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Die Gartenlaube (1887)/Heft 12

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[181]

Zum neunzigsten Geburtstag Kaiser Wilhelm’s.0 Originalzeichnung von R. Huthsteiner.

[182]
Zum 22. März 1887.

O deutsches Land, von deinen Söhnen
Wie manch’ ein Held schon war es werth,
Daß seinem Ruhm die Harfen tönen,
Daß Liebe sein Gedächtniß ehrt,
Ob er im blut’gen Schmuck der Waffen
Dir diente mit des Schwertes Klang,
Ob unbelauscht sein still’res Schaffen
Im Geisterstreit den Sieg errang.

Stets ward dem Fremdling, der sie pflückte,
Des Sieges Frucht ein leichter Raub,
Der Kranz, der deine Stirne schmückte,
Durch eig’ne Schuld ein welkes Laub;
Von einem Berg nur ging dir Märe
Im Volk noch um aus alter Zeit,
Daß er den Helden dir gebäre,
Der dich erlöst, der dich befreit.

Er kam! Doch diesen Gottgesandten
Umschloss nicht enge Bergeshaft;
Nicht in des Schlummers Zauberbanden
Erwuchs ihm seine Heldenkraft.
Sie wuchs in Mühsal und Gefahren;
Und als die große Stunde schlug,
Da war’s kein Jüngling mehr an Jahren,
Ein Greis war’s, der die Brünne trug.

Doch welch ein Greis! Sein Auge glühte,
Von ew’ger Jugend Gluth entfacht;
Vor seinen Schwerten Wucht zersprühte
Wie Spreu im Wind des Feindes Macht.
Doch welch ein Held! So stark wie milde,
Und selbst im Siege fromm und schlicht,
Ein Held, nicht nur im Kampfgefilde,
Ein Held des Friedens und der Pflicht.

Denn Liebe war’s, die ihn beseelte,
Nicht eitle Sucht nach Ruhm und Macht;
Liebe zu Dir, mein Volk, sie stählte
Ihm Kraft und Muth im Drang der Schlacht.
So steht er – mög’ ihn Gott dir wahren! –
Verklärt von jeder Tugend Zier,
Im Ehrenschmuck von neunzig Jahren,
Dein Held, dein Kaiser heut’ vor dir.

Wohlan, so tönt in Festaccorden,
Ihr Harfen, heut’ vor seinem Thron!
Bezeug’s ihm, Volk in Süd und Norden,
Daß Liebe seiner Liebe Lohn!
Laß nicht durch fremder Schwerter Klirren
Des Festes Jubel dir entweihn;
Dein Wahlspruch soll in allen Wirren
Ein Liebesruf dem Kaiser sein.

 C. Hecker.




Herzenskrisen.
Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)

Waldemar Weber betrachtete das Schreiben, welches ihm der Diener überreicht hatte, und schüttelte den Kopf.

„Einen Moment,“ sagte er zu Hortense, die zwei Schritte zurückgetreten war, und er öffnete, ihr zugewandt, das Kouvert. Ein gedrucktes Blättchen, einem Zeitungsausschnitt ähnlich, entnahm er dem Umschlag und begann zu lesen; während des Lesens stieg allmählich eine dunkle Röthe in sein Gesicht. Er wandte das Blatt auf die andere Seite, und wieder um, und las noch einmal. Eine schwüle Pause entstand. Hortense war zum Spiegel getreten und ordnete die Schleifen ihres Hütchens; Lucie sah, wie ihre Finger zitterten und wie ihre Augen nicht auf ihr Spiegelbild blickten, sondern die Gestalt des Lesenden beobachteten, die das Glas zurückgab. Er war jetzt nicht mehr roth, sondern bleich, und auf seiner Stirn ringelte sich eine blaue Ader. Langsam steckte er den Zeitungsabschnitt nebst Kouvert in die Brusttasche seines Fracks und wandte sich dann zu Hortense:

„Verzeihen Sie den Aufenthalt,“ sagte er ruhig und bot ihr den Arm. Und als er in ihr Auge blickte, aus dem in diesem Moment alles Leben gewichen schien, fragte er: „Ist Ihnen nicht wohl?“

„Vollkommen!“ sagte sie aufathmend und schritt vor ihm aus der Thür.

Lucie war schon im festlichen Kleide, als Hortense zurückkam. Sie wartete im Schlafzimmer, um der jungen Frau bei der Brauttoilette zu helfen. Sie hörte, wie Weber und dessen Bruder sie bis zu ihrem Zimmer geleiteten und wie sie heiter mit ihnen plauderte; Lucie traute ihren Augen nicht, als Hortense blaß und müde eintrat, die Thür verschloß, sich in den nächsten Stuhl fallen ließ und in Thränen ausbrach. Es war das erste Mal, daß Lucie die junge Frau weinen sah, und sie weinte so leidenschaftlich, so heiß, daß es dem Mädchen bange ward. Sie umfaßte die bebende Gestalt, aber zu sprechen vermochte sie nicht diesem Schmerz gegenüber. Erst ganz allmählich ward Hortense ruhiger; sie nahm die Hände von dem verweinten Gesicht und sah in die leise bewegten Blätter der Rüstern vor den Fenstern.

„Nun weiter,“ sprach sie, „ich hab’s gewollt!“ Sie sprang empor und schlang ihre Arme um des Mädchens Nacken. „Ich heiße jetzt ‚Hortense Weber‘, Luz; ich habe einen schweren Weg vor mir, aber Du gehst neben mir, Du, mein guter Engel!“ Und so leidenschaftlich sie vorhin geweint, so leidenschaftlich küßte sie jetzt die Freundin. „Und nun kannst Du das Opfer schmücken,“ sprach sie und schleuderte das perlengeschmückte Hütchen auf den Tisch. „Sehe ich verweint aus, Luz?“

„Aber Bräute dürfen ja weinen!“ Und hastig streifte sie das schwarze Kleid ab, um es mit dem weißen bräutlichen Gewande zu vertauschen.

„Ahnst Du, was auf dem Zettel steht, den er durch Eilboten bekam?“ fragte sie vor dem Spiegel sitzend, während Lucie ihr den Schleier und das Diadem von Orangeblüthen in dem dunklen Haar befestigte.

„Nein, Hortense; vielleicht etwas Geschäftliches. Warum?“

„Ich dachte – ich dachte – Du weißt schon; lache mich nicht aus!“

„O, Dein Vater spukt schon wieder?“

„Ach, Lucie, Du hast, Gott sei Dank! nie so etwas erlebt. Es ist ja vorüber! Gieb mir die Perlenkette, die Waldemar mir heute gebracht; ich muß sie doch wohl tragen, wie? Am liebsten – ich möchte am liebsten in Sack und Asche gehen.“

Luciens Finger schlossen die Kette am Halse der jungen Frau; sie brachte ihr das stark duftende Bouquett aus weißen Rosen und Orangeblüthen.

„Ich will Dich nun allein lassen,“ sagte sie, „er wird gleich kommen, um Dich zu holen, und ich muß vorher dort unten sein im Gewölbe.“

„Was hast Du für traurige Augen?“ fragte Hortense.

Lucie winkte abwehrend mit der Hand und ging hinaus. Es war ihr, als hätte sie Blei in den Gliedern; sie mußte sich ordentlich anstrengen, die Füße zu heben. Peter, der des Brautpaares gewärtig an der rundbogigen Thür stand, öffnete ihr. „Sie sind Alle schon versammelt,“ wisperte er ihr zu.

Sie kam mit tiefgesenkten Wimpern über die Schwelle; ganz automatenhaft stellte sie sich neben Mademoiselle auf.

„Wo blieben Sie so lange?“ raunte ihr diese zu. „Wir stehen hier schon eine Ewigkeit!“

Dann öffnete sich wieder die Thür; eine seidene Schleppe rauschte; das Brautpaar war eingetreten. Tiefe Stille. Und nun klang voll und laut des Predigers Stimme durch den Raum:

„Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ Er sprach von der Treue, daß sie das A und O der Ehe sei, daß Gott dem Menschen keine herrlichere Tugend gegeben, als Treue, und daß, wo sie wohne, kein Unfriede weilen, kein Mißverständniß aufkommen könne.

Wie Dolchstöße trafen die Worte Luciens Herz. Wie verurtheilt kam sie sich vor. Treue! klang es in ihrer Seele – hatte sie nicht die Treue gebrochen, die Treue gegen ihn, gegen die Schwester, gegen die verwaisten Kinder dieser Schwester? Ihr schwindelte. Wollte denn die Predigt kein Ende nehmen?

Jetzt endlich kniete das junge Paar nieder und empfing den Segen. Dann ein lautes „Amen“, ein leises Geflüster, das Rauschen der Brautschleppe, und Lucie wußte, die Ceremonie sei vorüber. Gottlob! Sie hatte keine klare Vorstellung von dem, was um sie her geschah. Sie sah nur, wie Hortense die Arme um den Nacken des alten Herrn schlang, wie Alle sich händeschüttelnd um das neuvermählte Paar drängten, und sie [183] hörte den Ausruf des Schreckens, als der Baron plötzlich schwankte und wie leblos in des jungen Ehemannes Armen lag.

Eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung folgte. Man drängte sich um den regungslos daliegenden alten Herrn, sprengte ihm Wasser ins Gesicht und rief nach dem Arzt. Nicht lange dauerte es, bis Doktor Adler, welchen die ausgeschickten Diener zufälligerweise auf der Straße gefunden hatten, erschien.

„Aengstigen Sie sich nicht, gnädige Frau, es ist nur eine Ohnmacht,“ sagte er, nach kurzer Untersuchung, „die Aufregung, die schwüle Gewitterluft.“ – Er nahm ihn wie ein Kind auf die Arme und trug ihn hinaus. Hortense und ihr junger Gatte eilten ihm nach, die Andern blieben leise redend beisammen.

„Er konnte so lange nicht stehen,“ bemerkte der alte Major und strich sich den silberweißen Schnurrbart, „ich hab’s ihm vorhergesagt, er sollte sich einen Stuhl bringen lassen, aber sein Wahlspruch war von jeher: ‚Lieber todt als unhöflich!‘“

Zu Lucie, die wie schwach an der Wand lehnte, trat der junge Hamburger. Man sah ihm die ungemüthliche Stimmung an.

„Das war schon mehr eine Grabrede,“ sagte er so leise, daß der Prediger, der mit Mademoiselle sprach, nichts davon hören konnte, „als ob mindestens in Jahresfrist der Eine oder Andere von dem Paar gestorben sein müßte; wie ich bemerkt zu haben glaube, sehen sie weder nach Schwindsucht aus, noch leiden sie an Altersschwäche.“

Aber das blasse stille Mädchen hatte kein Lächeln für den Scherz. Sie dachte an Mathilden und sagte leise. „Es kann so rasch kommen, und wenn man etwas versäumt hat gegen den Andern, so thut es lebenslang weh.“

Der junge Mann machte die Augen weit auf, ihm schauerte förmlich; so jung, so reizend und so düster – und das sollte er ertragen während eines langen Diners? Er würde froh sein, wenn er erst wieder gen Hamburg dampfte, und morgen Mittag wollte er Robert Synkoff auf der Börse davor warnen, sich jemals in eine Kleinstädterin zu verlieben, er könne sich ebenso gut eine Trauerweide in den Garten pflanzen.

„Adler,“ sagte Waldemar Weber, als der alte Herr wieder zu sich gekommen, während er an Hortense’s Arm dem Speisezimmer zuschritt, „thue mir den Gefallen, bleib’ hier; es ist doch eine ängstliche Geschichte, und –“

„Ich kann nicht, Waldemar, wahrhaftig nicht; aber ich komme gegen halb sechs Uhr vor und frage nach, wie es geht. Lebe wohl, und wenn ich Dich nicht wiedersehen sollte – dann alles Glück der Welt, mein alter Freund!“

In wenig Minuten war die kleine Gesellschaft im Speisesaal versammelt, auch der Baron war wieder erschienen; er hatte sich rasch erholt und wollte durchaus an dem Diner theilnehmen. Er saß oben vor der Tafel zwischen dem Brautpaar. Das Gespräch wand sich mühsam weiter. Mademoiselle und der Prediger, der alte Major von Schenk thaten das Meiste dabei. Der Herr Pastor brachte einen Toast aus auf das neuvermählte Paar, der Major auf den Baron. Dann sprach man von der russischen Politik, von Italien und der Cholera. Erst gegen das Ende der Mahlzeit wurde es etwas lebhafter. Der jüngere Weber bot Lucie ein Vielliebchen an, sie dankte. Bei Mademoiselle war er glücklicher, er ließ sie auch sofort gewinnen und fragte zart nach ihren Wünschen. Ein charmanter, ganz charmanter Mann! dachte entzückt die alte Dame und wünschte sich einen japanischen Fächer, roth mit Goldstickerei, recht groß. Lächelnd notirte er es in seiner Brieftasche.

