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Die Gartenlaube (1886)/Heft 29

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1886
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[501]

No. 29.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 21/2 Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Sankt Michael.

Roman von E. Werner.
(Fortsetzung.)


Elmsdorf, die Besitzung des Herrn von Reval, lag nicht allzuweit von der Stadt entfernt. Es war kein altes Bergschloß, mit Wald- und Jagdrevier und einer historischen Vergangenheit wie Steinrück, sondern ein moderner, freundlicher Wohnsitz, den seine schöne Lage zu einem sehr angenehmen Sommeraufenthalt machte. Das Haus, eine geräumige Villa mit Balkon und Terrassen, war von einem nicht großen, aber vorzüglich angelegten Park umgeben und die innere Einrichtung zeugte, ohne grade glänzend zu sein, von dem Geschmack und dem Reichthum der Bewohner.

Oberst Reval hatte vor drei Jahren seinen Abschied genommen, in Folge einer Verwundung, die er im letzten Kriege erhalten. Seitdem lebte er mit seiner Gemahlin im Winter in der Hauptstadt und im Sommer regelmäßig in Elmsdorf, das er aus einem einfachen Landgute zu einem höchst behaglichen Wohnsitz umgeschaffen hatte.

Michael Rodenberg, der in dem Regimente des Obersten diente und später sein Adjutant gewesen war, hatte sich von jeher einer besonderen Auszeichnung von Seiten seines Chefs erfreut, und selbst nachdem dieser den Dienst quittirt hatte, gab er dem jungen Officier noch vielfache Beweise seines Wohlwollens.

In Elmsdorf fand heute eine größere Festlichkeit statt. Man feierte den Geburtstag der Frau von Reval, und da das reiche, gastfreie Haus vielfache Beziehung in der Umgegend hatte, so war die Gesellschaft auch sehr zahlreich. Michael’s Erscheinen verstand sich von selbst, aber auch Professor Wehlau und Hans hatten Einladungen erhalten. Leider mußte man darauf verzichten, den berühmten Gelehrten unter den Gästen zu sehen. Er entschuldigte sich mit Unwohlsein, in Wahrheit aber verspürte er keine Lust, jetzt in Gesellschaft zu gehen, wo die Eigenmächtigkeit seines Sohnes ihn noch immer mit Empörung erfüllte und seine Stimmung in höchst bedenklicher Weise beeinflußte. Die beiden jungen Männer waren daher allein nach Elmsdorf gefahren.

In den lichtstrahlenden Räumen der Villa empfingen Herr und Frau von Reval ihre Gäste mit jener Liebenswürdigkeit, die ihr Haus zum Mittelpunkt der dortigen Geselligkeit machte. Hans Wehlau rechtfertigte auch hier die Behauptung seines Vaters, daß er ein Glückskind sei, dem sich überall Thüren und Herzen öffneten, ohne daß er sich besondere Mühe darum gab. Er war der Dame des Hauses kaum vorgestellt worden, als er auch schon ihre Gunst erobert hatte, alle Welt fand ihn liebenswürdig, und er bewegte sich auf dem ihm völlig fremden Boden mit einer Leichtigkeit und Sicherheit, als ob er von jeher dort verkehrt hätte.

Um so fremder fühlte sich Michael, der weder die Neigung noch die Fähigkeit besaß, so leicht und schnell Beziehungen anzuknüpfen. Auch er kannte, mit Ausnahme des Oberst und seiner Frau, Niemand in der Gesellschaft, und die flüchtigen Vorstellungen der verschiedensten Persönlichkeiten und die noch flüchtigeren Gespräche, die sich daran knüpften, interessirten ihn wenig. Das glänzende, heitere Treiben, in dem Hans schwamm und plätscherte, wie der Fisch


Gustav Freytag.

[502] im Wasser, vermochte seinem ernsten ungeselligen Freunde nur eine vorübergehende Aufmerksamkeit abzugewinnen; er war mehr Beobachter als Theilnehmer dabei.

Auf seiner Wanderung durch die verschiedenen Gemächer gelangte er endlich in das Gewächshaus, das die Gesellschaftsräume abschloß und durch Palmen, Lorbeerbäume und Blumengruppen zu einem stillen, lauschigen Ruheplatze umgeschaffen war.

Hier war es kühl und einsam, und der junge Officier fühlte keine Neigung, sofort wieder in die heißen Zimmer zurückzukehren, wo ihn Niemand vermißte. Langsam ging er von einer Pflanzengruppe zur andern, bis er in seinen Betrachtungen durch den Eintritt des Oberst Reval gestört wurde.

„Wieder so ungesellig, Lieutenant Rodenberg?“ fragte dieser, halb scherzend, halb vorwurfsvoll. „Sie sind ein schlimmer Gast bei unserem Feste. Was machen Sie denn hier in dem einsamen Gewächshause?“

„Ich bin soeben erst eingetreten,“ entschuldigte sich Michael, „und überdies bin ich so fremd in der Gesellschaft –“

„Ein Grund mehr, sich bekannt zu machen. Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem jungen Freunde, der schwimmt bereits mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit. Ich vermisse Sie schon eine ganze Zeit lang im Saale, ich wollte Sie dem Grafen Steinrück vorstellen. Sie kennen ihn doch noch nicht?“

„Den kommandirenden General – nein!“

„Er ist soeben erst gekommen, und Sie werden sich später jedenfalls noch dienstlich bei ihm melden müssen. Der General ist äußerst einflußreich, allerdings auch sehr gefürchtet wegen seiner eisernen Strenge im Dienste. Er schont darin Niemand, am wenigsten freilich sich selbst, obschon er bereits im Anfange der Siebzig steht, aber der Begriff des Alters scheint für ihn nicht da zu sein.“

Michael hörte schweigend zu, er wußte bereits, daß der Graf sich in Steinrück befand, und mußte auf eine Begegnung gefaßt sein, die ihm bisher erspart geblieben war, die aber in Zukunft nicht vermieden werden konnte, denn er mußte sich allerdings später bei dem kommandirenden General melden.

„Wir hofften auch den jungen Grafen zu sehen,“ fuhr Reval fort, „aber wir hören soeben, daß er erst morgen Abend eintrifft. Schade! Sie hätten da eine interessante Bekanntschaft gemacht.“

„Sie meinen den Sohn des Generals, Herr Oberst?“

„Nein, der ist schon seit Jahren todt, ich meine den Enkel, Graf Raoul. Er ist wirklich eine der schönsten Männergestalten, die ich je gesehen habe! Immer voran bei allen Tollheiten, immer den Kopf voll von genialen Ideen und dabei von einer so hinreißenden Liebenswürdigkeit, daß er im Sturm Alles gewinnt. Er ist in der That eine ungewöhnlich begabte Natur, aber auch ein Tollkopf, der seinem Großvater noch zu schaffen machen wird, wenn dieser ihn nicht bei Zeiten bändigt.“

„Wie es scheint, ist General Steinrück der Mann dazu,“ warf Michael hin.

„Das glaube ich auch! Graf Raoul fürchtet sonst weder Tod noch Teufel, aber vor seinem Großvater hat er einen heillosen Respekt, und wenn Seine Excellenz einen Ukas erläßt – was, unter uns gesagt, ziemlich oft nothwendig ist – bequemt er sich regelmäßig zum Gehorsam.“

Ein leises Rauschen, wie von seidenen Frauengewändern, ließ sich hinter den beiden Herren vernehmen, die dem Eingange den Rücken zukehrten; sie wandten sich um, und in demselben Augenblicke trat der junge Officier so jäh und hastig zurück, daß der Oberst ihn befremdet anblickte.

Es waren zwei Damen eingetreten; die ältere, eine zarte, blasse und kränkliche Erscheinung, in gewählter, aber dunkler Toilette, schien den Ruhesitz aufsuchen zu wollen, der sich unter einer Palmengruppe am Ende des Gewächshauses befand: die jüngere stand noch auf den Stufen, die hinabführten, hell beleuchtet von dem Schein einer Ampel, die sich gerade über ihrem Haupte befand.

Hans Wehlau hatte Recht mit seiner enthusiastischen Bemerkung, es war eine Gestalt wie aus einem Feenmärchen, hoch und schlank, mit einem Antlitz von seltsam berückender Schönheit und großen, strahlenden Augen, die wie Sterne glänzten und deren Farbe sich doch nicht errathen ließ, weil sie in dem einen Momente tiefdunkel erschienen und in dem andern leuchtend hell. Die rothen Locken, die einst über die Schultern des Kindes fielen, waren freilich verschwunden; auf den reichen, goldblonden Flechten ruhte jetzt nur noch ein leichter, röthlicher Schimmer und wetteiferte mit dem matten Glanz der Perlenschnüre, die sich durch das Haar schlangen, und doch gleißte es in diesem Augenblicke, wo das Licht der Ampel darauf niederfloß, wie das „rothe Gold“ in den alten Märchenschätzen. Das bläulich schillernde Seidengewand verschwand fast unter einer Wolke von Spitzen, die von einzelnen Blumen gehalten wurde, und dazwischen funkelten Juwelen – die ganze Erscheinung war wie aus Duft und Glanz gewoben.

„Ah, Frau Gräfin Steinrück!“ rief der Oberst, indem er zu der älteren Dame eilte und der sichtbar Erschöpften den Arm bot. „Es war wohl zu heiß im Saale? Ich fürchte, Sie haben uns ein Opfer gebracht mit Ihrem Erscheinen.“

„Es ist nur Ermüdung, nichts weiter,“ versicherte die Gräfin, während er sie zu dem Sitze geleitete. „Sieh da, Lieutenant Rodenberg!“

Michael verneigte sich; jetzt rauschte auch das blaue Seidenkleid über den Boden, und Gräfin Hertha trat an die Seite ihrer Mutter.

„Mama ist allerdings etwas angegriffen,“ sagte sie, „deßhalb haben wir den Saal verlassen. Hier, wo es kühl und still ist, wird sie sich bald erholen.“

„Dann wäre es wohl am besten –“ Michael blickte den Oberst an und machte eine Bewegung nach der Thür, aber die Gräfin fiel mit gewinnender Liebenswürdigkeit ein:

„O nicht doch! Nur die Hitze und das Gewühl greifen mich an. Es freut mich sehr, Sie wiederzusehen, Lieutenant Rodenberg.“

Der Oberst schien erstaunt, daß der junge Officier den Damen bekannt war, und machte eine Bemerkung darüber, was die Gräfin veranlaßte, ihm die Geschichte dieser Bekanntschaft zu erzählen. Sie bestand darauf, daß Michael durch sein rasches Eingreifen ihr und ihrer Tochter das Leben gerettet habe. Er protestirte dagegen.

Gräfin Hertha nahm keinen Antheil an dem Gespräche, das bald lebhafter wurde, sondern wandte ihre ganze Aufmerksamkeit den Blumen zu. Langsam glitt sie durch das Gewächshaus, das nur von dem gedämpften Lichte zweier Ampeln erhellt wurde; ihre Bewegungen hatten etwas ungemein Anmuthiges; aber in dem Wesen der jungen Dame selbst lag nichts von der halb schüchternen, halb unbefangenen Anmuth des Mädchenalters. Sie zeigte mit ihren neunzehn Jahren schon die volle Sicherheit der Weltdame, das ganze Selbstbewußtsein der reichen Erbin und wußte ohne Zweifel sehr genau, daß sie schön sei. Jetzt stand sie vor einer Gruppe ausländischer Pflanzen und fragte, den Kopf wendend, in gleichgültigem Tone:

„Kennen Sie vielleicht diese Blume, Herr Lieutenant? Es sind fremdartige wundervolle Blüthen, und ich gestehe, daß meine botanischen Kenntnisse mich hier im Stiche lassen.“

Michael mußte nothgedrungen nach der anderen Seite des Gewächshauses kommen, und er that dies in ziemlich gemessener Weise, aber es lag eine leichte Blässe auf seinem Gesicht, als er die geforderte Auskunft gab.

„Es scheint eine Dionäa zu sein, eine von jenen mörderischen Blüthen, die sich schließen, wenn ein Insekt ihre Blätter berührt, und dem Gefangenen dann den Tod geben.“

Um die Lippen der jungen Dame spielte ein halb mitleidiges, halb verächtliches Lächeln.

„Das arme Ding! Und doch muß es schön sein, so im berauschenden Duft zu sterben – meinen Sie nicht?“

„Nein! Schön ist nur der Tod in der Freiheit; über die Gefangenschaft kann kein Rausch hinwegtäuschen.“

Die Antwort klang beinahe schroff, und Hertha preßte einen Augenblick lang die Lippen zusammen, dann aber ließ sie den Gegenstand des Gespräches fallen und sagte mit leisem Spott:

„Ich sehe mit Vergnügen, daß Sie hier nicht so gänzlich durch den ‚Dienst‘ in Anspruch genommen sind, wie damals im Bade; dort blieb Ihnen nie Zeit zu irgend einer Geselligkeit.“

„Wir waren dort mitten in den Uebungen, hier bin ich auf Urlaub.“

„Als Gast des Oberst Reval vielleicht?“

„Nein.“

„Ich wußte gar nicht, daß Sie hier in der Gegend Beziehungen hatten. Sie sind also –?“

„Bei Verwandten.“

[503] Die Spitze des kleinen Fußes in dem blauen Atlasschuh schlug ungeduldig gegen den Boden.

„Der Name scheint Staatsgeheimniß zu sein, da Sie ihn so beharrlich verschweigen.“

„Durchaus nicht, ich habe nicht den mindesten Grund dazu. Ich bin als Gast in Tannberg, bei den dortigen Verwandten des Professors Wehlau.“

Hertha schien überrascht zu sein, sie spielte anscheinend zerstreut mit einer Rose, die sie vorhin abgebrochen hatte, aber ihre Augen hafteten auf dem Gesichte des jungen Officiers.

„Ah, die kleine Bergstadt, die ganz in der Nähe von Steinrück liegt! Wir denken auch einige Wochen auf dem Schlosse zuzubringen.“

Ein schnelles, blitzähnliches Aufleuchten flog über Michael’s Züge, es kam und ging in einem Moment, im nächsten war es schon wieder verschwunden, und er erwiderte in kühlem Tone:

„Die Herbstzeit ist allerdings sehr schön in den Bergen.“

Diesmal wurde die junge Gräfin nicht ungeduldig, vielleicht war ihr jenes Aufleuchten nicht entgangen, denn sie lächelte, während sie in ihrem Spiel mit der Blume fortfuhr.

„Wir werden Sie trotz dieser Nähe schwerlich zu Gesicht bekommen,“ sagte sie spottend. „Ich vermuthe, daß Sie auch hier irgendwo ,Dienst’ haben.“

„Sie scherzen, Gräfin Steinrück.“

„Ich spreche im vollen Ernste. Auch heute erfuhren wir erst durch Herrn Wehlau von Ihrer Anwesenheit. Sie hatten sich natürlich sofort unsichtbar gemacht und waren jedenfalls in irgend ein strategisches Gespräch mit dem Oberst vertieft, als wir eintraten. Wir bedauern sehr, gestört zu haben, man sah ja, wie unangenehm es Ihnen war.“

„Sie sind gänzlich im Irrthum, ich war sehr erfreut, die Damen wiederzusehen.“

„Und doch erschraken Sie bei unserem Anblick?“

Michael sah auf, und ein finsterer, fast drohender Blick traf die junge Dame, die ihn so erbarmungslos in die Enge trieb, aber seine Stimme klang völlig beherrscht, als er antwortete:

„Ich war nur überrascht, da ich wußte, daß die Frau Gräfin nach beendigter Badekur direkt nach Berkheim zurückzukehren beabsichtigte.“

„Wir haben unseren Plan geändert, auf besonderen Wunsch meines Onkels Steinrück, und überdies empfahl der Arzt noch einen mehrwöchentlichen Aufenthalt in der stärkenden Bergluft. Werden wir Sie wirklich nicht im Schlosse sehen? Es würde meine Mutter freuen und – mich auch.“

Ihre Stimme klang gedämpft, aber schmeichelnd süß bei den letzten Worten, sie stand dicht vor ihm, halb im Schatten und doch schöner noch als vorhin, wo das Licht auf sie niederfloß, umweht von dem Blumenduft, der ringsum aus den Kelchen emporstieg. Leise rauschte die schimmernde Seide ihres Gewandes und die Spitzenwolke streifte fast den Arm des jungen Officiers, der noch bleicher war als vorhin. Einige Sekunden lang schien er nach Athem zu ringen, dann verneigte er sich tief und förmlich und sagte: „Es wird mir eine große Ehre sein.“

Trotz des Versprechens mußte etwas in seinem Tone liegen, was der jungen Gräfin verrieth, er werde nicht kommen, denn in ihre Augen trat wieder jener seltsam schillernde Glanz, der ihnen für einen Augenblick all ihre Schönheit nahm, aber sie neigte wie zustimmend das Haupt und wandte sich, um zu ihrer Mutter zurückzukehren. Dabei entglitt – ganz zufällig – die Rose ihren Fingern und blieb auf dem Boden liegen, ohne daß sie es zu bemerken schien.

