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Die Gartenlaube (1887)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1887
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[549]

No. 34.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der Unfried.

Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer.
1.

Nicht ein einziges Wölklein trübte das satte, sommerliche Blau des über Berg und Thal gespannten Himmels; auch die bläulich grauen Rauchsäulen, die von den Dächern[WS 1] mit trägen Wirbeln senkrecht in die Höhe stiegen, erweiterten sich mählich zu dünnem Dunste und zerflossen spurlos in den von Sonnengluth erfüllten Lüften. Die nahen Berge waren von flimmerndem Duft umwoben und schienen in stundenweiter Ferne zu liegen. In dem dunkelgrünen Tann, der sich von steiler Höhe


Der Lichthof des königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin.
Originalzeichnung von C. Stöving.

[550] den Wiesen des Dorfes entgegensenkte, rührte kein Windhauch die Wipfel und Zweige. Man hörte nur das schläfrige Gemurmel der spärlich rinnenden Bächlein, die durch Bergfurchen und Felsenschrunde ihren Weg zum Thale suchten und den Schatten des Tannenwaldes verließen, um beinahe lautlos dem breiten, sacht rauschenden Bach entgegenzueilen, der einem hellblitzenden Silberbande gleich das Dorf in weitem Bogen umspannte, in kleinen Laubgehölzen sich verlor und wieder aufblitzte zwischen Wiesen und zwischen Getreidefeldern, auf denen das Grün der hoch stehenden Halme schon in das fahle Gelb der Reife sich zu wandeln begann.

Auf den Wiesen gaukelten weiße Falter von Blume zu Blume; über den Getreidefeldern standen schwärzliche Schnakensäulen in der vor Hitze zitternden Luft, und auf der Straße sumsten die grauen Bremsen und blaugrünen Fliegen um die heißen, verstaubten Steine.

Sonst nirgends eine Spur von Leben in der weiten Thalflur. Auf den Wiesen keine Mähder, auf den Feldern keine Schnitter, kein brüllendes Rind, kein Roß im Geschirr und nirgends ein Gefährt. Es war ja Sonntag – und dazu diese Sonne, diese drückende, glühende, sengende Sonne! Selbst die Schwalben hatten sich müd und schläfrig unter die vorspringenden Dächer geduckt. In den Grasgärten lagen die Hühner und Enten regungslos im spärlichen Schatten der nach Regen lechzenden Obstbäume. Aus den geschlossenen Ställen ließ sich kein Klirren vernehmen, kein Brüllen und kein Wiehern. Oder brüllten die Rinder, wieherten die Rosse, zerrten sie, gefoltert von der Hitze ihrer dumpfen Mauerkeuchen, an ihren Ketten? – und erlosch ihr Lärmen nur unter den Stimmen der „Sonntagsruhe“, welche die Menschen im Dorfe hielten, unter dem Schreien und Kreischen der Kinder, die auf der Straße ihre tobenden Spiele trieben, unter dem schnatternden Gelächter der Dirnen und Weiber, die sich auf den Hausbänken in der brennenden Sonne so wohl zu fühlen schienen, als säßen sie im kühlsten Schatten? Unter dem johlenden, mißtönigen Gesange, der aus den offenen Fenstern der überfüllten Wirthsstube hallte, und unter dem Lachen, Schelten und Schreien, das sich vom Wirthsgarten her vernehmen ließ und sich vermischte mit dem Poltern der rollenden Kugel und dem Gerappel der fallenden Kegel?

