtete sich heftig auf. „Hält man mich etwa für den Mörder des Grafen?“

Der Landrichter schwieg und sah ihn fest an. „Die Untersuchung wird das Nähere ergeben,“ sagte er endlich ausweichend. „Für jetzt ersuche ich Sie, mir unverzüglich zu folgen; mein Wagen wartet draußen; die Abfahrt wird in aller Stille und vorläufig noch ohne jedes Aufsehen geschehen.“

„Nein, das wird sie nicht!“ tönte plötzlich eine fremde Stimme dazwischen. Die Thür des Nebenzimmers war aufgeflogen, und auf der Schwelle stand, außer sich, hochroth im ganzen Gesichte, Fräulein Reich; hinter ihr erschien das bleiche Antlitz Luciens.

Franziska begnügte sich keineswegs mit diesem Proteste aus der Entfernung. Rasch schritt sie durch das Zimmer und stellte sich dicht an Günther’s Seite, als sei dies der Platz, der ihr von Rechtswegen gehöre und den sie sich von Niemandem auf der Welt streitig machen lasse.

„Nein, das wird sie nicht!“ wiederholte sie zornbebend. „Glauben Sie etwa, wir lassen uns hier in Dobra so ohne weiteres überfallen und wegschleppen, blos weil es Ihren Gerichten einfällt, einen geradezu lächerlichen Verdacht auf uns zu werfen? Herr Günther, Gott im Himmel! so stehen Sie doch nicht da mit dieser entsetzlichen Gelassenheit, als ob man Sie zu einer Spazierfahrt aufforderte! Gebrauchen Sie doch Ihr Hausrecht und zeigen Sie, wer hier Herr auf diesem Grund und Boden ist!“

„Mein Fräulein,“ sagte der Landrichter sehr höflich, aber sehr bestimmt, „ich begreife, daß Sie in der Aufregung und dem Schreck des Augenblickes Ihre Worte nicht allzu genau wägen. Das Gesetz muß seinen Lauf haben, und ich habe für alle Fälle zwei meiner Leute draußen, ich hoffe nicht in den Fall zu kommen, sie herbeirufen zu müssen.“

Franziska zuckte zornig die Achseln. „Es ist ihr Glück, wenn sie nicht in den Fall kommen, versichere ich Ihnen. Herr Günther wirft sie alle beide zum Fenster hinaus, wenn es ihm sonst beliebt, und Sie, Herr Landrichter,“ sie blickte sehr verächtlich auf den kleinen schwächlichen Beamten, „Sie nehme ich nöthigenfalls auf mich!“

Der also Bedrohte wich zurück und warf einen Blick auf die Thür. Er kannte das sehr entschiedene Wesen der Dame schon von früheren Begegnungen her, und zweifelte nicht, daß sie im Stande sei, ihre Drohung im Nothfall auch auszuführen. Er hatte bei anderen Verhaftungen schon genug Scenen des Schreckens und Entsetzens von Seiten der Angehörigen erlebt, aber solch eine rücksichtslose Empörung gegen die gesetzliche Gewalt war ihm denn doch nicht vorgekommen. Zum Glück kam ihm Günther zu Hülfe.

„Ruhig, ich bitte Sie!“ sagte er gelassen, aber fast befehlend, indem er die Hand auf den Arm seiner energischen Vertheidigerin legte. „Ich wiederhole Ihnen, es ist ein Irrthum, der sich aufklären muß. Der Thäter muß über kurz oder lang gefunden werden, ich nehme Ihren ganzen Amtseifer dafür in Anspruch, mein Herr, denn geschieht es nicht, so würde mit dem Verdachte auch ein Flecken auf meiner Ehre haften bleiben, der nie auszulöschen wäre, selbst wenn man sich gezwungen sieht, mich freizusprechen.“

Es lag doch eine tiefe Blässe auf dem Gesicht des Mannes bei diesen Worten, sie verrieth, wie furchtbar er trotz alledem erregt war. Dem Beamten imponirte diese Haltung doch.

„Von unserer Seite wird selbstverständlich Alles geschehen, was im Bereiche der Möglichkeit liegt,“ entgegnete er, „und nun –“

„Sie werden mir doch erlauben, von meiner Schwester und meiner Hausgenossin Abschied zu nehmen?“ unterbrach ihn Bernhard.

Der Landrichter verneigte sich zustimmend und zog sich bis an die Thür zurück, aber ohne seinen Gefangenen aus den Augen zu lassen; dieser wandte sich um.

„Komm zu mir, Lucie!“

Lucie stand noch immer auf der Schwelle des Nebenzimmers. Es war in der That eine furchtbare Veränderung mit ihr vorgegangen und es schien nicht blos die letzte Viertelstunde zu sein, die diese Veränderung hervorgebracht. Das liebliche, einst so rosige Antlitz war bleich wie der Tod, die Lippen krampfhaft geschlossen, als müßten sie gewaltsam eine innere Qual verbergen, die sonst so weichen Züge schmerzvoll gespannt, und in den blauen Augen stand nichts mehr von Kinderglück und Kinderfrohsinn zu lesen. Franziska hatte Recht, es lag eine leichenhafte Starrheit in diesem Blick und dem ganzen Wesen des jungen Mädchens.

Erst der Ruf des Bruders schien sie wieder zu sich zu bringen, sie flog auf ihn zu und legte den Kopf an seine Schulter, aber die Thränen, die sonst immer so leicht und reichlich flossen, kamen diesmal nicht, das Auge blieb trocken, wie es die ganze Zeit über gewesen.

Bernhard beugte sich beruhigend zu ihr nieder. „Aengstige Dich nicht, Lucie! Ich hoffe bald zu Euch zurückzukehren, bis dahin bleibst Du in der Obhut von Fräulein Reich, ich kann Dich keinen besseren Händen anvertrauen. Lebe wohl.“

Lucie hob das Auge zu ihm empor, aber es war ein Blick so grenzenloser Angst, so hoffnungsloser Verzweiflung, daß seine Stirn sich plötzlich umdüsterte.

„Kind!“ fragte er vorwurfsvoll. „Hältst Du Deinen Bruder für einen Mörder?“

Das junge Mädchen zuckte zusammen bei diesem Worte, in der nächsten Secunde aber schlang sie leidenschaftlich beide Arme um seinen Hals.

„Nein, mein Bernhard! Dich nicht!“

Es war ein herzzereißender Ausdruck in diesem Tone, der Bruder verstand ihn nicht, er sah darin nur die Angst um ihn selber; aber Franziska ahnte mit dem Instinct der Frau, der geängstigten Frau, die jetzt für ein fremdes Leben zitterte, die wahre Bedeutung. Sie wollte auffahren, wollte eine heftige Frage an Lucie richten, zwang sich aber mit einem Blick auf den Beamten zum Schweigen.

Günther ließ mit anscheinender Ruhe seine Schwester aus den Armen und wandte sich zu ihr, aber jetzt senkte er die Stimme so, daß nur sie allein ihn verstehen konnte.

„Ich muß nun auch Ihnen Lebewohl sagen, hoffentlich nicht auf lange. Es war sehr thöricht und nutzlos, daß Sie es wagten, sich dem Beamten zu widersetzen, sehr! Aber es geschah um meinetwillen – ich danke Ihnen, Franziska!“

Es war das erste Mal, daß er den Namen wieder aussprach seit jener Unterredung zwischen ihnen, unwillkürlich senkte Franziska das Auge. Das energische trotzige Fräulein, das eben noch bereit war, es mit allen Gerichten der Welt aufzunehmen, zitterte leise, als seine Hand die ihrige faßte, noch ein fester verständnißvoller Druck, dann ließ er sie wieder sinken.

„Und jetzt keine Abschiedsscenen weiter! Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Herr Landrichter!“ –

Die beiden Frauen blieben allein zurück. Franziska eilte an’s Fenster und sah Günther mit seinen Begleitern einsteigen, Lucie verharrte unbeweglich auf ihrem Platze, sie regte sich nicht. Erst als der Wagen den Hof verlassen hatte und sein Rollen ferner und ferner verhallte, wandte sich die Erstere wieder um, ein paar große Thränen standen in ihren Augen, aber es war jetzt keine Zeit zum Weinen. Sie näherte sich rasch dem jungen Mädchen, zog sie an sich und blickte ihr fest in’s Gesicht.

„Und nun stehen Sie mir einmal Rede, Lucie! Vorhin in Gegenwart des Richters konnte ich Sie nicht fragen, es hätte den albernen Verdacht vielleicht bestärken können, jetzt aber sind [203] wir allein und jetzt frage ich Sie, was meinten Sie mit Ihrem angstvollen ‚Dich nicht, Bernhard‘? Daß Sie ihn nicht für den Mörder halten konnten, weiß ich, Sie aber wissen mehr, Sie meinten irgend einen Anderen, ich hörte es an Ihrem Tone!“

Mit einer heftigen Bewegung machte sich Lucie frei, aber sie schwieg, die Lippen preßten sich nur fester zusammen und das Antlitz nahm wieder jenen Ausdruck an, dem man es ansah, daß sich ihm weder mit Güte noch mit Gewalt etwas abzwingen ließ. Franziska wartete vergebens auf einen Laut aus ihrem Munde.

„Kind, jetzt fange ich wirklich an, mich vor Ihnen zu fürchten!“ sagte sie ernst, „denn menschlich und natürlich ist dies Wesen nicht. Sie hören, daß man Ihren Bruder der That beschuldigt und ihn deswegen verhaftet, Sie wissen, daß seine Ehre, sein Leben auf dem Spiele steht, und schweigen, während ein Wort von Ihnen vielleicht Licht in die Sache bringen und ihn frei machen kann! Lucie, um Gotteswillen, was können Sie denn noch zu schonen oder zu verschweigen haben nach dieser letzten Viertelstunde?“

Es erfolgte auch jetzt keine Antwort, aber die letzte Mahnung schien doch tiefer gegangen zu sein. „Bernhard’s Leben?“ fragte Lucie leise mit halb erstickter Stimme, „Sie glauben, daß sein Leben in Gefahr ist?“

„Ich meine, daß die Gerichte gegen einen Mann von seiner Stellung nicht so vorgehen würden, wenn sie nicht dringende Verdachtsgründe hätten,“ Franziska war jetzt plötzlich ganz auf Seiten des vorhin so geschmähten Gerichtes, „und wenn sie verhaften, können sie auch verurtheilen. Bei einer Anklage auf Mord handelt es sich immer um Leben und Tod.“

Das junge Mädchen bebte wieder zusammen, wie vorhin bei dem Worte des Bruders. „Bernhard wird nicht verurtheilt werden!“ sagte sie tonlos, aber fest.

Franziska fuhr vom Stuhle auf. „Nicht? Und das wissen Sie mit solcher Bestimmtheit? Also können Sie ihn retten, Lucie, in’s Himmels Namen, sagen Sie mir nur das eine Wort, können Sie es?“

„Ich –“ hoffe es, wollte sie antworten, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, hoffen konnte sie diese Rettung nicht. „Ich – will es versuchen!“

„Gott sei Dank!“ rief Franziska aufathmend. „Endlich ist das Eis gebrochen! Und nun vertrauen Sie sich mir an, Kind, was haben Sie vor?“

„Morgen! Heute kann ich nicht.“

„Aber –“

„Ich kann nicht!“ wiederholte Lucie entschieden und machte der Unterredung dadurch ein Ende, daß sie nach ihrem Zimmer schritt.

Franziska folgte ihr zwar, aber sie mußte bald genug einsehen, daß heute wirklich nichts mehr von dem jungen Mädchen zu erreichen war, sie gab endlich die nutzlosen Versuche auf.

Von Schlaf war bei den beiden Frauen in dieser Nacht nicht viel die Rede. Lucie hatte sich angekleidet niedergelegt, aber ihre Gefährtin sah nur zu gut, daß sie das Auge auch nicht einen Moment lang schloß. Franziska selbst ließ sich erst gegen Morgen von einem leichten Schlummer überraschen, zu ihrem Schaden, denn als sie erwachte, war ihre junge Pflegebefohlene von ihrer Seite verschwunden und im ganzen Zimmer nicht zu entdecken.

Erschreckt sprang die Erzieherin auf und eilte hinaus, aber dort traf sie bereits das ganze Haus in Aufruhr: die Nachricht von Günther’s Verhaftung, die gestern Abend noch verborgen geblieben, war heute in aller Frühe bereits durch den Briefboten aus E. nach Dobra gebracht worden und hatte dort leicht begreifliches Entsetzen erregt; Franziska hatte Mühe, sich in dem allgemeinen Durcheinander Luft zu einer Frage nach Lucie zu schaffen.

„Fräulein Lucie ist schon vor einer Stunde abgereist!“ erklärte das Mädchen, welches sie Beide bediente, „sie läßt aber das Fräulein bitten, sich nicht zu ängstigen, sie würde vor Abend wieder zurück sein.“

Franziska stand da wie vom Donner gerührt. „Abgereist! Wohin?“

Das Mädchen zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht! Wahrscheinlich weiß es nur der alte Joseph, der das Fräulein führt; sie hat Niemandem ein Wort davon gesagt.“

„Nun, das ist ja eine schöne Geschichte! Herr Günther vertraut sie ausdrücklich meinen Händen an, und jetzt geht sie mir heimlich auf und davon! Wo kann sie hin sein? Natürlich nur nach E. zum Bruder, um ihm mitzutheilen, was sie mir verschwieg. Und man wird sie nicht einmal zu ihm lassen! Konnte das thörichte Kind mich nicht mitnehmen? ich hätte mir den Weg in’s Gefängniß gebahnt, und wenn zwölf Landrichter und vierundzwanzig Gerichtsdiener davor Posto gefaßt hätten, um mir den Eingang zu wehren!“

Franziska wurde in ihrem zum Glück nicht laut geführten Selbstgespräch unterbrochen, denn von allen Seiten stürmten jetzt Fragen, Erkundigungen, Bitten auf sie ein. Die Beamten kamen mit schreckensbleichen Gesichtern, die Dienerschaft lief verstört und rathlos durcheinander, der ganze Haushalt schien aus den Fugen gegangen, da galt es energisch einzugreifen und den sämmtlichen Untergebenen zu zeigen, daß wenigstens noch eine leitende Hand da war, die Ordnung in das so plötzlich entstandene Chaos zu bringen wußte.

„Das Fräulein steht ihren Mann!“ sagte der unter Günther’s Leitung sehr tüchtige, aber nichts weniger als selbstständige Oberinspector, als er nach Verlauf einer Stunde von ihr zurück kam. „Die versteht sich auf’s Commandiren fast so gut, wie der Herr selber. Gott sei Dank, daß wir wenigstens noch Einen haben, der den Kopf nicht verliert. Wenn sie nicht wäre, ich glaube, es ginge jetzt in Dobra Alles drunter und drüber!“




Im Hochgebirge hatten die Stürme während der letzten Tage wieder mit verheerender Gewalt gewüthet. Ausgetretene Bergwasser, entwurzelte Bäume, niederstürzendes Felsgeröll hatten die Wege unpassirbar gemacht und die höher gelegenen Bergorte, wie N., gänzlich von der Ebene abgeschnitten. Die Verbindung damit war fast ganz abgebrochen, denn die Gebirgsbewohner, die allenfalls noch zu Fuße hinauf- oder heruntergelangen konnten, scheuten sich, ohne Noth den gefährlichen und mühseligen Weg zu machen.