Als das Eis servirt wurde, winkte Hortense Lucien zu sich. Das Mädchen schob einen Stuhl zwischen den des Barons und der jungen Frau, und nun saßen sie Hand in Hand und flüsterten mit einander. In diesem Augenblick trat Doktor Adler in das Gewölbe, er blieb verborgen hinter der Orangerie des Altares stehen und sah durch die zurückgeschlagene Portière auf die hochzeitliche Tafel, welcher der offenbar wieder vollständig hergestellte Baron präsidirte. Seine Augen blieben an den beiden jungen Frauenköpfen hängen, die sich neben dem Baron zu einander geneigt hatten. In der wunderlichen Beleuchtung, welche Kerzenschein und Tageslicht mit einander schufen, glänzte des Mädchens Haar wie gesponnenes Gold über der bleichen Stirn. Zuweilen bog sich Hortense ein wenig vor, und der Spitzenschleier umgab dann Luciens Gesicht, als trage sie den bräutlichen Schmuck, und sein Herz klopfte in der Erinnerung an die Träume, die einst der Verwirklichung so nahe gewesen. – Wo würde sie eine Heimath finden? Ob Remmert sie gutmüthig wieder aufnehmen wird? Er kannte das herbe Urtheil, das der Oberförster über das Mädchen gefällt, als seine sterbende Frau nach der Schwester verlangte und sie nicht kam. Es durchzuckte ihn der Gedanke, an Remmert begütigend zu schreiben, sollte das junge schöne Geschöpf so allein in das häßliche gefahrvolle Leben hinaus?

Er schüttelte den Kopf; wie kam er dazu. Was ging ihn ihr Schicksal noch an? Mochte sie auf das Meer des Lebens hinaus treiben, mochte ihre Fahrt glücklich und ruhig sein, oder mochte sie untergehen – er hatte kein Recht an ihr, wollte auch keines haben.

Nun rückten die Stühle, Hortense hatte sich erhoben. Er trat rasch in eine der tiefen Fensternischen, als fürchte er gesehen zu werden; er wollte ihr nicht noch einmal begegnen.

Dort drinnen wurde jetzt Kaffee gereicht, die lebhafte Unterhaltung dauerte fort. Warum ging er nicht? Was hielt ihn denn zurück? Der Baron bedurfte seiner offenbar nicht mehr. Und dennoch kam er seltsamer Weise nicht vom Fleck. Er betrachtete zerstreut die bunten Fensterscheiben; nach und nach fesselte ihn, was er sah, es waren uralte Glasmalereien, er wußte, daß der Baron ein eifriger Antiquitätensammler.

Ein junger Patricier in der ernsten Tracht des sechzehnten Jahrhunderts stand in einer gewölbten Halle mit weiter Perspektive auf getäfelten Fußboden. „Wernher Grundmann“ war darunter zu lesen. Auf der andern Seite des Fensters in gleicher Umgebung erblickte Adler ein junges blondes Weib in reichen farbigen Gewändern, das goldgestickte Frauenhäubchen auf demüthig gesenktem Kopf, die Spindel in der Hand. „Und Barbara Grundmannin, da sie dreien Wochen mit einander vermählet“, las er hier; die Schrift war auf beide Seiten vertheilt, auch der folgende Vers und das Datum:

„Wo Er ist fest und treu gesinnt,
Und Sie mit Demut dem hause dient,
Und Gotteswort wird recht geehrt,
Da ist ein reiches Glück beschert.
  Lübecke anno domini 1536.“

So war es heut nicht mehr! Er konnte sich nicht satt schauen an dieser Barbara; es lag eine so unendliche Anmuth über der Gestalt, der Maler mußte ein holdes Vorbild gehabt haben. Er begann diesen längst vermoderten Wernher Grundmann noch jetzt zu beneiden, er glaubte, diesen leicht zur Seite geneigten zierlichen Kopf, das holde Lächeln um den Mund zu kennen. Hastig fuhr er sich mit der Hand über die Augen.

Dann stockte sein Athem – das Rauschen einer seidenen Schleppe drang in das Zimmer und leichte Füße traten die Stufen.

„Schließ’ die Portière, Luz,“ hörte er Hortense sagen, „und laß uns Abschied nehmen. Komm, setze Dich auf diesen Tritt. Weine nicht, Liebling, wir sehen uns ja wieder – in drei Wochen schon, denk’ an mich indessen.“

„Leb’ wohl, Hortense,“ antwortete die weiche Mädchenstimme, „werde glücklich; ich kann Dir nichts Besseres wünschen, als daß Du ihn bald von Herzen liebgewinnen möchtest.“

„Du weißt ja am besten, Luz, Liebe ist ein Geschenk vom Himmel, sie läßt sich nicht kommandiren und erzwingen.“

„Ich weiß es; ich weiß aber auch, daß man dieses Geschenk zuweilen längst besitzt, ohne es zu ahnen, sie schläft und man merkt ihre Gegenwart gar nicht, und plötzlich erwacht sie durch einen Zufall und schaut um sich mit blauen sonnigen Augen – oder mit Thränen, die sich niemals wieder trocknen lassen! Und das ist, wenn sie zu spät erwacht und die Reue kommt und spricht: ‚hättest Du nur Geduld gehabt – nun ist’s vorbei für immer, immer!‘“

„Ach, Luz, trockne die Thränen! Ich sage Dir, es ist Alles nur Einbildung, mache mir das Herz nicht noch schwerer, gieb mir noch einen Kuß und gehe hinein zu unseren Gästen! Auf Wiedersehen, Luz!“

Es war still im Zimmer, nur das Knistern der Seide klang zu dem Manne hinüber, der regungslos vor dem Bilde der Frau Barbara stand. Nun ein leises Schluchzen, noch einmal ein Lebewohl, dann schritt die junge Frau der Thür zu, die nach dem Flur führte, und auf der andern Seite schlossen sich die Vorhänge hinter einer weißen Gestalt. Er war allein.

Was hatte er gehört? Bereute sie? Bereute sie wirklich? Es war ihm, als müsse er ihr nacheilen und sagen: „Komm, Lucie, es soll vergessen sein, Alles vergessen, was Du mir angethan.“ Dann schüttelte er den Kopf, und seine Hand ballte

[184]

Batterie, auf das ferne brennende Sedan gerichtet.   Roon. 0 Bismarck.       Moltke.       Prinz Karl von Preußen. 0 Blumenthal.   Eroberte Geschütze, Mitrailleuse. Bayern.
  Officiere und Mannschaften vom 1. westpreußischen Grenadierregiment Nr. 6.   König Wilhelm.   Kronprinz von Preußen.   Gefallene und verwundete Zuaven und Turkos.
Mannschaften vom 2. hessischen Husarenregiment Nr. 14.       Gefallener Chasseur d’Afrique.  

König Wilhelm bereitet das Schlachtfeld von Sedan am Abend des 2. September 1870. (Eintreffen bei der 3. Armee.)
Originalzeichnung von Prof. Wilhelm von Camphausen.

[185] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [186] sich zur Faust; eine zweite Enttäuschung würde er nicht ertragen. Vorbei für immer! Was sind Worte, ihre Worte gar? Er brauchte nur an die Kinder im Forsthause zu denken, die Abends mit großen furchtsamen Augen in ihren Bettchen lagen und um die todte Mutter weinten, an den verlassenen Platz vor dem Nähtischchen Frau Mathildens. Fort, vorüber!

Er richtete sich auf und trat plötzlich in den Speisesaal, so ruhig und gemessen, als habe kein heißer Gedanke sein Herz klopfen gemacht, über das weiße schlanke Mädchen streifte sein Blick kühl und gleichgültig. Er nahm Platz zwischen den Herren, die sich eine Cigarre angezündet hatten, und schien es nicht zu bemerken, daß Lucie den Saal verließ, zu Mademoiselles größtem Aerger, die sich als einzelne Dame ungemüthlich zu fühlen begann und wider Willen ihr folgen mußte. Sie konnte ihrem Unmuth nicht einmal Worte verleihen: Lucie verschwand schon oben im Dunkel des Korridors.

Sie ging in die Zimmer der jungen Frau; sie waren leer, die Bewohnerin hatte sie verlassen für immer. Die Dämmerung des Sommerabends webte schon in den tiefen Ecken; ein starker Duft von welkenden Rosen und Orangeblüthen drang betäubend auf sie ein. Auf dem Sessel lag noch das feuchtgeweinte Taschentuch von Hortense, dort über der Chaise longue, gespensterhaft anzuschauen, das eilig abgeworfene Brautkleid. die weißen Atlasschuhe, es hatte noch Niemand aufgeräumt, nachdem sie hinausgegangen; es war so still, so unheimlich still in den beiden Gemächern. Eine namenlose Angst packte das Mädchen – wenn sie Hortense nicht wiedersehen sollte, wenn sie ihre Liebe verlieren könnte! Dann hatte sie nichts mehr, nichts weiter auf der Welt. „Hortense, verlaß mich nicht!“ flüsterte sie und preßte die Hände in einander, „verlaß mich nicht,“ wiederholte sie, als könnte die junge Frau sie hören.

Sie saß dann in ihrer Stube am offenen Fenster und schaute in den dämmerigen Garten hinunter, den die Centifolien durchdufteten. „Verlaß mich nicht, bleibe mir gut; ich habe Niemand weiter als Dich, Hortense, Niemand weiter!“

Im Speisesaal unter ihr mochten jetzt die Fenster geöffnet sein. Sprechen und Lachen scholl herauf, man saß noch beim Glase Bier. Lucie unterschied deutlich eine tiefe, wohlbekannte Stimme. Von drüben her tönte eine Harmonika über die Gärten, und eine Altstimme sang dazu ein altes, schwermüthiges Lied:

„Er hat’s mir oft gesagt,
Wenn ich ihn hab’ geplagt:
Du wirst noch manchmal, manchmal um mich weinen.“

Hastig schloß sie das Fenster und legte den Kopf gegen die hohe Lehne des Stuhles; langsam rannen die Thränen über ihre blassen Wangen.




Mademoiselle hatte keine Ruhe im Hause. Sie nahm ein Tuch um und ging durch die dunklen Straßen zu Fräulein Dettchen, sie mußte Jemand haben, dem sie ihr Herz ausschütten konnte über die Ereignisse des festlichen Tages.

Die alte Dame saß im Garten, in der Laube und wartete auf ihren Neffen. Sie hatte den Abendimbiß zurecht gestellt und strickte nun im Finstern. Kein Lüftchen regte sich; nur das Wasser gluckste und murmelte leise, das hinter der Laube vorüber zog.

Mademoiselle war ganz echauffirt; sie küßte erregt das kleine rundliche Fräulein auf die Wangen und setzte sich athemlos auf die Bank. „O mon dieu, nun ist’s vorüber, sie sind fort! Es war ein anstrengender Tag.“ Und ohne Tante Dettchen zu Worte kommen zu lassen, schilderte sie in den glänzendsten Farben die Braut, die Geschenke, das Menu und schließlich auch den Unfall, welcher den Baron betroffen. „Ihr Neffe, Liebste, ist noch da, die Herren nahmen eben ein Glas Bier; Lucie –“

Ein schrilles Klingeln an der Pforte unterbrach sie; Tante Dettchen, die den Weg entlang geeilt war, kam mit einer langen Gestalt an ihrer Seite zurück.

„Erlauben Sie, Mademoiselle,“ sprach sie in die finstere Laube hinein, „meine Schwägerin, Frau Steuerräthin Adler.“

Die Damen verbeugten sich und Frau Adler tastete nach einem Sitz. „Es ist doch unerhört, daß diese alte Schachtel spät Abends noch die Leute überfällt,“ dachte sie und holte das Strickzeug aus der Tasche. Eine Weile hörte man weiter nichts, als das Klappern der Nadeln unter den Clematisblättern.

„Selma kommt nach,“ begann endlich die Frau Steuerräthin, „sie ist nur zu Bäcker Schulzens gegangen, um Kirschkuchen zu holen, wir haben nämlich noch kein Abendbrot gegessen, waren spazieren und hielten uns etwas lange auf.“

Sie verschwieg, daß sie mit Fräulein Selma zwei Stunden lang auf dem Bahnhofe gesessen bei einem Glase Bayerisch, um „ganz zufällig“ mit anzusehen. wie Herr Weber und seine junge Frau in das Koupé stiegen. Da die Trauung nicht in der Kirche stattfand, mußte sie sich auf andere Weise überzeugen, daß wirklich diese Hortense verheirathet sei. Und nun galt es noch zu erfahren, was aus Lucie würde.

„Ist Alfred nicht zu Hause?“ fragte sie jetzt.

„Er ist noch beim Herrn Baron, welcher einen leichten Anfall hatte, sich aber bereits wieder besser befindet, ich erzählte es eben,“ tönte Mademoiselles Stimme.

„Da kommt er ja,“ bemerkte Dettchen.

Das Gitterthor fiel eben ins Schloß und den Weg herauf klang ein fester Schritt.

„Alfred!“ rief die Mutter, „hier – in der Laube!“

Er kam herüber und blieb am Eingange stehen.

„Das Thor offen?“ fragte er, nachdem er guten Abend geboten.

„Selma kommt noch.“

„Ah so!“ Er machte Miene zu gehen.

„Alfred, bleib’ doch! Man sieht Dich so selten.“ bat die Mutter und rückte etwas herauf, „so, ich habe Dir Platz gemacht, setze Dich einen Moment.“

Er that es auch wirklich. Mademoiselle sah nur die dunklen Umrisse seiner Gestalt und das leuchtende Pünktchen der Cigarre.

„Da wird es wohl sehr still werden in Ihrem Hause?“ nahm Frau Steuerräthin endlich das Wort, nach der Richtung sprechend, wo Mademoiselle saß.

„Bei uns? O entsetzlich!“ antwortete diese, „zumal Fräulein Walter –“

„Sie hier, Mademoiselle?“ fragte Adler erstaunt.