Ein armes Ding, so eine Kellnerin im Dorfe, deren eigentlichster Werktag der Sonntag ist! Da rennt sie hin und her zwischen Haus und Garten, athemlos, mit dunkel gerötheten Backen, das Gewand und die weiße Schürze naß von verschüttetem Biere. Kaum ist sie mit den leeren Trinkgeschirren im Hause verschwunden, so kommt sie schon wieder über die Schwelle gehastet, in jeder Hand fünf steinerne Krüge, von denen der Schaum in dicken Flocken niederrinnt. Keuchend erreicht sie die Kegelbahn; ein Dutzend Hände strecken sich ihr entgegen, im Nu ist sie ihrer Bürde ledig, und ehe sie noch recht weiß, von wem sie ihr Geld zu fordern hat, werden ihr schon wieder von allen Seiten leere Gläser und Krüge in die Finger gedrückt und auf die Arme geschoben. Schelten und keifen muß sie, um zu ihrem Gelde zu kommen, und muß sich mit stoßenden Armen umherbalgen in dem dichten Knäuel der hemdärmeligen, von Trunk und Spiel berauschten Bursche. Schreiend, spottend und streitend schieben und drängen sich die Spieler durch einander, die Kugel poltert, die Kegel rasseln, und auf dem „Laden“ klirren und klappern die Markstücke und die blanken Thaler.

Draußen über der Kugelrinne stehen in langer Reihe die Zuschauer, theils solche, die gern mitthäten und mit Aerger das magere Beutelchen in der Tasche befühlen, theils aber auch solche, welche mißbilligend dieses mehr prahlerische als leichtfertige „Umwerfen“ mit dem sauer verdienten Gelde verfolgen.

Zu diesen letzteren mochte wohl auch der Bursche zählen, der jetzt aus der Schar der Zuschauer sich loslöste, den Wirthsgarten verließ, die Straße überschritt und dem offenen Felde zu strebte.

Es war eine schlanke, elastische Gestalt von jugendlicher Kraft und Frische. Der Bursche hätte nicht die blaue Dragonerhose mit den rothen Streifen tragen müssen, schon die stramme Haltung und der feste Gang hätten verrathen, daß es noch nicht allzu lange her war, seit er den Rock des Königs wieder mit der Lodenjoppe vertauscht hatte.

Er trug diese Joppe lose um die Schultern gehängt, und unter ihr zeigte das faltige Hemd im grellen Sonnenschein ein blendendes Weiß, von welchem sich der hochrothe Zackenbesatz der Hosenträger schimmernd abhob.

Der Wohlstand des Hauses, das der Bursche sein Heim nannte, verrieth sich in der schweren Silberkette, die an der offenen, grünen Weste baumelte, in den großen, theuren Hirschhornknöpfen der Joppe und in den zwei hohen, buschigen, werthvollen Adlerflaumstämmchen, die eine schmucke Zierde des grünen Hutes bildeten. Schief und keck saß dieser Hut über dem glänzend braunen Haar; nur kärglich beschattete er mit seiner schmalen Krempe das gesunde, sonnenverbrannte Gesicht, dem das spitz aufgedrehte Schnurrbärtchen über den schwellenden Lippen einen leichten Zug von Stolz und Trotz verlieh, wogegen freilich der gutmüthige, sorglose Frohsinn Einsprache erhob, der aus den braunen Augen leuchtete und lachte.

Raschen Ganges schritt der Bursche über die Wiesen dahin und lenkte auf schmalem Pfade seitwärts zwischen die hohen Aehrenfelder, verfolgt von sumsenden Fliegen. Manchmal blieb er stehen, blies die Backen auf, lüftete den Hut und brummte grollend vor sich hin. „Saxen! Saxen! Is das a Hitz’! Verschmelzen möcht’ Einer gleich!“ Und wieder schritt er seufzend weiter auf seinem Wege.

Aber es war ja kein Weg, den er machte – es war ein Umweg. Denn jenen Hügel, dem er sich nach halbstündigem Marsche zuwandte, hätte er vom Dorf aus in wenigen Minuten erreichen können, wenn er dem breiten Sandsteige gefolgt wäre, der von der Dorfstraße zu jener Höhe emporführte, über deren Linden ein Kirchlein sein spitzes, braunrothes Thurmdach reckte.