Michael verharrte an seinem Platze, aber ein heißer, verlangender Blick fiel auf die Blume, die eben noch in jener Hand geruht hatte. Die zarte, halb erschlossene Knospe lag zu seinen Füßen, rosig und duftig, und dicht vor ihm schimmerten die Blüthen der Dionäa, die ihrem Gefangenen den Tod geben – im berauschenden Duft!

Die Hand des jungen Officiers zuckte unwillkürlich nach der Erde, und ein rascher Blick glitt zu der plaudernden Gruppe hinüber, ob man dort seine Bewegung bemerkte. Da sah er zwei Augen auf sich gerichtet, erwartungsvoll, triumphirend, er mußte sich ja beugen! Aber in demselben Augenblick richtete er sich hoch und fest empor und setzte vorwärts schreitend den Fuß auf die Rose; die zarte Blume starb unter seinem Tritt.

Gräfin Hertha gebrauchte ihren Fächer so heftig, als sei es auf einmal erstickend heiß geworden, Oberst Reval aber, der soeben das Gespräch beendigt hatte, sagte jetzt:

„Nun wollen wir aber endlich der Frau Gräfin Ruhe gönnen, damit sie sich völlig erholt. Kommen Sie, lieber Rodenberg.“

Sie verabschiedeten sich von den Damen und kehrten in die Gesellschaftszimmer zurück – aus dem kühlen, dufterfüllten Raum mit seinem traulichen Dämmerlicht in die heiße Lichtfluth des Saales, in das Wogen und Treiben der Gesellschaft. Und doch athmete Michael auf, als trete er aus einer schwülen, erstickenden Luft in das Freie.

Hans Wehlau, der in der That mit vollen Segeln auf dem Strome der Geselligkeit schwamm, erblickte kaum seinen Freund, als er sich auch schon seiner bemächtigte und ihn bei Seite zog.

„Hast Du die Gräfinnen Steinrück gesehen, unsere Bekanntschaft aus dem Bade? Sie sind hier.“

„Ich weiß es,“ versetzte Michael einsilbig. „Ich sprach sie soeben.“

„Wirklich? Wo hast Du denn gesteckt? Du langweilst Dich wohl wieder, wie gewöhnlich, wenn Du in Gesellschaft bist? Ich amüsire mich vortrefflich und bin bereits mit aller Welt bekannt geworden.“

„Auch wie gewöhnlich! Du mußt heut Deinen Vater mit vertreten; man will wenigstens den Sohn des berühmten Forschers kennen lernen, da er selbst –“

„Fängst Du auch damit an!“ unterbrach ihn Hans ärgerlich. „Mindestens zwanzig Mal bin ich heut in dieser Weise vorgestellt und ausgefragt worden, als Merkwürdigkeit Numero zwei, da die Merkwürdigkeit Numero eins fehlt. Man hat mir die Berühmtheit meines Vaters so oft zu kosten gegeben, daß ich schon ganz in Verzweiflung darüber gerathen bin.“

„Hans – wenn Dein Vater das hörte!“ sagte Michael vorwurfsvoll.

„Ja, ich kann mir nicht helfen! Jeder andere Mensch ist doch wenigstens eine Persönlichkeit, ein Ding an sich, irgend etwas Subjektives, ich bin der Sohn unseres berühmten – und so weiter! Und weiter bin ich gar nichts. Als solcher werde ich vorgestellt, behandelt, ausgezeichnet meinetwegen, aber es ist fürchterlich, immer und ewig als Relativ umherzulaufen.“

Der junge Officier lächelte flüchtig.

„Nun, Du bist ja auf dem Wege, das zu ändern; hoffentlich heißt es künftig: der berühmte Künstler Hans Wehlau, dessen Vater ja auch in der Wissenschaft – und so weiter.“

„In dem Falle werde ich allerdings meinem Papa seine Berühmtheit verzeihen. – Du hast also die Steinrück’schen Damen schon gesprochen? Das war eine Ueberraschnng, sie plötzlich hier auftauchen zu sehen, während wir sie längst in Berkheim glaubten! Die Gräfin Mutter hat mich, oder vielmehr uns Beide, mit der größten Liebenswürdigkeit nach dem Schlosse eingeladen, und ich habe natürlich angenommen. Wir werden doch gemeinschaftlich in Steinrück einen Besuch machen?“

„Nein, ich gehe nicht dorthin,“ sagte Michael kurz.

„Aber weßhalb denn nicht, in des Himmels Namen?“

„Weil ich keine Veranlassung und auch keine Lust habe, mich dem Steinrück’schen Kreise zu nähern; der Ton, der dort herrscht, ist bekannt genug. Als Bürgerlicher muß man fortwährend unter Waffen sein, wenn man sich in jener Gesellschaft behaupten will.“

„Nun, die Kriegsbereitschaft ist ja Dein Fach, da kannst Du sie gründlich studiren,“ spottete Hans. „Ich finde es übrigens sehr unbequem, fortwährend in Waffen zu starren, wie Du und mein Papa, der im Verkehr mit der Aristokratie auch immer und ewig seine Principien im Auge hat. Ich amüsire mich ohne all und jedes Princip, und den Damen gegenüber strecke ich nun vollends die Waffen. Sei vernünftig, Michael, und komm’ mit.“

„Nein!“

„Nun, so laß es bleiben! Wenn Du Dir etwas in Deinen Starrkopf gesetzt hast, ist nichts mit Dir anzufangen, das weiß ich längst; ich werde sicher nicht die Gelegenheit versäumen, dieser goldhaarigen Märchenfee, dieser Gräfin Hertha wieder zu nahen. Du hast es wohl gar nicht einmal bemerkt, wie hinreißend, wie bezaubernd sie heute ist, in dieser Wolke von Seide und Spitzen, das verkörperte Schönheitsideal!“

„Ich glaube allerdings, daß die Gräfin schön ist, aber –“

[504] „Das glaubst Du nur?“ fiel ihm Hans entrüstet in das Wort. „Wirklich? Und Du willst wohl gar noch kritisiren mit Deinem ‚Aber!‘? Höre, Michael, Du bist jetzt eine unbedingte Respektsperson für mich geworden und wirst mir von dem Papa so oft als Muster aufgestellt, daß mir Deine Vorzüglichkeit schon längst ein Dorn im Auge ist. Aber wenn es sich um Frauen und Frauenschönheit handelt, dann schweige gefälligst, davon verstehst Du rein gar nichts, da bleibst Du nach wie vor – der dumme Michel!“

Mit diesen halb lachend, halb ärgerlich gesprochenen Worten ließ er seinen Freund stehen und trat wieder zu einer der plaudernden Gruppen; Michael schritt allein weiter, aber es lag ein unendlich herber Ausdruck auf seinen Zügen.

Inzwischen stand drüben auf der andern Seite des Saales Oberst Reval im Gespräche mit dem Grafen Steinrück. Sie hatten sich in den kleinen Erker zurückgezogen, den eine nur halb zurückgeschlagene Portière von dem Salon trennte, und Reval sagte soeben: „Ich möchte Sie auf diesen jungen Officier aufmerksam machen, Excellenz. Sie werden sich bald überzeugen, daß er im vollsten Maße die Beachtung verdient.“

„Wenn Sie ihn so warm empfehlen, zweifle ich nicht daran,“ entgegnete Steinrück. „Sie sind sonst karg mit Ihrem Lobe. Er hat von Anfang an in Ihrem Regimente gedient?“

„Ja, und ich wurde zuerst im dänischen Kriege auf ihn aufmerksam. Damals nahm er als jüngster Lieutenant des Regimentes mit einer Hand voll Leuten eine Position, die bisher allen Angriffen getrotzt hatte und von der äußersten Wichtigkeit war, und die Art, wie er dies Wagestück ausführte, bewies ebenso viel Energie wie Geistesgegenwart. Im letzten Feldzuge war er mein Adjutant, und jetzt eben ist er auf Grund einer ganz vorzüglichen Leistung zum Generalstab kommandirt worden. Die Arbeit hat Ihnen vielleicht vorgelegen, Excellenz, sie betrifft einen Punkt, für den Sie erst kürzlich mit vollem Nachdruck eingetreten sind, und sie war mit dem Namen unterzeichnet.“

„Lieutenant Rodenberg, ich erinnere mich!“ sagte der General nachdenklich. Der Name berührte ihn noch immer peinlich, fiel ihm aber nicht auf, weil er mehrfach in der Armee vorkam. Es gab einen Oberst Rodenberg, dessen drei Söhne gleichfalls dienten, und der Graf nahm mit voller Bestimmtheit an, daß es sich um einen dieser jungen Officiere handelte, so daß er es für überflüssig hielt, noch eine Frage in dieser Richtung zu thun.

„Ich kenne die Arbeit allerdings,“ fuhr er fort. „Sie bekundet eine ungewöhnliche Begabung und hätte dem Verfasser meine Beachtung gesichert selbst ohne Ihre warme Fürsprache, und da Sie ihm auch in Bezug auf den gewöhnlichen Dienst ein so glänzendes Zeugniß geben –“

„Rodenberg ist unbedingt zuverlässig, allerdings nimmt er seinen Kameraden gegenüber eine etwas isolirte Stellung ein, seine Ungeselligkeit und sein starres, verschlossenes Wesen schaffen ihm wenig Freunde, aber respektirt wird er von Allen.“

„Das ist genug!“ erklärte Steinrück, der mit augenscheinlichem Interesse zuhörte. „Wer Ehrgeiz hat und einem großen Ziele nachstrebt, findet selten Zeit, liebenswürdig zu sein. Ich liebe solche Naturen, die ganz auf sich selbst gestellt sind, ich bin in meiner Jugend auch nicht anders gewesen.“

„Da ist er ja! Seine Excellenz wünscht Sie kennen zu lernen, lieber Rodenberg,“ sagte der Oberst, indem er diesem, der gerade vorüber kam, einen Wink gab, näher zu treten. Er stellte ihn in aller Form vor und wandte sich dann wieder zu der Gesellschaft, indem er es seinem Günstling überließ, den Eindruck zu vollenden, den jenes Gespräch bei dem General hervorgerufen hatte.

(Fortsetzung folgt.) 


Der Heidenhof.

Eine Reise-Erinnerung von Fr. von Bülow.

Dienstliche Verhältnisse veranlaßten mich, längere Zeit in Schleswig-Holstein zuzubringen. Ich lernte dabei eine der merkwürdigsten Gegenden Deutschlands genau kennen: die Geest mit ihren spärlichen Dörfern, ihren öden sandigen Heiden und großen einförmigen Torfmooren, die sich als breiter Höhenrücken mitten durch die Halbinsel zieht. Der guten Straßenverbindungen über dieselbe giebt es nicht viele, und wird man gezwungen, sie an Stellen zu passiren, welche dem allgemeinen Verkehr ferner gerückt sind, so ist man auf die oft zweifelhaften Landwege angewiesen, die sich meist durch nicht ungefährliche Moorgebiete hinschlängeln.

Zum Standquartier hatte ich schon seit Monaten den Gasthof eines Dorfes gewählt, welches auf der Grenzscheide zwischen Geest und Ostküste liegt. Kurz vor Schluß der dortigen Arbeiten erhielt ich an einem Oktobertage den Auftrag, mich am nächsten Frühmorgen zu dringender Besprechung in einem Orte jenseit der Geest einzufinden. Der Befehl scheuchte mich aus behaglicher Ruhe, doch war ihm nicht auszuweichen. Das Unangenehmste bei der Sache blieb, daß pünktliches Eintreffen nur ermöglicht werden konnte, wenn ich sofort aufbrach und den direkten Weg über die Geest wählte.

Das Wetter war hierzu nicht einladend, vielmehr unfreundlich und naßkalt. Trotzdem fuhr ich, mit dem nothwendigsten Reisegepäck versehen, auf leichtem Wagen in den sinkenden Tag hinein und fürchtete nicht im Geringsten den uns prophezeiten Sturm, da mein Kutscher, der junge Wirthssohn Christian Nissen, zu den ortskundigsten Männern der Gegend zählte und seine Pferde an Kraft und Ausdauer nichts zu wünschen übrig ließen.

Die Prophezeiung sollte sich in der That bald als richtig erweisen. Die bis dahin trägen, regenschweren, grauen Wolken wurden lebendig. Einzelne Windstöße und schwere Tropfen bildeten ein kurzes Vorspiel, dann begann es am Himmel droben immer eiliger zu werden. Das Wolkenmeer erschien wie eine wilde Jagd, bei welcher jedes einzelne Glied das erste am fernen Stelldichein sein wollte. Die Böen wurden steifer, dann und wann von einem kurzen Regenschauer unterbrochen, und als vollständige Dunkelheit eintrat, hatten wir gegen einen Weststurm zu kämpfen, wie man ihn in solcher Wildheit oft genug auf der Geest erlebt. Nur die vortrefflichen Pferde machten es möglich, wenigstens noch Schritt um Schritt vorwärts zu kommen.

Auch mir war die Gegend nicht fremd, ich kannte ihre Gefahren genau. Ein nur geringes Ablenken vom Wege führte in sogenannte Bebemoore, deren Betreten selbst am Tage die größte Gefahr in sich birgt, wie viel mehr zu solcher Stunde!

Es mochte neun Uhr geworden sein, als das Wetter einen Grad von Heftigkeit annahm, welcher zeitweise den Wagen zum Stillstand brachte. Der jetzt wolkenbruchartige Regen peitschte an uns herum, jedes Schutzes spottend, und von Minute zu Minute mußte man auf ein Umwerfen gefaßt sein. Nach meiner Berechnung waren wir mindestens noch drei Stunden vom Ziele entfernt. Die Hoffnung, dasselbe noch in der Nacht zu erreichen, schwand vollständig, und da an ein Umkehren bei der schmalen Straße auch nicht zu denken war, so faßte ich den Entschluß, im nächsten Gehöft um Obdach zu bitten.

Die Landkarte hatte ich gut im Kopf. Nach derselben mußten wir nicht weit vom Heidenhof sein, einem größeren Anwesen, das zugleich als Wirthshaus bezeichnet war. Auf die Frage, ob man dort ein Unterkommen finden dürfte, bekam ich anfangs von meinem Nissen gar nichts zu hören. Erst wiederholte Aufforderung erzwang die Antwort:

„Ein Unterkommen wohl, aber ich rathe Ihnen nicht dazu.“

„Und weßhalb nicht?“

Wiederum eine lange Pause, dann hieß es:

„Weil im Heidenhof kein Reisender des Nachts bleibt. Schon so Mancher ist hier verschwunden, und die Spnr verlief sich stets in der Gegend des Hofs. Das Moor heißt nicht umsonst das Todtenmoor. Wollen Sie durchaus dorthin, nun gut! Doch noch einmal, ich warne Sie, es ist nicht geheuer im Hofe.“

Diese Worte wurden mit solcher Ueberzeugungstreue gesprochen, daß sich vielleicht mancher Andere dadurch veranlaßt gesehen hätte, dem Rathe zu folgen. Mir aber wollten keine Furchtgedanken kommen; in unserer friedliebenden Zeit an Räuberherbergen zu glauben, erschien mir kindisch und lächerlich.

Offenbar unwillig vernahm der junge Rosselenker meinen Entschluß und versuchte mich nunmehr auf Umwegen darin wankend zu

[505]

Das heranziehende Gewitter.
Nach dem Oelgemälde von H. Mosler.

[506] machen. Er wurde redselig. Mehr als einmal mußte ich ihm Aufmerksamkeit auf die Pferde empfehlen, doch immer von Neuem erzählte er irgend eine grausige Geschichte, wo doch das Wetter an Graus schon genug bot.

Noch kurze Zeit, und wir hielten unter dem landesüblichen, scheunenartigen Vordache des Heidenhofes.

Ein matter Lichtschimmer blickte durch das Fenster. Ich rief so kräftig wie möglich, aber Niemand kam; die Stimme mochte auch im Tosen des Sturmes verhallt sein. Da der anscheinend ängstliche Nissen erklärte, bei den unruhig gewordenen Pferden nicht vom Bocke steigen zu können, mußte ich allein heruntertappen.

In demselben Augenblick aber, wo ich festen Boden unter den Füßen fühlte und dem Kutscher noch einige Befehle zurufen wollte, kam mir dieser schon zuvor. Mit einem: „Hier bleibe ich nicht!“ peitschte er die Pferde an und war in der nächsten Sekunde meinen Augen im Dunkel der Nacht entschwunden.