Um so mehr wunderte sich der rüstig voransteigende Bauer, daß die junge Dame, welche ihm folgte, dies Wagniß unternehmen wollte. Sie war mit ihrem Wagen nur ungefähr bis zur Hälfte des Weges gekommen, da erwies sich die Weiterfahrt als unmöglich, aber vergebens bat sie der alte Kutscher mit Thränen in den Augen, zurückzubleiben, vergebens warnten die Dorfleute, sie hatte erklärt vorwärts zu müssen, nach N. hinauf zum Pfarrer Clemens, wie sie sagte, hatte einen der Männer durch das Anerbieten eines reichlichen Lohnes bewogen, ihren Führer zu machen, und setzte nun wirklich die Reise mit ihm zu Fuße fort.

Es war ein arger Weg, er zeigte überall noch die Verheerungen des Sturmes, der sich glücklicherweise während der Nacht gelegt hatte. Der Führer blickte sich oft genug besorgt um nach seiner schweigsamen Begleiterin, ob sie auch überhaupt zu folgen vermöge, woran er ernstlich zweifelte; freilich sie war jung und leichtfüßig, aber doch gar zu zart für solchen Gang und für solches Wetter, zudem waren ihre Schuhe so entsetzlich dünn und fein, jeder Tritt mußte sie ja schmerzen hier auf den scharfen Steinen, und der Regenmantel, der über die leichte Kleidung geworfen war, schützte sie auch nicht viel vor dem noch immer scharfen Bergwinde. Sie schien aber Beides nicht zu empfinden, sondern folgte unverdrossen, ohne Ausruhen und ohne Klage, als kenne sie weder Ermüdung noch Furcht.

Ungefähr eine Stunde lang waren sie so vorwärts gegangen und erreichten jetzt eine freiere Höhe. Zur Seite des Weges stand ein roh geschnitztes Heiligenbild, das auch dem Sturme zum Opfer gefallen war, das hölzerne Schutzdach war zertrümmert, das Bild selbst lag zerschmettert am Boden, nur der Pfahl, der es getragen, stand noch zur Hälfte aufrecht, von dem moosigen Felsstück gehalten, an das er sich lehnte. Unten am Abhange, nur einige hundert Schritte entfernt, lag ein einsames, armseliges Gehöft, das halb verdeckt durch die Tannen gänzlich öde und ausgestorben schien.

Auf der Höhe angelangt blieb das junge Mädchen plötzlich stehen und berührte den Arm ihres Begleiters.

„Wir müssen ausruhen! – Ich kann nicht weiter!“

Der Bauer sah sich um und erschrak, denn er gewahrte jetzt erst die tiefe tödtliche Erschöpfung in ihren Zügen und in [204] ihrer ganzen Haltung, die Brust hob und senkte sich schwer von der ungewohnten Anstrengung, das Gesicht unter den braunen Locken war erschreckend bleich – sie hatte augenscheinlich ihre Kräfte auf’s Aeußerste angespannt, bis sie ihr versagten.

Der gutmüthige Führer geleitete sie rasch zu dem moosbedeckten Felsstück und ließ sie niedersitzen, aber er schüttelte bedenklich den Kopf.

„Das wird nimmermehr gut, Fräulein, Sie kommen nicht weiter! Wir wollen lieber umkehren, Sie halten’s nicht aus!“

Sie machte eine heftig verneinende Bewegung. „Nein, nein, es geht vorüber! Ich bin nur müde, lasten Sie mich einige Minuten ausruhen! Haben wir noch weit bis N.?“

„Zwei volle Stunden bis zur Wallfahrtskirche, und dann noch ein gutes Stück bis zum Dorfe hinauf, denn die ‚wilde Klamm‘ ist jetzt nicht zu passiren. Das Schlimmste vom ganzen Wege haben wir noch vor uns!“

Das junge Mädchen schauerte leise zusammen, ob vor dem Wege oder vor dem Orte, den er nannte, sie gab keine Antwort. Der Bauer begriff trotzdem, daß von Umkehr nicht die Rede sei, er blieb also an ihrer Seite stehen und wartete geduldig auf den Wiederaufbruch.

„Hab’ ich doch gemeint, wir Zwei seien die Einzigen unterwegs!“ begann er plötzlich wieder, „und da kommt Hochwürden der Herr Caplan grade vom Ecken-Hof herunter! Der scheut auch nicht Weg, nicht Wetter, er ist wahrhaftig heute von N. gekommen, weil im Ecken-Hof ein Krankes liegt!“

Es war in der That der junge Caplan des Pfarrer Clemens, der aus dem Gehöfte hervorkam und gleichfalls die Höhe erstieg, er blickte flüchtig auf den Bauer, der ehrfurchtsvoll grüßend am Wege stand, und mit seiner breiten Gestalt völlig die des jungen Mädchens verdeckte.

„Bist Du auch unterwegs, Ambros?“ fragte er im Vorübergehen.

„Ja, Hochwürden, aber nicht allein! Ich verdiene mir ein Führerlohn bei der Dame da –“ er wich bei den letzten Worten seitwärts und gab den Anblick seiner Begleiterin frei, kam aber nicht weiter in seinen Auseinandersetzungen, denn was er sah, dünkte ihm doch etwas befremdlich.

Der Caplan stand da – als habe einer der Berggeister, von denen die Sagen des Gebirges erzählen, ihn auf einmal berührt und in Stein verwandelt, nur das Auge flammte auf, groß und dunkel, und nur der Blick allein redete, aber er sagte genug. Sie war wohl mehr dämonisch als zärtlich, diese Gluth, die so plötzlich wieder aus der Tiefe hervorbrach, aber sie schien auch das einzige Leben zu sein in diesen starren Zügen.

Auch das junge Mädchen war aufgezuckt bei seinem Erscheinen und einen Augenblick schien es, als wolle der heiße Purpur wieder ihr Antlitz überfluthen, doch es kam nicht dazu, kaum daß ein schwacher Hauch von Röthe es überflog, und auch der schwand schon in der nächsten Minute, um der früheren tiefen Blässe wieder Platz zu machen. Ihre Kräfte hätten doch wohl nicht ausgereicht zu dem ganzen Wege, aber wenn diese unerwartete Begegnung, die sie ja allein nur suchte, ihr auch erwünscht kam – leichter war ihr dabei nicht geworden.

„Das Fräulein will nach N. zum Pfarrer Clemens,“ nahm der Bauer endlich das Wort, als er sah, daß Niemand von den Beiden redete.

„Das ist jetzt nicht mehr nöthig!“ unterbrach ihn seine Begleiterin leise, aber mit sichtbarer Anstrengung. „Ich kann auch – ich werde es auch dem Pater Benedict mittheilen können, was mich herführte. Erwarten Sie mich dort unten im Gehöft, in einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen.“

Der Bauer nickte und nach nochmaligem ehrfurchtsvollem Gruße gegen den Caplan trollte er ab. Er war sehr froh, sein Führerlohn so leichten Kaufes verdient zu haben, ohne den beschwerlichen Weg machen zu müssen, und fand es gar nicht auffallend, daß auch die junge Dame diesen scheute und es deshalb vorzog, sich dem Caplan anzuvertrauen, der ihre Botschaft oder ihr Anliegen ja jedenfalls dem Pfarrer überbrachte. Er sprach einstweilen in dem Gehöfte ein und wartete dort verabredetermaßen.

Benedict und Lucie waren allein zurückgeblieben. Sie befanden sich hier in halber Höhe des Gebirges, das einen seiner großartigsten Punkte vor ihnen aufrollte. Dort drüben thürmten sich in schwindelnder Höhe die riesigen Gipfel der „steilen Wand“ empor; sie war völlig klar heute, weißleuchtend lag der Schnee auf den Spitzen, in den Schluchten und Scharten des gigantischen Felskolosses, aber noch jagte graues Sturmgewölk darüber hin und warf ein trübes, mattes Licht auf ihn und auf die ganze Umgebung. Ringsum nur Tannenwipfel, so weit das Auge reichte, an den Bergen, an den Felswänden, bis dort hinauf, wo der Schnee begann, überall nur das einförmige ewig dunkle Grün und tief unten im Thale der Bergstrom, der wie ein kochender Strahl aus den Tannen hervorbrach, zwischen ihnen verschwand und sich dann weiß schäumend auf’s Neue hervorwand, sein dumpfes Brausen drang fern und undeutlich herauf, der einzige Laut in der großartigen schweigenden Einsamkeit.

„Sie wollten zu Pfarrer Clemens, mein Fräulein?“ begann Benedict endlich die Unterredung.

Lucie schüttelte das Haupt. „Nicht zu ihm,“ entgegnete sie leise; „ich hoffte, Sie am sichersten dort zu finden. – Ich suchte Sie allein!“

„Mich!“ Es war ein stürmisches Aufwogen in seiner Stimme, aber es sank sofort wieder bei dem Blick auf ihr Gesicht. Was war aus diesem Kinderantlitz geworden, seit er es zum letzten Male gesehen! „Mich!“ wiederholte er langsam, „und was konnte Sie zu mir führen?“

Lucie schwieg. Jetzt, wo sie vor der Entscheidung stand, drohte der Muth zusammenzubrechen, der sie bisher aufrecht erhalten, sie hatte den Bruder retten wollen und fühlte doch jetzt, daß sie zu viel unternommen, daß sie eher seine Gefangenschaft, seine Gefahr ertragen hätte, Alles – nur nicht seine Rettung um diesen Preis!

Benedict sah den Kampf in ihren Zügen. „Kostet es Ihnen so schwere Ueberwindung, auch nur das Wort an mich zu richten?“ fragte er bitter. „Ich begreife es, nach dem, was geschehen ist, aber Sie werden sich doch wohl entschließen müssen, noch einmal zu dem Verhaßten zu sprechen, wenn ich anders Ihren Wunsch erfahren soll!“

Er zog den Mantel fester um die Schultern. Luciens Blick heftete sich wie in angstvollem Forschen auf diesen Mantel von dunklem einfachen Tuche, als suche oder – fürchte sie dort etwas, aber der Saum verschwand völlig in den Falten, er ließ sich nicht verfolgen.

„Ich habe eine Frage an Sie,“ sagte sie endlich fast unhörbar, „und eine Bitte!“

„Nun wohl, ich warte.“

Es lag eine seltsame Härte in dem Ton, es war überhaupt etwas Hartes, Starres in seinem ganzen Wesen; Lucie wußte wohl, daß es schwinden würde, wenn sie das Auge zu ihm emporhob, aber sie wußte auch, daß es um ihre Fassung geschehen war, wenn er sich jetzt nicht herb und hart zeigte, ihr Blick blieb an den Boden geheftet.

„Es betrifft den Tod des Grafen Rhaneck –“

Sie schwieg plötzlich, es schien ihr, als sei er aufgezuckt bei dem Namen, aber eine Antwort erfolgte nicht.

„Man sagt, er sei –“ sie hielt wieder inne, das entsetzliche Wort konnte nicht über ihre Lippen, „es sei kein bloßes Unglück gewesen, dem er zum Opfer gefallen.“

Wieder dies entsetzliche Schweigen. Benedict blieb stumm, Lucie wagte es noch immer nicht, ihn anzublicken, aber sie raffte den letzten Rest ihrer Kraft zusammen.

„Die Gerichte haben sich bereits der Sache bemächtigt. Man beschuldigt meinen Bruder – er ist gestern verhaftet worden.“

Jetzt zum ersten Male zuckte er wirklich auf, sie sah, wie seine Hand sich krampfhaft ballte.

„Günther? Ah!“

Es war ein Ausruf halb der Wuth und halb des Entsetzens, aber es blitzte dabei etwas wie ein Hoffnungsstrahl auf in der Seele des jungen Mädchens.

„Sie wußten es nicht?“

„Wir sind seit drei Tagen abgeschnitten von der Ebene, selbst die gewöhnlichen Boten kommen nicht mehr zu uns herauf. Ich ahnte nicht, daß man überhaupt Verdacht hegte, sonst –“

„Sonst wären Sie gekommen und hätten Bernhard gerettet – ich wußte es!“

[205]

Luther’s Trauung.
Nach seinem eigenen Oelgemälde auf Holz gezeichnet von Paul Thumann.

[206] Benedict trat zurück und sah sie starr an, aber das vollste Entsetzen lag in diesem Blick. „Ich? Lucie, allmächtiger Gott, wer hat Sie gelehrt die Rettung bei mir zu suchen?“

Die bebenden Lippen des jungen Mädchens versagten ihr fast die Worte. „Ich – ich ahnte es, daß die Hülfe nur hier zu finden sei. Mein Bruder ist gefangen, seine Ehre, sein Leben steht auf dem Spiel. Retten Sie ihn!“

(Fortsetzung folgt.)




Die Trauung Luther’s.


Im vorigen Sommer vollendete Professor Thumann in Weimar, der den Lesern der Gartenlaube durch seine vortrefflichen Illustrationen längst rühmlich bekannt ist, ein großes Oelgemälde, „Die Trauung Luther’s“, welches die „Verbindung für historische Kunst“ auf Grund einer im Jahre 1869 zu ihrer elften Hauptversammlung in München eingesandten Skizze bestellt hatte.

Die Verbindung für historische Kunst, im Jahre 1854 vom Schulrath Looff in Langensalza und Professor Dr. Eggers in Berlin gegründet, hat sich die Aufgabe gestellt, der historischen Kunst und vorzugsweise der Geschichtsmalerei diejenige Pflege angedeihen zu lassen, welche zu gewähren den einzelnen Kunstvereinen nur selten möglich ist. Denn nur wenige Kunstvereine haben hinreichende Mittel, um größere Geschichtsbilder für bleibende Sammlungen zu erwerben; ihre Ankäufe werden meist nur zur Verloosung unter die Mitglieder gemacht; hierbei wird aber wie bei den Ankäufen von Seiten der Privaten hauptsächlich auf solche Bilder gesehen, welche zur Ausschmückung der Zimmer dienen können. Daher finden auf den Ausstellungen der Kunstvereine zwar Landschaften, Genrebilder und Stillleben, nicht aber größere Geschichtsbilder ihren Markt. Diese üben aber gerade die größte Anziehungskraft auf das Publicum, und eine größere Kunstausstellung erscheint mangelhaft, wenn die historische Kunst in derselben nur dürftig oder gar nicht vertreten ist. Wie ist es aber einem Künstler zuzumuthen, ein größeres Bild, auf welches er eine längere Zeit seines Strebens und Schaffens verwendet hat, ohne Aussicht auf Verkauf durch eine Reihe von Kunstausstellungen wandern zu lassen, um es dann nach einigen Jahren in beschädigtem Zustande unverkauft zurückzuerhalten? Jüngere talentvolle Künstler, welche durch die Kunst sich ihren Lebensunterhalt verschaffen müssen, werden gezwungen, der Schaffung eines größern Kunstbildes zu entsagen. Die Geschichtsbilder mußten daher auf den Ausstellungen immer seltener werden oder gänzlich verschwinden, wenn nicht in einzelnen Fällen die Liberalität hoher Kunstgönner den Vereinen solche Bilder zur Ausstellung gewährt hätte. Hierzu kam, daß zur Zeit der Gründung der Verbindung ausgezeichnete Geschichtsbilder deutscher Künstler, z. B. Lessing’s berühmtes Bild „Huß vor dem Scheiterhaufen“, aus der Werkstatt des Künstlers in das Ausland, ja über den Ocean wanderten und so dem deutschen Volke die bedeutendsten Kunstwerke seiner hervorragenden Künstler unbekannt blieben, während von Speculanten Bilder belgischer Künstler in den größeren Städten Deutschlands mit bedeutendem Gewinne ausgestellt wurden.