Je näher der Bursche den Büschen kam, die den Fuß des Hügels umsäumten, desto langsamer wurden seine Schritte, desto flinker aber die spähenden Blicke, mit denen er durch die Lücken des Laubwerks die grasige Plattform musterte, auf welcher das Kirchlein sich erhob.

Jetzt spielte ein fröhliches Lächeln um seine Lippen, und während er leise mit der Zunge schnalzte, nickte er mit blinzelnden Lidern vor sich hin. Lautlos stieg er zwischen den Büschen empor. Als er die Plattform erreichte, blieb er stehen und theilte mit den Armen das Laubwerk. Wenige Schritte vor ihm stand eine riesige Linde, deren knorriger Stamm von einer verwitterten Holzbank umzogen war. Ein Strohhut mit einem verblichenen blauen Bande und ein plumper Sonnenschirm lagen auf dieser Bank, und daneben saß das Mädchen, dem die Sachen gehörten. Ein schwarz und blau gewürfeltes, verwaschenes Perkalkleid verhüllte den jugendlichen Körper, dessen schlanker Wuchs und knospende Formen trotz der starren Falten des halb schon verwaschenen Gewandes noch in gefälliger Weise sich verriethen. Unter dem Röckchen lugten die gekreuzten Füße hervor, in schneeweißen Strümpfen und mehrfach gestickten, aber spiegelblank gewichsten Schuhen. Die Hände hielten ein Strickzeug und rührten emsig die Nadeln. Es waren zwei braune Hände, die an Arbeit gewöhnt schienen. Auch auf den Wangen des schmalen, mehr kindlichen als mädchenhaften Gesichtes lag ein leichtes Braun, welches jedoch bei dem tiefen Schwarz der Haare, die in zwei schweren Flechten um die Stirn geschlungen lagen, weniger zur Geltung kam. Die Lippen zeigten ein frisches, feuchtes Roth, und in lichter Bläue glänzten die Augen, die das Mädchen in kurzen Zwischenräumen mit fürsorglichen Blicken zu dem kleinen Korbwagen hob, der nahebei im besten Schatten stand und unter dem grünen Vorhang des aufgeschlagenen Dächleins in geblümten Kissen das bausbackige Gesicht eines schlummernden Kindes gewahren ließ.

Nun wieder einmal hob das Mädchen die Augen; diesmal aber zu den raschelnden Büschen. Ein tiefes Roth überflog seine Wangen, als es den Burschen gewahrte, der mit freundlichem Nicken und Lächeln auf die Linde zugeschritten kam.

„Grüß’ Dich Gott, Sanni!“

„Grüß’ Dich Gott, Karli!“ gab das Mädchen leis entgegen und beugte das glühende Gesicht tief über die zitternden Nadeln.

„Hast Dich auch a Bißl in’ Schatten g’macht?“

„Ja, a Bißl.“

„Hast schon Recht! Heut’ leidt’s ein’ schon in der Kühlen! Da möcht’ ja gleich einer in’ Boden ’neinschliefen, bloß daß er der [551] Sonn’ vertrinnt.“ Damit stand der Bursche vor Sanni, lüftete seufzend den Hut und blickte lächelnd auf das emsig strickende Mädchen nieder. „Is verlaubt?“ frug er nach einer Weile, schob Hut und Sonnenschirm bei Seite und setzte sich langsam auf die Bank.

„Aber ich bitt’ gar schön!“ erwiederte Sanni, von Neuem erröthend, und rückte hastig auf die Seite.

„Ja geh’, was bleibst denn net sitzen!“ schmollte Karli und rückte nach. „Is ja Platz g’rad g’nug! Ah – Saxen! Saxen! So a Hitz’!“

„Ja! So a Hitz’!“ bestätigte Sanni, legte das Strickzeug in den Schoß und drückte die Hände auf die glühenden Wangen.