Da stand ich, mit Koffer und Aktenmappe beladen, im Sturm und Regen, vor der Räuberherberge allein! Meinen Freund Christian so von mir scheiden zu sehen, ärgerte mich gewaltig. Seine Furcht vor dem Hause mußte in irgend einer Weise gerechtfertigt sein, unmöglich wäre er sonst davongefahren. Daß meine Stimmung in dieser Lage keine angenehme wurde, kann sich Jeder leicht vorstellen.

Ein längeres Zaudern oder Ueberlegen, was zu thun oder zu lassen sei, verbot sich von selbst.

Die Hausthür war verschlossen. Erst auf längeres, nachdrückliches Pochen hörte ich schwere Tritte nahen. Es wurde geöffnet, und vor mir stand ein riesengroßer, breitschulteriger Mann, in Wahrheit eine Hünengestalt. Eine kurze dunkelblaue, zweiknöpfige Jacke, bocklederne enganliegende Beinkleider und die unbeholfenen Holzschuhe gaben ihm das echte Gepräge des Geestbauern. Das borstige, ins Röthliche spielende Haar und der dänisch gestutzte Kinnbart machten mir, im Verein mit dem nichts weniger als einladenden Blick, durchaus keinen anheimelnden Eindruck. In meiner zierlichen Mittelfigur kam ich mir ihm gegenüber wie der Däumling vor, der dem Menschenfresser begegnete.

Er ließ mich wortlos in das große Wirthszimmer treten, das, mit einigen Tischen und Bänken besetzt, die ganze Tiefe des Hauses einnahm. Nachdem er die Thür wieder verschlossen und verriegelt, musterte er mich eine Weile von Kopf zu Fuß und fragte rauh:

„Was wollen Sie hier?“

Mit möglichst viel Ruhe erklärte ich meine Lage und bat um Unterkunft. Als ich zum Schluß den Namen des Kutschers erwähnte, zog ein verächtliches Lächeln über das breite Gesicht, und leise, doch für mich verständlich, murmelte er vor sich hin:

„Der Teufel möge ihn holen!“

Wie mit seinen Gedanken am Kreuzweg stehend, ob er noch etwas sagen sollte oder nicht, fuhr er sich mehrere Mal mit der Riesenhand durch das Haar. Die Wage des Schweigens mußte schwerer sinken, denn plötzlich machte er kurz Kehrt und klappte quer durch das Zimmer einer an der entgegengesetzten Seite befindlichen Thür zu, durch die er verschwand.

Die Einleitung zum Räuberdrama ließ nichts zu wünschen übrig, und lebhafte Erinnerungen an Jugendmärchen tauchten auf. In richtiger Reihenfolge wurde jetzt wohl das große Messer geschliffen, dann kam der Schreckliche wieder, schlachtete mich gemüthlich ab, schleppte die Ueberbleibsel in das Todtenmoor, und Christian Nissen behielt Recht. Außer Regenschirm und Taschenmesser besaß ich keine Waffen; selbst eine Flucht war nicht möglich, die vergitterten Fenster und die verschlossene Thür sorgten dafür.

Der Räuberhauptmann schien indeß meine Zeit noch nicht für gekommen zu halten – weder er noch sonst Jemand zeigte sich. Aber auch mich plagten andere Sorgen; ich war durch und durch naß, ohne Kleidung zum Wechseln, in einem Raume, wo kein Ofen brannte – befand mich also in einem keineswegs beneidenswerthen Zustande.

Die Wanduhr schlug zehn, halb elf Uhr, und noch immer kümmerte sich kein Mensch um mich. Mindestens ein dutzendmal hatte ich das Zimmer schon durchmessen. Die kleine Lampe auf dem Schenktische knisterte bedenklich, auch sie schien vergessen. Immer trüber und trüber wurde ihr Schein und hüllte den weiten Raum in unbehagliche Dämmerung. Ich räusperte, huftete, nieste, pfiff, sang, Alles vergebens.

So konnte es nicht länger fortgehen. Auf die eine oder andere Weise mußte Klärung geschafft werden. Irgend eine mitleidige Seele gab es sicherlich auch hier – aber wo sie finden?

Die Thür, durch welche der Riese verschwunden, war offen. Die Lampe in der Hand, begab ich mich auf die Wanderung. Stufen führten hinab; ich folgte ihnen. Licht blinkte mir entgegen. Ich ging dem Scheine nach, öffnete eine zweite Thür und stutzte. Eine große, düstere Küche lag vor mir, die reine Hexenküche aus dem Märchen. Auf dem Herde brannte offenes Feuer, darüber hing an einer Kette ein Kessel. Eine alte Frau, deren grausträhniges Haar sich wirr um die Schläfe wand, stand davor und rührte. Ein schwarzer Kater saß daneben und sah mich mit seinen grünen Augen herausfordernd an, während ein gezähmter Rabe, den Kopf unter den Flügeln, auf einer Stuhllehne hockte. Der Sturm heulte durch die Esse, stieß den Rauch zurück, und der Widerschein der prasselnden Flamme lag grell auf dem Antlitz der Alten.

Sie hatte mein Eintreten offenbar nicht bemerkt. Erst auf das „Guten Abend!“ sah sie sich mit schreckensvollem Aufschrei um. Es wurde mir daraus klar, daß sie keine Kenntniß von meiner Anwesenheit im Hause besaß. Ich beruhigte sie mit einigen Worten, führte mich noch einmal als obdachsuchender Reisender ein und bat um eine Lagerstatt und um etwas zu essen und zu trinken. Ganz verstört folgte sie meiner Rede, und es bedurfte langer Minuten, bis sie sich soweit gefaßt hatte, mir brockenweise die räthselhafte Antwort zu geben:

„Aber wissen Sie denn nicht, wie es hier steht – – der Heidenhofbauer – und – und – und –“

Damit war es aus. Was mit dem Hofbauer vorlag, erfuhr ich nicht. Mit Gewalt das hier obwaltende Geheimniß zu lüften, verspürte ich keine Lust; ich wäre am liebsten trotz Regen und Sturm wieder in die Nacht hinausgegangen, aber der Bauer hatte ja die Thür fest verschlossen, und das Oeffnen derselben wollte ich nicht verlangen, um keine Zeichen der Furcht oder Unruhe zu geben. Das endliche Ergebniß des Küchenintermezzos war, daß die Alte versprach, mir Essen und Nachtlager zu beschaffen und die Ingeborg zu rufen.

Ich wanderte hierauf in die Wirthsstube zurück.

Also noch eine dritte Person sollte ich kennen lernen. Wer war Ingeborg? Wenn der schöne Name auch im nördlichen Schleswig nicht selten ist, reizte er doch die Neugierde. Ich saß noch in Gedanken vertieft, als es an die Thür klopfte. Auf das „Herein“ that sich die Thür auf, und wer trat über die Schwelle?

Ich sehe es noch vor mir, dieses Mädchen, von einer Schönheit und einem Liebreiz, wie ich kaum jemals etwas Aehnliches geschaut. Gleich einer Fee, die mich aus diesem Zauberschlosse zu erlösen kam, erschien es mir. Die hohe, schlanke und doch volle Gestalt besaß etwas Königliches. Das überreiche blonde Haar wallte in Goldschimmer lose den Rücken herab. Eine schneeweiße Blouse fügte sich an den groben eigengemachten Hausrock. In der einen Hand das Licht, in der andern ein Tablett, auf dem sich Brot und Wein befand, schritt sie auf mich zu. Ihr großes tiefblaues Auge ruhte durchdringend auf mir, und wie unter einem Banne stand ich unter seinem Einfluß.

Sie setzte schweigend das Gebrachte vor mich hin, und die darauf folgende Bewegung ließ schließen, daß auch sie mich wieder allein lassen wollte. Ihr Entschluß wurde jedoch schwankend, sie wandte sich wieder um und fragte mit volltönender Stimme:

„Was führte Sie zu dieser Stunde nach dem Heidenhofe?“

Ein Anflug von besserer Erziehung, wie man ihn nicht selten bei den Töchtern der dortigen reicheren Hofbesitzer trifft, klang aus dem ganzen Tonfall wider und versprach wenigstens von dieser Seite keine rauhe Räuberbehandlung.

Diplomatische Geheimnisse besaß ich nicht, und was ich schon der Alten und dem Hofbauern gesagt, wurde zum dritten Mal Wiederholt. Das Mädchen hatte sich inzwischen auf die Bank mir gegenüber gesetzt. Die schöne und doch arbeitsgewohnte Hand stützte Kopf und Stirn, und nur mitunter schlug sie die langbewimperten Lider gegen mich auf.

„Und was hat Ihnen mein Vater gesagt?“ fragte sie von Neuem, als ich schwieg.

Ich konnte nur die Wahrheit erwidern: „Nichts!“

[507] Im gleichen Maße, wie mein Interesse für das schöne Wesen wuchs, befestigte sich in mir das angenehme Gefühl, nicht verlassen zu sein. Jeder Schatten von Unbehagen war mit ihr geschwunden, und ich lachte mich selber aus, daß flüchtig Gedanken an die Räuberherberge bei mir hatten unterlaufen können.

Das „Nichts“ ließ gar keinen Eindruck zurück. Sie mochte Derartiges vermuthet haben. Um so tiefer wurde sie von der gewiß unschuldigen Frage berührt:

„Ist Ihr Vater nicht zu sprechen?“

Statt jeder Antwort überfloß dunkles Roth ihre Wangen, und weitester Spielraum würde mir gegeben gewesen sein, neue Vermuthungen anzustellen, wenn ich nicht die Absicht hierzu schon so entschieden aufgegeben hätte. Ich verfolgte die Frage selbstverständlich nicht. Dagegen mußte ich auf die Weiterfahrt am nächsten Morgen bedacht bleiben. Die dahinzielende Bitte erregte die ganze Aufmerksamkeit meines Gegenüber, und schnell war das Wort bei der Hand.

„Und kamen Sie nicht zu Wagen?“

„Gewiß, aber der Kutscher flüchtete vor dem Heidenhofe.“

„Und wer brachte Sie zu uns?“

Als ich den Namen Christian’s nannte, trat eine auffallende Veränderung in ihrem Benehmen ein. Erregt sprang das Mädchen auf, legte die merklich zitternde Hand auf meine Schulter, und hastig stürzten die Worte über die Lippen:

„Sprechen Sie, reden Sie! Welche Richtung hat er eingeschlagen? Die Brücke über den Riedbach ist inzwischen unfahrbar geworden, wie es heißt, und benutzte er den gleichen Heimweg, so ist er in dieser furchtbaren Nacht verloren!“

Diese große Theilnahme für den Durchgänger vermochte ich nicht mit den wenig freundlichen Ansichten desselben über den Heidenhof in Einklang zu bringen. Reine Menschenliebe hätte sich bedachter ausgesprochen. Nach meiner Ueberzeugung saß Christian sehr wahrscheinlich wohlgeborgen an guter Stätte und wartete daselbst mein Eintreffen ab. Dieser Ueberzeugung gab ich auch vollen Ausdruck, doch das Mädchen hörte kaum darauf hin, achtete nicht meines begütigenden Zurufs und stürmte geflügelten Schrittes zur Thür hinaus.

Also wieder allein! Diese grellen Gegensätze von Licht und Schatten behagten mir nicht. Die Geschichte wurde immer rätselhafter. Es ging stark auf Zwölf. Die Nacht auf einer Bank zuzubringen, fühlte ich wenig Lust, und so entschloß ich mich zu einem zweiten Streifzuge nach der Küche.

Die Alte traf ich noch mit Kater und Raben am Herde. Aeußerst geschäftig trippelte sie hin und her, als ob sie Tausenderlei zu thun hätte.

Ich erzählte in aller Kürze, wie es mir mit Ingeborg ergangen, und der Schlußakt der Flucht erzielte hier den gleichen Eindruck wie bei dem Mädchen die Erwähnung Christian Nissen’s. Jedes weitere Wort streute mehr Sorge über die eingefurchten gutmüthigen Züge der Alten, die in tiefer Kümmerniß vor sich sprach:

„O du mein Herrgott, was wird das Ende dieser Nacht sein!“

Was auch das Ende sein sollte, ich konnte mich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Füßen halten, energisch machte ich daher das Recht einer endlichen Entscheidung über mein Schlafschicksal geltend und drohte, im Weigerungsfälle mir die Lagerstatt selbst zu suchen.

Dies wirkte. Fast apathisch ergriff die Alte eine Leuchte, und unter stillem Seufzen winkte sie mir, zu folgen. Durch einen Seitenausgang traten wir in einen Vorflur, eine schmale, steile Treppe hinan, und ein winziges Stübchen, das kaum Raum für Bett und Stuhl bot, nahm mich auf. Sie setzte das Licht auf den Stuhl, und mit träumerischem Gutenacht und schwerem Ach ging sie von mir.

Der guten Gewohnheit, mich genau in dem Zimmer umzuschauen, worin ich zum ersten Mal die Nacht zubringe, wurde ich auch damals nicht untreu. Hierbei wurde mir die unangenehme Entdeckung, daß das einzige kleine Fenster vergittert war und die Thür weder Schloß noch Riegel besaß.

Ein nicht verschließbares Schlafzimmer ist schon an und für sich ein Uebelstand; in diesem geheimnißvollen Hause wurde er zu einem sehr großen. Das Bett erwies sich als ganz vorzüglich. Mit größtem Behagen streckte ich mich aus, und mit der festen Absicht, keine weiteren Befürchtungen in mir aufkommen zu lassen, gab ich mir Mühe, einzuschlafen. An dem guten Willen hierzu mangelte es nicht, der Wille reichte aber nicht aus. Die Augen wollten sich schon schließen, da begannen noch einmal, ganz verstohlen, alle heutigen Erlebnisse an mir vorüber zu ziehen. Ich mochte sie verscheuchen wie ich wollte, die anfänglichen Nebelbilder wurden nur um so klarer. Fragezeichen reihte sich an Fragezeichen, und eins zeigte sich immer bedeutungsvoller als das andere. Ehe ich es nur recht wußte, befand ich mich in einer Gedankenjagd, wie sie aufregender nicht geritten werden konnte. Die Mahnung Christian Nissen’s: „Im Heidenhof ist es nicht geheuer,“ drängte sich mir peinigend auf. Die Phantasie wurde lebendig, und der jetzt mächtige Argwohn machte lange Schritte. Namentlich die nicht verschließbare Thür beschäftigte mich lebhaft; Schloß und Riegel fehlten vielleicht mit Absicht. Eine Flucht durch das Fenster war abgeschnitten, jeder Hilferuf nutzlos. Konnte Nissen doch mit dem Todtenmoor Recht haben? Dabei fachte sich der Sturm zu neuer Wuth an, rüttelte und schüttelte das Haus, als ob dessen letzte Stunde nahe wäre. Jn den wunderlichsten Tönen heulte es um mich herum; aus allen Ecken und Fugen blies, pfiff und sang es; oft glaubte ich Menschenstimmen, Angst- und Wehgeschrei zu unterscheiden; dann klang es in schaurig mächtigen Tönen wie die Posaune des jüngsten Gerichts. Als das Unwetter ein wenig nachließ, legte ich mich aufs Horchen, sprang auf, um an der Thür zu lauschen – kein Laut rührte sich im Hause, es schien wie ausgestorben.

Ich konnte keine Ruhe finden. Mitternacht mußte längst vorüber sein.

Plötzlich fuhr ich auf. Es war keine Täuschung. Deutlich unterschied ich in den unteren Räumen Männerstimmen. Man sprach schnell und geschäftig, dann wurde es still. Kaum merklich knarrende Laute ließen ein vorsichtiges Oeffnen und Schließen von Thüren erkennen. Was ging dort vor? Mein Herz schlug vernehmbar. Sollte man doch etwas gegen mich im Schilde führen? Und nicht einmal eine Waffe besaß ich zur Vertheidigung!

Ich griff nach dem Taschenmesser, die Klinge war wenigstens nicht schlecht. Der Mörder sollte mein Leben so theuer wie möglich erkaufen.

Zur Ueberlegung des Vertheidigungsplanes blieb keine Zeit, die Sachen entwickelten sich schneller, als ich dachte. Auf der Treppe hörte ich schleichende Tritte. Ich richtete mich auf. Jetzt waren sie bis zur Thür gelangt. Krampfhaft umfaßte ich das Messerheft, der erste Stoß mußte von mir geführt werden. Die Thür öffnete sich leise, leise. Ich hielt den Athem an. Die eingetretene Person blieb stehen, sie horchte jedenfalls, ob ich schliefe. Sie schien beruhigt, that einen weiteren Schritt vorwärts und lauschte wieder. Jetzt war sie am Fußende des Bettes – der nächste Augenblick mußte die Entscheidung bringen. Alle Fibern waren bis zum Zerreißen gespannt – der Arm hatte sich schon zum Stoß auf Tod und Leben erhoben.