Ein von Looff und Eggers im Jahre 1854 an die deutschen Kunstvereine erlassener Aufruf fand daher vielfache Zustimmung. Vertreter der Kunstvereine beriethen in München die vorläufigen Statuten. Als Aufgabe der Verbindung wurde festgestellt: durch Erwerbung oder Bestellung größerer Geschichtsbilder nicht nur dem Zwecke der Kunstvereine, die höchsten Ziele der Kunst im Auge zu behalten und namentlich zur Pflege stilvoller Darstellung beizutragen, mehr als bisher zu genügen und den Künstlern des historischen Faches, namentlich den jüngeren Talenten, Gelegenheit zu bieten, größere Geschichtsbilder zu schaffen, sondern diese auch durch die Wanderung in die Ausstellungen der Mitglieder zur allgemeinsten Kenntniß in unserm Vaterlande zu bringen. Der jährliche Beitrag wurde auf fünfzig Thaler für jede Actie festgestellt, wofür das Recht zu vierzehntägiger Ausstellung und die Theilnahme an der Verloosung der Vereinsbilder nach beendigtem Umlaufe gewährt wird. Später wurde beschlossen, von jedem erworbenen Bilde Photographien zur Vertheilung an die Mitglieder anfertigen zu lassen.

Der Verbindung gehören jetzt an: elf deutsche Fürsten und die Kronprinzessin Victoria von Preußen und Deutschland, elf andere Kunstmäcene, die Städte Breslau, Köln und Offenbach, die allgemeine deutsche Künstlergenossenschaft und die Künstlergenossenschaften zu München, Wien und Zürich, das Städel’sche Kunstinstitut zu Frankfurt am Main, neunundzwanzig Kunstvereine und die Kunsthandlungen von Bismeyer und Kraus in Düsseldorf und von Pietro del Vecchio in Leipzig, zusammen mit siebenundsiebenzig Actien.

Obgleich die Zeit des politischen Zwiespalts in Deutschland der wünschenswerthen Ausdehnung der Verbindung hinderlich war, so repräsentirte sie doch in dieser Zeit, wenigstens auf dem Gebiete der Kunstbestrebungen, die sonst fehlende Einheit. Auch jetzt beschränkt sie sich nicht auf die politische Grenze des neuen deutschen Reichs, sondern erstreckt sich über ganz Oesterreich und die Schweiz, ja auch ein edler Deutscher in Amerika, Karl v. Bernuth in New-York, gehört der Verbindung an. Möge die mit so theuren Opfern erkämpfte Einigung Deutschlands auch der Verbindung größere Ausdehnung verschaffen, da die jetzt ihr jährlich zufließenden Geldmittel noch nicht voll viertausend Thaler betragen.

Beim Mangel an Angebot fertiger Bilder sah sich die Verbindung in den meisten Fällen genöthigt, auf Grund eingesandter Skizzen Bilder zu bestellen, wobei den Künstlern während der Arbeit Vorschüsse bis zur Hälfte des Kaufpreises gewährt werden können. Hierdurch hat sie besonders jüngeren talentvollen Künstlern Gelegenheit gegeben, größere Bilder auszuführen, was gewiß kein geringes Verdienst der Verbindung ist. Swoboda und Siegmund l’Allemand in Wien, Scholtz in Dresden, Baur in Düsseldorf, Bode in Frankfurt, Thumann in Weimar haben ihr erstes größeres Bild für die Verbindung gemalt. Die Zahl der bisher verloosten Bilder beträgt fünfzehn, auf der Wanderung befinden sich drei; Spangenberg’s „Geiserich und Eudoxia“ und Lindenschmitt’s „Ermordung Wilhelm’s von Oranien“ werden bald der Verbindung übergeben werden. Bis zum Ende des Jahres 1871 hat die Verbindung über 40,000 Thaler für Anschaffung historischer Bilder verwendet, der Cassenbestand betrug 9334 Thaler.

Wenden wir uns nun zum Thumann’schen Bilde. Hier könnte zunächst die Frage aufgeworfen werden, ob die Trauung Luther’s ein wirklich historisches Bild ist oder nur zum historischen Genre gerechnet werden kann.

Hierauf ist zu erwidern, daß die Ehelosigkeit der Priester und die dadurch hervorgerufene Unsittlichkeit, nicht blos im Priesterstande, sondern im ganzen Volke, eine der wichtigsten Ursachen der Reformation war. Bald nach Beginn der Reformation hatten evangelische Geistliche Ehen geschlossen; Franz von Sickingen hatte schon 1522 den Geistlichen auf seiner Herrschaft gestattet, sich zu verheirathen. Allein die Gegner der Reformation schalten die Priesterehe ein Concubinat, wie dasselbe noch heute hinsichtlich der Civilehe von den ultramontanen Pfaffen behauptet wird. Das deutsche Volk aber, das in seiner Mehrheit der Reformation zujauchzte, forderte die Priesterehe als Schutzmittel für das Familienleben. Auch an Luther trat diese Frage heran, aber große Bedenken erhoben sich in ihm dagegen. Schon im Jahre 1524 hatte ihn die „fromme und belobte“ Argula von Stauffen durch Friedrich’s des Weisen Hofcaplan und Geheimsecretär Spalatin auffordern lassen, in den Ehestand zu treten. Luther antwortete darauf an Spalatin ablehnend und schloß mit den Worten: „Wie mein Herz bisher gestanden, so werde ich gewiß keine Frau nehmen. Nicht daß ich von Holz oder Stein wäre und nicht fühlen könnte, daß ich Fleisch und Blut habe, sondern mein Herz und Sinn ist fern vom Heirathen, weil ich täglich meinen Tod erwarte und daß ich als ein Ketzer werde hingerichtet. Indessen will ich Gott kein Ziel seines Werkes in mir setzen und mir selbst auch nichts vornehmen. Ich hoffe aber, Gott werde mich nicht lange mehr leben lassen.“ Hieraus kann man ersehen, wie schändlich Diejenigen logen, die Luther schuld gaben, er sei schon lange mit Heirathsgedanken umgegangen und in Katharina von Bora verliebt gewesen, lange bevor er sich mit ihr verehelicht.

[207] Wie Luther zu dem Entschlusse, zu heirathen, gekommen, erzählt Scultetus in den evangelischen Annalen von 1525 folgendermaßen:

„Als Lutherus vorgehabt, die gewesene Klosterjungfrau, Katharina von Bora, an Dr. Glacium, Pfarrer in Orlamünde, zu verheirathen, kommt selbe zu Amsdorfen und klagt ihm, Lutherus wolle sie an Dr. Glacium verloben, es sei aber ganz wider ihren Willen. Weil sie nun wisse, daß Amsdorf ein vertrauter Freund von Luthero sei, so bitte sie ihn, er sollte doch Lutherum auf andere Gedanken bringen. Wenn einer von ihnen beeden, Lutherus oder Amsdorf, sie verlangte, wollte sie sich gar nicht weigern, in eine christliche Ehe einzuwilligen. Zu Dr. Glacio könne sie sich nimmermehr entschließen. – Da Lutherus hiervon Nachricht bekommen und Dr. Schurf (er war kurfürstlich sächsischer Rath und Luther’s Rechtsbeistand in Worms) gesagt: Wenn dieser Mönch eine Frau nehmen sollte, würde die ganze Welt und der Teufel selbst darüber lachen, – hat er der Welt und dem Teufel zum Trotz und sonderlich auch seinem Vater zu Gefallen den Schluß gefaßt, sich mit der Katharina selbst zu verheirathen.“

Nachdem Luther einmal den Entschluß gefaßt, schritt er unverweilt zur Ausführung. Am 13. Juni 1525 wurde er mit Katharina von Bora von Dr. Bugenhagen, dem ersten Prediger an der Pfarrkirche zu Wittenberg, im Hause des dortigen Stadtschreibers Reichenbach getraut. Zeugen waren der Maler und Rathsverwandte Lucas Cranach, der Geistliche Dr. Justus Jonas (nach einer andern Angabe, welcher der Künstler gefolgt ist, Nicolaus v. Amsdorf) und Dr. Apel, der im Bilde sinnend das Haupt auf die Hand stützt. Thumann hat noch eine Frau und ein Kind hinzugefügt, dessen liebliche Züge dem Töchterlein des Künstlers entlehnt zu sein scheinen.

Die eigentliche Hochzeit wurde erst vierzehn Tage später, am 27. Juni, gefeiert. Der Rath der Stadt schickte zum Feste vier Maß Malvasier, vier Maß Rheinwein und sechs Maß Frankenwein; der Preis ist in den noch vorhandenen Stadtrechnungen mit dreiunddreißig Gulden verzeichnet: der Malvasier kostet zwanzig, der Rheinwein sechs und der Frankenwein sieben Gulden. In die Wirthschaft, die nun erst beginnt, denn bis dahin war die junge Frau im Reichenbach’schen Hause geblieben, schickte der Rath noch ein Faß Einbecker Bier und eine Anweisung auf freien Wein aus dem Rathskeller auf ein Jahr, wofür in den Stadtrechnungen drei Thaler vier Groschen sechs Pfennige aufgeführt werden. Die Universität schenkte ihm einen prächtigen vergoldeten silbernen Kelch mit Deckel. Unter den sonstigen Geschenken sind am bemerkenswerthesten zwei Eheringe, welche der Nürnberger Rathsherr Wilibald Pirckheimer von dem berühmten Goldschmied Albrecht Dürer hatte arbeiten lassen. Der Ring Luther’s ist mit einem Diamanten und einem Rubin, den Sinnbildern der Treue und der Liebe, geschmückt und enthält außer den Buchstaben M. L. D. die Worte: WAS. GOT. ZU. SAMEN. FIEGET. SOL. KEIN. MENSCH. SCHEIDEN. Der andere, welchen Katharina getragen, hat oben einen in einen runden kegelförmigen Kasten gefaßten, ziemlich großen Rubin und besteht aus einem Haupt- und zwei Nebenreifen, die fest miteinander verbunden und ringsherum mit Vorstellungen aus der Leidensgeschichte Jesu in durchbrochener und erhabener Arbeit verziert sind, worunter sich die bis zu den Muskeln ausgearbeitete Figur des Gekreuzigten besonders auszeichnet. Der erstere befindet sich jetzt auf der Wolfenbüttelschen Bibliothek, der letztere ist in Privathänden.

Luther’s Verheirathung sanctionirte die Priesterehe mehr, als es ein vom Reichstage oder einem Concil gegebenes Gebot vermocht hätte. Sie war daher eine That von der größten geschichtlichen Bedeutung, denn die hierdurch legitim gewordene Priesterehe führte die Geistlichen wieder in das Familienleben, in das einträchtige Zusammenleben mit der Gemeinde zurück und wurde hierdurch ein Haupthebel zur Wiederherstellung sittlichen Lebens im evangelischen Deutschland. Die Culturgeschichte zeigt uns die Folgen in dem großen Contraste zwischen der protestantischen und katholischen Bevölkerung Deutschlands im siebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Dort strenge, oft rauhe Zucht und Arbeitsamkeit, hier das Gegentheil.

Mit Recht kann man daher Thumann’s „Trauung Luther’s“ ein historisches Bild nennen, für dessen Bestellung sich bei den Verhandlungen in München der Graf Franz v. Thun-Hohenstein, seit der Begründung der Verbindung bis zu seinem am 22. November 1870 erfolgten Tode Mitglied des Vorstandes, obwohl Katholik, in der entschiedensten Weise aussprach, indem er das darzustellende Ereigniß ein „eminent historisches“ nannte. Das Thumann’sche Bild ist bereits in Weimar, Gotha, Hamburg, Kiel, Berlin, Kassel, Hannover ausgestellt worden und hat überall die größte Anerkennung gefunden. Wenn gleich der beste Holzschnitt nur unvollkommen den Eindruck, welchen das Bild selbst macht, wiedergeben kann, so gewährt er uns doch eine Anschauung von der Gruppirung und Zeichnung. Alles im Bilde ist wohl gelungen: Luther’s Portrait kann zu den besten gezählt werden, die wir von ihm besitzen. Mit Andacht schaut er auf zu Bugenhagen, dem die Wichtigkeit der Handlung, die er vollzieht, Begeisterung zu verleihen scheint. Katharina ist das Bild echter deutscher Jungfräulichkeit. Auch die Gruppe der Zeugen stimmt vortrefflich zur vorderen Gruppe.

Die Trauung Luther’s war ursprünglich vom Künstler als Gegenstand zu einem Bilde in der für die Wartburg bestimmten Reihe von Lutherbildern in Vorschlag gebracht, aber aus besonderen Rücksichten ausgeschieden worden. Nunmehr wird der Stein, der vom Baumeister verworfen, zum Eckstein für des Künstlers Ruhm.

L.




Ein Besuch bei Hermann Allmers.


Der große Krieg der Deutschen gegen Frankreich 1871 neigte seinem Ende zu. Als auch Paris sich fallend beugte vor der Ueberlegenheit deutscher Kriegskunst, deutscher Kraft und Tüchtigkeit, gewährte der deutsche Sieger großmüthig und ohne Feindeshaß den erbetenen Waffenstillstand. Bald darauf, im Februar desselben Jahres wurde ich von dem pommerschen Regimente, bei dem ich stand, im Jura-Departement mit einem militärischen Commando nach Hannover beauftragt, das mich demnächst auf einige Wochen nach Oldenburg führte. In dieser Hauptstadt des glücklichen Großherzogthums genoß ich nach den Anstrengungen des Krieges behagliche Ruhe und Erholung im Kreise liebenswürdiger Cameraden, im Genuß der Kunstleistungen der Stadt und auf Ausflügen in die Umgegend. Die schönste Seelenstärkung gewährte mir ein Besuch, den ich dem deutschen Dichter Hermann Allmers, den Lesern der Gartenlaube durch sein schönes Gedicht „An meine Mutter“ im Jahrgang 1869 schon längst bekannt, in seiner Marschenheimath Rechtenfleth abstattete.

Mitte März früh fuhr ich auf Hunte und Weser mittelst eines Dampfbootes von Oldenburg nach Sandstedt. Der Schiffer, welcher mich hier vom Bord des Dampfschiffes auf einem kleinen Nachen an das Land, das heißt zunächst an den Deich hinanfuhr, fragte mich ohne Weiteres, ob ich Herrn Allmers besuchen wollte, und fügte auf meine bejahende Antwort hinzu: „Wenn Herr Allmers das wüßte, würde er Sie gewiß hier am Deiche erwarten. Er ist ein so freundlicher Herr! Wir lieben ihn Alle hier zu Lande.“

Nachdem ich in dem naheliegenden Wirthshause ein gutes Frühstück eingenommen hatte, machte ich mich gegen zwölf Uhr Mittags auf den Weg, um nach dem eine halbe Stunde entfernten hannoverschen Dorfe Rechtenfleth zu gehen. Auf dem neben der Weser sich dorthin ziehenden Deiche trat ein einfach und sauber gekleideter Marschbewohner grüßend zu mir heran und bat um die Erlaubniß, mich nach Rechtenfleth begleiten zu dürfen, zumal er dort wohl bekannt und jetzt gerade dorthin zu gehen im Begriff sei. Wir wanderten also zusammen und kamen in munterer, zwangloser Unterhaltung bald bei den ersten Häusern des Dorfes vorbei, das neben dem Deich in der Marschebene sich ausdehnt. Von einer den Deich hinabführenden, durch wohlgefügte Mauersteine ausgezeichneten Treppe aus sahen wir wenige Schritte vor uns das bäuerliche, jedoch durch einen kunstvollen Giebelaufsatz, eine epheuumrankte Veranda und ein reichverziertes Erkerfenster geschmückte Landhaus liegen, welches Allmers bewohnt. [208] Auf einer Brücke überschritten wir den vorliegenden Graben und traten aus wohlgepflegten Gartenanlagen durch die Hauptthür in das Haus ein. Hier, glaubte ich, würde sich der Marschbewohner empfehlen. Ich sprach ihm daher meinen Dank für seine Begleitung aus. Aber der Biedere dachte anders und sagte, er möchte Herrn Allmers heute auch besuchen, er habe ihn so lange schon nicht gesehen. Durch die würdige Haushälterin (Allmers ist unverheirathet) angemeldet, traten wir also Beide in die Arbeitsstube des Dichters ein, wo uns derselbe auf’s Freundlichste empfing. Es ist dies ein kleines, gemüthliches, helles Zimmer, einfach, bequem und sinnig ausgestattet. Rings an den Wänden reihen sich schönwissenschaftliche, cultur- und naturgeschichtliche Werke in guter Ordnung aneinander, von einem erhabenen Platze schaut Schiller’s Büste auf den Schreibtisch, der vorn durch überhängende Zweige von Palmen und anderen Blattpflanzen umsäumt und mit Lebensluft angehaucht wird. Davor sitzt auf einem großen, hartgepolsterten

Hermann Allmers.