Mais oui! Ich kam, um mit Fräulein Dettchen zu plaudern.“

„Ah, deßhalb haben wir Sie auch vergebens gesucht. Herr Weber, der eben nach Hamburg zurückreist, wollte sich von den Damen verabschieden; wir glaubten schließlich, als auf das Klopfen keine Antwort erfolgte, Sie schliefen oder stellten sich schlafend. Er läßt sich Ihnen angelegentlich empfehlen. Eben bringt ihn der Major von Schenk in seiner Equipage zum Bahnhof.“

„O, ich bedaure herzlich! Aber Lucie – Fräulein Walter – sie war doch oben! Vermuthlich hat sie sich eingeschlossen und weint Abschiedsthränen.“

„Vermuthlich,“ sagte er.

„Fräulein Walter geht nun wohl nach Bornrode zu ihrem Schwager?“ erkundigte sich Frau Steuerräthin. Endlich war sie im richtigen Fahrwasser.

Quelle idée!“ rief Mademoiselle, „sie wird mit Hortense in Woltersdorf leben; so war es von Anfang an bestimmt; sie haben nicht daran gedacht, sich zu trennen.“

Keiner sprach ein Wort in den nächsten Minuten.

„Und das läßt er sich gefallen?“ fragte endlich die Mutter.

„Er?“ betonte Mademoiselle mit erhobener Stimme.

„Nun, Herr Weber.“

„Ah so! Aber wie soll ich das verstehen, Madame?“

„Ich meine, Mann und Frau haben an einander genug, und ein Dritter ist da überflüssig. Wenn die Frau den Mann lieb hat, so kann man eine Freundin entbehren.“

„Sie vergessen, daß es sich nicht um kleinbürgerliche Verhältnisse handelt, meine Beste,“ unterbrach Mademoiselle scharf, „Schloß Woltersdorf ist groß genug, um beiden Theilen neben der Freude des Beisammenseins völlige Freiheit zu gewähren. Und außerdem ist Madame in der Lage, sich eine Gesellschaftsdame zu gestatten.“

„Ach so! Das ist freilich etwas Anderes, die kann man hinausweisen, wenn sie lästig wird. Ich dachte, Fräulein Walter sei ihre Freundin?“

„Das ist sie auch, Madame, und zwar eine treue Freundin; sie werden ein beneidenswerthes Leben führen,“ gab Mademoiselle zurück, empört von der Art und Weise, wie man sie ausfragte.

Aber Frau Steuerräthin blieb kühl; sie sprach nur ein paar Worte, deren Sinn Mademoiselle nicht verstand. „Warte ab, sagt Tuckermann.“

„Wie?“

„Man soll den Flegel nicht früher aufhängen, ehe das Korn gedroschen ist, und den Tag nicht vor dem Abend loben.“

„Aber ich verstehe Sie nicht.“

[187] „Nun, ich meine, es wäre das erste Mal in der Welt, daß Freundschaft und Liebe vor einen Wagen gespannt sind zu gleichem Rechte. Eines muß dabei zu Schaden kommen. – Wo bleibt denn nur Selma?“

„Empfehle mich,“ sagte Mademoiselle, „es wird mir hier zu kühl in der Laube. Herr Doktor, hat es etwas zu sagen mit dieser Ohnmacht des Barons?“

„Nein, nein! Bedenken Sie doch, die Aufregung des Abschiedes; er schlief ganz ruhig, als ich fortging. Aber Sie gestatten, daß ich Sie begleite?“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Ehrentag im Leben des Kaisers Wilhelm.[1]

Eine der entscheidendsten Schlachten, welche die Geschichte kennt, war geschlagen, in Sedan die Trümmer des französischen Heeres zusammengedrängt in rathlosem Wirrwarr; auf den Höhen ringsum standen 600 deutsche Geschütze, welche die Stadt in Schutt und Asche verwandelt hätten, wäre nicht, nach dem ersten Gruß der bayerischen Batterien, der bereits die Flamme weckte, die Parlamentärfahne aufgesteckt worden.

Und der König, an der Spitze seiner Helden, der Führer im Kampf und Kabinett, in Begleitung des Kronprinzen von Preußen, dessen Armee sich so tapfer am Siege betheiligt, ritt auf das Schlachtfeld.

Das war ein endloser Jubel, der ihn von allen Seiten begrüßte, denn lebendig in aller Herzen war das Bewußtsein, an einem großen unvergeßlichen Tage mitgekämpft zu haben, der in den Jahrbüchern der Weltgeschichte für immer verzeichnet bleiben wird. Und der greise Monarch, der des Krieges Strapazen theilte, der durch seine kundige Oberleitung seinem Heere des Sieges Bürgschaft gegeben – war er es nicht, in dem sich dieser Sieg, der Ruhm dieses Tages verkörperte? Sah nicht schon vorahnende Begeisterung die Kaiserkrone schweben über diesem würdigen Haupte? König Wilhelm dem Siegreichen galt der jauchzende Zuruf, und stürmischer wurde kein alter Heeresfürst begrüßt, den seine Krieger auf den Schild hoben nach den entscheidungsvollen Schlachtentagen.

Ja, es war der Schild deutscher Ehre und Kraft, an welchem der Anprall des Feindes gebrochen war.

Hier jubelten ihm die tapferen Bayern zu, denen des großen Tages blutigste Arbeit zugefallen war. Straße für Straße, Haus für Haus, Mann für Mann hatten sie in Bazeilles stundenlang mit dem Feind gerungen; ein Volkskampf hatte getobt durch das brennende Dorf, Mädchen und Frauen traten den Anstürmenden gegenüber, das Gewehr in der Hand, jede Gartenmauer wurde zum Schutzwall und mußte genommen werden. Das war ein hin- und herwogender Ringkampf, beleuchtet von den Flammen der brennenden Häuser. Die Wipfel des Parks warfen ihre Schatten über Kämpfende und Sterbende, jedem Rückzug folgte ein neuer Angriff. Und nach dem immer wieder bestrittenen heißerrungenen Sieg wiederholte sich dasselbe Schauspiel in dem stattlichen Orte Balan mit seinen schloßartigen Gebäuden und hohen Parkmauern.

Das sind sie, die Bayern mit ihren Raupenhelmen, die den Preußenkönig begrüßen, von dem Lech und der Isar, aus der prunkvollen Königsstadt, von den bergumrahmten blauen Bergseen, über welche die hohen Gebirgszüge ragen mit den kahlen Wänden und dem höchsten Gipfel der Zugspitze, aus den alten Reichsstädten Augsburg und Nürnberg. Mit wuchtigem Schwert halfen die Kämpfer des deutschen Südens den Feind vernichten, welcher dem deutschen Volke so herausfordernd den Fehdehandschuh hingeworfen. Gefangene in ihrer Mitte: jene schwarzen Turkos, mit denen sie schon siegreich in der Pfalz und im Elsaß abgerechnet. Da schwingt der eine Bayer, auf der eroberten Mitrailleuse stehend, hoch die erbeutete Fahne des kaiserlichen siebenten Regimentes, und in der Mitte der Kameraden sieht man die andern eroberten Geschütze, die von den Höhen bei La Moncelle Verderben herabgeschleudert in die Reihen der Anstürmenden.

Und daneben die tapferen Sachsen und Preußen, die Erstürmer von Daigny und Floing, die, über Garten- und Weinbergmauern hereinkletternd, den Feind vertrieben! Vielleicht sind einige darunter aus jenen eisernen preußischen Karrés, welche dem zermalmenden Chor der französischen Kürassier- und Chasseur- Regimenter Stand hielten, diesem heranbrausenden Gewitter von Mann und Roß, von dem die Erde dröhnte, welche mit ihren Feuersalven die glänzenden Schwadronen aus einander sprengten, daß sie hilflos an den Feuerlinien vorbeijagten und dann zurückstürmten mit dem schnaubenden Gefolge reiterloser Rosse, ihr Fußvolk überreitend.

Hier reicht der König einem verwundeten Officier die Hand: er gehört dem sechsten Grenadierregiment an, welches mit seinen zerrissenen Fahnen hier jubelnd den Monarchen begrüßt, nachdem es im heißen Kampfe am meisten von allen gelitten.

Im Hintergrunde geben preußische Artilleristen ihrer Siegesfreude begeisterten Ausdruck, und sie haben ein Recht dazu: Sedan war die größte Artillerieschlacht der letzten Kriege, während die deutsche Kavallerie gar nicht zum Angriff kam. Die Artillerie aber war überall zuerst am Platze, ihre Feuerlinien leiteten den Kampf ein und deckten die Entfaltung des Fußvolkes. So war’s auf den Höhen bei Givonne: und noch mehr, als die deutschen Truppen bei Saint-Albert aus dem engen Felsenthale der Maas hervorbrachen, um Floing und das Plateau von Illy anzugreifen. Da stand bald die großartige Artilleriemasse zweier Korps auf den Höhen von Saint-Menges in langen Linien aufmarschirt und ihr furchtbares Feuer erschütterte die feindlichen Kolonnen, ehe die deutsche Infanterie sich zum Angriff formirt hatte. Im Wald von Garenne, welcher den französischen Reserven schwache Deckung bot, kreuzten sich die preußischen Granaten von rechts und links, von den Höhen von Saint-Menges und Givonne und begruben unter splitternden Aesten und umgerissenen Wipfeln die auf dem Boden hingelagerten Truppen, unter denen sie eine schreckliche Verwüstung anrichteten.

Solch ein Siegestag, ein so berauschender Kriegserfolg steht einzig da in der deutschen Geschichte. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig zog sich der Kaiser zurück mit seinem Heere, nach der Niederlage von Waterloo floh er in eiliger Flucht: diesmal aber sollte die „traurige Mähr“ sich bewähren, welche die Heine’schen Grenadiere gehört, obschon sie damals nicht der Wahrheit entsprach:

„Daß Frankreich verloren gegangen,
Besiegt und zerschlagen das tapfere Heer,
Und der Kaiser, der Kaiser gefangen.“

Wie ein Fürst alter Heldensage, einer jener ruhmvollen Nordlandsfürsten, denen sich der Lorbeer auf den greisen Scheitel senkte, reitet König Wilhelm daher mit seinem ruhmgekrönten Gefolge. Der Kronprinz von Preußen grüßt mit Dank die Bayern, welche ihm die Siegesbeute entgegenhalten: der Sieger von Weißenburg und Wörth kennt ja seine Tapferen; hinter dem König von Preußen reitet der Feldzeugmeister Prinz Karl von Preußen, reitet Bismarck, der die Früchte dieses Sieges und des ganzen Krieges mit diplomatischem Scharfsinn und eiserner Unerbittlichkeit einheimsen sollte, reitet Moltke, der Schlachtenlenker, der mit dieser Schlacht von Sedan, mit dieser vollendeten Umzingelung des Feindes ein strategisches Meisterstück geliefert, reitet Graf Roon, der Reorganisator der preußischen Armee, hinter dem Kronprinzen General von Blumenthal, der sich in zwei Kriegen als glücklicher Stratege bewährt hat.

Ehre dem König und seinem Heer! Er ist kein erobernder Kriegsfürst; er hat nur den Angriff abgewehrt, welcher das deutsche Volk und Land bedrohte, ein pflichttreuer Hüter des heimischen Herdes und der nationalen Ehre! In dem Kranz, der das Haupt des neunzigjährigen Fürsten schmückt, giebt es genug schöne Friedensblumen, doch das schönste Lorbeerblatt seines Kriegsruhms trägt die unvergängliche Inschrift: „Sedan“. Rudolf von Gottschall.     

[188]

Nach der bei E. H. Schröder in Berlin im Jahre 1861 erschienenen Steinzeichnung von Ernst Milster. Mit Bewilligung des Verlegers.

[189]

Ein verhängnißvolles Blatt.

Erzählung aus den bayrischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall.
(Schluß.)


6.

Am andern Tage hatte Anna eine Unterredung mit David, der durch diese unverhoffte Entwicklung zahmer geworden war. Sie bot ihm eine große Summe, die sie wohl selbst ruinirt hätte, für Auslieferung der Schrift. Doch dazu ließ sich David nicht bestimmen, er befand sich zu wohl in seinem Machtgefühl über zwei Menschen, als daß er auf dasselbe verzichtet hätte. Anna mußte sich dazu bequemen, ihn im Hause zu behalten. Arbeiten sollte er nur so viel als nöthig war, um nicht die Aufmerksamkeit der Leute noch mehr zu erregen, die überhaupt schon über die Geduld des Langbauern, einem solchen Knecht gegenüber, den Kopf schüttelten.

Zum Glück war an dem verhängnißvollen Abend Niemand vom übrigen Gesinde im Hause, und als den andern Tag der Tod der Alten bekannt wurde, fiel es Niemand auf. Sie war ja in hohen Jahren und schon lange leidend.

Das ganze Dorf ging zu dem Begräbniß; sie hatte fast alle als Kinder schon gekannt, die jetzt hinter ihrer Bahre gingen.

Aeußerlich blieb Alles beim Alten im Langbauernhof. Man hätte glauben können, der tiefste Friede herrsche hinter diesen Mauern. Das leidende Gesicht, die verweinten Augen Anna’s erklärte man durch ihren Schmerz über den Tod der Mutter, die sie so lieb gehabt hatte; übrigens sah man die Beiden außer beim Sonntagsgottesdienst nie. Sie galten überall als fleißige ruhige Leute, die nichts kannten, als die Arbeit.