Der Mörder schien den direkten Angriff verzögern zu wollen. Er ließ sich zur Erde nieder, bückte sich, und ich fühlte deutlich, wie sich die Gestalt unter die Bettstatt schob. Doch nur Sekunden verweilte sie, und es begann auf gleiche Weise die Rückwärtsbewegung. Die Person erhob sich, schritt so leise, wie sie gekommen, zur Thür, schloß dieselbe sacht, schritt die Treppe hinab, und ihre Tritte verloren sich.

Ich athmete auf. Mit dem Morden war es also vorläufig nichts. Um so wunderbarer erschien mir aber die Handlungsweise des Eindringlings. Welcher Zweck hatte ihn zu mir geführt? Ich dachte an giftige Betäubungsmittel oder eine kleine Dynamitsprengung, und zündete rasch das Licht an. Ich leuchtete umher, jede Bettfuge wurde untersucht – weder unter noch neben dem Bette war etwas zu entdecken; selbst die Stiefeln standen auf dem richtigen Platze. Ich sann und sann, stellte Vermuthung über Vermuthung auf, da endlich wußte ich Bescheid, man hatte das Stübchen bestohlen – – der Stiefelknecht war verschwunden.

Ich lachte so laut, daß ich dem Sturm ein Paroli bog, und Friede zog ein in die geängstete Seele. Bald schlief ich friedlich.

Goldene Sonnenstrahlen, die sich mein Haupt zum Spielball ihrer neckischen Launen ausersehen hatten, weckten mich. Der Tag hatte schon lange das Morgenkleid abgestreift und winkte mit blauem Himmel, den ein frischer Nordost schmuck gefegt, fröhlich zum Fenster herein. Schnell war ich in den Kleidern und ebenso schnell im Wirthszimmer drunten.

Auch dort hatte die goldene Sonne Wohnung genommen, glitzernd lag sie auf den blanken Tischen und freute sich des frisch gestreuten Sandes. Ein Blick nach dem großen Hofe, wo Knecht und Magd in fleißiger Arbeit schafften, überzeugte mich zur Genüge von der hier [508] waltenden strengen Zucht und Ordnung. Die Straße zeigte frisches Leben; mächtige Wagen, hoch mit Torf beladen, fuhren vorüber, lustiger Peitschenklang oder ein munteres Lied begleiteten sie. Im Gedanken an die vergangene Nacht trat mir dies Alles wie Bilder einer Luftspiegelung entgegen.

Nicht lange nach mir kam der Hofbauer. Ich erkannte den Mann kaum wieder. Selbst die Hünengestalt mußte von der lachenden Sonne schönen Gruß erhalten haben, nur Freude und Glück sprach ihm aus dem Angesicht.

Er schüttelte mir kräftig die Hand und sagte in biedrer, offener Weise:

„Nichts für ungut, Herr, für gestern Nacht. Was mögen Sie von mir gedacht haben! Sie kamen zu einer Stunde, wo mir so viel im Kopfe hing, daß ich vollauf mit mir selbst zu thun hatte. Ich kann es Ihnen ja anvertrauen. Als Sie anklopften, war ich im Begriff, mich reisefertig zu machen. Ich mußte ohne Verzug den Doktor holen, es hing Leben und Tod davon ab. – Nicht ganz mit Unrecht sagt man mir nach, daß ich ein wohlhabender Mann sei. Der Himmel hat mir dabei ein gutes, braves Weib beschert, und eine Tochter besitze ich, wie man sie sich nicht besser wünschen kann. Nur Eins fehlte mir, – ein Sohn. Den Heidenhof dereinst aus der Familie zu wissen, hätte mir die Sterbestunde schwer werden lassen. Der Adebar vergaß den Hof schon so manches lange Jahr, diese Nacht besann er sich und schenkte uns einen Prachtkerl von Erben. Damit werden Sie sich am besten selbst alle Rathlosigkeit, Unruhe und Sonstiges erklären können.“

Die einfachen, ungeschminkten Worte gefielen mir wohl; der Schleier der Nacht wurde damit gelüftet, wenn auch lange noch nicht ganz gehoben.

Dem Anliegen zu möglichst baldiger Weiterbeförderung wurde bereitwilligst nachgekommen, doch mußte ich das feste Versprechen geben, bei der Rückkunft einzukehren, um auch eine gute Stunde im Heidenhof zu erleben.

Während der Wirth das Nöthige für die Fahrt ordnete, brachte Ingeborg das Frühstück.

Sie kam mir noch schöner vor als am Abend. Von der allgemeinen Freude aber, die doch auch bei ihr hätte Widerklang finden müssen, sah ich nur das Gegentheil. Ein Trauerflor, wie ihn in solchem melancholischen Schimmer nur Liebeskummer webt, umhüllte sie.

Selbst ohne erfahrener Sachverständiger zu sein, konnte ich jetzt die Beziehungen Christian’s zu dem Mädchen wenigstens ahnen, und der Gedanke schlug fest Wurzel, als Helfer in der Noth den beiden jungen Menschenkindern zur Seite zu stehen. Hiervon ausgehend sagte ich zu Ingeborg:

„Jedenfalls treffe ich mit Christian zusammen. Haben Sie mir nichts an ihn aufzutragen? Ich bin verschwiegen und will Ihr Freund sein, Ingeborg.“

Sie sah mich so lieblich verschämt, so herzensfroh und dankbar an, daß ich in jenem Augenblick für das Mädchen durchs Feuer gegangen wäre. Dann ergriff sie meine beiden Hände, und mit gepreßter, fast schluchzender Stimme rief sie:

„Helfen Sie uns!“

Die Meldung, daß der Wagen bereit sei, sollte für jetzt jede weitere Erörterung unterbrechen. –

Meine Vermuthung zeigte sich als richtig. Der junge Nissen erwartete mich unterwegs. Das böse Gewissen vermochte er nicht zu verbergen. Als ich ihm nur mit dem Finger drohte und sein pater peccavi bei Seite schob, mußte er schon ahnen, daß ich manches Geheimniß errathen. Seinem dringenden Wunsche gemäß wurde das Gefährt gewechselt. Das nun folgende Zwiegespräch bestätigte meine Ahnungen. Der Hofbauer hatte ganz entschieden Verwahrung gegen die Heirath eingelegt und Nissen verboten, je wieder den Heidenhof zu betreten. Daraus wurde es mir auch klar, warum Nissen im Heidenhofe nicht einkehren wollte und mich durch räthselhafte Anspielungen auf Räuberherberge etc. von meinem Vorhaben abzubringen suchte. Als Grund seiner Weigerung gab der Heidenhofbauer an, daß er sich für einen solchen Sausewind, der noch nichts Tüchtiges im Leben geleistet, als Schwiegersohn bedanke.

Ich hatte dagegen ganz andere Anschauung von dem jungen Manne während meines Aufenthalts in seinem elterlichen Hause gewonnen. Christian war ein tüchtiger, fleißiger, aufgeweckter Mensch, dem man auch nicht das geringste Schlechte nachsagen konnte, und mehr als einmal hatte ich an dem braven, ehrlichen Charakter große Freude gewonnen.

In wenigen Stunden erledigten sich die Geschäfte, und gegen Abend hielt ich mit meinem Schützling wieder vor dem Heidenhofe.

Mein unumwundenes, zweifelloses Urtheil über Nissen galt dem Hofbauer viel, die frohe Stimmung über den nun vorhandenen Gutserben mochte auch das Ihre thun, und als wir bei einem Glase trefflichen Punsches bis tief in die Nacht hinein saßen, wurde nicht allein auf das Wohl des jungen Majoratsherrn, sondern auch auf das des Brautpaares angestoßen. –

Man ließ mich nicht fort. Die Großmutter führte mich wieder in das kleine Stübchen hinauf. Ehe sie von mir ging, leuchtete ich unter das Bett – der bekannte Stiefelknecht war am richtigen Ort. Ich wies lächelnd auf ihn hin. Die Alte gab mir das Lächeln zurück und sagte:

„Sie merkten es also doch. Wir haben nur einen im Hause, und der Herr Doktor, der ein wenig ruhen wollte, war seiner benöthigt: da half es eben nichts, ich mußte ihn holen.“

Als ich am nächsten Morgen den Hof verließ, um ihn nie wieder zu sehen, wurde mir noch manches freundliche Wort zu Theil. Zum Andenken nestelte mir das schöne Kind der Heide den frischen Erikastrauß, der Heide einzigen Schmuck, aus dem Brusttuch. Ich bewahre ihn heute noch, er liegt in meinem Reliquienschrein. Und wenn er mir durch die Hand gleitet, sehe ich immer wieder das tief blickende blaue Auge vor mir, wie es mir in nicht zu sagender Lieblichkeit und Dankbarkeit das letzte Lebewohl grüßte.


Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit.

Die Elektricität im Dienst der Heilkunde.


II.

Die im Dienste der Heilkunde zur Geltung kommenden elektrischen Ströme sind dreierlei Art. Sowohl die durch Reibungs- und Influenzmaschinen erzeugte Elektricität, als auch der einfache galvanische Strom und der unterbrochene oder sogenannte Induktionsstrom kommen je nach Lage des Erkrankungsfalles zur Verwendung. Thatsache ist, daß der Strom der Influenzelektrisirmaschine vornehmlich durch Fernwirkung einen gewissen Einfluß auf den menschlichen Körper ausübt, während der galvanische Strom eine größere chemische, zugleich die Nervenkraft hebende Eigenschaft besitzt und der unterbrochene, der faradische Strom geeigneter erscheint, mechanische Wirkungen hervorzurufen, Muskelbewegungen auszulösen und in gewissen Fällen durch seine der Heilgymnastik ähnlichen Wirkungen die Ernährung des Körpers im Allgemeinen zu heben. Der Strom der aus der Schulzeit den Meisten schon bekannten Reibungselektrisirmaschinen ist demnach vorzugsweise am Platze, wenn auf das Nervensystem im Allgemeinen eingewirkt werden soll, und kommt bei Behandlung der Allgemeinerkrankungen desselben in Betracht; hierher sind die Fallsucht, die Starrsucht, das Zittern, die Schüttellähmung, der Veitstanz und die Hysterie zu rechnen. Die in der That bewundernswerthen Heilresultate, welche Professor Charcot in seinem in unserem ersten Artikel geschilderten heilelektrischen Institute zu Paris erzielte, gehören vorzugsweise in dieses Gebiet der Nervenkrankheitslehre.

Eine höchst bemerkenswerthe heilkräftige Beeinflussung der atmosphärischen Luft hat der Strom der in unserem ersten Artikel („Gartenlaube“ Seite 433) abgebildeten großen Maschinen durch deren reichliche Ozonbildung zur Folge. Die Luft, die wir athmen, besteht bekanntlich aus Sauerstoff, dem Lebensgase, und Stickstoff. Wird der Sauerstoff der Luft elektrischen Einflüssen ausgesetzt, so gewinnen seine belebenden Eigenschaften einen höheren Grad der Wirksamkeit; der in dieser Weise elektrisirte Sauerstoff wird mit dem Namen „Ozon“ bezeichnet, da er einen eigenthümlichen stärkenden Geruch annimmt und das altgriechische Wort „ozein“ in dieser Sprache den Begriff „riechen“ im Sinne von „ausdünsten“ bezeichnet. Der erfrischende und belebende Einfluß auf das Nerven- und Gemüthsleben, den wir bei einem Spaziergange nach einen heftigen Gewitter empfinden, ist ausschließlich die Folge jener eigenthümlichen Ozonbildung, welche in der Atmosphäre in Folge der elektrischen Entladungen der Gewitter entsteht.

Es ist durch namhafte Aerzte, insbesondere in jüngster Zeit durch den Professor der Arzneimittellehre Dr. Binz in Bonn, erwiesen, daß sowohl der natürliche Ozongehalt der Atmosphäre, als auch künstlich erzeugte Ozonluft einen außerordentlich günstigen Einfluß auf Nervenleidende auszuüben im Stande ist und insbesondere durch Einathmung von Ozon eine nachhaltige schlafbringende Wirkung erzielt wird.

Die Verwendung der zweiten Elektricitätsgattung, des galvanischen Stroms – von dem verstorbenen Professor R. Remak zu Berlin in die ärztliche Praxis eingeführt – ist am Platze, wenn auf das Gehirn und das Rückenmark eingewirkt werden soll, sowie in den Fällen, wo [509] eigenthümliche örtliche Veränderungen in den Eigenschaften der Nerven angestrebt, und drittens, wenn Vorgänge speciell chemischer Natur im menschlichen Körper erregt werden sollen. Die dritte Stromesgattung, der unterbrochene oder faradische Strom, dessen Einführung in die Praxis wir dem französischen Arzte Duchenne de Boulogne verdanken, wird zumeist dann empfohlen, wenn es sich um eine Kräftigung des Muskelsystems, um Muskelübungen nach stattgehabten Lähmungen, um Hautreize sowie um eine Erhöhung der Thätigkeit der Unterleibsorgane und als Folge hiervon um Kräftigung des Gesammtorganismus bei Schwächezuständen handelt. Auch auf dem Gebiete der Chirurgie wird der elektrische Strom benutzt, und zwar theils zu Aetzungen, theils zur Zerstörung von Geschwülsten.

Leiten wir einen galvanischen Strom durch eine schwach salzhaltige Flüssigkeit, so wird letztere vollkommen zersetzt; die Salze zerspalten sich in ihre Urformen und begeben sich deren kleinste Theilchen, je nachdem sie geeigenschaftet, entweder an den positiven oder negativen Pol des eingeleiteten Stromes. Gleichzeitig zersetzt sich das Wasser in seine Bestandtheile, Wasserstoff und Sauerstoff. Wird nun in ähnlicher Weise ein elektrischer Strom in eine Geschwulst eingeleitet, entweder dadurch, daß man zwei befeuchtete, mit dem Strome in Verbindung stehende Platten auf die Geschwulst aufsetzt, oder daß man mit dem Strome verbundene Nadeln in die Geschwulst einsticht, so entsteht eine Zersetzung der in der Geschwulst vorhandenen Säfte; die Ernährung der Mißbildungen wird durch den elektrischen Strom beeinträchtigt; diese zerfallen allmählich in ihre Einzelbestandtheile und verschwinden nach mehrfacher Wiederholung des Experimentes allmählich vollkommen. – Die geheimnißvolle Heilwirkung des galvanischen Stroms auf das Nervensystem wird von hervorragenden Autoritäten theils ebenfalls auf chemische Wirkungen, theils auf noch nicht hinreichend erklärte Effekte zurückgeführt, durch welche die Ernährungsverhältnisse der Nerven im Allgemeinen gebessert und insbesondere die Schmerzen bei sogenannten Neuralgien gelindert werden.

Die sogenannten elektromotorischen nerven- und Muskelpunkte des Armes und der Hand.

Der galvanische und faradische Strom werden aber nicht nur in der Medicin zu Heilzwecken benutzt, sondern auch zur Erkennung von Krankheiten herangezogen. Während der galvanische Strom mehr über das Verhalten der Nerven Aufschluß giebt, zeigt der faradische Strom eine gesunde oder krankhaft afficirte Muskelthätigkeit an, welche bei beiden Stromesarten in eigenthümlichen, sichtbaren Muskelzuckungen zur Beobachtung gelangt. Aus derartigen Erscheinungen vermag der Arzt Schlüsse auf den Grad der Erkrankung des Nerven- und Muskelsystems zu ziehen.

Wie wichtig die Kenntniß der Anwendung elektrischer Ströme ist, geht aus unserer oberen Abbildung hervor, woselbst in den Arm eines Menschen diejenigen sogenannten Muskel- und Nervenpunkte eingezeichnet sind, an welchen die üblichen Elektrisirknöpfe aufgesetzt werden müssen, um unter Zuhilfenahme der richtig gewählten Stromstärke die gewünschten Wirkungen zu erzielen. In gleicher Weise sind über den ganzen menschlichen Körper zerstreut Nerven- und Muskelpunkte unter Zugrundelegung anatomischer und physiologischer Forschungen aufgefunden worden, die insbesondere bei den oben erwähnten elektrischen Untersuchungen des erkrankten Körpers eine bedeutende Rolle spielen und deren Kenntniß als die Grundlage der gesammten modernen Elektrotherapie aufzufassen ist. – Neben der Elektrisation einzelner Körpertheile wurde in den jüngsten Jahren in Folge bahnbrechender Arbeiten zweier amerikanischer Aerzte, Beard und Rockwell, noch die sogenannte allgemeine Elektrisation in den Bereich der Thätigkeit der Heilwirkungen des elektrischen Stromes gezogen und als ein Specifikum gegen eine Erkrankung des Nervensystems erkannt, welche heut zu Tage leider eine ungemeine Verbreitung gefunden hat. Die rasche Arbeit unserer Zeit, die Anforderungen, welche das moderne Kulturleben im Kampfe ums Dasein an den Einzelnen stellt, die Ueberanstrengung der Kräfte zu geistiger Arbeitsleistung sowie die moderne Genußsucht rufen bei vielen, welche der sogenannten gebildeten Klasse angehören, jene nervöse Abspannung hervor, die den vierzigjährigen Mann zum Greise umwandelt, dem jugendfrischen Weibe den Stempel der Bleichsucht auf die Stirn drückt und jenes vielgestaltige Nervenleiden zeitigt, das unter dem Namen der Neurasthenie oder Nervenschwäche in den jüngsten Jahren mannigfach beobachtet worden ist.