Lehnstuhle Allmers, eine kräftige Friesengestalt mittlerer Größe; über den breiten Schultern erhebt sich das Haupt mit blonden Haaren und edelgewölbter Stirn. Das Gesicht mit der kühn gebogenen Adlernase wird von den Geistesblitzen der scharfen und doch so mild und treu blickenden Augen erhellt und verklärt durch den Ausdruck der kindlichen Seelenreinheit und Herzensgüte, die diese Künstlernatur auszeichnen.

In lebhaftem, gemüthlichem Gespräch saßen wir hier vereint und stießen die hellklingenden Gläser an, in denen uns der liebenswürdige Wirth einen vorzüglichen Portwein spendete. Dann verabschiedete sich der Marschbewohner. Allmers und ich waren nun allein beisammen, rückhaltlos und ungestört schauten wir einander in die Seele. Voll edler Begeisterung pries er in kräftigen Worten die Großthaten der Deutschen in dem jüngst vollendeten Kriege gegen Frankreich, die Wiedergeburt des deutschen Kaiserreichs und den frischen freien Geistesfrühling, der alle edeln Kräfte neu belebt und stärkt im Dienste des deutschen Vaterlandes. In gehobener weihevoller Stimmung führte er mich durch die Räume seines Hauses, die so reich an Alterthümern und Kunstschätzen aller Art sind, daß man in ihnen cursorisch Kunst- und Culturgeschichte studiren kann. Wir traten zuerst in die untere große Halle ein, die in mittelalterlichem Stil gehalten ist. Die Wände sind mit den Wappen der vier auf Allmers’ künstlerische Entwickelung von hervorragendem Einfluß gewesenen Städte Bremen, Berlin, München, Rom, und mit sinnreichen Inschriften verziert, unter denen sich der Wahlspruch befindet:

Starkes Herz in Noth und Streit,
Weiches Herz bei fremdem Leid,
Frisches Herz für jedes Schöne,
Treues Herz in alle Zeit.

Ueber den kunstvollen Portraits von Raphael, Albrecht Dürer, Murillo und Rembrandt prangen in altdeutscher Schrift die Worte:

Wer die wohledle Kunst verachtet,
Wohl selber nicht nach Edlem trachtet.

Alte geschnitzte Möbel, Geräthe, Waffen, Trinkgefäße und Hirschgeweihe vervollständigen die Einrichtung der Halle, deren Hauptschmuck das lebensgroße, auf Goldgrund gemalte Bild Karls’ des Großen ist, des Culturbringers des Friesenlandes. Eine breite Treppe führte uns von hier hinauf in das altdeutsche Gemach, welches der Dichter für besuchende Freunde bestimmt und mit der goldenen Inschrift geschmückt hat:

Jegliche Lust wird alt und verblüht,
Doch nimmer die Freude am Menschengemüth.

An den Wänden erregen ferner besonderes Interesse das von G. v. Dörnberg gemalte Oelbild „Die Einführung des Christenthums in die Marschen durch Bischof Wilhadus“, ein alterthümliches holdseliges Marienbild und das Reliefmedaillon Seume’s nach dem ihm auf Allmers’ Anregung gestifteten Denkmal in Bremen. In dem an dieses trauliche Gemach stoßenden größeren Zimmer stellen friesartig aneinander gereihte Wandbilder – meist von Allmers selbst in den Grundzügen entworfen – die Hauptabschnitte der Marschengeschichte dar. Das schönste Bild, „Die Landung der Römer an der Weser“, ist von Otto Fitscher (dem Schöpfer des berühmten Oelgemäldes „Barbarossa’s Erwachen“) gemalt, G. v. Dörnberg malt die übrigen Bilder und hat deren vier bereits vollendet, nämlich: 1) „Fischer- und Jägerleben der ersten Marschbewohner“, 2) „Gründung der Deiche“, 3) „Kampf mit Adel und Geistlichkeit“ (Stedinger Schlacht) und 4) „Kampf mit den Fluthen“.

Zum Schluß zeigte mir Allmers den zu ebener Erde belegenen Antikensaal, der Abgüsse und Nachbildungen der besten Bildsäulen des Alterthums und eine reichhaltige archäologische Sammlung von Münzen, Gemmen, Terracotten und Vasen enthält, die der Dichter selbst in Italien kunstforschend erworben hat.

Nach diesen reichen Kunstgenüssen stärkten wir unsern Leib durch ein einfaches Mahl, das in einer kleinen Stube angerichtet war, in welcher neben vielen anderen schönen Bildern sich ein im Jahre 1856 von Hermann Brücke in Berlin gezeichnetes Portrait Allmers’ befindet, welches das geistige und gemüthliche Wesen des Dichters treu zur Anschauung bringt. Nach einer Photographie dieses Portraits ist die nebenstehende Abbildung gefertigt.

Bei einem Nachmittagsausflug nach Bremerhaven richtete sich unser Gespräch, nachdem es wohl alle Gebiete der Kunst und Wissenschaft berührt hatte, schließlich auf das Gebiet der Religion. Mit Recht bemerkte Allmers, daß, wer über diesen wichtigen Gegenstand ernst und gründlich nachzudenken verabsäumt, während er doch über andere Dinge klare Begriffe zu gewinnen sucht, den Vorwurf geistiger und sittlicher Schwäche oder frevelhaften Leichtsinns verdient. Das Christenthum betrachtet unser Dichter als die schönste und sittlich erhabenste Erscheinungsform des Humanismus. Glücklich pries er sich, nach mancherlei Zweifeln und Bedenken seit einiger Zeit durch das Mittel der Kunstschönheit zu der Stufe des religiösen Bewußtseins durchgedrungen zu sein, daß er in jeder endlichen Gestaltungsform des Gottesdienstes, trotz der etwa vorkommenden einseitigen Beschränktheit der Ausübung, [209] sich wahrhaft erbauen und zum Unendlichen andachtsvoll erheben könne.

Schon breitete die Abenddämmerung ihre dunklen Schatten über die Erde aus, als wir in einem Wirthshause, an dessen Tafel wir die einzigen Gäste waren, ein Abendbrod einnahmen. In dem Zimmer stand ein Clavier, das Allmers bald volltönend erklingen ließ. Dazu sang er mit Feuer und Wohlklang sein von ihm selbst componirtes Lied: „Auf der Rudelsburg“, das mich lebhaft entzückte. Es war schon spät am Abend, als wir endlich herzlichen Abschied von einander nahmen, aber nicht für immer, sondern „auf Wiederseh’n!“

In kurzer Zeit sind wir so innig mit einander vertraut geworden für alle Zeit. Ich werde ihn nie vergessen, diesen herrlichen Mann voll frischer Volkskraft, milder Humanität und feiner Geistesbildung. Wissenschaftliche Gründlichkeit, Klarheit und Schärfe des Verstandes, Herzensgüte und tiefes deutsches Gemüth vereinigen sich in seinem Wesen zur kunstveredelten Natur. Seine Werke (Dichtungen – Marschenbuch – Römische Schlendertage, jetzt in dritter Auflage erschienen) tragen ganz das Gepräge dieses vorzüglichen, nur aus Liebe zur Sache schöpferisch thätigen Geistes und gehören zu den Zierden der deutschen Literatur. Maler, Musiker, Baukünstler und Dichter zugleich, eröffnet Allmers in seinen Schriften dem empfänglichen Gemüth des Lesers eine reiche Quelle des reinsten und ersprießlichsten geistigen Genusses, der namentlich deshalb so bildsam und fruchtbringend anregt, weil er durch die ursprüngliche, kunstnatürliche Darstellungsweise des Dichters einen Blick in die Entstehungsart seines künstlerischen Schaffens, in die Rüstkammer seines Geistes thun läßt.

Allmers entstammt einem alten stedingschen Häuptlingsgeschlechte und wurde am 11. Februar 1821 auf dem freien Friesen-Hofe zu Rechtenfleth geboren, der schon länger als fünfhundert Jahre sich im Besitze seiner Familie forterbte. Als einziges Kind seiner Eltern widmete er sich, auf den Wunsch seiner besonders innig geliebten Mutter, der Landwirthschaft und folgte erst nach dem Tode seiner Eltern der Wandersehnsucht, die ihn höhere wissenschaftliche und künstlerische Bildung auf mannigfachen Streifzügen durch Deutschland, Schweiz und Italien suchen und in stetem Verkehr mit ausgezeichneten Männern finden ließ. Dann kehrte der gereiste Mann nach seinem Heimathsdorfe zurück, dessen Gemeinde er längere Zeit als Vogt vorstand, und widmete sich seit etwa zwanzig Jahren fast ausschließlich der „wohledlen Kunst“ und Culturbestrebungen aller Art. Möge er noch lange segensreich wirken im schönen deutschen Vaterlande!

H. B.




Eine Begegnung.


Erinnerung aus einem Künstlerleben von C. Cressieux.


Meyerbeer’s Hugenotten wurden gegeben. Das Opernhaus war an jenem Abende zum Erdrücken voll von Menschen. Beinahe athemlos folgte die Menge den herrlichen Klängen des erhabenen Meisterwerkes des großen, leider zu früh verstorbenen Maestro. Auch ich befand mich unter den Zuhörenden. Mächtig wirkten die wundervollen Melodien auf mich ein, und einem schönen Traumbild gleich zog jener Abend an meinem geistigen Auge vorüber, an welchem ich vor Jahren jenes mächtigen Tonwerks vollste Bedeutung zu würdigen gelernt hatte. Von jenem Abende zu erzählen sei heute meine Aufgabe.

Ich hatte das Glück, eine liebe, gute, uneigennützige Tante zu besitzen, deren Erscheinen in unserm Hause ich derart mit irgend einer freudigen Ueberraschung in Verbindung zu bringen gewohnt war, daß es auch im Jahre 1855 der Fall war, als die Tante, welche gewöhnlich auf ihrer Besitzung lebte, Mitte December uns in der Residenz besuchte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie kam, um von meinem Vater die Erlaubniß zu erwirken, mich als Reisebegleiterin nach Venedig mitnehmen zu dürfen, indem die Aerzte ihr den Winteraufenthalt daselbst, ihrer etwas leidenden Gesundheit halber, verordnet hatten. Schon längst war es einer meiner stillen Lieblingswünsche gewesen, la bella Venezia in all ihrer Pracht und Schönheit kennen zu lernen. Jubelnd fiel ich daher der geliebten Tante um den Hals, und mein sechzehnjähriges Herz klopfte stürmisch auf im Vorgefühle der Freuden, welche meiner harrten.

In unserer heimathlichen Residenz hatte der Schnee bereits die Dächer gebleicht, eine starke Kälte war eingetreten, ich aber träumte in jugendlicher Schwärmerei den weichsten Zephyrlüftchen und dem süßesten Maienduft entgegen. Es ist eine alte Erfahrung, daß man mit dem Gedanken an Italien zugleich alle Kälte und Fröste von sich bannt, und dieselben als unmögliche Gäste sich denkt. Aber Träume sind Schäume, und mit Unbehagen denke ich jetzt noch an die naßkalten, fröstelnden Tage, welche ich in späteren Jahren gerade in Italien verlebt. Der Nordländer, gewöhnt an den schneidenden Frost seiner Heimath, thut Alles, um den kalten Feind von sich abzuwehren, aber wehe dem Südländer, wenn der ungewohnte eisige Hauch des Winters einmal über die sonnig warmen Gefilde streift; es trifft ihn dann, weil unvorbereitet, seine rauhe Kraft am härtesten.

Die erste Enttäuschung dieser Art ward auch mir am dritten Tage unserer Reise zu Theil, als die abgetriebenen Pferde unserer Extrapost, auf welche weder der Zuruf des Kutschers noch die Peitsche mehr einen absonderlichen Eindruck machten, langsam die eintönige vom Regen aufgeweichte Landstraße gegen Palmanuova zu hintrabten. Die Langsamkeit des Fuhrwerks, die Monotonie der Gegend, welche in einer endlosen Fläche besteht, die nur hie und da durch Reihen von Olivenbäumen unterbrochen wird, wirkten auf meine Tante ermüdend, auf mich verstimmend ein. Meine Träume von blühenden Feldern, einem ewig blauen, reinen Himmel, milden Lüften, goldenem Sonnenschein gingen in trostloser Art unter beim Anblick der grauen wassergetränkten Wolken, die sich über uns wölbten, wie bei dem feuchtkalten Wind, der über die Fläche strich und die Kronen der Olivenbäume schüttelte. Die feuchtkalte Luft verdichtete sich immer mehr und mehr, unsere Pferde stolperten immer melancholischer ihrem Ziele zu, selbst der Kutscher auf dem Bocke ward verdrießlich. Tante und ich aber hüllten uns fröstelnd in unsere Mäntel ein und waren froh, endlich Palmanuova und eines der dortigen besseren Gasthäuser, die Campana, erreicht zu haben.

Obgleich das 1593 von den Venetianern erbaute, mit schönen Festungswerken und Canälen versehene Städtchen gerade an jenem Abend auch keinen einladenden Anblick bot mit seinen wenigen, gradlinigen Gassen und seinem Schmutz in denselben, so war es wenigstens ein Schutz gegen das feuchtkalte Wetter und meine Tante beschloß, in Palmanuova zu übernachten. Da sie sehr ermüdet war, legte sie sich bald zu Bette. So saß ich nun allein in einem fremden Zimmer, an einem fremden Orte und schaute verdrießlich zum geschlossenen Fenster hinaus, auf die menschenleeren, melancholischen Straßen hinab, deren schlechtes, von Staub getränktes Pflaster begierig den fein herabrieselnden Regen in sich aufsog und zu einem Kothmeer verwandelte.