„Es ist schon fürchtig! Aber wirst es sehen, Sanni, das kann net so fortdauern über Nacht. Da kommt noch ’was bis auf ’n Abend.“

„Ja, ich hab’ mir’s selber schon ’denkt.“

Fast gleichzeitig neigten sie sich vornüber, um durch die Bäume nach dem westlichen Himmel auszuschauen. Dabei berührten sich ihre Schultern, und das schienen die Beiden gar nicht zu bemerken, denn lang und ruhig hielten sie in dieser Stellung aus.

„Ganz blau – noch Alles ganz blau!“ versicherte Sanni endlich mit einem stockenden Seufzer und meinte den Himmel.

„Ja, wunderschön blau!“ erwiederte Karli lächelnd und meinte damit Sanni’s Augen. Ganz merklich drohte er dabei das Gleichgewicht gegen des Mädchens Seite hin zu verlieren – und er kippte mit dem Ellbogen fast bis auf die Bank nieder, als Sanni plötzlich aufsprang, um eine Hummel zu verscheuchen, welche sumsend das Dächlein des Korbwagens umflog. Dann neigte sie sich über das kleine Gefährt und strich mit sanfter Hand dem schlummernden Kinde die dünnen Härchen aus der Stirn. Fürsorglich zog sie die grünen Vorhänge zu, umschritt mit musternden Blicken den Wagen und setzte sich auf die andere Seite der Bank, wobei sie gar nicht zu gewahren schien, daß Hut und Sonnenschirm nun zwischen ihr und dem Burschen lagen.

Karli aber zog die Brauen hoch, betrachtete mit scheelen Blicken die beiden Sachen und hob dann langsam die großen Augen zu dem ruhigen Gesichte des Mädchens, das mit nickendem Kopfe und tippender Nadel am Strickzeuge die Maschen zählte.

„Ah ja!“ seufzte er nach einer stummen Weile, blies die Backen auf, streckte die Füße und preßte den Rücken wider den Stamm der Linde. So saß er schweigend und verwandte keinen Blick von den Nadeln, die zwischen Sanni’s emsigen Fingern leise klapperten. Mit einem Male rückte er ein wenig näher, stützte die Ellbogen auf die Kniee und sagte:

„Na, wie Du’s aber kannst! Völlig wachsen sieht man das Strümpferl unter Deine Händ’. Wem g’hört’s denn, han? Für Dich selber kann’s doch net g’hören, denn –“

„Für’s Lehrer-Sepherl g’hört’s,“ fiel Sanni mit hastigen Worten ein, als wollte sie dem Burschen die Mühe ersparen, die ausgesprochene Meinung weiter zu begründen.

„Drum! So ’was hab’ ich mir gleich ’denkt! A Bißl an Augenmaß hat man ja doch im Kopf.“

Sanni erröthete bis unter die Haare, und während sie das Gesicht tief über das Strickzeug neigte, zog sie hurtig die Füße unter das Röckchen zurück.

Lächelnd nahm Karli den Strohhut des Mädchens auf den Schoß und zupfte an dem blauen Bande.

„Han, sag’, wie geht’s denn der Frau Lehrerin?“ fragte er nach einer Weile, legte den Hut auf die andere Seite und rückte näher.

„Dank der Nachfrag’! Es macht sich schon! Gestern hat s’ den ersten Kirchgang g’halten.“

„Is a fleißiger Vogel der Storch im Lehrerhaus, das muß man sagen! Zehn Jahr’ lang sind s’ jetzt verheirath’, sechs Kinder springen im Haus um einander, eins liegt da im Wagerl und ’s jüngste daheim in der Wiegen. Und Du, Du hast es auch net zum Besten dabei. Von ei’m Jahr aufs andere hast mehr Arbeit. Und statt daß Dich am Sonntag a Bißl ausschnaufen könntst, mußt mit alle zwei Händ’ drauf losnadeln, daß Dir d’ Fingerln krumm werden möchten.“