Hydro-elektrisches Bad mit Batterieschrank und Stromregulirungsapparaten.
Von R. Blänsdorf’s Nachfolger in Frankfurt a. M.

Die Ausübung der gegen dieses Leiden gerichteten, oben erwähnten Heilmethode ist aber sowohl für den behandelnden Arzt, als für den Patienten eine in hohem Grade zeitraubende und lästige, da täglich während etwa einer Stunde der gesammte Körper des Patienten mittelst geeigneter Instrumente elektrisch bearbeitet und befahren werden muß – Man hat in dem elektrischen Wasserbade einen Ersatz für jene Methode gefunden, eine Form der Elektrisation, welche ohne Belästigung für Arzt und Patient gestattet, die gesammte Körperfläche der einheitlichen Wirkung des Stromes auszusetzen. In der unteren Figur sehen wir eine elektrische Wasserbad-Einrichtung, wie solche in dem Großherzoglichen Friedrichsbade zu Baden-Baden, auf der Universitätsklinik zu Heidelberg sowie in einigen deutschen Privatheilanstalten für Nervenleidende neuerdings eingeführt worden sind. An der aus Holz gezimmerten Badewanne sind seitlich je drei und oben und unten je eine große, durch Holzrahmen verdeckte Metallplatte eingelassen, welche dem in dem Badewasser befindlichen Patienten elektrische Ströme von allen Seiten her zuführen; solche verdanken ihre Entstehung den in dem beistehenden Schranke befindlichen Apparaten. Der obere offene Theil des Schrankes enthält unter Anderem auch eigenthümliche Richtungsgeber des Stroms, mittelst deren es dem das Bad verabreichenden Arzte ermöglicht ist, in dem Wasser elektrische Strömung von den verschiedensten Stromstärken auf den badenden Körper einwirken zu lassen. Die unleugbaren Wirkungen der Methode, welche mittlerweile von verschiedenen deutschen Aerzten, insbesondere durch Hofrath Dr. Stein (Frankfurt a. M.) in dem Buche: „Die allgemeine Elektrisation zur Behandlung der Nervenschwäche“, sowie durch Dr. Eulenburg (Berlin) und Dr. Lehr (Wiesbaden) in deren Broschüren „Die hydroelektrischen Bäder“ Bestätigung gefunden haben, zeigen sich in folgenden Wirkungen; „besserer Schlaf, rasche und bleibende [510] Wiederkehr des Appetits bei nervöser Dyspepsie, Regelung der Funktionen des Darmkanals, Linderung neuralgischer Schmerzen, Beseitigung der Gemüthsverstimmung, Zunahme des Körpergewichts durch eintretende bessere Ernährung, sowie als Gesammtresultat der Behandlung die sichtliche Mehrung der Fähigkeit zu geistiger und körperlicher Arbeit.“

Leider hat die Einführung derartiger Methoden in die Praxis, trotz ihrer Vorzüge für die leidende Menschheit, den großen Nachtheil, daß das Kurpfuscherthum auch ihrer sich bemächtigte. Es kann demnach nicht nachdrücklich genug davor gewarnt werden, elektrische Kuren von nicht dem ärztlichen Stande angehörigen Personen ausführen zu lassen. Durch unsere anatomische Figur auf S. 509 beabsichtigen wir darauf hinzuweisen, wie wichtig bei der Anwendung elektrischer Ströme die Kenntniß der einzelnen Nervenbezirke sei. Die Elektricität ist in der Hand des Erfahrenen eines der hervorragendsten Heilmittel, in der Hand des Laien unter Umständen ein zerstörendes Gift, insbesondere aber in der Nähe der Centralorgane des Nervensystems, des Gehirns und des Rückenmarks, in ungeeigneter Weise applicirt, weit gefährlicher, als der Inhalt vieler mit dem bekannten Todtenkopfe und einem Ausrufzeichen versehenen Behälter der Apotheke. Wer demnach glaubt, daß eine elektrische Behandlung ihm von Vortheil werden könne, der wende sich vertrauensvoll an seinen Arzt, und dieser wird, falls er sich nicht selbst mit der einschlägigen Specialität befaßt, den richtigen Weg weisen und den geeigneten Mann bezeichnen, bei welchem die entsprechende Hilfe zu finden ist. Nur auf dieser Basis kann sich das die Elektricität als Heilmittel empfehlende Wort des Leiters der Universitätsklinik zu Heidelberg, eines der bewährtesten Forscher auf einschlägigem Gebiete, des Professors Wilhelm Erb, bewahrheiten, wenn derselbe sagt:

„Die Elektricität ist ein so außerordentlich mächtiges und vielseitiges Heilmittel, daß derselben speciell bei den mannigfaltigsten Erkrankungen des Nervensystems so evidente und zweifellose Resultate zugeschrieben werden dürfen, wie kaum einem anderen Mittel. Die Erfahrungen der letzten dreißig Jahre lassen darüber nicht den mindesten Zweifel, daß die Elektricität bei Krämpfen und Lähmungen, bei Erkrankung der Nerven im Allgemeinen, ebenso wie bei solchen des Gehirns und des Rückenmarks im Besonderen, sich hilfreich – oft in ganz eminentem Grade hilfreich – erweisen kann, und daß ihrer Einführung in die Heilkunde eine wesentlich günstigere Beeinflussung mancher Erkrankungsformen zu verdanken ist; es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir hier betonen, daß die Heilerfolge nicht selten selbst den kundigen Arzt durch ihre zauberhafte Raschheit und Vollständigkeit in Erstaunen versetzen.“


Was will das werden?

Roman von Friedrich Spielhagen.
(Fortsetzung.)
6.

Der nächste Morgen fand mich wie jeder vorhergegangene bei der Arbeit, aber zum ersten Male wollte die Arbeit nicht flecken, und mein Mitgeselle Konrad Trütschler durfte zum ersten Male mit einem Schein von Recht den „gelernten Tischler“ gegen den „Bönhasen“ ausspielen. Er war auch sonst in übler Laune. Warum ich nicht, wie ich versprochen, gestern Abend nach der Versammlung auf ihn gewartet habe? Nun sei er meinetwegen mit in das Gedränge vor dem Lokale gerathen, und ein Schutzmann habe ihn notirt, trotzdem er „keinen Ton gesagt“! Ueberhaupt die Versammlung! In der Einer gegen die Strikes und ein Anderer für die Armee sprechen dürfe! Es sei ein Skandal, den er im „Volksstaat“ oder im „Neuen Socialdemokrat“ denunciren werde. Ob ich schon einmal bei den Christlich-Socialen gewesen sei? Da sei es eigentlich viel hübscher, und als Redner müsse er denn doch den Prediger Renner viel höher taxiren, als den hochnasigen Herrn „von“ Werin. Die Art kenne er! Junker bleibe Junker und damit basta. Wenn er einmal ans Regiment komme, den Herrn „von“ Werin ließe er zuerst baumeln. Das sei gewiß!

So schwätzte der thörichte Mensch, während Otto, lässig arbeitend, halb zuhörte, halb vor sich hin träumte und ich ungeduldig die Rückkehr Weißfisch’s erwartete, den ich mit einem Billette an Lamarque gesandt hatte.

In Angelegenheiten Christinens, von der ich heute Morgen mit der ersten Ausgabe einen Brief erhalten, welcher noch gestern Abend geschrieben war. Sie sei, als sie nach Hause gekommen, von ihrer Mutter mit der Nachricht empfangen worden, daß Herr Kunze dagewesen sei und erklärt habe, mit seiner Geduld zu Ende zu sein. Zwei Tage wolle er noch warten. Habe er dann Christinens Jawort nicht, werde er die Sache als abgethan betrachten, und die Familie möge dann zusehen, wie sie ohne ihn fertig werde. Die Mutter habe sie bös angelassen, als sie sich geweigert, und der Vater, der sich dann auch hineingemischt, ihr gedroht, sie, im Falle sie bei ihrer Weigerung beharre, ohne Gnade zum Hause hinauszuwerfen. Sie zweifle nicht, er werde seine Drohung buchstäblich wahr machen. Nun habe sie sich ja freilich überlegt, daß sie ihr Verhältniß mit Herrn von V. abbrechen müsse, und dazu sei sie auch fest entschlossen, aber ebenso, ins Wasser zu gehen, bevor sie sich zwingen lasse, Herrn Kunze zu heirathen. Ich möge also keinen Augenblick verlieren, mein Versprechen von gestern Abend einzulösen und mich für sie bei Herrn Lamarque zu verwenden. Sie habe gestern vergessen, mir zu sagen, daß auch die Putzmacherin, bei der sie bisher gearbeitet, ihr gekündigt habe, jedenfalls auf Antrieb des Herrn K., der recht gut wisse, daß ihr damit das letzte Mittel einer anständigen Existenz entzogen sei.

Ich hatte diesen kummervollen, in der Eile fast unleserlich geschriebenen, durch reichliche Thränenspuren halb verwischten Brief kaum entziffert, als Herr Kunze in die Werkstatt schickte, mich fragen zu lassen, ob ich einen Augenblick für ihn Zeit habe zur Besprechung einer Angelegenheit, die „auch für mich nicht ohne Interesse sei“. Das Letztere hatte sich in der dann folgenden Unterredung, die über eine Stunde währte, in für mich peinlichster Weise bewahrheitet.

Ich hatte den Mann bis gestern Abend für einen Ehrenmann durch und durch gehalten; heute lieferte er mir den Beweis, daß ich in der Einsicht und Befolgung seiner Trau-schau-wem-Maxime allerdings ein trauriger Stümper war. Er wolle und müsse das Mädchen haben und damit basta, erklärte er. Ob sie ihn liebe oder nicht, sei ihm ganz gleich. Seine erste Frau habe ihn auch nicht geliebt; aber gehorcht habe sie; das sei die Hauptsache, und wie man diese Hauptsache zu Stande bringe, dafür habe er seine untrüglichen Mittel. Christinens Eltern habe er „völlig im Sack“; es handle sich einzig und allein darum, daß das Mädchen erst einmal Ja gesagt. Er habe sich von der Bedeutsamkeit meines Einflusses überzeugt und frage nun, ob ich, in Anbetracht der Hilfe, die er mir im Geschäfte geleistet habe und weiter leisten, oder aber entziehen und in das Gegentheil verkehren werde – je nachdem – meinen Einfluß zu seinen Gunsten anwenden wolle oder nicht?

Und diesen Menschen hatte ich der armen Christine gestern Abend noch als Gatten empfehlen können! Ich mußte mich in ihren Augen wieder ehrlich zu machen suchen dadurch, daß ich ihr in jeder Weise auf den Weg half, in welchem sie und jetzt auch ich den einzigen sah, der ihr noch möglicherweise offen blieb. Um Zeit zu gewinnen, murmelte ich etwas von meinem Entschlusse, Alles thun zu wollen, wozu ich mich als Freund Christinens verpflichtet fühle. Das Schielauge schien in dieser Erklärung nicht ganz den „reinen Wein“ zu sehen, wie ihn die Vorsicht liebt; aber ich bat, mich für diesmal zu entschuldigen; ich sei in der Werkstatt nicht länger abkömmlich.

Vor der Thür derselben erwartete mich Weißfisch. Er hatte sich nicht hineingewagt, nachdem er von Anna gehört, daß ich drüben bei Herrn Kunze sei. Ohne Zweifel hatte er, indem das eine Wort das andere gab, von meiner Schwägerin auch noch mehr gehört, das heißt Wohl so ziemlich Alles, was ihm in Beziehung auf mich und meine dermaligen Verhältnisse zu wissen irgend wünschenswerth sein konnte. Wenigstens fiel mir nachträglich ein, daß er sich bei mir nach nichts erkundigte, über nichts verwundert war, sondern Alles als etwas ihm längst Bekanntes und Geläufiges hinnahm. Für den Moment war ich viel zu erregt, um darauf achten zu können. Ich bemerkte nur, daß das Aussehen des Mannes weniger verwildert, vor Allem auch sein Anzug sauberer und ordentlicher war, als gestern Abend, und würde auch dies schwerlich beachtet haben, wenn es mir nicht für meine Absicht willkommen gewesen wäre. Der Bote, den ich zu meinem theatralischen Freunde schickte, durfte doch nicht gar so banditenmäßig auftreten, und ich hatte sofort beschlossen, daß [511] Weißfisch dieser Bote sein solle. Wer wäre zu einem solchen Auftrage geeigneter gewesen, als der Kluge, Vielgewandte, um so mehr, als ich weder Zeit noch Ruhe hatte, Lamarque mein Anliegen in einem ausführlichen Briefe vorzutragen.

Das mochte gegen neun Uhr gewesen sein; jetzt ging es bereits stark auf Mittag, und Weißfisch war noch immer nicht zurück. Meine Unruhe hatte den höchsten Grad erreicht. Wenn er Lamarque nicht fand oder dieser ihn heute nicht sprechen konnte, so ging ein kostbarer Tag verloren, und für die hereindrohende Entscheidung blieb nur noch der morgende, der leicht ebenso ohne Ergebniß verlief. In meiner arbeitswidrigen Stimmung hatte ich ein kostbares Brett völlig verschnitten zum großen Ergötzen des „gelernten Tischlers“ und zu nicht minderer Bestürzung Otto’s, der darüber so tief und anhaltend seufzte, als sei ihm von Stund an der gänzliche Verfall des Geschäftes nur noch eine Frage der allernächsten Zeit. Endlich watschelte Rudolphchen in die Werkstatt, „draußen sei Einer, der Onkel Lothar zu sprechen wünsche.“ Es war natürlich Weißfisch, welcher gute Kunde brachte.

Er habe Herrn Lamarque in seiner Wohnung getroffen, als derselbe im Begriff gewesen sei, zur Probe zu gehen, wohin er ihn dann begleitet, um ihm unterwegs und hernach hinter den Koulissen in gelegentlichen Pausen der Probe die betreffenden Mittheilungen zu machen. In Folge dessen habe sich der verwickelte Auftrag nicht so schnell erledigen lassen. Er brauche wohl kaum zu sagen, daß Herr Lamarque, sobald er (Weißfisch) nur meinen Namen genannt, wie elektrisirt gewesen sei und sich bereit erklärt habe, was nur immer in seinen Kräften stehe, in der fraglichen Sache zu thun.

„Um die Sache möglichst zu expediren,“ fuhr Weißfisch fort, „glaubte ich noch ein Uebriges thun zu sollen. Der Schwerpunkt der Frage schien mir darin zu liegen, ob die junge Dame sich überhaupt zur Schauspielerin eigne. Ich fragte deßhalb Herrn Lamarque, ob ich ihm noch heute die junge Dame zuführen dürfe? ,Es würde ihm nichts lieber sein,‘ erwiderte er; wir einigten uns auf die Stunde vor dem Anfang des Theaters. Ich begab mich nun in das Geschäft, in welchem Fräulein Hopp arbeitet, ließ die junge Dame herausrufen – ich mache mein Kompliment, gnädiger Herr, eine remarquable Beauté! – verständigte mich mit ihr und werde sie heute Punkt sechs Uhr zu Herrn Lamarque begleiten, in einem geschlossenen Wagen selbstverständlich. Ich bin überzeugt, daß das Resultat der Prüfung ein günstiges sein wird. In jedem Fall bat Herr Lamarque um die Ehre und das Vergnügen, Ihnen darüber mündlich Bericht erstatten zu dürfen, und schlug zu diesem Zwecke eine Entrevue in dem Theatercafé in der X.-Straße – ganz dicht bei dem Theater – vor. Ich glaubte im Interesse der Sache, ohne erst Ihre Erlaubniß einzuholen, Herrn Lamarque Ihr gütiges Erscheinen zur bestimmten Stunde zusichern zu sollen.“

Weißfisch verbeugte sich und fragte, ob der gnädige Herr noch sonst Befehle für ihn habe? Ich erwiderte, wider meinen Willen über den närrischen Menschen lachend, daß ich ihn ein- für allemal bäte, diese Possen in Zukunft zu lassen. Im Uebrigen sei ich ihm für seine Bemühungen, durch die er mir einen großen Dienst erwiesen habe, aufrichtig dankbar. Zu dem Rendez-vous würde ich mich selbstverständlich einfinden.