Langeweile begann sich meiner zu bemächtigen, und beinahe mit Wehmuth gedachte ich meines traulichen Daheims, der hellerleuchteten, durchwärmten Zimmer, meiner guten Bücher, des schönen Bösendorfer Flügels, auf welchem ich allabendlich zu spielen gewöhnt war. Mein Blick irrte bei diesen Rückerinnerungen trübe über das nur knisternde, wenig erwärmende Kaminfeuer, welches im großen offenen Kamin nothdürftig brannte, über die etwas unsauberen Möbels. Zum ersten Male in meinem Leben ward ich ungehalten auf die Tante, daß sie mich in solch ein langweiliges Nest geschleppt hatte. – Es giebt wohl nichts Undankbareres auf der Welt, als solch eine gutmüthige, stets bereitwillige Tante zu sein. Das geringste Ungemach wirft all ihre Liebe über Bord bei uns verwöhnten, verzärtelten Neffen und Nichten. Ich möchte Alles, nur keine solche Tante sein! –

Der Wirth brachte einige Erfrischungen herauf und fing mit mir zu reden an. Aus Langerweile antwortete ich ihm und wunderte mich über die beinahe klösterliche Stille seines Gasthofes. Da erzählte er mir denn, daß sein Albergo sonst um diese Stunde eines der besuchtesten des Städtchens, und namentlich bei den Officieren der Garnison sehr beliebt sei, doch heute wäre beim Festungscommandanten, Obersten v. S…, große [210] Unterhaltung, zu welcher Alles geladen sei. Wollte daher die Signorina, meinte der redselige Wirth, sich vielleicht hinunter bemühen, so dürfte ein ausgezeichnetes Clavier, welches zum Vergnügen der Gäste neben dem Speisesalon in einem kleinen Nebenzimmer stehe, zur Zerstreuung der Eccellenza beitragen, umsomehr, da Eccellenza dort ganz ungenirt sein würde, indem, wie gesagt, keinerlei Gäste zugegen wären.

Das war ein Ausweg in dieser trostlosen Eintönigkeit eines hereinbrechenden Winterabends, und mit Freuden nahm ich den Vorschlag des zuvorkommenden Wirthes an. Meine Tante wußte ich ja in den besten Händen, in denen ihrer langjährigen Kammerfrau. Ich befahl derselben, ihre Herrin bei deren Erwachen von meinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen, und folgte dem Wirthe in sein sogenanntes Musikzimmer.

Es war dies ein kleines, helles Zimmer, neben dem Speisesaale gelegen, welch letzteren man passiren mußte, um dorthin zu gelangen. Ein schlecht erhaltenes, verwahrlostes Piano befand sich in demselben. Nichtsdestoweniger ward dieses Instrument in jenem Augenblicke für mich gleichsam zur erlösenden Aeolsharfe, welche mir die Langeweile bannen sollte. Ich war nichts weniger als Virtuosin und bin es auch noch zur Stunde nicht, doch ich hatte stets eine große Vorliebe für Musik und mein Vater hielt mir die besten Lehrer der Residenz, um mich in dieser Kunst auszubilden. Meine Force bestand im Auswendigspielen. Daher kam es auch, daß ich an jenem Abende die hervorragendsten Nummern der mir von je so lieb gewesenen Oper „Die Hugenotten“ spielte.

So mochte ich in der Dämmerung wohl über eine Viertelstunde gespielt haben. Der Wirth brachte Licht, ich spielte weiter. Das Clavier stand an der dem Eingange entgegengesetzten Wand, und ich hatte somit der Eingangsthür des Speisesaales den Rücken gekehrt. Ich begann soeben den Chor der Verschwörer im zweiten Acte zu spielen und bemühte mich, denselben nach besten Kräften durchzuführen. Da hörte ich plötzlich eine Stimme dicht hinter mir die Worte sprechen: „Sie spielen den Chor ganz unrichtig, mein Fräulein, Ihre Auffassung steht nicht auf der Höhe der Situation, ist nicht klar.“

Erstaunt, ja erschrocken wandte ich mich um. Im Eifer meines Spiels hatte ich Niemanden in’s Zimmer treten gehört, und war daher nicht wenig überrascht, plötzlich die Gestalt eines Mannes von ungefähr sechszig Jahren neben mir zu sehen. Etwas Schwächliches, Geknicktes lag in der Gestalt dieses Mannes, dessen Figur klein und hager war. Sein Haar war bereits vollständig ergraut, doch unter der etwas niedrigen, aber breiten Stirn blickten eine Paar große kastanienbraune Augen, von einer eigenthümlichen Form und Zeichnung, welche dem ganzen Antlitz einen bedeutenden Ausdruck verliehen, auf mich herab. Noch jetzt nach Jahren sehe ich den Ausdruck dieser Augen vor mir, forschend, geistsprühend und wieder mild und träumerisch, deren Blick in späterer Zeit so oft mit wahrhaft väterlichem Wohlwollen auf mir geruht hatte. Doch all’ diese Eindrücke empfand ich erst später, in jenem Augenblicke waren sie mir fremd. Damals hörte ich nur die tadelnden Worte aus dem Munde eines mir gänzlich Unbekannten, meine verletzte Eitelkeit erwachte, und ich fand keinen Ausdruck über die maßlose Kühnheit der mir gegebenen Rüge. Wie konnte ein Fremdling es wagen, mich, das bis jetzt nur an Schmeicheleien aller Art gewöhnte, verzärtelte Mädchen, zu tadeln? Wie konnte er sich nur einfallen lassen, Das für schlecht zu erklären, was meine gut bezahlten Hauslehrer, der zahlreiche Kreis unserer zuvorkommenden Hausfreunde für eminentes Talent ansahen!

So rief die erwachte Mädcheneitelkeit in mir und die Folge war, daß ich die Gegenwart des mir als aufdringlich scheinenden Fremden mit stiller Nichtbeachtung strafte und ruhig weiter spielte, als sei Niemand zugegen, trotzdem der Fremdling mir nicht von der Seite wich. War es nun die beengende Nähe einer mir unbekannten Person oder sonst ein Grund, welcher meine Finger unsicher über die Tasten gleiten, mein Gedächtniß erlahmen ließ: gewiß war, daß ich falsch, unrichtig spielte. Da tönten zum zweiten Male die Worte an mein Ohr:

„Die letzten Tacte faßten Sie wieder ganz unrichtig auf, es ist ein Adagio Maestoso, während Sie glaubten, im fortissimo den passenden Ausdruck gefunden zu haben, mein Fräulein.“

Der Fremde sprach diese Worte mit überlegener Ruhe, lächelndem Munde, aber gerade diese Ruhe reizte mich. Ich wußte, daß ich falsch gespielt hatte, ich war aber an Tadel in dieser Form nicht gewöhnt. Ich sah zu dem Fremden empor, mit stolzem, geringschätzendem Ausdruck, doch als ich dessen unscheinbare Gestalt so neben mir erblickte, da erwachte mädchenhafter Uebermuth in mir, und ein spöttisches Lächeln kräuselte meine Lippen, als ich in den Knopflöchern des einfachen Oberrocks des Fremden, wie zur Schau ausgestellt, mehrere Ordensbändchen schimmern sah.

„Sie scheinen wohl ein Schulmeister zu sein, da Sie so vortrefflich zu hofmeistern verstehen!“ sagte ich mit nicht zu verkennender Ironie.

„So etwas der Art, mein Fräulein,“ antwortete lächelnd der Fremde, ohne seinen Gleichmuth zu verlieren, „und mein Wunsch wäre nur, Sie zur Schülerin zu besitzen.“

„Ein Wunsch, den ich keineswegs theile,“ versetzte ich kühl.

„Das glaube ich gern, denn ich wäre ein strenger Lehrer, welcher Ihr wahres Talent nicht mit übel angewandter Lobhudelei ersticken, sondern Ihre Fehler an den Tag legen würde, um sie zu bessern.“

„Welch ein Bär!“ dachte ich halblaut, starr vor Entsetzen über solch kühne Offenheit.

„Sie haben den richtigen Ausdruck für meine Benennung getroffen, mein Fräulein, ich bin wirklich ein halber Bär,“ sagte der Fremde, heiter gelaunt über meine halblaute Bemerkung.

„Und das berechtigt Sie wohl auch, mit mir überhaupt zu reden, wie mir scheint,“ antwortete ich hochmüthig.

„Ich entdeckte in Ihrem Anschlag außergewöhnliches Talent, mein Fräulein, und das allein erweckte in mir den Wunsch, Sie anzureden,“ sagte der Fremde, und in seinem Ton lag eine leise Unzufriedenheit. „Uebrigens,“ fuhr er fort, „wollen Sie mir vielleicht die Freude machen, das letzte Adagio nochmals zu spielen, ich bin überzeugt, Sie werden jetzt den richtigen Ausdruck gefunden haben.“

„Ich bin nicht gewohnt, vor fremdem Auditorium mich zu produciren,“ entgegnete ich hochfahrend, „und will das gern Ihnen überlassen, der Sie ja wahrscheinlich an Kritik mehr gewöhnt sind, weil Sie selbst so vortrefflich diese Aufgabe zu lösen verstehen.“

Mit diesen Worten stand ich von meinem Platze auf und wies mit einer höhnischen Verbeugung auf das von mir verlassene Tabouret vor dem Clavier.

„Sie haben Recht, mein Fräulein,“ antwortete der Fremde, und eine tiefe Wehmuth lag in dem Ton seiner Stimme, „ich bin gewöhnt, dem vielköpfigen Ungeheuer der öffentlichen Meinung kampfgerüstet gegenüber zu stehen, und eben deshalb bitte ich Sie auch, jetzt Gleiches mit Gleichem zu vergelten, meine Auffassung der Hugenotten anzuhören und mir meine Fehler in derselben eben so offen und unumwunden sagen zu wollen, wie ich es mir bei Ihnen erlaubte.“

Der Fremde setzte sich hiermit an das alte, verstimmte Clavier und berührte die Tasten.

War es nun meine Eitelkeit, die mir zuflüsterte, des Fremden Eigendünkel mit eben solchem Tadel zu begegnen, die mich von der Thür zum Nebenzimmer umkehren ließ? – Gewiß war, daß ich stehen blieb, und mich im Stillen freute, die zu erwartenden Fehler des Fremden streng zu rügen, denn was konnte wohl ein so einfältiger Schullehrer in dem herrlichen Tonwerk der „Hugenotten“ leisten, dachte ich bei mir.

Doch was war Das? Was hörte ich da plötzlich? Der Fremde schlug mit vollen Tönen an. Die Accorde schwollen mehr und mehr zu symphonischen Weisen an, das verstimmte Register schien unter diesen Händen seine einstige Harmonie wieder zu erhalten!

Erstaunt sah ich auf den Fremdling, dessen Finger dem unscheinbaren Instrumente solche Töne entlocken konnten! Tieftraurig und grollend entstieg den Tasten die Klage der verrathenen Hugenotten, ängstlich, geisterhaft deren Ruf nach Hülfe. Immer kühner und gewaltiger gelangten die Phantasien zum Ausdruck. Stürmisch, leidenschaftlich und immer drängender, von seinem Glaubenseifer fortgerissen, trat die markige Erscheinung Marcel’s vor das geistige Auge, während Valentinens Liebesleid, sich in den zartesten Tönen auflösend, alle Dissonanzen versöhnte.

Unwillkürlich erlag ich dem Banne dieses phantastischen Spieles. So, ja so hatte ich mir die Schöpfung der Hugenotten [211] gedacht, von ihr in meinen Phantasien geträumt, und dieser unscheinbare Fremdling hier vor mir, den ich verspottet, den ich als gänzlich unwerth in der hehren Kunst der Töne erachtet hatte, er war es, dessen Händen diese Wundertöne entströmten, welche meine Sinne in ehrfurchtsvollem Schauer erbeben ließen, mich hinrissen zur Begeisterung, zur reinsten Erkenntniß der Allgewalt einer Schöpfung, welche dem Himmel seine Freude, der Hölle ihre Pein entnommen hatte!

Noch ein letztes ergreifendes Finale, ein markerschütternder Accord und der Fremde hatte sein Spiel beendet.

Zögernd, ängstlich, beklommen, trat ich an ihn heran, all mein Uebermuth war gebrochen. „Wer sind Sie, mein Herr, daß Sie so zu spielen verstehen?“ brachte ich nur zögernd hervor.

„Ein armer reisender Musikus, der in Venedig sein Glück versuchen will,“ antwortete der Fremde lächelnd.

„Auch wir gehen nach Venedig,“ antwortete ich freudig überrascht, „können wir Ihnen dort mit irgend einer Anempfehlung nützlich sein, dann wenden Sie sich an uns, wir haben in Venedig einflußreiche Bekannte.“

Ich nannte ihm den Namen meiner Tante, er verbeugte sich dankend.

„Sollte ich je in die Lage kommen, fremde Hülfe in Anspruch nehmen zu müssen, mein Fräulein, dann will ich Ihrer freundlichen Worte gedenken, Ihr liebenswürdiges Anerbieten mit Dank annehmen. Bis dahin aber bitte ich Sie, dem Fremdling nicht zu zürnen, der es gewagt, einen offenen Tadel über die Fehler Ihres Spiels auszusprechen.“

Der Fremde reichte mir bei diesen Worten seine Hand. Wie unbewußt ruhte die meine einen Moment in derselben. Dann verließ er hastigen Schrittes das Zimmer, nachdem er noch einen anscheinend sehr werthvollen Pelz um die Schultern geworfen. Wenige Minuten nachher hörte ich ein Posthorn schmettern.

Der Fremde war abgereist, und erst jetzt fiel mir ein, daß ich ja nicht einmal seinen Namen wußte. Der Wirth konnte mir denselben vielleicht nennen. Ich täuschte mich; auch er konnte mir nichts über den Fremden mittheilen, der erst vor einer Stunde angekommen, nur eine kleine Erfrischung zu sich genommen hatte und wieder abgereist war.

Ich weiß selbst nicht, warum ich den ganzen Abend an das wunderbare Spiel des Fremden denken mußte, warum ich beschämt mir eingestand, welch mädchenhafter Eitelkeit ich mich hingegeben, als ich wähnte, des Fremden Fehler rügen zu können. Meine Tante war etwas ungehalten über mich, als ich ihr erzählte, daß ich dem Fremden ihre Protection zugesichert, und meinte, man setze sich nur der Gefahr aus, daß solch ein reisender Musikus ein solches Anerbieten mißbrauche.

Venedig, die Stadt der Wunder, die Heimath des romantisch Schönen, geheimnißvoll Dunkeln, hatte uns aufgenommen. Venedig mit seinen düstern Palästen, von denen jeder Stein oft zum schreckensvollen Zeugen großer Thaten, schaudervoller Momente geworden ist. Venedig mit seinen stolzen Prachtbauten, seinen antiken Marmorbildern, seinem wundervollen Canale grande, seiner grünen Wellenflur, mit seinen berückenden Schönheiten der Gegenwart wie der Erinnerung, hatte uns gastlich seine Thore geöffnet. Wir hatten die Meisterwerke eines Titian und Tintoretto bewundert, waren in Erstaunen und Entzücken vor den Gemälden Veronese’s und Bassano’s, in den vergoldeten Sälen des Dogenpalastes gestanden; die berühmten Namen der Balbi, Cornari, Giustiniani, Dandolo, Morosini, Grimani, Pisani waren aus dem Schutt und Moder der Verwesung, in die herrlichen Farbentöne der größten Maler getaucht, uns entgegengetreten, und mit ihnen hatten wir einen Einblick gethan in die Geschichte der Großthaten der venetianischen Republik. Lucrezia Borgia war beim Ueberschreiten der Rialtobrücke vor uns aufgetaucht, einem Schattenbilde gleich; ragt doch noch heute der Palast Bembo unweit derselben stolz in die Lüfte, und dort war ja die Wohnung Peter Bembo’s, des Geliebten Lucrezia Borgia’s. Auch dem letzten Dogen von Venedig, der eine so traurige Berühmtheit erlangte, weihten wir eine Stunde der Erinnerung, als wir seinen Palast erblickten, und diesen Eindruck überwog nur der Besuch der Bleikammern im Justizgebäude nächst dem Dogenpalast, unter deren Dächern Tausende geschmachtet hatten, Tausende in Angst vergangen waren. Die Seufzerbrücke, über die so mancher bebende Fuß geschritten, mahnte uns an die düster schaudervolle Vergangenheit der ewig schönen Venezia.