Kaiser Wilhelm im 90. Lebensjahre 1887.
Originalaufnahme von M. Ziesler.

Anna blieb oft die ganze Woche auf der Alm, wo jetzt eine Sennerin eingestellt war. Dort fühlte sie sich noch am erträglichsten; dort sah sie wenigstens David nicht, der jetzt wieder der Herr im Hofe war. Dieses Verhältniß fraß der stolzen Bäuerin am Leben; jeder Versuch, die Last abzuschütteln, war vergebens gewesen: sie mußten sie wohl tragen bis an ihr Lebensende. Dazu kam die unaufhörliche Angst, all das könne doch vergebens sein, David könne doch plaudern! Sie war jetzt mit hereingezogen in diesen verbrecherischen Kreis, und wenn ein Gendarm sich dem Hof näherte, zitterten sie alle Beide, er möge zu ihnen eintreten.

Mathias ging umher wie ein Gespenst; der letzte Halt in seinem Leben, die Liebe Anna’s war ihm genommen. Nun stand er allein da mit der heimlichen, brennenden Qual in der Brust – das höhlte seine Wangen, beugte ihm den Kopf und hier und da zogen sich schon weiße Fäden durch seinen Bart. Es war ein unerträgliches Leben! Rupert war jetzt schon fürchterlich gerächt.

David allein gedieh in dieser Zeit; er wurde ordentlich rund bei der guten, kräftigen Kost, dem müßigen Leben; er arbeitete immer weniger, und die Bäuerin hielt ihn auch gar nicht mehr dazu an, sie war froh, wenn er nicht da war. Seines Schweigens konnte sie unter diesen Umständen sicher sein, keine verdächtige Aeußerung kam je über seine Lippen, mehr verlangte sie nicht von ihm. Allmählich wiegte man sich in eine gewisse Sicherheit, vielleicht konnte sich das Verhältniß mit der Zeit, die ja Alles vergessen macht, doch wieder bessern – dachte Mathias nicht mit Unrecht. Ein Weib kann nicht lange hassen, wo es geliebt wird, und Sünden, selbst Verbrechen aus Liebe werden gerne vergeben! So stahl sich doch noch immer ein Hoffnungsstrahl in seine Nacht, und so lang der noch leuchtet, wenn auch noch so spärlich, so lang ist man nicht ganz unglücklich.

Inzwischen fand David das müßige, gute Leben, welches er führte, langweilig. Als der Oktober kam, war er oft Tage lang aus; Niemand wußte wo. Das beunruhigte Mathias; er ahnte, wohin David ging. Die alte Leidenschaft war wieder erwacht, und als er in David’s Abwesenheit einmal in dessen Stube kam, sah er eine Drahtschlinge unter dem Bett hervorblitzen. Jetzt wußte er, daß seine Vermuthung richtig war. Aber wie! Wenn David erwischt wurde – er trug ja das Büchel immer bei sich – dann war er selbst doch verloren!

Als Jener einst wieder nach dreitägiger Abwesenheit heimkam, machte Mathias ihm darüber Vorwürfe. David leugnete auch nicht, daß er sich wieder mit Schlingenlegen befasse und erst heute früh sich eine Rehgais gefangen.

„S’ is mir wenga ums Geld als um d’ Hetz’, die ’s dabei giebt! Was geb’ i aufs Geld, fehlt mir ja nix bei Euch; aber dem Jaga, dem schlauen Reiser, der moant, eam kam nix aus, a Nas’n drah’n, das is a G’spaß für mi; dös riegelt mi ordentli auf, und der Posthalt’r is a froh, wenn er a billig’s Wildprett kriagt!“

„Wegen mein’r treibst, was D’ magst, aber wann’s Di a mal d’ erwisch’n sammt dem verflucht’n Büach’l, das D’ all’weil mit Dir tragst, was nacher? Nacher is mit Dir und mit mir aus!“

„Mi d’ erwisch’ns net! Mach’ Dir koan Angst! S’ Schlingaleg’n macht koan so dumma Lärm als Schiaß’n; ma kon’s bei der stockfinstr’n Nacht thuan – da derwisch oan!“

Das beruhigte aber Mathias wenig, und so oft David fort war, bemächtigte sich seiner die alte Bangigkeit.

David hatte Glück. Reiser und der Jäger hatten schon ein paar Mal Schlingen gefunden und dieselben abgeschnitten, aber vergeblich mühten sie sich ab, den schlauen Dieb zu erwischen. Paßten sie Nächte lang, so kam nichts – schauten sie nach einigen [190] Tagen wieder nach, war die Schlinge von Neuem aufgerichtet, oder es fanden sich die Spuren eines gefangenen und fortgeschleppten Wildes. Sie hatten es mit einem durchtriebenen Burschen zu thun. Reiser nahm sogar David in Verdacht, da er ihn öfters von ungefähr im Holz ohne Beschäftigung angetroffen. Er machte auch Mathias darauf aufmerksam, von dem er sich sonst ferne hielt. Der aber suchte es ihm auszureden: der David denke gar nicht an so was – im Innern aber erbebte er immer bei einem solchen Gespräch.

Es war schon Mitte Oktober. Die Berge waren längst angeschneit; die Hirsche schrieen die kalte Mondnacht hindurch in heißem Liebesverlangen, daß man es bis ins Dorf hinunter hörte. Da war gute Zeit für David, das Wildpret ist da den ganzen Tag unterwegs und geräth auf den vielbegangenen Wechseln leicht in die Schlingen. Es verging kein Abend, wo er nicht behutsam nach allen Seiten spähend aus dem Hause schlich.

Eines Abends saßen Anna und Mathias wie gewöhnlich schweigend beim Abendbrot, sie waren jetzt allein: um nicht immer beobachtet zu sein, hatten sie die paar Dienstboten, die früher da waren, entlassen. Das einsame Ticken der Uhr und das Klappern der Löffel waren das einzige Geräusch in der Stube. Auf Mathias’ Stirn lag tiefer Gram; sein Blick war scheu, nicht mehr so offen und männlich wie früher.

Anna war alt geworden, ein strenger Zug um die Mundwinkel nahm ihr den frischen Jugendreiz. Sie führte wie geistesabwesend den Löffel zum Munde; ihre Gedanken schienen in weite Fernen zu schweifen.

Eben schlug die Uhr mit schnarrendem Tone neun – da riß David die Thür auf, er schien in größter Eile, ohne Hut, ohne Rock; die heftigste Erregung spiegelte sich in seinen Zügen; auf den blassen Lippen stand Schaum, er rang nach Athem.

Mathias durchzuckte es bei diesem Anblick, es sauste in seinem Ohr, als ob das Haus einstürzte.

„Mathias,“ keuchte David, „mach’, daß D’ davo kimmst – der – der Reiser –“ der Athem ging ihm jeden Augenblick aus – „hat mi d’ erwischt – mein’ Rock mit d’ –“ er stockte.

Mathias traten die Augen aus den Höhlen, ein Schauer ging durch seinen Körper – auch Anna erblaßte.

„Mit’n Büach’l is hint’n blieb’n – gleich werd’ns da sei!“ –

Er stürzte auf die Bank, pfeifend ging’s aus seiner zum Zerspringen angestrengten Brust, er brachte für den Augenblick kein Wort mehr heraus. Mathias aber wußte genug – in einer Stunde war er verhaftet! Er sank förmlich in sich zusammen und blickte auf Anna; eine Thräne des tiefsten Schmerzes blitzte in seinem Auge.

„Also do – i hob g’moant, i hätt’ g’litt’n g’nua, i hätt’ all’s abbüaßt – aber das is all’s no nix, i hab mehr verdient – ’s Zuchthaus – d’ ewige Schand – dann erst wird a Ruah! Weg’n mir wär’s ja net, mir g’schechat ja recht, aber, Anna, Du, was kannst denn Du dafür – Du sollst die Frau sei von an Zuchthäusler! Das is ja g’rad’ so, als selber d’rin sei.“

Plötzlich fuhr er auf und raste im Zimmer herum in seiner fieberhaften Angst – „ja soll’s denn gar koan Rettung mehr geb’n, gar nix - koa Lug – koa neuche Unthat, die uns – die Di rett’n kunnt –“ er fuhr sich ins wirre Haar und riß daran – „wenn ma a mal so weit is – wenn ma so was ’than hat – nacher is ja all’s oans!“

Anna saß wie ein Steinbild am Tisch, rathlos, sie konnte nicht einmal weinen.

„Oan Ausweg giebt’s no,“ lispelte David.

„Was – was??!“ schrie Mathias, „red’, Unglückswurm!“

„Wann d’ Bäurin schwört, daß Du auf der Alm warst zur selbig’n Zeit! Nachher hat der Rupert si g’irrt und den falsch’n Namen geschrieben!“

Jetzt schnellte Anna in die Höhe.

„Also an Meineid soll i schwör’n! A neu’s Verbrech’n begeh’n! Den Mörder von mein Schatz hab’ i g’heirath, mei Muatter hab i in ’s Grab g’stoß’n und jetzt soll i no an Meineid schwör’n! Und glaubst’s denn, daß der was hilft – seht ’s denn net, daß ma der Vergeltung für so a That net ausweich’n kon? Na – jetzt nimma weita! Büaß Du, wia ’s d’ Gerechtigkeit verlangt – i büaß ja mit Dir mein Leichtsinn daham in ewig’r Schand und Schmach!“

Ihr Entschluß stand fest, das las man in ihren Zügen.

„Und i will’s selbst net,“ sagte Mathias, „i will Di net weit’r ziag’n auf den Weg, i hab D’r ja scho g’nua anthan! I lauf’ a net davo, was nutzt’s denn – i hab’s ja so satt dös elende Leb’n! Offen eing’stehn will i all’s, nachher soll’n s’ mi verurtheil’n, wia si ’s g’hört für an Mörder!“

Er sank auf die Bank und krampfhaftes Schluchzen hob die gewaltige Brust. Anna fühlte ein plötzliches tiefes Erbarmen bei diesem Anblick; alles Gefühl der Rache, des gerechten Zornes schwand; nur kummervolles Mitleid mit dem Tiefgebeugten füllte ihr Herz aus und die alte Liebe regte sich wieder. Sie trat auf ihn zu und legte ihm sanft die Hand aufs Haupt.

„Mathias!“ sagte sie, „trag’s als Mann – i will’s ja mit Dir trag’n!“

Bei diesem längst ungewohnten milden Klang ihrer Stimme sank er vor ihr auf die Kniee und umfaßte leidenschaftlich ihre Hüften.

„Anna!“ schluchzte er, „kannst ma denn verzeih’n? Kannst mi denn no a Bisl liab hab’n? Sag’s – und i will all’s geduldi ertrag’n – sag’s,“ schrie er wild auf, „aus Liab zu Dir hab’ i’s ja than – sag’s – oder si fang’n mi net lebendi!“

Sein Auge suchte angstvoll aus ihren Blicken zu lesen. Sie zögerte einen Augenblick – dann zog sie ihn zu sich empor; eine Thränenfluth überströmte ihn, und er fühlte ihren Kuß auf seinem Munde.

„I vergeb’, i kann net anders!“ stammelte sie, und wortlos hielten sie sich lange umfaßt.

David hatte sich an allen Gliedern schlotternd auf die Ofenbank gesetzt, er besaß nicht die Kraft zu fliehen. Der Anblick packte sogar diese verdorbene Natur. Da wurden Stimmen laut draußen vor dem Hause – es pochte an die Thür.

„Sie[WS 1] kommen!“ zischelte David.

Mathias und Anna hielten sich noch in den Armen; jetzt schreckten sie auf – Mathias war weiß wie die Wand, Anna ging hinaus zu öffnen.

Ein Gendarm trat ein und Reiser.

„Ist Ihr Mann zu Haus?“ fragte Ersterer.

„In der Stub’n is er, geht’s nur ’nein!“

Sie traten ein.

„Da bin i!“ rief ihnen Mathias entgegen „i geh’ freiwilli mit, Ihr habt’s scho den Rechten!“

Reiser packte David.

„Hab’ i Di endli, Lump?“

„Hast lang g’nua dazua braucht!“ erwiederte höhnisch David, „nur koan G’walt, i geh’ scho selb’n!“

Der Gendarm erklärte Mathias verhaftet, als des Mordes an Rupert verdächtig. Niemand that Einsprache, die Sache ging nicht so schwierig wie der Mann gefürchtet hatte.

Mathias fragte nur: „Muaß i glei mit? heut no?“

Der Gendarm nickte. „Ohne Aufschub!“ entgegnete er ernsthaft.

„Guat! wann’s sein muaß, is a bess’r glei!“

Er nahm sichtlich allen Muth zusammen, als er jetzt auf Anna zutrat zum Abschied, er wollte nicht schwach erscheinen vor diesen Leuten. Stürmisch drückte er sie an sich und küßte sie. Die Anderen standen schweigend dabei – sprechen konnte auch er nicht, es nahm ihm die Stimme.

„Leb’ wohl, Mathias!“ klang es leise von Anna’s Lippen. „Gott stärk’ Di!“

Da brach sein Muth; seine Lippen bebten; Thränen fielen von Neuem in den blonden Bart, seine zitternde Hand umklammerte ihren Nacken.