„Die Dankbarkeit und zwar die alleraufrichtigste, innigste,“ erwiderte Weißfisch, „kann in dem Verhältnisse von Ihnen zu mir immer nur auf meiner Seite sein.“

Weißfisch zog den Hut – die Unterredung hatte auf dem Hofe stattgefunden – und entfernte sich mit langen bedächtigen Schritten.


7.

Ich besaß von meiner Theaterzeit her noch einen guten und kleidsamen Anzug, welchen ich für heute Abend herausgesucht hatte, um Lamarque nicht in Verlegenheit zu bringen, wenn er sich an der Seite eines einfachen Handwerkers in einem eleganten Café sehen lassen müßte.

Bis zu dem fast am entgegengesetzten Ende der Stadt gelegenen Lokal hatte ich einen langen Marsch, war aber doch der Erste auf dem Plan und hatte Muße, mich in meiner stillen Ecke an Tage zu erinnern, die nun schon so lange hinter mir lagen und die, auch nur ähnlich, für mich nie wiederkehren würden. War es, daß das Lokal wesentlich dem glich, in welchem die Kavaliere des herzoglichen Hofes zu verkehren pflegten, – meine Phantasie schwebte, wie ein Schmetterling von Blume zu Blume, so von Bild zu Bild, die alle aus jener Zeit in meiner Erinnerung blühten – frisch, als hätten sie sich gestern erst erschlossen – und von denen mir doch eines das so weitaus theuerste war! Wo weilte sie jetzt, die Liebe, Gute, Schöne? Adele! Wenn doch einmal die Gestalten meiner alten Freunde in meinem neuen Leben wieder auftauchen sollten, warum nicht auch ihre holde Gestalt? Sie, die ich jetzt mit einer besseren Liebe lieben würde, als damals: die Schwester, Wahlverwandte und Genossin in demselben Schicksal; sie, die sich, wie ich, mit Aufopferung von Allem, was die künstlerisch angelegte Seele entzückt und dem für das Schöne aufgeschlossenen Sinn Balsam ist, losreißen mußte, wie von einem Zauber der Hölle, um des höchsten Gutes theilhaftig zu werden, ohne welches alle anderen Erdengüter Staub und Asche sind: des Himmelsgutes der Freiheit.

Seltsam! habe ich mit den Kleidern von ehemals den Menschen von ehemals angezogen? Oder ist das nur wieder das Spuken des alten Hochmuthsteufels, der sich herauswagt, weil du deine sichere Burg mit ihrem soliden Leim– und Holzgeruch verlassen hast, um für eine Stunde einmal wieder Billardbälle klappern zu hören und den Rauch türkischer Cigaretten einzuathmen? Beim Himmel, er soll mir nichts anhaben, der schnöde Teufel, und käme er auch da in der zierlichen Gestalt mit dem leichten Schritt und dem gewinnenden Lächeln Joseph Lamarque’s!

Er hatte mich umarmt und auf jede Backe geküßt so schnell, daß, glaube ich, keiner der Gäste die ungewöhnliche Begrüßung hätte beschwören können, und hielt jetzt meine beiden Hände gefaßt, während seine schwarzen Feueraugen jede Linie meines Gesichtes zu mustern schienen. Das Resultat mochte ihn nicht befriedigen; er schüttelte kaum merklich den Kopf.

„Ich bin inzwischen ein alter Kerl geworden,“ sagte ich lachend.

„Damit hat es keine Noth,“ erwiderte er; „man sieht nur, daß Sie lange keine Komödie gespielt haben. Aber wie sollten Sie nach dem, was mir Ihr Bote von Ihrem Leben der letzten Monate erzählte! Ist denn das wirklich Alles wahr?“

„Ich weiß nicht, was er Ihnen erzählt hat –“

„Es wird schon wahr sein; wenigstens stimmt es mit dem, was Sie mir damals von Ihren Zukunftsplänen vorphantasirten. Ich hielt es für Phantasien. Wie konnte ich glauben, daß Sie aus einer so wunderlichen Grille blanken baren Ernst machen würden! Und Ihre Poesien! Ihre Novellen! Ihre Dramen! Ihr ,Thomas Münzer‘ in erster Linie! Das war doch ein famoses Stück trotz alledem – ich meine trotz einiger Längen und dramatischer, vielmehr theatralischer Unmöglichkeiten. Und mit dem sich bei nur einigermaßen guter Besetzung ein Erfolg erzielen ließe, und vielleicht ein großer.“

„Wollten Sie es etwa zur Aufführung am X-Theater annehmen, Herr Regisseur?“

„Zweifellos! Abgemacht!“

Und er streckte mir über das Tischchen, an welchem wir unterdessen Platz genommen, die Hand entgegen.

„Sie sind toll!“ rief ich mit einem Lachen, das mir nicht von Herzen kam.

„Gar nicht,“ erwiderte er. „Ich brauche ein neues Stück, in dem viel Handlung, Massenwirkung, Scenenwechsel, Dekorationsspektakel – kurz ein Stück wie Ihren ‚Münzer‘, das mir dazu die Möglichkeit gewährt, mich – in der Titelrolle natürlich – dem Publikum von einer Seite zu zeigen, von der es mich eigentlich noch gar nicht kennt. Seit Wochen geht mir das im Kopf herum, und hätte ich Ihre Adresse gewußt, beim Himmel, ich würde nicht auf Ihren Boten bis heute Morgen gewartet haben. Also ich bekomme den ‚Münzer‘?“

„Nicht eine Zeile!“

„Auch nicht, wenn es die Bedingung sine qua non ist, unter der ich mich verpflichten will, Ihre junge Schutzbefohlene auch meinerseits zu protegiren?“

„Seit wann sind Sie denn –“

„Ein Jude geworden? Lieber Freund, glauben Sie, ich hätte es so weit gebracht, wenn ich nicht von Hause aus einer wäre?“

„Lassen wir den Scherz bei Seite, Lamarque! Mit der Angelegenheit des armen Mädchens ist es mir bitterer Ernst; und ich weiß, daß Sie um unserer alten Freundschaft willen auch ohne [512] den ,Münzer‘ für die Unglückliche thun werden, was in Ihren Kräften steht. Sie haben sie jetzt gesehen, gesprochen. Glauben Sie, aus ihr eine Schauspielerin machen zu können?“

In Lamarque’s lebhaften Zügen zeigte sich ein entschiedener Unmuth. Er erwiderte trocken:

„Man kann aus jedem hübschen und nicht dummen Mädchen eine Schauspielerin machen, wenn keine gute oder gar große, so doch eine Schauspielerin. Hübsch genug ist die junge Dame, und dumm scheint sie gar nicht zu sein.“

„So wäre also mir noch die Frage, ob Sie sich ihrer annehmen wollen. Kommen Sie, Lamarque, seien Sie gut! Ich – ich gebe Ihnen auch den ,Thomas Münzer‘.“

„Topp!“ rief Lamarque mit einem geradezu blendenden Lächeln, mir abermals die Hand entgegenstreckend, in die ich mit einem sehr schlechten Gewissen die meine legte. – „Wann kann ich das Manuskript haben?“

„Wann Sie wollen. Und nun sagen Sie mir aufrichtig, wie haben Sie Christine Hopp gefunden? Hat sie Talent?“

„Zuerst eine Frage, die sehr indiskret scheint, die ich aber doch beantwortet haben möchte aus verschiedenen Gründen. Ist das Mädchen Ihre Geliebte?“

„Nein. Aber was hat das mit der Sache zu thun?“

„In schauspielerischen Dingen sind die Sachfragen auch fast immer Personenfragen – das sollten Sie doch wissen. In diesem Falle befreit mich Ihr offenherziges Nein von allen möglichen und unmöglichen Rücksichten, die ich sonst Ihrethalben hätte nehmen müssen, zum Beispiel gleich bei der Beantwortung Ihrer Frage, die Sie nun klipp und klar haben sollen. Ja, das Mädchen hat Talent, – zweifellos, und ich glaube bestimmt: ein sehr bedeutendes, das aber, wie jedes Talent, nur gedeihen kann, wenn es im Stande ist und die Kraft hat, sich mit Hintansetzung aller übrigen Interessen ganz seinen Aufgaben zu widmen. Begreifen Sie jetzt die Berechtigung meiner indiskreten Frage?“

Ich reichte dem klugen energischen Manne stumm die Hand.

„Damit ist nun gar nicht gesagt, daß sie nicht einen Anderen liebt,“ fuhr er fort, „und, offen gestanden, ich hatte und habe die Ueberzeugung: dem Mädchen rumort eine Liebe in Kopf und Herzen; aber gilt diese Liebe nicht Ihnen, macht sie mir schon weniger Bedenken.“

„Warum?“

Um des Schauspielers feine bartlose Lippen zuckte ein schalkhaftes Lächeln.

„Sie erlauben, daß ich, um Ihre mir bekannte Bescheidenheit nicht zu verletzen, diese Frage unbeantwortet lasse. Sehen Sie, Sie werden schon roth! Im Uebrigen: die Sache ist abgemacht. Ich nehme das Mädchen als meine Schülerin unter meine besondere Protektion und komme, um auch den Punkt zu erledigen, für alle Kosten auf. Auch für die, welche es voraussichtlich machen wird, sie aus ihrem augenblicklichen Verhältnisse zu lösen. Sie müssen nämlich wissen, daß die Inhaberin des Putzgeschäftes, die ihr gestern gekündigt hatte, heute wieder anderen Sinnes geworden ist und eine so schöne und geschickte Person unter keiner Bedingung weglassen will, was ich ihr ja so weit auch nicht verdenken kann. Wir werden also einen Druck üben, nöthigenfalls die Frau mit Geld abfinden müssen. Auf jeden Fall will ich die Sache noch heute Abend mit dem Vertreter unsers Theater–Anwaltes besprechen, den ich gebeten habe, mir hier ein Stelldichein zu geben. Ich wundere mich, daß er nicht schon hier ist. Der Mann ist sonst die Pünktlichkeit selbst. Nun, er wird schon kommen. Und eh’ ich’s vergesse: wer um aller Heiligen willen ist denn der Mensch, den Sie mir da heute Morgen geschickt haben? Ich bin aus dem Kerl nicht klug geworden; so viel ist sicher, daß er in seinem Leben schon mit allen Hunden der Welt gehetzt ist.“

„Ich weiß eigentlich nicht, ob ich es Ihnen sagen darf, da er es Ihnen selbst nicht gesagt hat,“ erwiderte ich lächelnd. „Er ist der, von dem ich Ihnen damals ein gut Theil erzählt habe: mein ehemaliger Lehrer, Weißfisch.“

Der Schauspieler schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

„Daß ich darauf nicht selbst verfallen bin!“ rief er. „Ich werde wirklich mit jedem Tage dummer! Freilich Schwarzbach, wie er sich nannte, und Weißfisch! Als ob ich von Hause aus Lamarque hieße! Also das ist der famose Weißfisch! Nun begreife ich, weßhalb der Mensch mit allen Theaterdingen Bescheid wußte, als hätte er sein Lebtag auf den Brettern gestanden! Ich habe es ihm auf den Kopf zugesagt, während er hartnäckig dabei blieb, er habe nur in besseren Tagen ein lebhaftes Interesse an diesen Dingen genommen, ohne jemals vom Metier gewesen zu sein.“

„Und darin hat er eigentlich nicht gelogen,“ erwiderte ich. „Schauspieler ist er wirklich höchstens ganz vorübergehend gewesen. Aber das Theaterwesen freilich kennt er durch und durch. Und wenn Sie ihn irgendwie an Ihrem oder an einem anderen Theater unterbringen können – als Inspicient, Sekretär, Souffleur, Deklamirmeister – er kann das Alles, ist das Alles – so würden Sie sich einen Gotteslohn verdienen an dem armen Kerl, dem es furchtbar schlecht geht; und mir nebenbei einen großen Gefallen erweisen, der ich gegen den Mann Schulden der Dankbarkeit habe, welche abzutragen mir meine Verhältnisse nur in einem sehr beschränkten Maße verstatten.“

„Ihre Verhältnisse?“ rief Lamarque. „Was wissen Sie von Ihren Verhältnissen? Die werden Sie erst kennen an dem Tage, an welchem ich Ihren ,Thomas Münzer‘ auf die Bühne bringe. Sie haben nie Vertrauen zu sich selbst gehabt, und dieser eine Fehler verdirbt alle Ihre übrigen prachtvollen Eigenschaften. Würde Sie verderben, wenn es nicht noch andere Leute gäbe, die Gott sei Dank besser wissen, was von Ihnen zu halten ist. Zum Beispiel eben Ihr Schwarzbach-Weißfisch. Ich will es Ihnen nur gestehen: ich habe den Mann, der ja augenscheinlich in schwerem Dalles war und so offenbar in und an ein Theater gehörte, eindringlich gefragt, ob ich nach dieser Seite nichts für ihn thun könne. Und was hat er mir geantwortet? Er sei sehr dankbar und wolle es auch nicht für alle Zeit verreden. Vor der Hand und bis auf Weiteres betrachte er sich im persönlichen Dienste seines ,gnädigen Herrn‘ – beim Styx, so hat er gesagt! Und als ich ihn darauf hin doch wohl ein wenig verwundert anblickte, fügte er, den großen Ludwig vom Gendarmenmarkt wirklich meisterhaft kopirend, hinzu: ,Die Zeit ist aus den Fugen. Schmach und Gram, daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!‘ Aber verzeihen Sie, da ist der Doktor. Bleiben Sie sitzen! Ich hole ihn her. Sie werden einen interessanten Mann an ihm kennen lernen.“

Lamarque hatte sich rasch erhoben und eilte leichten Schrittes zwischen den Tischen durch nach dem vorderen Raum, in welchen die Eingangsthür von der Straße führte, und wo sein scharfes Auge den Eingetretenen bemerkt haben mußte. Ich bog mich wieder über mein Punschglas mit brennender Stirn. Sollte er nun doch in Erfüllung gehen, der Traum meiner Jugend, den ich zuerst geträumt in der kleinen Giebelstube, vor dessen Fenster der kahle Kornelkirschbaum stand, da oben in der dunklen Hafenstadt? der Traum, den ich für immer ausgeträumt zu haben glaubte? Sind wir Menschen denn wirklich „ein Spiel von jedem Drucke der Luft“? Aber durfte ich Nein sagen, als er es so von mir forderte? Muß man nicht, wenn bessere Einsicht und Mitleid im Streit liegen, der sanfteren Stimme folgen? Mußte man es nicht, so mußte ich es. Das ist die Konsequenz und Charakterfestigkeit der kleinen Leute; zu einem Adalbert wird man freilich auf diese Weise nicht.

„Hier bin ich wieder, lieber Lorenz. Darf ich die Herren mit einander bekannt machen: Herr Referendar Doktor Adalbert von Werin, Herr Lothar –“

Weiter kam Lamarque nicht: ich hatte mich, einem unwiderstehlichen Dränge folgend, Adalbert in die Arme gestürzt, nicht wie vorhin der Schauspieler mich umarmt hatte: bühnenmäßig, sondern im heißen Drange eines Herzens, das von Rücksichten auf Zeit und Ort nichts weiß. Adalbert war bei diesem Wiedersehen, das für ihn ein in jeder Weise unvorbereitetes war, kaum weniger bewegt als ich; Lamarque stand da, mit den schwarzen Augen, die ganz starr geworden waren, von dem Einen auf den Anderen blickend.

„Nun,“ sagte er, „das ist ja wie in einem dritten Akt, bloß daß wir es so echt doch nicht herausbringen.“

„Die Wirklichkeit spielt sich eben ohne Proben ab,“ erwiderte Adalbert heiter. „Ich glaube wahrhaftig, Lothar, es ist das erste Mal, daß wir unseren gegenseitigen Empfindungen einen so theatralischen Ausdruck gegeben haben. Aber wie kommst Du hierher? Bist Du auch –“

„Wollte Gott, er wär’s auch, oder noch, oder wieder, oder wie Sie sonst wollen!“ rief Lamarque lachend. „Aber nun darf ich die Konfidenzen, die Ihnen beiderseitig auf der Zunge prickeln,

[513]

Hohenschwangau und Neu-Schwanstein von der „Jugend“ aus. 0 Originalzeichnung von R. Püttner.