„Ah na – allweil sind s’ noch ganz g’rad!“ lächelte Sanni und schaute mit einem freundlichen, fast dankbaren Blick zu dem Burschen auf. „Und sonst is ’s auch net so arg mit der Arbeit, g’wiß net! D’ Frau Lehrerin greift selber fleißig mit zu – und für ’s Gröbere is ja nachher a Magd auch noch da. Und was ich auch zum thun hab’, ich thu’s ja gern. Ich hab’ ja in den fünf Jahr’, seit mein Ahnl g’storben is, im Lehrerhaus schier gar a zweite Heimath g’funden. Ja, so viel gut is der Herr Lehr’ und d’ Frau Lehrer zu mir – und die Kinderln erst, die hängen mir gar fürchtig an.“

„Ja, ja, ich kann’s ihnen net verdenken!“ betheuerte Karli, ergriff den Sonnenschirm und unterzog den plumpen Mechanismus desselben einer mehrfachen Probe.

„G’wiß wahr, wenn wir oft von mei’m Vater reden, kann d’ Frau Lehrer net g’nug sagen, wie s’ a ganze Angst davor hätt’, daß er amal aus Amerika ’rüberschreiben thät, ich sollt’ zu ihm ’nüberkommen.“

„Geh’ weiter! Das wird ihm doch net einfallen!“ fuhr Karli erschrocken auf, warf den Sonnenschirm zum Hute und rückte dicht an Sanni’s Seite. „Oder hat er leicht wieder ’was hören lassen von ihm?“

Traurig schüttelte Sanni das Köpfchen. „Ah na! Vor zwei Jahr’, wie er g’schrieben hat, daß d’ Mutter verstorben is, das war der letzte Brief – weißt es ja noch, wo selbigsmal im Ort so viel drüber g’redt worden is, weil so g’spaßige Reden drin g’standen sind.“

„Ja, daß die Ein’ g’sagt haben: der schreibt ja wie a Heiliger – derweil die Andern g’meint haben: der schreibt wie – wie einer, bei dem ’s nimmer recht sauber is im obern Stüberl.“

„Karli! Aber geh!“

„No ja – schau – da mußt net gleich beleidigt sein! Ich selber hab’ ja so ’was nie net g’sagt. Der Kummer wird halt so g’spaßig aus ihm g’redt haben – er hat ja Dein’ Mutter selig doch auch recht gern g’habt.“

„O g’wiß! G’wiß! Denn wenn s’ net z’sammg’halten hätten, da hätten s’ ja gar kein’ Trost net g’habt bei aller Noth und allem Elend. Ich sieh s’ noch völlig sitzen vor mir, die Mutter mit ihren lieben, guten Augen und mein’ Vater mit sei’m sinnirlichen G’sicht, halb freundlich und halb ernst. O mein lieber Gott! Jetzt wird er auch anders ausschauen! Elf Jahr’, das is a Zeit! Und wie ’s ihm ’gangen is! ’s Bessere hat er g’sucht, drüben über’m Wasser, und ’s Schlechtere hat er g’funden! Wie oft hat er in die ersten Jahr’ g’schrieben, daß er gern wieder z’ruck möcht’, wenn er nur g’rad ’s Geld aufbringen könnt’ zum Heimreisen.“

„No schau, da wird ’s jetzt auch noch net anders sein mit ihm – und – wie könnt’ er denn nachher dran denken, daß er Dich amal ’nüberkommen laßt? Das kann ich mir gar net einbilden!“

„Wer weiß! ’leicht hat unser Herrgott doch amal an Einsehn g’habt und hat ihm ’s Glück zug’wendt.“

„Geh’! Am End’ haltst es schon gar nimmer aus bei uns! Am End’ wartst schon lang auf so an Brief?“

Hastig hob Sanni den Kopf, schaute mit verschüchterten Augen in das finstere Gesicht des Burschen und beugte sich seufzend wieder über das Strickzeug.