Erst als das Ueberwältigende der ersten Eindrücke vorüber war, überließen wir uns dem geselligen Leben, und meine Tante, welche viele Familien Venedigs kannte, ward mit Einladungen überhäuft. Daher kam es auch, daß wir von einer angesehenen deutschen Familie für den Christabend zur Feier des heimischen Christbaumes eine Einladung erhielten, der wir freudig nachkamen.

Die Räume des gastfreien Hauses waren an jenem Abend von Gästen gefüllt, und Alles schaarte sich um den buntgeschmückten, duftenden Tannenbaum mit seinen zahllosen Lichtern, seinen bunten Vielfältigkeiten. Eine heitere Lebendigkeit machte sich in der Gesellschaft bemerkbar, und Gäste sowohl als Gastgeber freuten sich der erfrischenden Geselligkeit.

Da ging plötzlich ein geheimnißvolles Flüstern von Mund zu Mund durch den Saal. Ein Name ward genannt, groß, berühmt, ein strahlender Künstlername. An der Seite des Hausherrn schritt der soeben eingetretene Gast durch die Menge, und ihm galt das Flüstern, die Neugierde der Anwesenden. Auch meiner bemächtigte sich der leicht erklärliche Wunsch, den größten Tonkünstler seiner Zeit kennen zu lernen, und als ob das Schicksal meinen Wunsch erfüllen wollte, so lichtete sich der Kreis der Menge und der Hausherr trat an meine Tante und mich heran, an seiner Seite sein angesehener Gast.

„Herr Giacomo Meyerbeer bittet mich, ihn den Damen vorzustellen,“ sagte der Hausherr lächelnd.

Erröthend, zitternd, fassungslos stand ich neben der Tante, denn wer beschreibt mein Erstaunen, als ich in dem großen Maestro meinen kleinen Schullehrer von Palmanuova erkannte! Doch rasch, mit freundlichem Lächeln half mir der große Künstler über meine leicht verzeihliche Befangenheit hinüber, und von jener Zeit an ward er mir ein naher, aufrichtiger Freund.

Daß ich bei der ersten Aufführung der „Hugenotten“, zu welcher der große Meister nach Venedig gekommen war, um die Partitur selbst zu leiten, nicht fehlte, dürfen meine geehrten Leser mir glauben. Am Morgen des Christtages aber erhielt ich einen wundervollen Blumenstrauß, welchem ein Clavierauszug der „Hugenotten“ beigelegt war. Darin stand von Meyerbeer’s Hand geschrieben:

„Ein halber Bär kann man wohl sein, aber deshalb doch an dem Talente Anderer sich erfreuen.“




Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Nr. 34. Der Bär.
Von Guido Hammer.


Man wird wohl behaupten dürfen, daß das größte europäische Raubthier, der Bär, aus allen Wäldern und Klüften zwischen Pyrenäen und Karpathen definitiv vertrieben sei. Dies hat natürlich die mehr und mehr um sich greifende, alles Ursprüngliche siegreich bekämpfende Cultur bewirkt, von welcher selbst die theilweise für Menschen heute noch unzugänglichen Schluchten und Waldschlupfwinkel in der Schweiz, in Steiermark, Tirol und dem baierschen Hochgebirge, wo dieses mächtige Raubthier allenfalls noch beschränkte Zuflucht fände, doch so eng umgürtet sind, daß auch diese wilden Oasen nicht mehr als eigentliche Heimstätten des Vertriebenen angesehen werden können. Hingegen da, wo der granitene Kamm des karpathischen Hochgebirges die sogenannte ungarische Schweiz, die Marmarös, mit ihrem über dritthalbhunderttausend Joch großen, Berg und Thal bedeckenden Urwalde überragt – da ist zur Freude aller Waidmannsherzen zunächst noch Freund Petz in voller Unbeschränktheit zu finden.

Hier, im tiefsten Innern unwirthlicher Waldeinsamkeit, die noch kein Schall vernichtender Axtschläge und nur selten der dröhnende Schuß einer Büchse durchhallt, ist’s dem reckenhaften [212] Geschöpfe noch möglich, seine Gattung von Geschlecht zu Geschlecht fortzupflanzen; denn sein einziger Verfolger, der natürlich auch hier nicht ausbleibende Mensch, hat in diesem sonst noch unentweihten Stück heiliger Natur doch noch nicht so weit Fuß gefaßt, um die Existenz des ihm an physischer Kraft mehr als ebenbürtigen Gegners in Frage stellen zu können. Dem mithausenden Gethier aller Art aber bleibt der Gewaltige unter allen Umständen Gebieter, denn selbst die ihm zunächst Mächtigsten, Fuchs und Wolf, mögen trotz ihrer heißen Blutgier doch füglich nur als dessen

Petz auf der Suche.
Originalzeichnung von Guido Hammer.

scheue Vasallen betrachtet werden. So kann sich denn der zottige Alleinherrscher so ziemlich sorglos in seinem Wald- und Felsenreiche umhertreiben und selbst ohne große Gefahr die in den sonnigsten Thälern vereinzelt gelegenen Felder der dort angesiedelten, meist waffenlosen Hüttenbewohner besuchen, hier sich an Pflanzenkost, als Kukuruz, Hafer oder auch Obst, nach Herzenslust zu laben, welche Leckereien er, wie die im Walde wachsenden saftigen Beeren, süßen Wurzeln, Haselnüsse und schmackhaften Knospen, neben genügender Fleischnahrung, ganz besonders liebt. Außerdem weiß der plumpgestaltete Feinschmecker auch den aromatischen Honig der wilden Bienen mit Geschick aufzufinden und zu heben, und sich daran ein köstliches Mahl zu bereiten. Minder harmlos verlaufen seine Wechsel, wenn er dabei auf eigentlichen Raub ausgeht. Hierbei verschont der grimme Bursche nicht nur keine Creatur der weiten Wildbahn, soweit er ihrer nur habhaft werden kann, sondern auch Hausthiere aller Art, das Schaf aus der Heerde und das nach Ecker- und Buchelmast suchende Schwein, werden dem Anschleichenden zur Beute; nicht minder das grasende Pferd am nahen Gehöfte, wie auf hoher Alm das weidende Rind. Doch nicht nur selber geschlagenen Raub, sondern auch den bequemeren Fund, wenn er zum Beispiel auf die Fährte eines angeschossenen und verendeten oder im Kampfe mit seines Gleichen gefällten Wildes, etwa eines Hirsches, kommt, verschmäht der lüsterne Patron keineswegs, verzehrt vielmehr ohne Zögern solch’ willkommene Beute. Doch schleichen wir dem einsiedlerischen Murrkopf einmal auf einem derartigen Gange nach.

[213] Nächtiges Dunkel deckt noch die wildeinsame, erhabene Berg- und Waldesnatur, welches durch die soeben über dem Saume eines Felsenrückens aufgegangene Sichel des abnehmenden Mondes nur schwach und darum so geheimnißvoll erhellt wird. Doch bald dämmert auch gen Osten, zwischen grauen Tannenstämmen und über deren schwarzzackigen Wipfeln, bleicher Schimmer auf – es ist des herannahenden Morgens erster verkündender Schein. Und mit diesem erhebt sich alsbald, erst ganz leise, dann stärker werdend, eine frische Luftströmung und rauscht nun mit wunderbar melodischem Klingen durch die schwankenden Zweige alle, die der himmelanstrebende Hochwald zum Aether streckt, dessen leuchtendes Gestirn nun auch schon den Gebirgskamm goldig überstrahlt. Droben aber, wenn auch nicht in höchster Höhe, sondern noch in der Region des düstern Tannenbestandes, erhebt sich jetzt der herrscherliche Räuber „Braun von Urich“ aus seinem Felsennest, wo er unter Geklüft und darüber gestürztem Windbruch sein Lager aufgeschlagen, und steigt niederwärts, vielleicht nur in der unschuldigen Absicht, in die Eichel- und Bucheckermast zu wandern, welche der Herbst, sammt dem bunten Blätterschmuck der schon frostgedrückten Baumkronen zur Erde gebettet hat. Plumpen, zoddelnden Schrittes wandelt der ungeschlachte, aber um so wehrhaftere Cumpan seines einsamen Pfades dahin, bald hier, bald da den Boden nach Ameisen oder etwa einer fetten Larve beschnopernd, oder er macht einmal mit hochgehaltener Nase kurzen Halt, um den Wind einzuholen. Und wohl muß ihm dieser im Augenblicke gute Kundschaft gebracht haben, denn plötzlich biegt er, nachdem er sichtbar wohlgefällig die Witterung von seitwärts eingesogen, nach dieser Richtung ab, und mit beschleunigtem Trott geht es nun hin, hier auf losem Geröll, dort zwischen und über Felsblöcke und sturmgebrochene oder in sich selbst zerfallene, faulende Stämme. Durch all dieses Gewirr steigt und drängt der beharrliche Bursche hindurch, nicht einen Augenblick schwankend ob der Richtung, die er innezuhalten hat, denn eines Bären Nase ist zu „infallibel“, um sich auf einer einmal angenommenen Fährte täuschen zu können. Und richtig! Sein so unglaublich ausgebildeter Geruchssinn hat ihn bald einem kleinen Felsenkessel zugeführt, der auf seinem schwarzen Modergrunde einen tief dunkelglänzenden Quell birgt.

Vor diesem, unter überragenden uralten Fichten, liegt, vom felsigen Beckenrande rückwärts halb hinabgeglitten, das Hintertheil vom moorbraunen unheimlichen Wasser überspült, ein verendeter starker Hirsch, der jedenfalls im kühlenden Naß die von einem Gegner empfangene schwere Wunde zu netzen hierher geflüchtet und dabei vom Tode überrascht worden war. Angesichts solch edlen Gedeckes schreitet die edle Walddurchlaucht „Vetter Braun“, allerhöchst vergnüglich dabei brummend, ohne Einhalt darauf los, wobei ihm das niederhängende morsche Geäst einer quer über seinen Weg gestürzten, doch auf hohen Felsblöcken noch Stützpunkt findenden alten Tanne den zottigen Pelz durchhechelt, daß daran die dürren Zacken knackend und klirrend auf den harten Steinboden niederschlagen. Dies zieht jedoch unsern hohen Herrn durchaus nicht von seinem nahen Ziele ab. Vielmehr hat er dieses rasch genug erreicht, um es nun zuvörderst von allen Seiten zu beschnüffeln. Dann aber legt der begehrlich Gewordene sich mit ganzem Leibe, als fürchte er immer noch eine Einbuße, über das stattliche Opfer, dessen auch im Tode noch so schöner Kopf mit dem mächtigen Geweih gegen einen Granitblock lehnt.

Kräftigen Risses schneidet der Fleischlüsterne seine so leicht errungene köstliche Beute an und zwar zuerst in der Flanke, von wo aus er dann mit sichtlichem Behagen und schmatzend und knirschend, je nachdem er Weichtheile verschlingt oder Knochen zermalmt, sich weiter und weiter des so leckern Mahles bemächtigt. Dann aber, wenn er gesättigt ist, bedeckt er die noch immer reichlichen Ueberreste mit Reisig und Moos, denn wie die Regel es lehrt, kehrt der Bär, welcher – zu seiner Ehre sei’s gesagt – niemals aus bloßer Mordsucht neuen Raub schlägt, sobald er vom alten noch zu zehren hat, später nach solchem zurück. Aus diesem Grunde sucht auch wohl der eben Befriedigte in nächster Nähe seines versteckten Vorrathes einen passenden Ruheort, wo er so lange sorglos schläft, bis ihn der wieder rege werdende Hunger von Neuem seines vergrabenen Schatzes gedenken und diesen vollends aufzehren läßt, bis zuletzt nur noch die stärksten Gebeine, wie Schädel, Geweihe, Hals- und Rückenwirbel und die Becken, sowie die hornigen Schalen der Läufe nebst Fetzen von Haut, die Stelle bezeichnen, wo der kraftvolle Waldbeherrscher getafelt hat. Alle diese Ueberbleibsel werden aber nachträglich auch noch von dem kleinern Raubzeuge des Waldes, bis zur Ameise herab, benagt und so von allen noch daran hängenden Fleisch- und anderen Weichtheilen gesäubert, während Licht, Sonne und Wetter schließlich die kahlen Knochenreste bis zur blendenden Weiße bleichen und dann diese Todtenmale schaurig aus dunkler Bodenumgebung hervorleuchten.




Ein Tag zu viel oder – zu wenig?


Daß der Wechsel von Tag und Nacht durch die Drehung der Erde um ihre Achse entsteht – wer wüßte dies nicht? daß hierdurch ein Unterschied in der Zeit herbeigeführt wird, je nachdem ein Ort mehr östlich oder westlich gelegen ist – auch das ist bekannt; das nachstehend erörterte, eigenthümliche Resultat dieser Beziehungen aber, welches zum Theil nur eine Consequenz der irdischen Zeitverhältnisse, zum Theil jedoch ein Ergebniß unserer Culturentwicklung ist, ist weit entfernt davon, allgemein genug bekannt zu sein, und in den betreffenden Fachwerken pflegt sich über den ersteren Punkt sehr wenig, über den letzteren gar nichts zu finden. Und doch sind die hierauf sich gründenden Thatsachen für unseren Verkehr mit entfernteren Gebieten der Erde – sowohl in praktisch mercantiler, wie wissenschaftlicher Beziehung – wichtig und deshalb des Interesses jedes Gebildeten werth.

Alle Orte, die auf einem und demselben Meridian (das heißt einem der Kreise, die man sich auf der Erde senkrecht zum Aequator und durch beide Pole gehend gezogen denkt) liegen, welche also gleiche „geographische Länge“ haben, haben in demselben Augenblicke Mittag, überhaupt dieselbe Zeit. Dies ist z. B. annähernd der Fall in Dresden und Triest, noch genauer in Leipzig und Venedig, deren Uhren fast übereinstimmen.

Geht man dagegen von einem Meridiane aus auf irgend einem Parallelkreise d. h. einem der Kreise, die man sich in gleichem Abstande vom Aequator rings um die Erde gezogen denkt) nach Osten oder Westen, so hört diese Uebereinstimmung in der Zeit auf, und zwar geht die Uhr eines östlicher gelegenen Ortes stets gegen die des westlicher gelegenen vor, da dem ersteren ja wegen der von Westen nach Osten erfolgenden Drehung der Erde die Sonne früher aufgeht; diese Zeitdifferenz beträgt für jeden Grad 4 Minuten. So ist z. B., wenn es in Warschau Mittag ist, in St. Petersburg 12 Uhr 37 Minuten, in Jekaterinenburg 2½ Uhr, am Ausflusse des Jenissei 4½ und an der Mündung der Lena 6½ Uhr Nachmittags, in der Behringstraße aber schon 11 Uhr Nachts.

Auf diesen Verhältnissen beruht auch die von den ersten Erdumseglern gemachte Erfahrung, daß ein Schiff, welches die Erde von Osten nach Westen – also in gleicher Richtung mit der scheinbaren Bewegung der Sonne – umschifft, wenn es wieder bei seinem Abgangshafen ankommt, um einen ganzen Tag in der Zeitrechnung zurück ist, während, wenn die Reise von Westen nach Osten – also der Sonne entgegen – gerichtet war, die Schiffsrechnung um einen Tag voraus ist.

Diese Erfahrung machten zuerst Elcano und seine Gefährten, als sie Donnerstag den 10. Juli 1522 mit der „Victoria“, dem letzten der von der Magalhaens’schen Expedition übrig gebliebenen Schiffe (Magalhaens selbst wurde bekanntlich auf den Philippinen in einem Kampfe mit den Eingeborenen getödtet) an der capverdischen Insel Santiago landeten, während sie nach der Schiffsrechnung erst Mittwoch den 9. Juli hatten.