[514] nicht länger aufhalten. Vergessen Sie nicht, Lothar: punkt zehn Uhr morgen früh habe ich das Versprochene; es ist dieselbe Stunde, in welcher ich unsere junge Schützlingin erwarte, den Kontrakt mit ihr abzuschließen. Auf Wiedersehen, meine Herren!“

Der Schauspieler schüttelte uns die Hände und eilte davon, offenbar mit der Schlußscene und seinem Abgange sehr zufrieden. Adalbert schien sein Fortgehen kaum zu bemerken. Er hatte sich in den Stuhl geworfen, auf welchem vorhin Lamarque gesessen, und den Kopf in die Hand gestützt; aber ohne den Blick von mir zu wenden, der ich ihm nun gegenüber Platz genommen.

„,Dies wär’ kein Wunder, wundersüchtig Volk‘?“ murmelte er.

„Mein Gott, wie wird sich Maria freuen! und die Mutter! und –“

Er brach jäh ab und erhob sich schnell, einen Herrn zu begrüßen, der sich, offenbar Adalbert suchend, dem Tisch genähert hatte. Die Beiden standen ein paar Schritte seitab, eifrig und leise mit einander sprechend, wobei mich ein paarmal der Blick des Fremden streifte. Ich mochte ihm ungelegen da sein; aber er war mir eben so wenig gelegen gekommen: ein schlanker, hochgewachsener Herr, der noch größer gewesen sein würde, wenn er sich nicht ein wenig gebückt gehalten hätte, und den ich nach dem schneeweißen kurzgeschorenen Haar und eben solchem Vollbart für einen älteren, ja alten Mann hätte nehmen müssen, nur daß die Festigkeit der Züge des männlich schönen Gesichtes gar nicht zu dieser Annahme paßte und noch weniger der Glanz der braunen Augen, während, so oft er zu mir herüberblickte, die Lider sich von denselben flüchtig hoben. Ich war eben im Begriff, Adalbert zu sagen, daß er mir eine Zusammenkunft zu gelegener Zeit geben möge, und war zu dem Zweck bereits aufgestanden, als die Beiden zu mir herantraten.

„Erlaube mir, lieber Lothar,“ sagte Adalbert, „daß ich Dir hier einen sehr intimen Freund von mir vorstelle: den Kapitän Edgar Smith, der sich sehr freut, Dich kennen zu lernen, von dem ich ihm schon gar viel erzählt habe.“

„Und erlauben Sie mir,“ sagte der Kapitän in fließendem Deutsch, aber etwas fremdländischem Accent, indem er mir zu gleicher Zeit in englischer Weise herzhaft die Hand schüttelte, „Sie zu bitten, mir mit unserem Freunde in meiner nah gelegenen Wohnung die Ehre zu erweisen. Ich vertrage nicht gut die Luft in einem öffentlichen Lokal.“

Er hatte die letzten Worte mit einem Lächeln gesagt, das eine besondere Bedeutung haben mußte, und wirklich flüsterte mir Adalbert zu: „wo die Wände Ohren haben.“

„Sie sind sehr gütig,“ erwiderte ich, „aber –“

„Kein Aber,“ sagte Adalbert; „auch für mich ist die Akustik solcher Räume nicht sehr zuträglich, und ich möchte Dich doch gern ungestört sprechen nach den langen Jahren.“

„Ich stehe zu Ihrer Verfügung, meine Herren,“ sagte ich.

Wir verließen zusammen das Lokal und gingen nach der Wohnung des Kapitäns.

Der Kapitän war in ein Haus getreten, das trotz der späten Stunde noch offen stand. – Es war ein sehr wenig vornehmes Haus, in welches wir traten. Auf dem Hof herrschte beinahe völliges und auf der steilen Hintertreppe, die wir nun hinaufzuklimmen begannen, völliges Dunkel, bis der Kapitän ein Wachskerzchen anriß, welchem er noch ein zweites folgen lassen mußte, bevor wir den dritten Stock erreichten und vor einer Thür standen, die er mit einem Schlüssel aufsperrte. Wir traten hinter ihm ein. Auf dem kleinen Flur brannte ein Lämpchen, dessen Dämmerlicht nackte weißgetünchte Wände erkennen ließ mit ein paar niedrigen dunklen Thüren, deren eine jetzt von innen geöffnet wurde. Eine weibliche Gestalt stand in derselben. Der Kapitän sagte ein paar Worte in einer mir unbekannten Sprache, worauf die Gestalt in das Zimmer zurücktrat, ohne die Thür wieder zu schließen. Er wandte sich an mich und sagte: „Wollen Sie die Güte haben, einige Minuten bei meiner Frau zu verweilen? Ich habe noch ein paar Worte mit unserem Freunde zu sprechen.“

Damit öffnete er eine zweite Thür, in welcher er mit Adalbert verschwand, mich so auf dem Flur allein lassend. Ich mußte wohl oder übel der erhaltenen Weisung Folge leisten und betrat das Zimmer der Dame, welche in dem mäßig großen Gemach an dem Sofatisch, auf dem eine Lampe brannte, stand, den ihr angekündigten Fremden erwartend.

„Entschuldigen Sie, gnädige Frau,“ sagte ich.

Ich kam nicht weiter. Die Dame stieß einen leichten Schrei aus und tastete, einen Schritt zurücktretend, hinter sich nach der Tischplatte. Im nächsten Moment aber hatte sie sich mir entgegen gestürzt und an meine Brust geworfen: „Lothar, mein geliebter Bruder!“

„Adele!“

Sie hing an meinem Halse, weinend vor Aufregung und Freude. Ich dankte Gott, daß ich sie reinen Sinnes an mein Herz drücken durfte.

(Fortsetzung folgt.) 


Gustav Freytag.

(Mit Portrait Seite 501.)

Am 13. Juli d. J. feierte Gustav Freytag seinen siebzigsten Geburtstag. In einer launigen Zuschrift an die Redaktion der „Kölnischen Zeitung“ hat der Dichter den Wunsch geäußert, daß er diesen Tag still für sich feiern möchte. Und so ist derselbe auch ohne große äußere Feste vorübergegangen; nur in den Herzen der deutschen Leser wurde er gefeiert, denn wie wenige unserer Dichter verkörpert Freytag in seinen Werken rein und klar den guten deutschen Volksgeist in seiner schönsten Entfaltung. Am 13. Juli 1816 als der Sohn des Arztes und Bürgermeisters der oberschlesischen Landstadt Kreuzburg geboren, zeigte er schon von früher Jugend an innige Liebe zu den Wissenschaften, der Poesie, dem Theater. In ihnen ging sein Streben auf. Frühzeitig konnte er auf eigenen Füßen stehen, mit kühnem Muth die Fesseln abstreifen, die pedantischer Zwang seinem Genius anzulegen bemüht war, und sich aus eigener Kraft nicht nur einen Beruf, einen Wirkungskreis schaffen, sondern auch einen eigenen Herd gründen.

Als Dichter ist Freytag der Herold des deutschen Bürgerthums. Er erkannte zuerst, welch reiner, klarer Quell der Poesie in dem schlichten, einfachen, kerngesunden Leben, dem zielbewußten Schaffen des deutschen Bürgerstandes fließt, und goß aus der erquickenden Fluth köstliche Tropfen in wohlgeformte goldene Becher. So lange deutsche Redlichkeit in Handel und Wandel blühen wird, so lange wird auch „Soll und Haben“ gelesen werden; so lange eine herrliche, den tiefsten Quellen alles Seins nachspürende deutsche Wissenschaft leben wird, so lange wird die „Verlorene Handschrift“ ewig jung und ewig wahr bleiben, und so lange das Gefühl des nationalen Stolzes, die Erinnerung einer mehrtausendjährigen ruhm- und ehrenreichen Entwickelungsgeschichte in unserem Volke leben wird, so lange wird man die „Ahnen“ mit immer neuem Entzücken lesen. Anton Wohlfahrt, Felix Werner, Georg König werden unsterblich sein als die Vorbilder nie erlöschender deutscher Redlichkeit, deutscher Wissenschaft, deutschen Heldenmuths. Wer in Freytag’s Dichtungen dasjenige vermißt, was der dramatischen und erzählenden Poesie eigentlich erst die volle künstlerische Weihe giebt, das Hineintönen mächtiger, aus der tiefsten Seele geholter, durch ihre Ursprünglichkeit unmittelbar ergreifender Naturlaute, der findet sich reichlich durch eine Fülle herrlicher, dem Leben unmittelbar abgelauschter Einzelheiten von bald tief erschütternder Tragik, bald herzerquickendem Humor entschädigt.

Wie Freytag selbst in der „Verlorenen Handschrift“ das Musterbild eines ernsten, treuen, nur der Wahrheit in der Wissenschaft ergebenen Gelehrten mit nie verlöschenden Farben gemalt hat, so ist er auch in seinem wissenschaftlichen Bestreben stets bemüht gewesen, die tiefste Wahrheit in der schönsten Form darzustellen. Mit genialem Blick erkannte er zuerst die reale Herrlichkeit des deutschen Mittelalters und der Reformationszeit, jene erstere himmelweit entfernt von dem phantastischen Zerrbilde, das unsere Romantiker einst daraus gemacht. Die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ gehören, sowohl was Ernst und Gründlichkeit der Forschung, als was Plastik und Ebenmaß der Darstellung betrifft, zum Schönsten, was die deutsche Kulturgeschichtschreibung hervorgebracht hat.

Es erscheint kaum glaublich, wie Freytag es zu Stande bringen konnte, mit dem emsigen, die Dinge im Lichte des Ideals verklärenden poetischen Schaffen, mit der gründlichen wissenschaftlichen Forschung die Leichtigkeit und stete Schlagfertigkeit des Journalisten zu vereinigen, dessen Schriften nur für den Tag, nur für die augenblickliche Wirkung auf die große Masse berechnet sind. Und doch begreifen wir das, wenn wir seine zweiundzwanzig Jahre lange Thätigkeit als Leiter der „Grenzboten“ überschauen. Welche erstaunliche Fülle politischer und litterarischer Einsicht, welche tiefe Gedanken liegen in den schneidigen Leitartikeln aufgespeichert, die er für dieses Blatt geschrieben! Ihm fehlte die niederschmetternde Gewalt der Rhetorik eines Görres, die tödtende satirische Schärfe eines Börne, aber kein deutscher Journalist verstand so herzlich, klar und überzeugend zum Volke zu sprechen, wie Freytag. Ein Mann, der so verschiedenartige, auf den ersten Anschein einander fast ausschließende Vorzüge in sich vereinigt, verdient, daß ihm sein Volk mit freudiger Begrüßung huldige, still und Jeder für sich, wenn er selbst in jener stolzen Bescheidenheit, die immer einen seiner schönsten Züge bildete, jede laute und lärmende Feierlichkeit zurückweist![1] C. Alberti. 



  1. Die „Gartenlaube“ brachte im Jahrgang 1871, S. 410, in dem Artikel „Ein Bild aus der deutschen Gegenwart“ eine Charakteristik des Dichters und ein Portrait, das uns Freytag in seiner vollen Manneskraft vorführt. – Eine ausführliche Darstellung des Lebensganges Freytag’s und der Bedeutung seiner Werke enthält das Buch: „Gustav Freytag. Sein Leben und Schaffen von Conrad Alberti. 2. verb. Auflage, Leipzig 1886.“ D. Red. 

[515]

Blätter und Blüthen.

Hohenschwangau und Neu-Schwanstein. (Mit Illustrationen S. 513 und 515.) Unfern von jenem Felsenthor, durch welches der Lechstrom aus Tirol nach Bayern sich Bahn gebrochen hat, erschließt sich ein kurzes, aber prachtvolles Alpenthal[.] Kühngeschwungene schroffe Bergriesen in einer Höhe von 6000 Fuß schauen in dieses Thal herein und grüßen weit in die schwäbisch-bayerische Hochebene hinaus. In der Thaltiefe liegen waldumrauscht zwei smaragdgrüne Seespiegel. Zauberhaft schön ist die Landschaft; uralt und ehrwürdig ihre Geschichte. Am Eingang dieses Thals, auf waldumbuschten Hügeln und Felsvorsprüngen standen feste Burgen schon zu jener Zeit, als noch die Römer und Ostgothen nebenan durch den Paß am Lechstrome zogen. Nach großen Zeitläufen wurden die Burgen zu Ruinen. Zwei von ihnen erstanden wieder auf das Machtgebot zweier bayerischer Könige: die Schlösser von Hohenschwangau und Neu-Schwanstein.

Hohenschwangau ist das kleinere. Und dennoch glänzt sein Name zu wiederholten Malen auf romantischen Blättern deutscher Geschichte. Zu Hohenschwangau empfing ein deutscher König eine Gesandtschaft des ungarischen Königs Stephan; hier hauste der minnefrohe Sänger Hiltebold von Schwangau. Von hier entließ den Hohenstaufen Konradin, als er die Todesfahrt nach Italien antrat, ein sehnsuchtsvolles Mutterherz. Und später rasteten hier, nach der Jagd in den Bergwäldern, Kaiser Ludwig der Bayer und Kaiser Maximilian der Erste. Aber das Geschlecht der Ritter von Schwangau erlosch, und die Burg zerfiel. In Trümmern fand sie Kronprinz Maximilian und ließ sie unter den Händen bewährter Künstler wieder auferstehen. Und von so ergreifender Schönheit ist die Landschaft, daß es nur bescheidener Mittel bedurfte, um aus der Ruine ein Märchenschloß romantischer Zeit werden zu lassen. Ueppiges Grün und duftende Rosen wuchern um die wappengeschmückten Thore; hinter dem stäubenden Schaum des Springbrunnens sieht man tiefen Waldesschatten und geisterhafte Bergwände; zwischen ihnen in der Tiefe die Spiegel des Alpsees und des Schwansees. Die Einrichtung des Schlosses ist von edler Einfachheit; aber die Wände sind von Künstlerhand mit den edelsten Gestalten deutscher Sage und Geschichte geschmückt, und Niemand kann das Schloß verlassen, ohne jenen Zauber zu verspüren, der hier einst den Minnesänger zu seinem Liede begeisterte.

Neu-Schwanstein. Vom Süden aus gesehen.
Nach einer Photographie im Verlag von Ludwig Schradler in Füssen.

Wie ein Bau von Riesenhand steht gegenüber, kaum eine Stunde entfernt, auf unzugänglichem Fels die Burg von Neu-Schwanstein, das Werk Ludwig’s II. Es ist eine mächtige gethürmte Veste in rein romanischem Stil. Bis jetzt sind nur der Thorbau und der Hauptbau vollendet. Den Hauptbau, dessen Dach von kupfernen und vergoldeten Platten leuchtet, überragt zu schwindelnder Höhe ansteigend ein Wartthurm, von dessen Zinnen aus man in eine grausenhafte Tiefe hinunterblickt. Der Palast selbst enthält fünf Stockwerke über einander. Die untersten beiden, welche für die Hofhaltung bestimmt waren, sind noch unfertig; das dritte, vom König selbst bewohnte Stockwerk, ist mit verschwenderischer Pracht ausgestattet. Hier, sowie in den beiden oberen Stockwerken, welche Festräume und Empfangssäle enthalten, sind die Wände mit zum Theile ganz meisterhaften Freskobildern geschmückt, unter welchen insbesondere die Bilder zum „Ring des Nibelungen“ und zur Parsifalsage gerühmt zu werden verdienen. Auch die bayerische Geschichte des gegenwärtigen Jahrhunderts bis herab zu den Kämpfen des deutsch-französischen Krieges ist in diesen Freskobildern vertreten. Musterhaft sind aber auch die Steinmetzarbeiten an dem reichen Hauptportale wie an den unzähligen Steinsäulen der Thor- und Fensterbogen, sowie die kunstgewerblichen Arbeiten an den Gegenständen des Hausrathes. Unter den Letzteren finden sich wahre Kleinodien.

Ob der unvergleichliche Prachtbau vollendet werden, wann und durch wen dies geschehen wird, kann heute noch Niemand sagen. Gewiß ist, daß das Schloß Neu-Schwanstein die vollendetste Schöpfung Ludwig’s II. ist. Die Pläne dazu stammen noch aus der besten Zeit des Königs; die Phantasie der Künstler hatte freien Spielraum und war nicht, wie beim Bau des Schlosses Herrenchiemsee, an sklavische Nachahmung französischer Vorbilder gefesselt. Jetzt wird wohl dieser Bau, der so lange in märchenhafter Verschlossenheit lag, dem Fremdenbesuch zugänglich werden, nachdem der unglückliche Bauherr, der in diesen Prachträumen Thron und Freiheit verloren, zu den Todten gegangen ist.