„Anna, ’s is das letzte Mal, daß wir uns seh’n! I überleb’s ja do net! Denk’ an Dein’ unglücklich’n Mathias net in Haß, und wennst von mei Tod hörst, bet’ für mi! I hab’ bis dahin All’s richti abbüaßt!“

„Na, Mathias, net so! Wir seh’n uns wied’r; mir sagt’s mei Herz, und i wart’ auf Di, und wennst kummst, all’r Schuld ledi vor Gott und die Mensch’n, wennst ausg’litt’n hast, nacher ruahst aus – da!“ sie drückte seinen Kopf an ihr Herz, „von all Dei’m Leid, und All’s is vergessen!“

Wie eine Engelsstimme klang diese Verheißung in die Nacht seiner Verzweiflung hinein. Er richtete mit einem plötzlichen Aufwallen des Muthes den Kopf empor.

„Ja, wenn dös wär!“ sagte er, „wenn i no hoff’n könnt’, dann ertraget i All’s – das woaß i!“

[191] Noch einen Händedruck, einen Kuß, und er verschwand unter der Thür, gefolgt von dem Gendarm, Reiser und David, für welchen die Stunde der Abrechnung nun ebenfalls geschlagen hatte.

Anna sah sie nicht gehen, sie war auf der Ofenbank zusammengesunken, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Hausthür nur hörte sie zufallen und dann die schweren Tritte auf dem Kies. – Da erfaßte sie ein unnennbares Weh, die Liebe zu dem Manne übertönte alle anderen Stimmen in ihr, sie dachte nicht mehr an die Schande. Das schwere Leid, das über ihn kam, hatte ihn in ihren Augen aller Schuld entledigt.

„Mathias! – Mathias!“ schrie sie in die Nacht hinaus. Keine Antwort kam zurück – die Schritte waren auch schon verhallt – plöhlich legte sich ein grauer Schleier um ihre Augen; Alles drehte sich um sie, dumpfes Brausen klang in ihrem Ohre wie von einem Wasserfall, schwer aufschlagend stürzte sie zu Boden.

Den andern Tag lag sie in schwerem Fieber und phantasirte, sie wollte den Leichnam Rupert’s immer aufheben, aber er war zu schwer – sie keuchte vor Anstrengung.

„Helft! helft do!“ rief sie unzählige Male, dann schrie sie wieder entsetzlich auf – „Mathias!“

Der Arzt schüttelte den Kopf bedenklich, lange durfte es nicht so fortgehen. –

Mathias war in Untersuchungshaft, er erfuhr nichts von der Krankheit seiner Frau. Vier Wochen darauf war schon die Verhandlung, und das Urtheil lautete: acht Jahre Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, als mildernde Umstände wurden angenommen das offene Geständniß, die eigene Lebensgefahr, in der Mathias geschwebt, der lang genährte Haß zwischen Beiden.

Er hörte sein Urtheil mit Ruhe. Der Hoffnungsstrahl, den Anna ihm beim Abschied entzündet, leuchtete ihm voraus auf den Weg zum Gefängniß – er leuchtete ihm acht Jahre. Mathias klammerte sich an ihn in diesem trostlosen Leben, mitten unter dem Auswurf der Gesellschaft, und wenn er oft verzweifeln wollte, tönte Anna’s Stimme besänftigend:

„I wart’ auf Di. wennst ausg’litt’n hast – nacher ruahst aus – da!“




7.

Es war ein häßlicher Sommer im Jahre 1874! Nebel hingen wochenlang steif und unbeweglich bis ins Thal hinab, die Berge verhüllend. Kein Sonnenstrahl brach hindurch, es war trüb und kalt, daß man wieder nach dem Ofen sah. Um so schöner war’s oben auf der Höhe, wenn man ungefähr anderthalb Stunden gestiegen, tauchte man plötzlich aus dem Nebelmeer; tiefblauer Himmel spannte sich über die in klarer Luft ruhenden Bergkämme, und die vom Nebel zurückgeworfenen Sonnenstrahlen verbreiteten eine Glühhitze, daß die Luft zitterte.

That man einen Blick rückwärts, fluthete, so weit das Auge reichte, der Nebel, ein weißes, im Sonnenlichte grell erglänzendes Meer; es brandete an den Berghöhen empor, die wie schwarze Inseln daraus hervorragten. Auch die Rainalm lag schon über der Nebelregion im heißen Sonnenlicht.

Anna jagte eben die Kühe aus dem Stalle, die vor den Mückenschwärmen hier Schutz suchten.

Sie war bedeutend verändert, ihre üppigen schwarzen Zöpfe, die ihr früher förmlich den Kopf herabzogen, waren jetzt dünn, mit Grau gemischt. Das Gesicht war gar nicht mehr hübsch; herbe, tief gefurchte Züge gaben ihr ein fast männliches Aussehen; nur das schwarze Auge blickte noch eben so energisch wie früher. Es waren acht Jahre verflossen seitdem sie die schwere Krankheit überstanden, seitdem Mathias fort war. Sie hatte ihr Leid mit Entschlossenheit und einer gewissen Würde getragen. Der Hohn, den sie anfangs gefürchtet, blieb ihr erspart; es giebt Leiden, über die der gemeinste Mensch nicht spottet, die dem Dulder gewissermaßen eine Krone, eine Leidenskrone aufsetzen. Zu diesen Gekrönten gehörte auch Anna.

Sie erfuhr nur wenig von Mathias, das Wenige war aber nur Gutes – daß seine Aufführung musterhaft sei.

Ihre Eingabe um Begnadigung war fruchtlos, man konnte bei dem Ueberhandnehmen des Wildfrevels keine Gnade üben.

Sie hatte alles Schlimme, was er ihr zugefügt, längst vergessen, es war ja doch nur aus Liebe zu ihr geschehen. – Sie sah in ihm jetzt nur noch den Dulder und fühlte das innigste Erbarmen mit ihm. Die Liebe zu dem Manne war in der Einsamkeit stärker geworden, als je zuvor. An die Schmach des Zuchthausgewandes, dessen Geruch unaustilgbar sein soll, dachte sie nicht. Was kümmern sie die Leute?!

Sie hatte allein gelitten. geweint Jahr um Jahr; sie wollte sich auch allein freuen, wenn er zurückkam – und dieses Glück, nach dem sie lechzte die lange Zeit, sollte ihr Niemand rauben!

Die Sommer verbrachte sie die ganze Zeit über auf der Alm; im Winter schloß sie sich in ihrem Hofe ein; sie hatte Niemand, auch keine Dienstboten im Haus.

David hatte drei Monate Gefängniß bekommen und war dann spurlos verschwunden, wohl in seine Heimath Tirol; einmal ging das Gerücht, er sei verunglückt bei der Holzarbeit.

In zwei Wochen sollte Mathias das Zuchthaus verlassen dürfen! – Sie zählte jetzt schon nach Tagen, wie früher nach Monaten und Jahren, endlich sollte auch diese böse Zeit enden. Sie sollte ihn wieder sehen, wieder in ihren Armen halten! Es ließ ihr nirgends mehr Ruhe, immer stellte sie sich’s vor, wie sie ihn empfangen wollte, wie er alles ausgestandene Leid bei ihr vergessen sollte.

Auch jetzt war sie wieder in diese Gedanken vertieft – sie setzte sich auf die Bank und nahm das grobe Strickzeug zur Hand wie früher in besseren Tagen.

Unter ihr wogte das Nebelmeer im Kampf mit den Sonnenstrahlen, aber immer von Neuem thürmten sich die weißen Ballen empor. Plötzlich horchte sie auf, der Klang eines Bergstocks tönte durch die reine Luft aus dem Nebel heraus; es war noch weit entfernt, aber immer wiederholte es sich – nun kam es weiter herauf. Wer konnte das sein? Wer suchte sie wohl auf auf der Alm? Den ganzen Sommer kam ja Niemand, und Holzer waren auch keine in der Nähe.

Jetzt mußte der Wanderer bald auftauchen, der den Lärm verursachte – es klang immer näher.

Sie spähte angestrengt in die Tiefe. Jetzt löste sich eine Gestalt in verschwommenen Umrissen, es war ein Mann – ein großer Mann – ihr Herz schlug bis zum Hals herauf; eine förmliche Angst überkam sie.

Immer mehr trat er aus dem Nebel hervor. Jetzt traf ihn der erste Sonnenstrahl – ein Schrei entrang sich ihrer Brust, ein Juhschrei so kräftig, so frohlockend, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr ausgestoßen, hallte gegen die Wände – von unten erscholl die Antwort – zerrissen – wie von Thränen erstickt.

„Mathias! Mathias!“ schrie sie und eilte den steilen Weg hinab dem Kommenden entgegen.

Dieser sah sie wohl herabfliegen wie einen Vogel, und eilte nun auch im Laufschritt nach oben. Mitten unter dem zackigen Felsgestein trafen sie sich. Sie sanken einander in die Arme, lautlos – sie küßte sein ergrautes Haar und legte sein Haupt an ihre Brust.

„Da ruah aus!“

Kein Lüftchen regte sich, die erhitzte Luft zitterte um die nackten Felsen! Die Felsschrofen im Sonnenlicht ringsum sahen ernst herab auf das weinende, glückliche Menschenpaar, das keine Worte fand für die gewaltige Bewegung dieses Augenblicks.

Endlich legten sie Hand in Hand und schritten aufwärts, der Hütte zu; oben angelangt, kamen sie erst zu sich. Da gab es tausend Fragen, die alle gethan wurden, ohne auf die Antwort zu warten. Des alten Leides gedachten sie mit keinem Wort; es sollte im Nebel versinken wie das Thal da unten.

„I hab’ Di ja erst in zwei Woch’n erwart’! I hab’ ja All’s aufputz’n woll’n, um Di z’ empfang’n, und da kummst so auf eimal daher aus ’m Neb’l ’raus, daß i bald g’storb’n wär’ vor Freud’! aber weilst nur da bist, jetzt is All’s recht, jetzt kann Alles no guat wer’n, und i hab’ vielleicht no a Glück in der Liab, das ma d’ guate Muatter so abg’sproch’n hat!“

„Anna!“ erwiederte er, überglücklich durch diesen innigen Empfang, „sieh, i hab’ oft zweifelt, ob ’s D’ mi a wirkli no gern hast nach All’m, was g’scheh’n! I hab’ g’fürcht, daß die acht Jahr den letzt’n Funk’n auslösch’n werd’n in Dir. Das war mei ärgste Qual – aber jetzt seh’ i, daß Dei Wort g’halt’n hast, daß i wirkli ausruah darf an Dei’m guat’n treu’n Herz – i fühl’s, daß mir Du und der liabe Herrgott und d’ Welt und a d’r Rupert vergeb’n hab’n, was i armer sündig’r Mensch [192] gethan in der Leidenschaft, und a Freud', a Glück ziacht jetzt ei da drinn bei mir, wia i’s nia mehr g’hofft hab’!“

Noch einmal stürzten Thränen aus seinen Augen – diesmal aus Ueberfülle der Seligkeit.

Sie setzten sich auf die Bank vor der Hütte, Eins im Arm des Andern und erzählten sich ihr Leben und Leiden, oft unterbrochen von heißen Küssen, zuletzt verschmolz die Erzählung in seliges Liebesgeflüster. Sie merkten nicht, daß darüber der Abend kam.

Kein Lüftchen regte sich – die Strahlen der sinkenden Sonne ließen die Nebelballen unten purpurn erglühen und legten einen feierlichen Glanz auf die Häupter der alten Bergriesen ringsum. Friede breitete sich aus über der weiten, stillen Landschaft, Friede und Seligkeit in den Herzen der beiden Wiedervereinigten.

Auf dem Langhof ging nun ein neues Leben an.

Das Jahr darauf wurde dem Bauern ein kräftiger Bub von Anna geschenkt, er erhielt in der Taufe den Namen „Rupert“!




Kornblumen zum 22. März 1887.

Von Fr. v. Hohenhausen.

Reifendes Korn wallt im Sonnenschein wie ein goldenes Meer und schaukelt auf seinen glänzenden Wogen die blauen Blumen, die in ihrer Farbenpracht wie ein Stückchen Himmel aussehen, das frisch auf die Erde gefallen ist.

In der Wunderwelt der halbverklungenen Sage galt die „blaue Blume“ für das mystische Symbol der schönsten Regungen in der Menschenseele, als die Verkörperung des Ideals von Poesie und Glücksverheißung. Arme und Reiche, Dichter und Ritter suchten vergebens nach ihr, jetzt hat man sie aber gefunden; man weiß, daß sie Augentrost und Herzensfreude des größten lebenden Kronenträgers, daß sie die Lieblingsblume des Kaisers Wilhelm ist.

Die Weihe einer Kindheitserinnerung ruht für ihn auf der Blume des Feldes; schon im ersten Jahrzehnt seines Lebens wurde sie ihm dadurch theuer.