Als nach der Rückkehr dieser ersten Weltumsegler nach Spanien der venetianische Gesandte Contarini die richtige Erklärung für den „verlorenen Tag“ fand, hielt man dieselbe nicht einmal allgemein für richtig, sondern machte sich vielfach darüber lustig. Wäre indessen schon damals die Verbreitung des Wissens eine so schnelle und allgemeine gewesen, wie in der neueren Zeit, so hätte man gewußt, daß schon zweihundert Jahre früher ein [214] arabischer Gelehrter Abulfeda (1273–1331) die Erscheinung mit den Worten vorausgesagt hatte: „Stellen wir uns vor, daß zwei Personen eine Reise um die Erde zurückgelegt hätten, so wird bei der Rückkehr zum gemeinsamen Ausgangspunkte der Eine, der gegen Westen zog, einen Tag zu wenig, der Andere, der gegen Osten zog, einen Tag zu viel zählen.“

Hiernach ergiebt sich also nicht blos eine Differenz in der Bezeichnung der Tagesstunden, sondern auch eine Abweichung in Bezug auf den Wochentag und das Datum. Eine solche tritt übrigens nicht nur bei einer Reise um die ganze Erde hervor, sondern ergiebt sich schon für zwei Orte, von welchen der eine westlich oder östlich weit genug von dem anderen entfernt ist, d. h. deren „geographische Länge“ hinreichend verschieden ist. Als z. B. in Leipzig Montag der fünfzehnte Januar anbrach, war in Paris noch Sonntag der vierzehnte Nachts elf Uhr zwanzig Minuten und in New-York noch Sonntag sechs ein Viertel Uhr Nachmittags etc.

Ist es nun an irgend einem Orte unserer Erdhälfte, z. B. in Leipzig, Mittags zwölf Uhr und versetzen wir uns im Geiste auf dem Parallelkreise dieser Stadt weiter nach Osten, so gelangen wir, dem eben Gesagten entsprechend, zunächst an Punkte, wo es bereits Nachmittag desselben Tages ist; wenn wir uns aber an einen Punkt versetzt denken, der um 180 Grad oder den vollen halben Umfang dieses Kreises östlich von Leipzig entfernt ist, so wird an diesem Punkte der Zeitunterschied gerade zwölf Stunden betragen, es wird, dort zwölf Uhr Mitternacht sein. Einen Augenblick später wird an letzterem Orte der folgende Tag angebrochen sein, während in Leipzig erst der Nachmittag desselben Tages beginnt. Gehen wir aber um dieselbe Zeit von Leipzig aus nach Westen, so treffen wir auf Punkte, an denen es noch Vormittag desselben Tages ist, und wenn wir unseren Standpunkt wieder und volle 180 Grad westlich annehmen, so werden wir uns an einem Orte befinden, an dem es Mitternacht ist, die eben erst den vorhergehenden Tag beschließt.

Die nachstehende Zusammenstellung wird dies deutlicher machen. Wir wählen den Mittag des 31. December 1871, und da der bei uns im Leben übliche Gebrauch, sowohl Mittag als Mitternacht durch „12“ zu bezeichnen, die Verhältnisse weniger klar hervortreten läßt, so wählen wir die bei den Astronomen und den Italienern (bei letzteren auch für die bürgerliche Zeit) gebräuchliche Benennung der Tagesstunden durch die Ziffern 1 bis 24, so daß also 12 den Mittag, 24 aber Mitternacht bezeichnet. Der Augenblick nach Mittag und nach Mitternacht sei durch „0 Uhr“ angedeutet.

Wir haben dann:


180° westlich
24 Uhr Nachts (Sonnabend)
In Leipzig
12 Uhr Mittags
180° östlich
24 Uhr Nachts Sonntag
0 Uhr früh Sonntag den
31. December
1871
0 Uhr Nachm. Sonntag
31. Dec.
1871
0 Uhr früh Montag
den 1. Jan.
1872
6 Vorm. 18 6 Vorm.
12 Mittags 24 Nachts 12 Mittags
0 Nachm. 0 Uhr früh Montag
1. Jan.
1872
0 Nachm.
18 6 Vorm. 18
24 Nachts 12 Mittags 24 Nachts
0 Uhr früh Montag
1. Jan.
1872
0 Nachm. 0 Uhr früh Dienstag
den 2. Jan.
1872.
6 Vorm. 18 6 Vorm.
12 Mittags 24 Nachts 12 Mittags


Aus dieser Zusammenstellung ist klar ersichtlich, daß es, als in Leipzig der Neujahrstag 1872 (Montag) anbrach, an dem 180 Grad westlich gewählten Punkte erst Mittag des 31. December 1871 (Sonntag) war und hier der 1. Januar 1872 erst am Mittag des Leipziger Neujahrstages eintrat; daß dagegen in der gleichen östlichen Entfernung schon Neujahr war, als in Leipzig der Nachmittag des Sylvester (Sonntag) begann, und schon Dienstag den 2. Januar, als es in Leipzig noch Nachmittag des Neujahrs-Montages war.

Dies führt nun zu einem sonderbaren Schlusse.

Da jeder Parallelkreis in 360 Grade, welche im Ganzen 24 Zeitstunden entsprechen, getheilt wird, so kommt man, wenn man von einem Punkte der Hemisphäre einmal 180 Grad westlich, das andere Mal 180 Grad östlich auf einem solchen Kreise herumgeht, offenbar zu demselben Punkte, welcher dem Ausgangspunkte diametral gegenüber liegt. Es ergeben sich also für diesen Punkt nach dem Obigen zwei verschobene Zeitbestimmungen, welche um Stunden differiren! Diesem Ost-West-Punkte müßten also auch zwei verschiedene Daten und Wochentagsnamen zukommen. Da nun aber ein bestimmter Punkt auf der Erde doch nur ein bestimmtes Datum haben kann, so folgt hieraus, daß es auf jedem Parallelkreise einen Punkt geben muß, wo das Datum gewissermaßen einen Sprung von 24 Stunden macht, und daß zwei in dieser Gegend in geringer Entfernung von einander, aber zu beiden Seiten dieses Wechselpunktes liegende Orte, obgleich sie nur wenig von einander verschiedene Uhrzeiten haben, doch nach Datum und Tagestunden um einen Tag von einander abweichen müßten.

Wie verhält sich nun diesen Schlußfolgerungen gegenüber die Wirklichkeit?

Hierauf ist die Antwort: es verhält sich thatsächlich so, und dies ist den Seefahrern und natürlich auch den an den betreffenden Orten Lebenden hinreichend bekannt. Daß übrigens das Letztere nicht immer der Fall gewesen, beweist das Beispiel des Paters Alphonsus Sanctius, der seiner Zeit von Manila auf der Insel Luzon nach dem an der chinesischen Küste, nur eine halbe Stunde westlich von der Insel gelegenen Orte Macao reiste, wo er seiner Meinung nach am Tage des heiligen Athanasius, den 2. Mai, ankam, bei seiner Landung aber zu seinem Befremden erfuhr, daß die portugiesischen Geistlichen auf dem Festlande schon das Fest der Kreuzerfindung, 3. Mai, feierten!

Es drängen sich nun verschieden Fragen auf. Wir sind von Leipzig ausgegangen; da man doch aber auch von irgend einem andern Punkte des durch Leipzig gelegten Parallelkreises ausgehen kann, so fragt sich, an welcher Stelle der Erde der auf diesem Kreise befindliche Trennungspunkt der – wenn man so sagen darf – östlichen und westlichen Zeitrechnung liegt. Da man ferner durch jeden beliebigen Punkt eines Meridians einen solchen Parallelkreis legen kann, so wird es zwischen Nord und Süd eine unendliche Anzahl solcher Scheidepunkte geben, und wenn man alle diese mit einander verbindet, so wird man eine Demarcationslinie für die beiden Zeitgebiete, eine „Linie des Datumwechsels“ auf der Erde erhalten, und die eben ausgesprochenen Fragen werden sich in die eine zusammenfassen lassen: „In welchem Theile der Erde liegt diese Linie, wie ist ihre Richtung und Gestalt und warum liegt sie dort, wo man sie thatsächlich trifft, da ihre Punkte, theoretisch betrachtet, doch an jedem Orte der Erde liegen könnten?“

Die Antwort hierauf ist folgende:

In Europa, dem Centralsitze der neueren Cultur, in welchem sich die christliche Zeitrechnung entwickelte und von wo aus sie sich nach allen Richtungen hin verbreitete, wird die Scheidelinie nicht liegen können; sie wird sich vielmehr da finden, wo die mit den Entdeckungsreisen theils nach Osten, theils nach Westen sich ausbreitenden beiden Culturströmungen sich begegnen mußten, also im Allgemeinen auf der Europa entgegengesetzten Seite der Erdkugel; und hier, im großen Ocean, liegt sie in der That. Die natürliche (wahre) Zeit konnte den betreffenden Orten hierdurch weder gebracht noch modificirt werden, denn diese war ihnen durch den jeweiligen höchsten Stand der Sonne, durch den Mittag, gegeben; mit welchem Namen und welchem Datum aber ein bestimmter Tag bezeichnet wurde, das hing offenbar davon ab, ob einem Orte die christliche Zeitrechnung von Osten oder von Westen her zugegangen war.

Die Spanier steuerten bei ihren Entdeckungsreisen im Allgemeinen bekanntlich nach Westen und fuhren um Südamerika herum; sie kamen daher von Osten aus in den großen Ocean. Die Holländer, Portugiesen und Engländer dagegen schlugen meist den umgekehrten Weg ein; sie fuhren um’s Cap der guten Hoffnung und gelangten daher von Westen aus nach der andern Halbkugel. Daher kommt es nun, daß die von den Spaniern occupirten Inseln um einen Tag in der Zeitrechnung zurück sind gegen die Besitzungen der Portugiesen und Holländer. Dies macht sich nun z. B. in der Nähe der Molukken, wo Spanier und Portugiesen Nachbarn sind, bemerkbar und der oben angeführte Fall von der Datumdifferenz zwischen dem portugiesischen Orte Macao und dem spanischen Manila ist ein Beleg hierfür.

Solche Verhältnisse waren es also, die die Lage und Gestalt der Linie des Datumwechsels bestimmten; sie ist auf dem beistehenden [215] Kärtchen dargestellt, welches dem des Professor Heis in Münster, dessen Forschungen wir überhaupt diese Mittheilungen verdanken, nachgebildet ist, aber nur das für unsern Zweck Nothwendigste enthält. Die Längengrade sind vom Meridian von Greenwich (Sternwarte in der englischen Grafschaft Kent) aus gezählt.

Wie man sieht, steigt unsere Linie, vom Südpol kommend, anfangs ziemlich genau nördlich, biegt sich dann östlich von Neu-Seeland allmählich immer mehr nordwestlich und läuft so auf der Ostseite von Neuholland an den Hebriden und Neu-Guinea vorüber bis in’s chinesische Meer, macht aber hier, wo sie am weitesten westlich vordringt, nach Norden und Westen gekrümmt eine Schleife, welche Celebes und Borneo südwestlich liegen lassend, sich um die östlich bleibenden Philippinen herumschlingt, und geht nun nordöstlich gebogen auf der Ostseite der japanischen Inseln an diesen vorbei hinauf in die Behringstraße, aus welcher sie, die Küste des asiatischen Festlandes streifend, wieder zu rein nördlicher Richtung umbiegend, dem Nordpole zugeht.

Wenn östlich von dieser Linie Sonntag der Erste eines Monats ist, so ist an allen Punkten westlich von ihr bereits Montag der Zweite, wie wir dies angedeutet haben. Sie liegt, wie die Karte zeigt, fast ganz im Meere und schneidet jeden der ihr begegnenden Meridiane in zwei Punkten.

Wenn nun ein Schiff, das die Reise um die Erde macht, in seiner Zeitrechnung mit dem Abgangshafen übereinstimmen soll, so ist es nothwendig, wenn die Fahrt nach Westen geht, unterwegs einen Tag fortzulassen, wenn die Reise aber nach Osten gerichtet ist, einen Tag nach Datum und Namen doppelt zu zählen. Dies müßte nun eigentlich beim Passiren der Linie des Datumwechsels geschehen. Indeß ist es bei den Seefahrern gebräuchlich, diese Correctur beim Ueberschreiten des hundertachtzig Grad von Greenwich gelegenen Meridians anzubringen, an den, wie aus unserer Karte ersichtlich, die nördlichen und südlichen Schenkel der Datumscurve sich ziemlich eng anschließen.

Kommt also z. B. ein Schiff von Osten her und passirt es den genannten Meridian Sonnabend den 15. Juli, so wird man im Schiffsjournal am nächsten Tage Montag den 17. Juli schreiben, so daß es also auf dem Schiffe in dieser Woche keinen Sonntag und keinen 16. Juli giebt. Kommt aber das Schiff aus der entgegensetzten Richtung, so erhält dann in der Schiffsrechnung der auf den 15. Juli folgende Tag ebenfalls die Bezeichnung „Sonnabend den 15. Juli“ und das Schiffsjournal enthält dann hinter einander die Tage: „Freitag 14. Juli, Sonnabend 15. (I) Juli, Sonnabend 15. (II) Juli, Sonntag 16. Juli.“ –

Wegen der eigenthümlichen Krümmung der Scheidelinie kann es übrigens auch vorkommen, daß zwei, in nicht zu großer Entfernung von einander, aber zu beiden Seiten der Trennungscurve liegende Orte zeitweilig um zwei Tage im Datum von einander abweichen. So haben z. B. Manila und die Insel Gilolo (nordwestlich von Neu-Guinea) nur eine Zeitdifferenz von einer halben Stunde: Manila liegt aber östlich, Gilolo westlich von der Datumlinie. Wenn es nun in Manila Sonntag den 15. Nachts 11 Uhr 30 Minuten ist, so hat man in Gilolo Nachts 12 Uhr, aber schon Montag den 16., da Gilolo auf der andern Seite der Datumscheide liegt. Nur eine Minute später ist in Manila Sonntag den 15. Nachts 11 Uhr 31 Minuten, in Gilolo aber schon Dienstag der 17. früh 12 Uhr 1 Minute! –

Schließlich wollen wir noch bemerken, daß es auf unserer Datumscurve, da sie mit keinem Meridian zusammenfällt, an der Stelle, wo sie sich am meisten nach Osten krümmt, einen Punkt geben muß, welcher die Sonnenstrahlen täglich zuerst erhält, an welchem also ein bestimmtes Datum zuerst beginnt und wo also beispielsweise zuerst auf der ganzen Erde das neue Jahr anbricht. Diesen Punkt könnte man den „Neujahrspunkt“ nennen. Derjenige bewohnte Ort, welcher diesem Punkte entspricht, ist die östlich von Neuseeland gelegene Chatham-Insel (etwa 183 Grad östlich von dem Meridian von Greenwich und in 44 Grad südlicher Breite). In diesem Punkte sind uns daher die Chatham-Insulaner voraus!

So haben wir also in dieser merkwürdigen Linie eine in den mathematisch-geographischen und culturhistorischen Verhältnissen unserer Erde begründete internationale Zeitscheide kennen gelernt, an die wohl bisher auch mancher gründlicher Gebildete nicht gedacht hat. –




Blätter und Blüthen.


Zum Ergrauen des Haupthaares. Unter den mir mitgetheilten Fällen ungewöhnlicher Ergrauungsverhältnisse verdienen folgende drei allgemein bekannt zu werden.