„Und so leicht könntst fort von da?“ forschte Karli weiter. „Gar nix könnt’ Dich halten?“

Eine stille Weile verstrich, ehe Sanni, ohne die Blicke zu heben, mit leiser, zitternder Stimme erwiederte: „Da dürft’ ich wohl net drauf denken, was mich halt’t – da müßt’ ich bloß hören, was mich ruft. Mein Vater is ja doch mein Vater. Und nachher, so gut ich auch g’halten bin im Lehrerhaus – an eigene Heimath is halt doch was anders – und – was mir ’s Aergste is: daß ich net amal an meiner lieben Mutter selig ihrem Grab a Vaterunser beten kann, wenn mir diemal mein armseligs Alleinsein so recht schwer auf’m Herzen liegt.“

Sanni schluckte, legte das Strickzeug in den Schoß und fuhr mit den Handballen nach den Augen.

Sachte zog ihr Karli die Hände vom Gesicht. „Aber geh’, Sannerl! So mußt auch net sein auf amal! Wer wird denn gleich Alles so von der schwarzen Seiten anschauen!“

[552] „O mein! Du hast leicht reden! Du hast Dein’ Heimath, Dein Haus und Dein’ Vater! Du bist der Pointner-Karli und ich – ich bin ’s Bygotter-Deandl!“

„Aber na! Jetzt so ’was! Wie magst denn so an Unterschied machen! Ein Mensch is so viel wie der ander’! Was einer is und hat, das macht kein’ Unterschied! Weißt, auf ’s Einwendige kommt’s an! Ja – so denk’ ich! Und das wird auch noch amal aufkommen, daß ich so denk’!“ Dabei zog der Bursche die Brauen hoch und nickte dem Mädchen, das in scheuem Staunen zu ihm aufblickte, mit anzüglicher Wichtigkeit zu. „Ich bin fein kein Solcher net, der meint, wo a Geldhaufen is, muß noch an anderer dazukommen! Und so denkt auch mein Vater jetzt – denn der hat’s an ihm selber erfahren, wie ei’m ’s Leben ungut wird dabei, wenn alle Tag’ zum hören kriegst, wie viel Geld als Dir der Pfarrer ins Haus kopuliert hat. Wie oft schon hat der Vater zu mir g’sagt: Bua, schau net auf’s Sach’, schau auf’s G’müth! Und so will ich’s auch halten! Ja – ich nimm’ mir amal eine, die mir g’fallt und die mich gern hat!“ Jenes anzüglich wichtige Nicken verstärkte sich, und enger drückte sich Karli’s Ellbogen an Sanni’s Arm. „Und – wer weiß – ’leicht könnt’ ich ja dieselbige schon g’funden haben, die mir g’fallt und –“ Karli verstummte und schaute mit verdrossenen Augen der Mündung des Pfades zu, der vom Dorfe herauf führte. „Na! Jetzt da hört sich aber doch – – wie verirrt sich denn der auf amal daher?“

Die unmuthigen Worte galten einem etwa fünfundvierzigjährigen Manne, der auf der Plattform erschien, eine gedrungene, sehnige Gestalt mit ruhigen, gemessenen Bewegungen. Das ziemlich abgetragene Gewand verrieth den Bauernknecht. Kein silberner Knopf, kein Schmuck irgend welcher Art war an der Tracht des Mannes wahrzunehmen, die Pfeife, die er zwischen den Zähnen hielt, trug einen deckellosen, unbemalten Porcellankopf; keine Schnur, keine Feder zierte den grobfilzigen Hut, unter dessen Krempe die frühergrauten Haare in dichten Büscheln hervorquollen. Die Ohren verschwanden hinter einem kurzen Backenbarte, der wie erstarrte Schaumflocken an den faltigen Wangen klebte. Kinn, Hals und Oberlippe waren glatt rasirt. Zahllose Fältchen reihten sich strahlenförmig um den beinahe farblosen Mund und um die Augen, welche dunkel, ernst und ruhig aus diesem verwitterten Gesichte schauten.