In dem unglücklichen Sommer von 1807 mußte die Königin Luise von Tilsit nach Memel flüchten. Die Reisewagen wurden mit Uebereilung hergerichtet und befanden sich nicht im besten Zustande. Die drei jüngsten königlichen Kinder fuhren mit ihrer Erzieherin und der Oberhofmeisterin, Gräfin Voß, voraus; die Königin nahm mit ihren beiden ältesten Söhnen, dem zwölfjährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und dem zehnjährigen Prinzen Wilhelm, in einer Kutsche Platz, welche sich sehr bald als ganz ungeeignet erwies, die Ueberlastung von Koffern und Reisebedarf auszuhalten. Nach einer langsamen, beschwerlichen Fahrt brach plötzlich ein Rad, und die hohen Insassen standen hilflos auf der einsamen Landstraße. Der Kutscher spannte aus und schwang sich auf eines der Pferde, um aus einem der nahegelegenen Dörfer einen Schmied herbeizuholen. Dies gelang in kurzer Frist, eilfertig kamen die braven Gesellen herbei und hämmerten mit Eifer und Geschick an der baufälligen Kutsche. Aus den freundlichen hellen Augen der rußigen Gesichter schoß mancher bewundernde, aber ehrfurchtsvolle Blick nach der schönen Dame hin. Die Königin hatte sich geduldig in den Schatten einer Baumgruppe niedergelassen, welche an einem ausgedehnten Aehrenfelde lag. Mit kindlichem Vergnügen bemächtigten sich die beiden kleinen Prinzen der blauen Blumen, die dort in verlockender Pracht blühten, sie überschütteten die Mutter damit und baten sie, Kränze daraus zu flechten. Mit freundlicher Bereitwilligkeit erfüllte sie diese Bitte und wurde sichtlich heiter bei der lieblichen Beschäftigung.

Zum ersten Mal nach langer Zeit nahmen ihre edlen schmerzbewegten Züge wieder einen Ausdruck von Freudigkeit an. Der Kronprinz, der frühreifen Geistes war und sie stets mit liebevoller Sorge beobachtete, freute sich über ihren holden Anblick und sah es neidlos, daß sie den ersten fertigen Kranz auf die Stirn des jüngeren Bruders setzte, der sich schmeichelnd an ihre Kniee geschmiegt hatte. Er sah liebreizend aus unter der Blumenkrone, ganz wie ein Engel, der Trost spenden wollte. Die Königin küßte ihn zärtlich und empfand alle Wonne des Mutterstolzes.

Ach, hätte sie doch ahnen können, daß dieser Sohn einst ihr geliebtes Deutschland zum glänzendsten Siege führen und alle ihre Demütigungen durch höchste Ehren aufwiegen würde! Welch ein köstlicher Balsam würde eine solche Ahnung für die schmerzenden Wunden der königlichen Dulderin gewesen sein! Als sie so friedlich am Rande eines reifenden Kornfeldes unter Blumen mit ihren geliebten Kindern saß, konnte sie wohl auf Augenblicke die Qualen vergessen, welche der erbarmungslose Korse ihr erst kurz vorher bereitet hatte. Auf seine Einladung oder vielmehr auf seinen Befehl war sie nach Tilsit gekommen, um den Besuch des Eroberers wie eine Gnade zu empfangen.

Die Königin wohnte in Tilsit in zwei ärmlich eingerichteten Zimmern, in demselben Bürgerhause, worin ihr Gemahl logirte. Eine dunkle schmale Treppe mußte der Machthaber ersteigen, um ihr den verheißenen Besuch abzustatten. Er hatte sich eingestandener Maßen vor demselben gefürchtet, weil der enthusiastische Schönheitskenner Alexander I., damals noch sein guter Freund, ihm so viel von den bezaubernden Reizen der Königin erzählte hatte, daß er sich nicht für widerstandsfähig genug hielt. Er war ersichtlich in aufgeregter Stimmung und fühlte gewiß das Verlangen, den Tyrannenhochmuth zu befriedigen, die Besiegten auch noch zu kränken. Aber doch besaß er noch jugendliche Männlichkeit genug, um einer schönen Frau gegenüber sich ritterlich benehmen zu wollen. Er hatte sogar elegante Toilette gemacht und sprengte auf einem hübschen arabischen Grauschimmel, mit einem Versuch koketter Reitkunst, bis dicht unter die Fenster der harrenden Königin. Sie hatte ihn kommen sehen und mußte Zeugin sein, wie ihn die glänzende Suite seiner Generale enthusiastisch begrüßte: mehrere hohe Würdenträger stürzten sogar herbei, um ihm die Steigbügel zu halten. An der Thür standen König Friedrich Wilhelm III. und einige Prinzen zum Empfange bereit. Der kaiserliche Emporkömmling grüßte sie mit der zierlichen Reitpeitsche, dann nahm er den Hut ab und stolperte laut die schlechte Treppe hinauf. Die Königin eilte ihm entgegen und sagte: „Sire, ich bedauere es lebhaft, daß Sie über diese unbequemen Stufen sich zu mir bemühen müssen.“

Er antwortete artig sich verbeugend: „Um zu einem solchen Ziele zu gelangen, scheue ich keine Hindernisse.“

„Für einen Günstling des Glücks, wie Sie es sind, Sire, giebt es auch keine.“

„Das hätten Eure Majestät früher bedenken sollen, anstatt mir thörichter Weise den Krieg zu erklären,“ unterbrach Napoleon die erschrockene Königin.

Sie erwiederte hierauf das denkwürdige Wort: „Wir waren auf den Lorbeern des großen Friedrich eingeschlafen; sein Ruhm täuschte uns über unsere Macht.“ Dann wendete sie sich mit geistvoller Beredsamkeit und rührender Bitte an den Eroberer, um ihn zur Milde gegen Preußen zu stimmen, namentlich um ihr geliebtes Magdeburg wieder zu gewinnen. Die berühmte Scene mit der Rose, die sie ohne Magdeburg nicht von ihm annehmen wollte, spielte sich bei diesem Besuche ab. Napoleon brach eigenhändig eine Rose von einem Stock am niedrigen Fenster und wollte sie der Königin geben. Als sie dieselbe nicht gleich nahm, weil sie zugleich Magdeburg verlangte, sagte er mit rauhem Tone. „Madame, Sie vergessen, daß Sie mir keine Bedingungen vorschreiben dürfen.“

Nach dieser Beleidigung mußte die Königin noch zwei Tage in Tilsit aushalten. Napoleon gab ihr zu Ehren ein glänzendes Mittagsmahl, wobei sie zwischen ihm und Alexander I. saß. Beide Kaiser überboten sich an Artigkeit gegen sie, aber sie vermochte nicht daran zu glauben und fühlte auch mit Schmerzen die Nichtachtung, welche beide Machthaber ihrem Gemahl bewiesen. Napoleon soll namentlich zu seinen Hofschranzen von dem „Marquis de Brandebourg“ gesprochen haben. Letztere unterstanden sich, den edlen bescheidenen Monarchen, der, gebeugt durch sein Unglück, sich sehr schweigsam und ernst verhielt, den „Ritter von der traurigen Gestalt“ zu nennen. Die Königin bestrebte sich, durch die Beweise der innigsten Liebe und wahrhaften Verehrung ihren Gemahl aufzurichten. Nicht sein Muth war gebeugt, aber sein Gemüth verdüsterte sich. Hätte es gegolten, sich dem Feinde entgegen zu stellen, er wäre mit Feuereifer an die Spitze seiner Armee getreten, aber die Fesseln, welche der schmachvolle Frieden ihm auferlegte, drückten ihn nieder. Als er in Memel wieder mit seiner Familie vereinigt war, erheiterte sich sein Gemüth unter der liebevollen Einwirkung der Königin, welche ihn die Segnungen des häuslichen Glückes mitten in Entbehrungen kennen lehrte. Der königliche Haushalt war ganz bürgerlich einfach eingerichtet, das Ehepaar überlegte gemeinschaftlich den Küchenzettel, um ihn möglichst billig herzustellen. Der König trug den Regenschirm und führte seine Gemahlin am Arme oder ein Kind an der Hand. Die Wohnung war ein Gartenhäuschen, welches ein wohlhabender Bürger von Memel dargeboten hatte.

[193]

Königin Luise bekränzt auf der Flucht nach Memel den Prinzen Wilhelm mit Kornblumen.
Originalzeichnung von A. Zick.

[194] Der französische General Savary, damals Gouverneur von Ostpreußen, gab mit grausamer Rohheit der Königin zu verstehen, sie solle ihre Schmucksachen verkaufen.

„Ach,“ erwiederte sie, „ich habe es längst gethan; nur eine Schnur Perlen besitze ich noch. Die bedeuten Thränen, die ich jetzt so häufig vergieße, darum passen Perlen für mich.“

Bei einem Feste, auf dem sie erscheinen mußte, trug sie einen Kranz von Kornblumen und sah „engelschön“ darin aus, wie in den Memoiren der Gräfin Voß zu lesen ist.

An dieses erste Jahrzehnt seines Lebens erinnert sich Kaiser Wilhelm noch immer mit Wehmuth: das verklärte Bild der Mutter schwebt ihm im Schmuck der blauen Blumen vor Augen.

Zwei Jahrzehnte später, auch in der schönen Sommerzeit, wo die Rosen und die Linden blühen und das reifende Korn sich mit blauen Blumen schmückt, machte Prinz Wilhelm eine Reise, über welcher ein Glücksstern aufgegangen war: er holte sich die siebzehnjährige holde Braut aus Weimar. Die Trauung sollte am 11. Juni 1829 in der Schloßkapelle zu Berlin vollzogen werden. Nach althergebrachter Sitte mußte die Prinzessin Augusta im Schlosse von Bellevue unweit Berlin absteigen und von dort aus in feierlichem Aufzuge sich zur großen Kapelle des Berliner Schlosses begeben.

Die Fahrt von Weimar nach Berlin dauerte volle drei Tage!

Daß der hohe Verlobte dieselbe mitmachte, war nicht von der Etikette diktirt, sondern von seinem Herzen. Wie der ritterliche Feramors in der schönen Dichtung „Lalla Rookh“ von Thomas Moore, wollte er das Märchenglück einer Brautfahrt genießen. Er fuhr in einem offenen Galawagen, mit vier prächtigen Rappen in Silberbeschlägen bespannt, unter dem Jubelruf der dichtgedrängten Menge aus dem Schloßhofe von Weimar eine Stunde früher als die Braut fort.

Augenzeugen schilderten seine Persönlichkeit mit Bewunderung und proklamirten ihn als den schönsten Mann seiner Zeit: er war hochgewachsen, kräftig gebaut; seine edlen jugendfrischen Gesichtszüge hatten neben dem Ausdruck würdevoller Festigkeit eine herzgewinnende Leutseligkeit. Goethe schrieb über ihn: „Man kann ihn nicht sehen, ohne ihm von Herzen ergeben zu sein und ihn aufrichtig hochzuachten; er ist ein ernster und männlicher Charakter.“

Wie schön die Prinzessin-Braut war, kann man sich denken, wenn man erfährt, daß sie ihrer erlauchten Mutter glich, welche dieselbe weltberühmte Schönheit besaß wie ihre Brüder, die Kaiser Alexander I. und Nikolaus I.; auch über Prinzessin Angusta hat Goethe das maßgebende Urtheil gefällt, daß sie schon in frühester Jugend einer ernsten Geistesrichtung ergeben war. Als sie in den bräutlichen Triumphwagen stieg, der mit Blumenketten geschmückt und mit sechs weißen, hermelinartig schwarzgefleckten Pferden bespannt war, schwebte ein Lächeln des Glücks auf ihrem rosigen Antlitz; aber Thränen der Rührung glänzten in ihren schönen Augen, die dem herzlichen Abschied galten, welchen die weißgekleideten Jungfrauen von Weimar von ihr nahmen, indem sie die Prinzessin mit Kränzen, Gedichten und Geschenken überhäuften. Sie selbst und ihre Hofdamen hatten kaum Platz in dem blumengefüllten Wagen.

In dem Städtchen Eckartsberga wurde die Prinzessin von den Abgesandten des Königs von Preußen empfangen, um nach altem Brauch als „Landeseigenthum“ feierlich begrüßt zu werden. Bei dieser Ceremonie wie bei all den zahlreichen anderen Ovationen war der vorausgeeilte Bräutigam zugegen, um dieselben durch seinen Zuspruch erleichternd für die junge Prinzessin zu gestalten.

Hier spielte sich eine idyllische Scene ab: die Ehrenpforten von Eckartsberga waren reich geschmückt mit den schönsten Kornblumen, woran sich der Prinz sichtlich erfreute. Er ließ sich zwei Sträußchen davon geben, überreichte einen der Geliebten und steckte den andern sich selbst an. Nun wußte sie, daß er die blaue Blume ganz besonders liebte, und vergaß es nie, sie auf allen Geschenken für ihn anzubringen; sowohl gestickt wie gemalt, hat sie dieselbe unzählige Male dargestellt; gleichsam als Sinnbild des Familienglücks schien die bescheidene Feldblume verehrt zu werden.

Die Ehe des jungen Prinzenpaars gestaltete sich schattenlos; doch fehlte längere Zeit der erwünschte Kindersegen; erst nach zwei Jahren wurde der glorreiche Thronfolger geboren, nämlich am 18. Oktober 1831; daß er an diesem denkwürdigen Tage das Licht der Welt erblickte, hielten alle wahrhaften Patrioten mit Recht für eine gute Vorbedeutung. Auch daß er von allen Enkeln am meisten der Königin Luise ähnlich sieht, ja eigentlich allein der Universalerbe ihrer Schönheit geworden ist, machte ihn zum Liebling des deutschen Volkes. Es schien fast, als sollte er das einzige Kind seiner hohen Eltern bleiben; erst nach sieben Jahren wurde ihnen die Tochter geboren, welche mit idealer Pietät das Leben des Vaters verschönt und behütet.