1) Ein Mitglied der deutschen Gesandtschaft in Petersburg schreibt: „Ein Bekannter von mir, der bereits gestorben ist, dessen wahrheitsgetreue Aussagen ich aber wie meine eigenen verbürgen möchte, ein Mann von rüstiger Gesundheit und Frische, mit starkem hellblondröthlichem Haar, war leidenschaftlicher Jäger und befand sich vor acht Jahren (er war damals einunddreißig Jahre alt) eines Tages zu Boot auf der Entenjagd im Kurischen Haff. Hier erhob sich gegen Abend plötzlich ein starker Sturm vom Lande her; er war allein im Boot, verlor unglücklicher Weise ein Ruder und befand sich nun, bei hochgehenden Wogen in der Unmöglichkeit, das Ufer zu erreichen, in höchster Lebensgefahr. Da zeigte sich ihm plötzlich ein dünner schwankender Pfahl im Wasser (wahrscheinlich die Marke für ein Fischernetz); er ergriff denselben, klammerte sich an ihm fest und hielt auf diese Weise sich selbst und das Boot. In dieser Stellung nun, jeden Augenblick gewärtig, daß Wind und Wellen das Boot doch fortreißen würden, und unter Aufbietung aller ihm möglichen Kraft der Neigung zum Erlahmen widerstehend, verbrachte er die ganze lange Nacht, bis endlich am Morgen der Landwind aufhörte und es ihm gelang, mittelst des Seewindes das Ufer zu erreichen. In dieser Nacht, erzählt er, sind ihm die meisten seiner Kopfhaare erbleicht, und wer, wie ich, seine Aufrichtigkeit und Biederkeit kannte, wird in seine Mittheilung keinen Zweifel setzen.“

2) Ein hiesiger namhafter Portraitmaler schreibt mir: „Ich hatte in meiner Jugend Zeichenunterricht bei einem Herrn Bendig, damals meiner Schätzung nach ein hoher Vierziger. Er war eigentlich Kupferstecher, hatte es aber in dem Fache zu nichts Besonderem gebracht; die Zeit, in der ich seinen Unterricht genoß, war auch keine solche, in der Kupferstecher von ihrer Kunst leben konnten (zwischen 1814–1818) – deshalb gab er Zeichenunterricht. So oft ich Stunde hatte, zweimal in der Woche, immer mußte ich sein Haar bewundern. Es ward auch viel darüber gesprochen und er hatte ein Gefallen daran, daß er der einzige Mensch sei, dessen Haar in so eigenthümlicher Weise weiß wurde. Es machte den Eindruck wie graumelirtes Haar und an jedem einzelnen wechselten, soviel ich mich mit [216] aller Deutlichkeit entsinne, gleich lange weiße und ebenso lange braune Stücke mit einander ab, jedes etwa einen Viertel Zoll lang, also etwa wie bei den Borsten des Stachelschweins.“

3) Höchst merkwürdig ist die Mittheilung, welche eine Dame aus Philadelphia über sich macht: „Der Kopf, auf dem beifolgende Haare gewachsen sind, ist achtundzwanzig Jahre alt und zu Zeiten fast ganz grau, wenigstens so stark melirt, daß es sofort auffallen muß, während zu anderer Zeit das Haar dunkelbraun erscheint und man selbst bei genauer Prüfung kein weißes Haar entdecken kann; dabei findet sich unter den ausgefallenen Haaren nie ein weißes resp. graues und die Frisur ist stets dieselbe. Schon in meinem siebenzehnten Jahre fand ich häufig ganz weiße Haare in meinen Flechten, die jedoch immer wieder verschwanden, ohne daß sich weiße Haare in dem Ausfall fanden. Nach jedem Anfall meines nervösen Kopfwehes gleicht mein Haar dem einer Frau in höheren Jahren, so stark melirt erscheint es, allein schon nach einigen Tagen ist nur hier und da ein weißes Haar zu finden.“

Ich habe die mitgeschickten Haare sehr genau mikroskopisch untersucht, sie unterschieden sich in Nichts von den Haaren bei gewöhnlichem vorzeitigem Ergrauen. Die Mittheilung ist mir unerklärlich; ich habe von einem solchen Wechsel der Erscheinung bisher nie gehört und die gesammte medicinische Literatur enthält keinen solchen Fall. Wenn hier nicht eine erhebliche Selbsttäuschung der Dame vorliegt, würde es sich um etwas ganz Außergewöhnliches handeln. Ich habe die Dame um weitere Mittheilungen und Haarsendungen ersucht und hoffe über das Resultat später hier noch berichten zu können.

Berlin.

Dr. Pincus.




Zur gefälligen Notiznahme für deutsche Eisenbahn-Verwaltungen. Die Union-Pacific-Eisenbahn, die – wir haben unseren Lesern über dieselbe früher schon einmal ausführlich berichtet – wie Nichts den kolossalen Unternehmungsgeist der Amerikaner bekundet, verfolgt eine sehr nördliche Richtung durch Nebraska, Wyoming, Utah und Nevada bis nach Californien, und die deshalb schon anfänglich gehegten Befürchtungen, daß die Bahn während eines großen Theiles des Winters durch Schneestürme und Windwehen unfahrbar gemacht, oder doch ihr Betrieb sehr gehindert werden könnte, haben sich in diesem Winter leider nur zu sehr bestätigt. Verschiedene deutsche Zeitschriften haben darüber schon Mittheilungen veröffentlicht; dieselben stammten aber nur von einzelnen Reisenden, welche eben nichts Anderes zu erzählen wußten, als was sie selbst gelegentlich erlebt hatten. Ein anschauliches und zusammenfassendes Bild von der staunenswerthen und für unsere Begriffe geradezu riesenhaften Thätigkeit, welche die amerikanischen Eisenbahnverwaltungen diesem Naturereigniß gegenüber entwickelt haben, erhielt man aus jenen Berichten nicht und gerade aus diesem Grunde glauben wir für die nachstehende Schilderung immer noch das besondere Interesse unserer Leser voraussetzen zu dürfen.

Der verflossene Winter war, sowohl was seine Dauer als auch seine Strenge anbelangt, selbst für nördlichen Staaten der Union auch diesmal ein außerordentlicher. Er hat sehr früh begonnen und lange angedauert. Wie heftig und einschneidend die Kälte zeitweise gewesen sein muß, kann man daraus entnehmen, daß in den ersten Tagen des Februar in Chicago, welche Stadt in ungefähr gleicher Breite mit Rom liegt, die Kutscher der Pferdeeisenbahnwagen den Dienst verweigerten, nachdem mehrere dieser Leute Hände und Füße erfroren hatten. Schon am 12. October war der Betrieb der Linie über die Felsengebirge durch einen bedeutenden Schneefall – selbst da, wo keine Windwehen stattfanden, lag der Schnee vierundfünfzig Zoll tief – zeitweilig gestört, und von dieser Zeit an bis in die Mitte des Monats Februar folgten sich Schneefälle und rauhe Winde in kurzen Zwischenräumen.

Man war allerdings auf solche Vorkommnisse von vornherein gefaßt; denn schon vor drei Jahren war dieser Theil der Bahn während eines Zeitraumes von einundzwanzig Tagen durch Schnee versperrt oder, wenn es erlaubt ist, den amerikanischen Ausdruck zu gebrauchen, „blokirt“. Im vorigen Sommer wurden denn an allen jenen Punkten, wo die Bahn durch Windwehen versperrt war, und ebenso an solchen Plätzen, wo Leute, die mit den Ortsverhältnissen und der Meteorologie der Gegend vertraut sind, es für rathsam erklärten, starke Bretterwände, oft in doppelter, ja drei- und vierfacher Reihe errichtet und namentlich an den Erdeinschnitten Wetterdächer erbaut. Da im Winter die Winde in der Regel von Nordwesten kommen und auch die Schneestürme vor drei Jahren aus dieser Richtung gewüthet hatten, so wurden alle diese Vorrichtungen auf der nördlichen Seite der Bahn mit der Richtung gegen Nordwesten angebracht. In den zwei folgenden Wintern haben sich denn auch, trotz mehrfacher Schneestürme, diese Schutzwehren als hinreichend bewiesen, und der Verkehr auf dieser großen Straße litt nur verhältnißmäßig unbedeutende Störungen. Allein in diesem Winter wurden alle auf die Windrichtung gegründeten Berechnungen über den Haufen geworfen; denn schon nach der ersten Schneeblokade kamen drei ganz heftige Schneestürme gerade von der entgegengesetzten Richtung, so daß also alle jene gegen Nordwesten aufgerichteten Schutzwehren, Bretterwände und Bretterdächer nicht den geringsten Schutz gewährten. Man mußte demnach mitten im Winter an das Erbauen ähnlicher Schutzwehren, diesmal auf der südlichen Seite der Bahn, denken und deren Ausführung sofort in Angriff nehmen. Allein was ist dies für unternehmende, vor keinem Hinderniß zurückbebende Amerikaner! In Omaha, an den Ufern des Missouri, sechshundert Meilen von dem Orte, wo die Schneeanhäufungen die Bahn versperrten (also in einer Entfernung, die etwa derjenigen von Danzig nach Triest gleichkommen dürfte), wurden alle Hände in Bewegung gesetzt, um Bretterwände und Wetterdächer zu zimmern. Tag und Nacht war die Zimmermannssäge in Bewegung und Tag und Nacht ertönte der Hammer des Schreiners. Sobald eine gehörige Anzahl solcher Schutzwehren fertig war, um einen Bahnzug zu befrachten, sauste die Locomotive mit den „hölzernen Mauern“, wie einst das Orakel zu Delphi den Athenern zu bauen angerathen hatte, als es ihnen die Nothwendigkeit einer Kriegsflotte begreiflich machen wollte, über die schneebedeckte Ebene den Felsengebirgen zu. Mit unsäglicher Mühe wurde die hart gefrorene Erde aufgegraben, um die Pfosten darin zu befestigen, welche den Bretterwänden die nöthige Unterstützung geben mußten.

Ein im November von Südwesten herbrausender Schneesturm kümmerte sich wenig um die „hölzernen Mauern“, und bald war die Bahn unter tiefen und undurchdringlichen Schneeschichten begraben. Jetzt wurden schwere eiserne Schneepflüge, deren die Eisenbahngesellschaft dreizehn Stück besaß, und deren man sich in den zwei vorhergegangenen Wintern mit gutem Erfolge bedient hatte, um die Bahn in fahrbarem Zustande zu erhalten, angewendet. Hinter den Pflug wurden drei starke Locomotiven angespannt, und in Zeit von einer Woche waren fünfundzwanzig Locomotiven dienstuntauglich geworden. Der Schnee war nämlich so fest und undurchdringlich, daß die Locomotiven anstatt die Schneepflüge vorwärts zu treiben, durch die Gewalt des Anpralls vom Geleise geschleudert wurden. Nur dadurch, daß man in Zwischenräumen von acht bis zehn Fuß den aufgewehten Schnee bis zu den Schienen hinab durchgrub, machte man es dem Schneepfluge möglich, die Windwehen zu durchdringen. Aber auch diese Hindernisse alle schreckten die muthigen Amerikaner nicht ab. Wo Dampfkraft und Maschinen allein nicht fertig werden konnten, mußte die Kraft des Menschen helfend dazwischen treten. Und nun wurden sieben Bahnzüge in aller Eile ausgerüstet, um Arbeiter mit Schaufel und Hacke an Ort und Stelle zu bringen. Selbstverständlich mußten dieselben mit hinreichendem Proviant, für ungefähr sechshundert Mann und für zwei Wochen, sowie mit dem nöthigen Brennmaterial beladen werden. In jedem Bahnzuge befanden sich außer den Bahningenieuren und dem Aufseherpersonal fünfundsiebenzig Mann, die natürlich auch in den Waggons schlafen mußten. Man kann sich vorstellen, was diese Menschen zu erdulden hatten, wenn man bedenkt, daß sie von allen Seiten dem über eisige Schneefelder dahergepeitschten Sturme ausgesetzt waren, und daß die Arbeit fast ununterbrochen Tag und Nacht fortgesetzt wurde. Nach den Angaben der Bahnbeamten wurden viele der Leute durch Erfrieren einzelner Glieder dienstuntauglich, und es ist daher nicht zu verwundern, wenn Männer, die sonst an die härtesten Arbeiten gewöhnt sind und vor keiner Gefahr erzittern, vor der Natur in ihren Schrecken sich entmuthigt zurückzogen und die weitere Arbeit verweigerten.

Doch solche Muthlosigkeiten sind immer nur von kurzer Dauer. Der Amerikaner ermannt sich bald wieder und mit einem „Let us try it again!“ – laßt es uns nochmals versuchen – greift er wieder wacker an, und es ist diesen ungeheueren Anstrengungen auch gelungen, große Strecken der Bahn fahrbar zu machen. Um den Lesern einen Begriff von der Störung des Verkehrs durch die Schneestürme, wie solche nach Angabe der in jenen Gegenden lebenden Ansiedler in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht gewüthet hatten, zu geben, wollen wir nur anführen, daß am 14. Februar sieben nach Westen gehende Passagierzüge an der Station Separation im Territorium Wyoming lagen, von denen einer bereits vor achtundzwanzig Tagen von Omaha, im Staate Nebraska, abgefahren war, während zwei nach Osten gehende Personenzüge in Green River warteten, bis die Bahn fahrbar gemacht werden konnte. (Ein Blick auf die Karte zeigt, daß die unfahrbare Strecke damals kaum noch hundert englische Meilen betrug.) Außer diesen Personenzügen waren dreihundert Frachtwagen nach dem Westen und zweihundert solche nach dem Osten mit ihrer Ladung an den verschiedenen Stationen aufgehalten, und es ist daher nicht zu verwundern, wenn die Handelswelt in Newyork die massenhaft dort aufgehäuften, für die Länder des stillen Meeres bestimmten Waaren in sofort zu diesem Zwecke gemietheten Schiffen befördern ließ.

Die Bahnverwaltung wurde durch all dieses Ungemach nicht entmuthigt. Jedem Personenzug, den sie aussendete, wurde ein mit Schneepflug versehener und mit Arbeitern gefüllter Zug, und ebenso ein Extrazug mit Nahrungsmitteln und Kohlen für dreißig Tage vorausgeschickt, so daß, so unangenehm es auch für Reisende sein mag, Tage und Wochen lang auf einer unabsehbaren Schneefläche oder in eingeschneiten Bergschluchten campiren zu müssen, jedenfalls für die Ernährung und Erwärmung des Körpers gesorgt war, und es ist gewiß ein Zeugniß, das die Bahnverwaltung mit großem Stolze sich ausstellen darf, wenn sie sagt, daß, so groß auch die Unannehmlichkeiten eines solchen Aufenthaltes für die Reisenden gewesen sein mögen, doch kein Passagier Mangel an Nahrung oder Wärme gelitten hat.

Die Bahningenieure sprechen jetzt schon die Ueberzeugung aus, daß sie in diesem Winter Erfahrungen gesammelt haben, die es ihnen möglich machen, selbst noch heftigeren Schneestürmen, als sie eben erlebt worden, Trotz zu bieten und ähnliche Störungen in dem großen Weltverkehr zu verhüten. Möge es dem menschlichen Geiste auch hier gelingen, im Kampfe gegen die empörte und entfesselte Natur den Sieg davon zu tragen!




Druckfehler. In Nr. 9 unseres Blattes, Seite 138, erste Spalte, Zeile 9 lies anstatt den tausendsten Theil den „hundertsten“.




Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das erste Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Verlagshandlung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.