Als der Ankömmling die Beiden gewahrte, die unter der Linde saßen, flog es über sein Gesicht wie ein leises Blinzeln und Lächeln; er nahm die Pfeife aus dem Munde, duckte auf eine ganz eigene Art den Kopf in den Nacken, wozu er die Schultern ein wenig in die Höhe zog, und näherte sich gemächlichen Schrittes mit den Worten:

„No also, ich hab’ mir ja gleich ’denkt, wo ich hingehen muß.“

„Ja was is denn? Was willst denn, Götz’?“ fuhr Karli mit rascher Frage auf, während Sanni erröthend von der Seite des Burschen wegrückte. „Is ’leicht bei uns daheim ’was aus’kommen?“

„Bei uns daheim? Ah na! Aber d’ Sanni sucht man im ganzen Ort.“

Erschrocken sprang das Mädchen von der Bank und begann mit zitternden Händen ihr Strickzeug zusammen zu wickeln. „O mein Gott, ja weßwegen denn? Was hat’s denn ’geben?“

„Aber geh’, da mußt Dich jetzt gar net so aus anander bringen lassen,“ erwiederte der Knecht mit ruhigen Worten; doch wollte das leise Zwinkern seiner Augen und das seltsame Zucken der Mundwinkel mit der Ruhe seiner Worte nicht übereinstimmen. „Ah na, ’was Schreckhafts is da ja g’wiß net dabei. Uebrigens weiß ich selber net g’nau, warum s’ Dich eigentlich suchen. Aber was d’ Leut’ so g’redt haben, kommt’s mir vor, als hätt’ Dein Vater wieder einmal ’was von ihm hören lassen.“

Sanni erblaßte; und unwillkürlich kreuzten sich ihre Blicke mit denen Karli’s, ehe sie mit stammelnden Worten frug: „Is aber auch wahr? Thust mich net spotten? Han? Thust mich net spotten?“

„Spotten? Ja weßwegen denn sollt’ ich Dich spotten? Du thust ja g’rad, als ob ich Dir weiß Gott was g’sagt hätt’ – als ob ich Dir g’sagt hätt’: Dein Vater selber wär’ ’kommen! Uebrigens – ’was G’wisses weiß ich ja net! Wie d’ Leut g’redt haben, hat man so und so denken können. Jetzt weißt ’was – am besten is, Du gehst heim und schaust amal selber nach, ob’s denn auch g’wiß wahr is, daß Dein Vater ’kommen is.“

Mit starren, weit offenen Augen hing Sanni an den Lippen des Knechtes. „Jesus Maria! Jesus!“ löste es sich endlich mit Stottern und Schluchzen von ihrem bleichen Munde; mit zitternden Händen raffte sie Hut und Sonnenschirm auf, und ehe sich Karli von der Verblüffung erholen konnte, die ihn bei den letzten Worten des Knechtes überkommen, hatte sie den Korbwagen in Bewegung gesetzt und verschwand mit ihm hinter der Senkung des dem Dorfe zuführenden Pfades.

„Sanni! Sannerl!“ fuhr Karli auf; aber das Mädchen hatte schon einen zu weiten Vorsprung gewonnen und hörte ihn nicht mehr.