Am 22. März wird sich das Kaiserauge an der Fülle der Kornblumen erfreuen, die zur neunzigsten Geburtstagsfeier dargebracht werden. Wie alljährlich prangen die Gemächer des Kaisers im reichsten Schmuck von exotischen Gewächsen, aber die einheimische schlichte Kornblume nimmt doch überall den höchsten Rang ein. Sinnend steht Kaiser Wilhelm oft an dem historischen Eckfenster seines bescheidenen Wohnhauses, auf welches der Titel „Palais“ kaum anwendbar ist, und fällt sein Blick auf das Standbild des großen Königs, so denkt er wohl an die merkwürdige Vorbedeutung, daß gerade an dieser Stelle das Denkmal des Herrschers errichtet wurde, der den Hohenzollern den Weg zum Ruhme zeigte, aber in seinen kühnsten Hoffnungen nicht ahnen konnte, bis zu welcher Höhe sie emporsteigen würden.

Kaiser Wilhelm’s feste und doch so milde Hand legte den Grundstein zu Deutschlands welthistorischer Größe.

Das Arbeitszimmer des Kaisers, an dessen Fenstern ihn stets so viele tausend Augen suchen, ist sein Lieblingsaufenthalt und trägt das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit. Er hat dort alle theuern Erinnerungen um sich gesammelt, ganz besonders aber die Reliquien des Andenkens seiner Mutter. Neben dem Schreibtisch auf einer Platte von schwarzem Marmor erinnern gemalte Kornblumen an sie, und ein kleiner Schrein birgt ihre schöne Todtenmaske. Nur sehr selten ist es möglich, sie zu betrachten, aber niemals wird das Auge sie vergessen, welches sie auch nur einmal sah!




Aus Kaiser Wilhelm’s Privatleben.

Das tägliche Leben des Kaisers Wilhelm ist, soweit es sich auf den engeren Familienkreis bezieht, ein durchaus einfaches, fast bürgerliches. Der Verkehr mit seiner Gemahlin, mit der kronprinzlichen Familie, mit der Familie des Prinzen Wilhelm ist ein überaus herzlicher, und wenn dem hohen Herrn die kleinen Urenkel gebracht werden, zeigt er sich als der zärtlichste Urgroßvater.

Nicht minder innig sind die Beziehungen zu der großherzoglich badischen Familie. Mit welch rührender Liebe die Frau Großherzogin von Baden an ihrem kaiserlichen Vater hängt, wie die hohe Frau um sein Wohl besorgt ist und stets nach Berlin kommt, um in seiner nächsten Nähe zu weilen, sobald die Kaiserin im Frühjahr die Bäder aufsuchen muß: das ist eine altbekannte Thatsache.

Aber auch von Seiten des Kaisers wird die kindliche Anhänglichkeit der großherzoglichen Tochter durch eine bei jeder Gelegenheit sich kundgebende Liebe erwiedert, und der hohe Herr versäumt nie nach seiner Emser Kur den alljährlichen Besuch bei den badischen Herrschaften auf der Insel Mainau.

Eben so wie das hochbetagte kaiserliche Paar mit Beginn eines neuen Tages sich von dem gegenseitigen Befinden Kenntniß verschafft und der hohe Herr der Kaiserin oft schon im Laufe des Vormittags in deren oberen Gemächern einen Besuch abstattet oder dieses ihrerseits geschieht (die Parterre-Räume des Kaisers sind mit den Zimmern der Kaiserin durch einen Aufzug verbunden), so sieht man auch den deutschen Kronprinzen sich meist zu Fuß schon in den Frühstunden ins kaiserliche Palais zu seinen Eltern begeben. Auch Prinz Wilhelm kommt oft von Potsdam ins Palais.

Wenn einmal der greise Monarch ans Zimmer oder wohl gar ans Bett gefesselt ist und die Kunde mit Blitzesschnelle sich durch die Stadt verbreitet hat, so daß im Laufe des Tages Tausende von Theilnehmenden aus dem Publikum das Palais umlagern: dann zeigen sich im Inneren desselben so recht die herzlichen Beziehungen der Familie unter einander. Dem greisen Monarchen werden von allen Mitgliedern so viele Beweise inniger und sorgender Theilnahme entgegengebracht, daß derselbe oft selbst die beruhigendsten Versicherungen zu geben sich veranlaßt sieht. Und dieselbe Besorgniß zeigt auch der Kaiser, sobald in der Familie ein Erkrankungsfall gemeldet wird.

Die Umgangsformen in der kaiserlichen Familie sind durchaus zwanglos und des Kaisers Leutseligkeit und herzgewinnende Freundlichkeit ermuntert nicht selten die jüngeren Familienmitglieder in seiner Nähe zu heiteren Scherzen und Späßen, die ihm sichtliche Freude bereiten. Die Umgangssprache in der kaiserlichen Familie ist deutsch, die Hofsprache dagegen, das heißt bei größeren Festlichkeiten, wo das Ceremoniell beobachtet wird, französisch. Im vertraulichen Verkehr bedienen sich die Majestäten ihrer Vornamen „Wilhelm“ und „Augusta“, eben so wie auch die kronprinzliche Familie und die des Prinzen Wilhelm in der zwanglosesten Weise bei ihren Vornamen genannt werden. Das vertrauliche „Du“ wird gegenseitig gewechselt. Seit dem Feldzuge von 1870 und 1871 und den eigenhändigen Siegesdepeschen des Kaisers an seine Gemahlin ist es kein Geheimniß, daß der deutsche Kronprinz von seinen Eltern „Fritz“ genannt wird. Weniger bekannt mag sein, daß die Frau Kronprinzessin den Namen „Viki“ (Abkürzung von Viktoria) führt.

Wie groß die Herzensgüte des Monarchen, wie menschenfreundlich und rücksichtsvoll er überall zu handeln bedacht ist, selbst gegen seine Dienerschaft: das kann nicht genug von den Betheiligten gerühmt werden. Es giebt altgediente Leute in der unmittelbaren Umgebung des Kaisers, die während ihrer ganzen langen Dienstzeit nicht ein hartes, tadelndes Wort von dem hohen Herrn gehört haben. Stets legt derselbe Milde und Güte, Nachsicht und Anerkennung an den Tag. Es sind oft Fälle vorgekommen, wo Bedienstete recht erhebliche Versehen begangen hatten und auf Entlassung gefaßt waren. Statt dessen hörten sie aus dem Munde ihres Gebieters nur die Worte: „Ich wünsche, daß Dergleichen nicht wieder vorkommt!“ Damit war die Sache erledigt. Und es kam gewiß nicht wieder vor.

Wenn zur Tafel keine Einladungen ergangen sind und die Majestäten allein speisen, so geschieht dies um 5 Uhr im sogenannten Vortragszimmer neben dem Arbeitszimmer des Kaisers. (Früher wurde in den oberen Räumen der Kaiserin servirt.) Das Diner besteht meist aus fünf Gängen und ist nur für die Majestäten allein servirt, die sich in vertraulicher Unterhaltung gegenüber sitzen. Austern, die der Kaiser sehr liebt, fehlen in der Saison nie auf der Tafel; ebenso Geflügel, und namentlich Kapaunen lieht der Kaiser vorzugsweise. Wein trinken die Majestäten wenig. Nur etwas Champagner oder Rothwein, letzterer mit Wasser vermischt, wird beliebt.

Noch immer ist der Gang des greisen Herrschers fest und sicher, die Gestalt aufgerichtet, sobald er sich im Gespräch befindet. Eines Stockes bedient sich derselbe in den Gemächern niemals. Beim Lesen und Schreiben setzt der Kaiser meist eine Brille auf, doch nicht immer; die Theaterzettel liest er ohne Brille.

[195] Sehr bemerkenswerth ist die Oekonomie und Sparsamkeit des Monarchen, so weit es seine Person betrifft. Sie erstreckt sich oft auf kleinste Dinge. Es kennzeichnen dieselben so recht die große Anspruchslosigkeit und Einfachheit seines Wesens. Um die Ausgaben für seine Person einzuschränken, läßt z. B. der Kaiser die Uniformsstücke, sogar die Leibwäsche, ausbessern oder ändern. Er trägt neuerdings mit Vorliebe ältere, ihm jetzt bequemere Kleidungsstücke. Die historischen hellgrauen, großen russischen Kragenmäntel, deren sich der Monarch bei Ausfahrten bedient, sind davon nicht ausgeschlossen.

Der Kaiser verläßt Punkt halb acht Uhr Morgens sein eisernes Feldbett und kleidet sich sogleich vollständig militärisch an. Schlafrock oder Schlafschuhe kennt er nicht. Dann nimmt er das erste Frühstück, Thee, zu sich und begiebt sich an seinen Arbeitstisch, wo er Schriftstücke und die ausgelegten Zeitungen liest, oder schreibt. (In den Journalen werden die den Monarchen besonders interessirenden Stellen roth und in die Augen fallend angestrichen.)

Alsdann kommen die Leibärzte, um nach dem Befinden Seiner Majestät zu sehen, und um zehn Uhr beginnen die Vorträge, die mit militärischen Meldungen abwechseln. In letzterem Falle vertauscht der Kaiser seinen schwarzen Interimsuniformsrock ohne Ausnahme mit dem dienstmäßigen Waffenrock.

Gegen elf Uhr wird das zweite Frühstück gebracht, das der Monarch meist stehend zu sich nimmt. Es besteht gewöhnlich nur aus einem belegten Brötchen und Bouillon, oder einem Glase Madeira oder Portwein. Später arbeitet der Kaiser wieder, hört Vorträge oder ertheilt Audienzen, die sich bis gegen zwei Uhr ausdehnen.

Ist das Wetter schön, dann unternimmt der Kaiser von zwei bis drei Uhr eine Spazierfahrt in Begleitung des dienstthuenden Flügeladjutanten. Später folgen dann wieder Audienzen, und um fünf Uhr wird das Diner eingenommen, auch wenn Einladungen dazu ergangen sind. Abends pflegt der Monarch das Theater zu besuchen mit Vorliebe Oper und Ballett, wo er oft bis zum Schlusse verweilt. Alsdann finden entweder noch größere oder kleinere Gesellschaften in den Gemächern der Kaiserin statt, oder der Kaiser bleibt Abends in seinem Arbeitszimmer und schreibt oft noch anhaltend und viel. Es ist kaum möglich, sich eine Vorstellung zu machen, welch überaus große Arbeitskraft der Monarch bei seinen hohen Jahren besitzt. Derselbe schreibt seine Privatkorrespondenzen meist allein, womöglich auch wohl dienstliche Erlasse oder dergl., so daß oft zwei Kopisten vollauf zu thun haben, um des Kaisers Arbeiten zu bewältigen.

Um den greisen Herrscher vor Erkältungen zu bewahren, war auf dringendes Anrathen der Aerzte das Arbeitszimmer aus der kälteren Ecke in das Vorzimmer verlegt worden. Der Monarch hat aber darauf bestanden, wieder zu dem historischen Eckzimmer zurückzukehren.

Sind keine größeren Festlichkeiten oder Gesellschaften bei den Majestäten, so begiebt sich der hohe Herr regelmäßig um halb elf Uhr zur Ruhe und das Tagewerk ist vollbracht.

So vollzieht sich das Leben des Kaisers alle Tage in Arbeit und Berufstreue!

Die einzige Veränderung, die sich in dem Wesen des bejahrten Monarchen neuerdings bemerkbar gemacht hat, ist eine größere Schweigsamkeit. Früher betheiligte sich derselbe mit besonderer Vorliebe auch einmal an den leichteren, mit Scherz vermischten Gesprächen und flocht in seiner trockenen Weise selbst launige Bemerkungen bei. Auch jetzt ist der Sinn für den Humor in ihm nicht erloschen, aber er greift jetzt seltener in derartige Konversation mit ein.

Wenn sich ihm Personen seiner Umgebung vordem mit Wünschen oder Bitten nahten und mit zaudernder Vorrede um die Erlaubniß baten, noch etwas vortragen zu dürfen, bediente sich der Kaiser häufig einer Berliner Redensart, die schon durch die Fassung und durch den ermunternden Ton eine halbe Gewährung enthielt. „Na, denn schießen Sie ’mal los!“ erwiederte er launig und lehnte sich horchend zurück.




Blätter und Blüthen.


Die Wiege des Kaisers.