Napoleon III. und der Krieg von 1870. Die Verantwortung für den blutigen Krieg, welcher den Deutschen wie den Franzosen so große Opfer gekostet, wird stets auf Napoleon III. lasten, in dessen Händen ja die maßgebende Entscheidung über Krieg und Frieden lag. Gleichwohl war schon immer die Meinung verbreitet, daß er wider seinen Willen durch seine Umgebung zum Kriege gedrängt worden ist. In der vor Kurzem erschienenen Schrift: „Journal de dix ans“, giebt Fidus, der sich schon auf dem Titel derselben als einen Imperialisten bezeichnet, über die Vorgänge vor der Kriegserklärung Aufschlüsse, welche jene Meinung vollkommen bestätigen und die er selbst von einem der damaligen Minister, Louvet, erhalten hat; außerdem sind sie ein neuer Beweis für den alten Satz: „Kleine Ursachen, große Wirkungen.“ Fidus erzählt, daß das Ministerkonseil sich in den Tuilerien versammelt hatte, als der Krieg wegen der spanischen Angelegenheit, des Thronanspruchs der Hohenzollern, in Sicht zu sein schien; daß die Sitzung acht Stunden dauerte; denn man wollte sich nicht trennen, ehe der bittere Kelch vorübergegangen war. Alle waren im höchsten Maße niedergeschlagen und zeigten dies in Worten und Mienen; man wußte überdies, daß der Kaiser und die Kaiserin über diesen Krieg, den man Frankreich nach der Ansicht des Herrn Fidus aufdrängte, verschiedener Meinung waren. Der Kaiser glaubte, Preußen wolle den Krieg; er werde, wenn man sich heute nicht dafür erkläre, nur aufgeschoben sein; man müsse sich dazu entschließen; aber er zitterte vor den Folgen. Er war krank, die Krankheit lähmte oft seinen Geist; gern hätte er den Kampf vermieden, doch er wollte ihn nicht für spätere Zeit seinem dann vielleicht noch minderjährigen Sohn als ein verhängnißvolles Vermächtniß hinterlassen. Wenn der Kaiser schwankte, war die Kaiserin desto entschlossener.

Höchst mißvergnügt über die letzten liberalen Zugeständnisse des Kaiserthums hoffte sie, der Kaiser, heimkehrend an der Spitze eines siegreichen Heeres, werde zu der Gewaltherrschaft von 1852 zurückkehren, sich von seinen liberalen Ministern lossagen, sein altes Ansehen, seine alte Macht wiedergewinnen. In der langen Kabinetssitzung, wo Niemand aus noch ein wußte, erhob sich plötzlich der Herzog von Grammont mit dem Vorschlage, einen Kongreß zusammenzuberufen, welcher über den Standpunkt endgültig entscheiden solle. „Wie diese Entscheidung ausfallen mag, wir werden gedeckt und der Krieg wird vermieden sein. Wenn der Kongreß will, daß der Prinz von Hohenzollern in Spanien regiere, wir haben dabei nichts zu fürchten, man kennt das spanische Volk; die Regierung des Prinzen wird von kurzer Dauer sein, und wir haben uns nichts vorzuwerfen. Der Kongreß ist nicht der Krieg, er ist der Frieden.“ Dieser Vorschlag begeistert die Anwesenden, erleichtert alle Herzen; er wird einstimmig angenommen. „Das ist die Rettung,“ sagt der Kaiser und beauftragt Ollivier, augenblicklich der Kammer diesen Entschluß mitzutheilen; die Sitzung dauere noch fort; er solle in den Salon nebenan gehen, eine kurze Erklärung redigiren, sie dem Konseil vorlesen und sie dann sogleich der Kammer mittheilen. Ollivier geht in den Salon, bleibt dort ziemlich lange Zeit und, mochte er nun übermüdet oder schlecht aufgelegt sein, bringt eine gänzlich verfehlte Erklärung mit sich, von der Niemand befriedigt ist und die ihm selbst ungenügend erscheint. So verschiebt man die Entscheidung auf den nächsten Tag, Ollivier soll in Muße die Erklärung ausarbeiten. Der Kaiser fährt nach Saint-Cloud, von kriegerischen Rufen der Menge begleitet. Dort findet er die Kaiserin und ihre Umgebung in erregter Stimmung; man sprach von dem Artikel der deutschen Zeitungen, demzufolge der König von Preußen Benedetti verabschiedet habe mit [516] den Worten, er habe ihm nichts mehr zu sagen. Die Deputirten und Senatoren, welche die Kaiserin umgeben, sind aufs Höchste erbittert: darauf könne man nur mit einer Kriegserklärung antworten; es wäre schimpflich zu zögern oder zurückzuweichen. Die Kaiserin ist Feuer und Flamme mit ihrem spanischen Stolze, ihrer glühenden Leidenschaftlichkeit; der unglückliche Kaiser, der frohen Muthes von den Tuilerien abgefahren war, erkennt augenblicklich die unvermeidlichen Folgen der neuesten Nachricht: der Kongreß ist jetzt unmöglich. Sein Gemüth verdüstert sich wieder. Dennoch denkt er noch an andere Mittel, den Krieg zu vermeiden; er ruft seine Minister Abends um 11 Uhr nach St. Cloud zu neuer Berathung. Wieder ein Mißgeschick: man hat vergessen, Louvet hinzuberufen, und ein zweiter Minister, der leidend war, machte eine Spazierfahrt im Bois, fand die Einladung zu spät vor und konnte erst gegen Morgen kommen. Und das waren die beiden Minister, die für den Frieden stimmten. Als sie am andern Morgen kamen, gelang es ihnen, noch zwei andere für ihre Ansicht zu gewinnen, doch die Mehrheit stimmte für den Krieg. „Der Kaiser,“ sagt Fidus, „fügte sich dem Beschluß seiner Minister, ohne seinen Willen und seine entgegengesetzte Ansicht in die Wagschale zu werfen; er fügte sich, aber mit schwerem Herzen, den starren Blick auf die düstere Zukunft gerichtet, die vor ihm auftauchte. Von jetzt ab beschloß er, in sein Schicksal ergeben, persönlich sich am Kriege zu betheiligen, trotz seines Leidens. Und wie schwer war dies Leiden! Es war die Krankheit, die ihn seit mehreren Jahren heimsuchte, an der er starb, und als er von St. Cloud abreiste, da sah man’s an seinem traurigen Lebewohl, an seinem Schweigen, an seiner stillen Ergebung, daß er wußte, er werde dies Schloß nicht mehr wiedersehen, er gehe, um nie zurückzukommen.

Nach dieser Darstellung hätten wir Deutschen dem Herzog von Grammont viel abzubitten, der bei uns für den Haupturheber des Krieges gilt und der doch einen Vorschlag machte, welcher vielleicht den Frieden retten konnte. Die Hauptschuld an dem Kriege aber trägt der Minister Ollivier, dem die Aufregung das Koncept verdorben hatte, und der, sonst ein glücklicher Improvisator, in jenem verhängnißvollen Augenblicke nicht die rechten Worte finden konnte, um den Kongreßvorschlag des Kabinets der Kammer annehmbar zu machen. Ein schlecht disponirter Minister, der zur rechten Zeit nicht glücklich zu stilisiren versteht – und darum hunderttausend Todte und Verwundete! Eine versagende Feder – und darum einer der größten Kriege der Neuzeit! Wir müssen freilich Fidus und seinem Gewährsmann die Verantwortung für diese Darstellung überlassen. Daß Kaiser Napoleon aber nichts weniger als kriegslustig war und daß von ihm selbst durchaus nicht die Initiative zur Kriegserklärung ausging, das bestätigen auch andere Mittheilungen. Rudolf von Gottschall.     

Eine tragische Ballmutter. Ein römischer Dichter verherrlichte in einer schwunghaften Ode „die schönere Tochter einer schönen Mutter“, und nicht selten hat man Anlaß, sich dieser Verse zu erinnern, wenn man ein liebreizendes junges Mädchen zum ersten Male in Begleitung seiner noch schönen Mutter, deren Reize sich voll erschlossen haben, das Parkett des Ballsaales betreten sieht. Auch der Pariser Aristophanes, Heinrich Heine, ist in die Fußtapfen des Odensängers Horaz getreten und hat die schöne Tochter einer schöneren Mutter in seiner leichtgeschürzten Dichtweise besungen.

Daß aber das anmuthige, von den Dichtern gefeierte Doppelbild auch die Vignette zu einer Tragödie bilden kann, erfahren wir aus Italien. Da begab es sich, daß eine schöne Mutter ihre aus der Pension zurückgekehrte Tochter beschwor, nicht mit ihr auf den Ball zu gehen: das wäre für die Ballkönigin ein allzu bedenkliches Schach gewesen; schon die Thatsache, daß sie im Besitz einer solchen erwachsenen Tochter sei, konnte ihre Herrschaft stürzen.

Doch das Mädchen wollte den Bitten der Mutter nicht nachgeben. Diese konnte solche Kränkung nicht verwinden; ihre Tochter erschien ihr auf einmal als die hassenswertheste Feindin, die sie aller ihrer Triumphe zu berauben drohte. Am nächsten Morgen fand man das anmuthige Mädchen todt im Bette, die Mutter hatte das eigene Kind mit Arsenik vergiftet. Sie wurde von dem Schwurgericht zu fünfzehnjähriger Zuchthausstrafe verurtheilt. Vergeblich hat sie mehrere Selbstmordversuche gemacht, wohl mehr um den Qualen ihres Gewissens zu entrinnen, als um sich der entehrenden Strafe zu entziehen. †      

Das heranziehende Gewitter. (Mit Illustration S. 505.) Es giebt Zeichen vor dem Sturm in der Natur wie im Menschenleben. Freilich bemerkt sie nur ein kundiges Auge, die Bedrohten pflegen sie in der Regel zu übersehen. Auch auf unserem Genrebilde hat der Maler ein solches Zeichen angebracht. Ueber den Häuptern der Beiden, die im entlegenen Straßenwinkel zärtlich mit einander kosen, sammelt sich ein schweres Gewitter, es zieht heran in der Gestalt der stockbewaffneten Matrone, welche dem unerwünschten Freier in derber Weise heimleuchten will. Er und sie ahnen es nicht. Und doch steht der Warner so nahe. Aus dem alten Krug schaut ein Gesicht hervor, das den zärtlichen Worten zu lauschen scheint und dabei spöttisch den Mund zum Lachen verzieht, denn es blickt mit einem der verkniffenen Augen nach der Alten hinüber und weiß, was da kommen wird. Argloses Mädchen, warum hast du den Krug stehen lassen und den Gang zum Brunnen über die gebührliche Zeit ausgedehnt! Jetzt wird an dir und an ihm der alte Spruch sich bewähren, daß der Krug so lange zu Wasser geht, bis er bricht. *      

Heitere Novellen. Unsere Erzählungslitteratur bietet so viel Ernstes, Düsteres, Tragisches, besonders seitdem sich die Autoren in Sensationsmotiven überbieten, daß wir gern einmal Novellen begegnen, die in harmlosem Plauderton erzählt sind. Als heitere Novellen kündigen sich die „Stromschnellen“ von H. Rosenthal-Bonin (Leipzig, Wartig’s Verlag) an. Es finden sich darunter recht hübsche Erzählungen, wie „Das Maifest in Guadix“ und „Ditta’s Zopf“ – dort ist das spanische, hier das italienische Nationalkostüm und die Volkssitte in beiden Ländern mit lebendigem Kolorit geschildert. Auch einige andere Geschichtchen sind originell, wie z. B. „Lizzie’s Schwur“. Zu den heiteren Novellen ist auch die neue Erzählung von Wilhelm Jensen „Die Heiligen von Amoltern“ (Leipzig, Elischer) zu rechnen; doch liest die sich nicht so glatt und gefällig, wie die Rosenthal-Bonin’schen Novellen: sie ist mit einem eigenartigen schroffen und derben Humor geschrieben und erinnert an die Muster von Rabelais und Abraham a Santa-Clara. Namentlich der Pater Romuald, eine absonderliche, fast groteske Gestalt, bereichert in seinen Predigten und Reden den deutschen Sprachschatz mit allerlei originellen Wendungen. Die Handlung spielt theils in einem Dorfe des südlichen Badens, theils in einer deutschen Kolonie in Spanien, und in den Kreis der Hauptpersonen, die eine etwas barbarische Theologie vertreten, bringt poetische Anmuth die liebliche Gestalt der kleinen Hexentochter Caton. †      

Unterschied zwischen Friedrich II. und Napoleon I. Der bekannte schweizer Historiker Johannes von Müller (geb. 1752, gest. 1809), der 1781 eine Audienz bei Friedrich II. hatte, aber 1807 in französische Dienste trat, schildert Friedrich und Napoleon mit den Worten: „Bei dem Ersteren fand ich die Alles verschönernde Phantasie eines dichterischen Gemüths; bei dem Letzteren den kalten, berechnenden Verstand.“ E. K.      



Allerlei Kurzweil.


Skataufgabe Nr. 4.[1]
Von K. Buhle.

Der Spieler in Mittelhand sagte auf folgende Karte:  

da Rothsolo von der Vorhand mit Eichelsolo überboten wurde, Grand an, verlor aber mit Schneider und bekam, obgleich er ganz fehlerfrei spielte, nicht mehr als zwei Augen herein. Wie saßen die Karten der Gegner und wie war der Gang des Spieles?


Auflösung der Skataufgabe Nr. 3 auf Seite 460.

Die Lösung dieser Aufgabe ist nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Wenn man beachtet, daß der Spieler des Eichelsolo in Mittelhand sitzt, die ersten 6 Stiche mit 53 Augen erhält und danach noch eK, gK, rK, sO hat, so liegt zunächst die Schlußfolgerung nahe, daß der Spieler im ersten Stiche mit dem Daus in einer Nebenfarbe ans Spiel gekommen ist und dann fünfmal fordern mußte, um die Trümpfe der Gegner, wclche deßhalb in einer Hand stehen müssen, herauszuholen. Da nun ferner der Spieler mit 60 Augen verliert, dagegen mit 70 Angen gewinnen würde, sobald er anstatt sO den sK hat, so ergiebt sich weiter, daß er im letzteren Falle einen Stich auf sK bekommt und zwar mit 10 Augen, was aber nur möglich ist, wenn sD und sZ bereits heraus sind, und das kann kaum anders geschehen sein, als daß Vorhand ihre lange Schellenfarbe zuerst angezogen, der Spieler mit D übernommen und Hinterhand sZ blank gehabt hat. Damit ist aber nicht nur die Karte des Spielers gegeben, sondern auch für die Vertheilung der Karten der Gegner soviel Anhalt gewonnen, daß sie kaum noch Schwierigkeiten bieten kann. Der Spieler in Mittelhand hatte also:

eW, gW, rW, sW, eD, eK, gK, rK, sD, sO
und kann, wenn die übrigen Karten so vertheilt sind:
  Vorhand: gD, g9, g8, rD, r9, r8, sK, s9, s8, s7,
      Hinterhand: eZ, eO, e9, e8, e7, gZ, gO, rZ, rO, sZ; Skat: g7, r7

nach folgenden 6 Stichen:

1. s7, sD, sZ 0 (+ 21)
2. eW, e7, r8 0 (+ 02)
3. gW, e8, g8 0 (+ 02)
4. rW, e9, r9 0 (+ 02)
5. sW, eO, g9 0 (+ 05)
6. eD, eZ, s8,0 (+ 21)

nur noch einen Stich mit 7 Augen bekommen, er mag ausspielen, wie er will. Dagegen würde er, wenn er sK anstatt sO gehabt hätte, nur zwei Stiche mit höchstens 50 Augen abgegeben haben, wie der Augenschein lehrt.



  1. Abkürzungen: e., g., r., s. = Eicheln (tr.); Grün (p.); Roth(c.); Schellen (car.).
    VV., D., Z., K., O., 9, 8, 7 = Wenzel (B.), Daus (As), Zehn, König, Ober (Dame) etc.

Inhalt: Sankt Michael. Roman von E. Werner (Fortsetzung). S. 501. – Der Heidenhof. Eine Reise-Erinnerung von Fr. von Bülow. S. 504. – Fortschritte und Erfindungen der Neuzeit. Die Elektricität im Dienste der Heilkunde. II. S. 508. Mit Illustrationen S. 509. – Was will das werden? Roman von Friedrich Spielhagen (Fortsetzung). S. 510. – Gustav Freytag. Von C. Alberti. S. 514. Mit Portrait S. 501. – Blätter und Blüthen: Hohenschwangau und Neu-Schwanstein. S. 515. Mit Illustrationen S. 513 und 515. – Napoleon III. und der Krieg von 1870. Von Rudolf von Gottschall. S. 515. – Eine tragische Ballmutter. S. 516. – Das heranziehende Gewitter. S. 516. Mit Illustration S. 505. – Heitere Novellen. – Unterschied zwischen Friedrich II. und Napoleon I. – Allerlei Kurzweil: Skataufgabe N. 4. von K. Buhle. – Auflösung der Skataufgabe Nr. 3 auf S. 460. S. 516.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.