Die Wiege des Kaisers. Wahrhaft große Menschen sind für immer von einem Strahlenkranz umgeben, die Stätten, welche sie betraten, „eingeweiht“, und die Personen und Gegenstände, welche zu ihnen in Beziehung gestanden, nehmen Theil an der Verehrung, die jenen gezollt wird. Die unscheinbarsten Gegenstände sind es oft, die deßbalb pietätvoll aufbewahrt werden. Der erhabenen Persönlichkeit halber, die vor nunmehr neun Jahrzehnten im damaligen und auch gegenwärtig wieder kronprinzlichen Palais in Berlin in der einfachen Wiege geruht, von welcher wir heute eine Abbildung bringen, ist uns auch diese ein Gegenstand von unschätzbarem Werthe. Und zugleich tritt noch ein anderes Bild als das des jungen Prinzen, der eine Leuchte des Vaterlandes werden und die Kaiserkrone tragen sollte, vor unsere Augen und erhebt Anspruch auf Verehrung: an der Wiege des Prinzen Wilhelm war der schönste Platz der edelsten aller Frauen, der Platz der Königin Luise, deren treues Mutterauge auch den Schlummer des Lieblings überwachte. * *     

Eine Revue Kaiser Wilhelm’s vor siebenundsechzig Jahren in Luxemburg. In einem vergilbten Familienbrief eines preußischen Officiers in Luxemburg wird von einer Revue erzählt, welche unser greiser Heldenkaiser, damals ein Prinz von 22 Jahren, kurz zuvor über die in der damaligen Bundesfestung Luxemburg stehenden Truppen abgehalten: eine Schilderung, die heute noch von Interesse sein dürfte. Der Premierlieutenant Hübner gedenkt des Ereignisses in nachstehenden schlichten Worten:

„Prinz Wilhelm, zweiter Sohn unseres geliebten Königs, hielt den 16. und 17. Oktober (1819) Revue über unser Regiment und die übrige Garnison. Wir haben seine ganze Zufriedenheit und sein höchstes Lob davongetragen; der Prinz war sowohl mit der Propreté, als mit allen Evolutionen völlig zufrieden. Er hat ganz den väterlichen Ernst und mit seinem Kennerauge sah er jeden Einzelnen; ihm entging nichts. Wohl dem Vaterlande, wo solche Stützen um den Thron versammelt sind!“

So der Briefschreiber, der längst verstorben, während jener Prinz Wilhelm erst jüngst nach nahezu sieben Jahrzehnten als deutscher Kaiser unter dem Jauchzen und Frohlocken der Bevölkerung der wiedergewonnenen Reichslande Elsaß und Lothringen die Besichtigung ihrer Heerscharen abhielt.

König Wilhelm 1861. Das Portrait (S. 188) des jetzigen Kaisers aus der Zeit, wo er die Regierung antrat, ist nach den zwei besten Photographien, welche er damals für diesen Zweck empfohlen hatte, auf den Stein gebracht worden. Dem Künstler, Herrn Ernst Milster, bewilligte der König zwei bis drei Sitzungen, in denen er das Bild nach dem Leben zeichnete, auch gab der Monarch seine Unterschrift dazu. In voller Manneskraft und Mannesfrische ergriff damals der König die Zügel der Regierung: jetzt blickt der greise Monarch auf eine ruhmvolle Zeit zurück, deren glänzende Erfolge in erster Linie seiner Energie, seinem Muth, seinem unerschütterlichen Pflichtgefühl zu danken sind. Damals ahnte er wohl nicht, daß er ein einiges Deutschland schaffen und sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzen werde. Doch ein Dichterwort spricht es aus: „In Deiner Brust sind Deines Schicksals Sterne“, und dort leuchteten sie schon damals dem Herrscher für den Ruhm der Zukunft. †      

Berlin am Geburtstage des Kaisers. Selbst die Hauptstraßen der größten Weltstädte haben für den Beschauer auf die Länge ein einförmiges Gepräge. Ausnahmen von dieser Gleichartigkeit des Lebens und Treibens sind aber nicht selten, und eine solche bildet in Berlin der Geburtstag des Kaisers Wilhelm. Schon die Häuser haben an diesem Tage einen anderen, festlichen Charakter. Bunte Fahnen wehen berab von jedem Dach, ein reges Treiben macht sich bemerkbar in den Unter den Linden belegenen Hôtels. Fremde, Vergnügungslustige, hohe Herrschaften und Fürstlichkeiten aus dem ganzen Reiche sind herbeigeeilt, und wenn nun die Stunden kommen, in denen der Monarch die Glückwünsche zu empfangen pflegt, ist das Palais umlagert von Tausenden, welche herbeigeeilt sind, um das fesselnde Bild zu schauen. Unzählig sind die Karossen und Equipagen, welche die Rampe des kaiserlichen Palais hinaufrollen. Da präsentirt die Garde links und rechts; die Jäger springen herab, Prinzen und Fürsten steigen aus und die Dienerschaft öffnet die Thüren. Und so fort! Stundenlang bleibt das vielseitige, wechselnde Bild. Auf dem Palais flattert die kaiserliche Hausfahne. Aus den Fenstern der Häuser und Paläste schauen Hunderte, so weit die Linden sich dehnen, und drunten wogen Tausende in festlicher Stimmung. Nun zeigt sich der Monarch am Fenster! „Der Kaiser! Der Kaiser!“ ertönt es. Die Köpfe recken sich, die Neugierigen drängen sich zusammen. Und jetzt dringt aus den Kehlen ein nicht endendes, brausendes Hoch! Besondere Bewegung entsteht, wenn die Mitglieder des königlichen Hauses anfahren. Jeder will den Kronprinzen, den Prinzen Wilhelm sehen. Sechsspännig, mit feurigen Rappen fahren die Hofequipagen heran. Nun sind es gar 90 Jahre geworden, die des greisen, erhabenen Monarchen Scheitel decken. Kaum war wohl ein Sterblicher in seinem Wirken so berechtigt, das Dichterwort auf sich anzuwenden, wie Kaiser Wilhelm: „Die Arbeit, die uns freut, wird zum Ergötzen!“ – Ja! Er kannte nur Pflicht und Arbeit, und sie ward zum Ergötzen ihm und Millionen!

Tiroler im Elsaß. Bisweilen bereiten unsere Nachbarn jenseit des Rheins uns unerwartete Ueberraschungen. Da bringt ein illustrirtes Blatt „La France illustrée“ ein Bild, welches uns eine Gruppe von Landleuten zeigt, die einen Toast ausbringen, und schreibt darunter: „Im Elsaß. Ein Toast auf Frankreich!“ In dem Text zur Illustration wird hervorgehoben, es sei kein Wunder, daß die Elsässer einen solchen Toast ausbringen, wegen der erdrückenden Militärlasten, welche das Deutsche Reich ihnen aufgebürdet – und der Abgeordnete Winterer wird mit seiner Erklärung dafür ins Feuer geführt.

Sehen wir aber näher hin: wen erkennen wir in diesen guten Elsässern wieder? Die Tiroler Defregger’s; es ist ein Bild unseres deutschen Meisters, „Zur Gesundheit“, welches sich das französische Blatt annektirt hat, um daraus Kapital zu schlagen für seine chauvinistischen Bestrebungen. Eine derartige Anleihe bei der deutschen Kunst, um die Bestrebungen der Patriotenliga zu unterstützen, gehört allerdings zu den merkwürdigsten [196] Entlehnungen. Glücklich ist diese Wahl außerdem nicht: denn daß die beiden jungen Dirnen auf dem Bilde nicht gerade an den Ruhm Frankreichs denken, das zu erkennen bedarf es keines tiefen Verständnisses für den Gesichtsausdruck der Sterblichen.

Vorbereitungen zur neunzigsten Geburtstagsfeier des Kaisers in der Kaserne.
Originalzeichnung von E. Hosang.

Vorbereitungen zur neunzigsten Geburtstagsfeier des Kaisers in der Kaserne. Für den Soldaten ist des Kaisers Geburtstag wohl der höchste Festtag des Jahres; kein anderer gewährt ihm solche Freiheit; denn die Kasernenthore stehen bis zum Morgen offen und Niemand braucht um Urlaub einzukommen. In vielen, besonders neuen Kasernen, welche geeignete große Räumlichkeiten haben, finden die Festlichkeiten des Abends statt in den ausgeräumten großen Schlafsälen. Und diese Räume würdig auszustatten, wetteifert das Talent verschiedener Künstler, welche fast jede Kompagnie aufzuweisen hat. Der eine Freiwillige, ein Bautechniker, malt auf Leinwand ein Bild des Kaisers in Lebensgröße, freilich keine künstlerische Leistung, die mit den Portraits eines Franz Lenbach wetteifern kann; aber sie wird viel bewundert von den Kameraden und ist ein Ausfluß echter Begeisterung für den greisen Monarchen. Der Anstreicher und der Blechlackirer, welche der Kompagnie angehören, haben ein riesiges Transparent kunstvoll angefertigt: welche magische Wirkung werden die Inschrift, das Eiserne Krenz und der Lorbeerkranz ausüben, wenn am Abend dahinter gestellte Lichter diese patriotischen Insignien beleuchten! Andere schmücken die Kasernenstube mit Guirlanden, und das Herz der wackeren Soldaten schlägt stolzer bei dem Gedanken, daß sie zur Feier des geliebten Kaisers das Beste gethan, was in ihren Kräften steht.

Eine französische Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelm’s von Eduard Simon ist vor Kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen (Jena, Costenoble); es ist erfreulich, daß diese Lebensbeschreibung, obschon von einer französischen Feder herrührend, mit gutem Gewissen auch dem deutschen Volke zugeeignet werden konnte: wir besitzen sogar in Deutschland nur wenige eingehende und zusammenhängende Darstellungen von Kaiser Wilhelm’s Leben. Daß der Verfasser nicht im Stile der Déroulède und der jetzigen französischen Revanchepartei geschrieben, daß er sich streng an die Thatsachen gehalten, jede Empfindlichkeit verleugnet hat, kann seinem Werke zum Ruhme nachgesagt werden; ohne Frage hat ihm eine gewisse Sympathie die Feder geführt, und auch was er über den Kronprinzen, über Bismarck und Moltke sagt, beweist rückhaltlose Anerkennung der Bedeutung dieser hervorragenden Persönlichkeiten.

Gleichwohl ist es natürlich, daß Simon als Franzose die Sachen unter einem andern Gesichtswinkel sieht, als ein deutscher Autor sie sehen würde, und daß vor Allem seiner Darstellung jene Wärme und Begeisterung fehlt, welche, ohne aufdringlich zu sein, doch wie mit geheimem Pulsschlag ein derartiges Werk durchdringen müßte. Der Geschichtschreiber braucht sich nicht in einen begeisterten Dichter zu verwandeln und Hymnen zu singen, wo er Thatsachen zu berichten hat; aber er wird, wenn er seinem Helden nicht bloß Sympathien, sondern Begeisterung entgegenbringt, doch Töne anschlagen, welche im Herzen unseres Volkes ein freudiges Echo finden. Das kann man von einem Franzosen selbstverständlich nicht erwarten: man wird es schon anerkennen müssen, wenn er sich von jeder Feindseligkeit und Gehässigkeit fern hält und sich geschichtlicher Wahrhaftigkeit befleißigt. In der Regel sind die Besiegten schlechte Geschichtschreiber, wo es die Thaten ihrer Sieger gilt.

Trotz aller Verdienste des Simon’schen Werkes ist dasselbe doch nicht als das Kunstwerk eines hervorragenden Biographen zu betrachten, das in harmonischer Vollendung auf der Grundlage beglaubigter Thatsachen aufgebaut ist; noch weniger kann ein Franzose ein Volksbuch schaffen, das für den Hausschatz eines jeden Deutschen sich eignen würde.

Goldene Worte des deutschen Kaisers Wilhelm I. Unter diesem Titel hat Adolf Kohut ein Gedenkbuch für das deutsche Volk herausgegeben mit dem Portrait des Kaisers. Es sind keine geflügelten Worte, welche durch pikante Wendungen sich einzuschmeicheln suchen: sie alle athmen den Ernst der Gesinnung, die Größe des Wollens, einen eben so milden und würdigen wie energischen Geist. So denkt ein Monarch, dessen Gedanken sich jeden Augenblick in Thaten verwandeln können und oft verwandelt haben. Die Sammlung wird Allen willkommen sein.


Kleiner Briefkasten.

B. R. in Wien. Die Originalzeichnung „Goaßlfahren“ S. 129 der „Gartenlaube“ ist nicht von Karl Marr; der Name wurde irrthümlich angegeben.

J. V. in Wien. 1) Ja! 2) Nein!

M. N. in Breslau und H. V. in Schwarzenberg. Nicht geeignet.


Inhalt: Zum neunzigsten Geburtstag Kaiser Wilhelm’s. Illustration. S. 181. – Zum 22. März 1887. Gedicht von C. Hecker. S. 182. – Herzenskrisen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 182. – Ein Ehrentag im Leben des Kaisers Wilhelm. Von Rudolf v. Gottschall. S. 187. Mit Illustration. S. 184 und 185. – Kaiser Wilhelm im neunzigsten Lebensjahre 1887. Portrait. S. 189. – Ein verhängnißvolles Blatt. Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall (Schluß). S. 189. – Kornblumen zum 22. März 1887. Von Fr. v. Hohenhausen. Mit Illustration. S. 193. – Aus Kaiser Wilhelm’s Privatleben. S. 194. – Blätter und Blüthen: Die Wiege des Kaisers. Mit Illustration. S. 195. – König Wilhelm 1861. S. 195. Mit Portrait S. 188. – Berlin am Geburtstage des Kaisers. S. 195. – Tiroler im Elsaß. S. 195. – Vorbereitungen zur neunzigsten Geburtstagsfeier des Kaisers in der Kaserne. Mit Illustration S. 196. – Eine französische Lebensbeschreibung Kaiser Wilhelm’s. S. 196. – Goldene Worte des deutschen Kaisers Wilhelm I. S. 196. – Kleiner Briefkasten. S. 196.


Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift, wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula Einzeln gewünschte Nummern liefern wir pro Nummer incl. Porto für 35 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir bei der Bestellung in Briefmarken einzusenden.

Die Verlagshandlung.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Das Bild, welches wir auf S. 176 und 177 bringen, ist die letzte Zeichnung des leider zu früh verstorbenen Malers Professor Camphausen; sie wurde von demselben eigens für die „Gartenlaube“ entworfen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Si