„Karli! Laß das Deandl allein! Was hast denn davon, wann mit ihr laufst? Ihr gehst im Weg um, und Dir kann’s nix nutzen.“

„Daß Du s’ aber auch g’rad daheroben hast finden müssen!“

„Mein, a Stund’ kann’s her sein, da hab’ ich Dich über d’ Felder daherspazieren sehen –“

„A Zufall! A ganzer Zufall!“

„Natürlich – a Zufall!“ lächelte Götz. „Geh weiter! Wirst Dich doch vor mir net hinter d’ Latten stellen wollen? In die zehn Jahr’, wo ich auf Dei’m Vatern sei’m Hof bin, hab’ ich Dich ausg’lernt. Hab’ ja schier selber aus Dir g’macht, was bist. Und im Uebrigen – ’was wär’ denn da dabei, daß net sagen därfest, wie ’s steht. D’ Sanni g’fallt mir selber. Das giebt amal a Pointnerbäuerin, wie s’ Dir Dein bester Freund net richtiger wünschen kann. Ehnder möcht’ ich Dich schelten, daß Dich net besser ’tummelt hast. Denn was Dir z’erst ganz leicht worden wär’, könnt’ Dir von heut’ an a Bißl schwerer werden.“

„Aber is denn auch wahr? Ich will’s ja schier net glauben! Is er denn wirklich ’kommen?“

„No freilich! Ich hab’ ihn ja selber g’sehen – aber ich hab’s doch dem Deandl net so g’rad ’raus sagen können!“

„Na, was so ei’m Menschen jetzt auf amal einfallt! Daherz’kommen! Meinetwegen hätt’ er lang bleiben können, wo er g’wesen is.“

„Er hat auch die Stund’, seit er da is, ’s ganze Ort schon rebellisch g’macht. ‚Der Bygotter, der Bygotter, Jesses, der Bygotter is wieder da!‘ so kannst es schreien hören Straß’ auf und Straß’ ab. Und die Leut’, wo ihn früher ’kennt haben, können sich net g’nug verwundern über sein Ausschauen. No, ich für mein’ Theil hab’ ihn nie net ’kennt! Aber wie er jetzt ausschaut, g’fallt er mir gar net b’sonders. Er hat so ganz ’was G’spaßigs in die Augen – und –“

„Was soll denn das heißen?“ frug Karli, mit heller Unruhe in Worten und Blicken. „Han? Was willst denn da damit sagen?“

„Ja mein, sagen laßt sich so ’was schwer, so was kann man bloß sehen! Aber denken thu ich mir schier: das arme Deandl wird’s bei ihm net gar zum besten haben – und Dein’ Liebssach’ könnt’ a harbe Seiten kriegen. Viel b’sondere Reichthümer muß er net mit’bracht haben aus Amerika. Aber viel b’sondere Frömmigkeit! Ja – a ganz a b’sondere Frömmigkeit! Reden wann ihn hörst, da meinst ja g’rad, es redt a Jud’ vom alten Testament. Aber jeh – da schau –“ und mit der Pfeifenspitze deutete Götz durch die Bäume gegen den westlichen Himmel, „es zieht ja schon völlig schwarz über d’ Leithen ’rein. Das giebt noch ’was, heut’ auf’n Abend – was Ordentlichs! Geh’, schaun wir, daß wir heimkommen. Wann so ’was losgeht, is mir’s lieber unter Dach und Fach’.“

Mit nickendem Kopfe schritt der Knecht dem sandigen Pfade zu, und Karli folgte ihm schweigend, die unmuthigen Blicke nachdenklich zur Erde gesenkt.


(Fortsetzung folgt.)




[553]

Botaniker in der Sennhütte.
Nach dem Oelgemälde von Albert Müller-Lingke.

[554]

Zurück aus den Großstädten aufs Land!

Ein Beitrag zur Wohnungsfrage.
Von Dr. jur. Karl Böhmert.

„– Selig muß ich ihn preisen,
Der in der Stille der ländlichen Flur,
Fern von des Lebens verworrenen Kreisen,
Kindlich liegt an der Brust der Natur.“

 („Braut von Messina“.)

„Stadtluft macht frei!“ So galt’s im Reich zu Zeiten des Mittelalters, und manches geplagte Bäuerlein entlief seinem gestrengen Herrn, um innerhalb der schützenden Stadtmauern vielleicht ein ehrbarer, behäbiger Bürger zu werden. Heut zu Tage sitzt der Bauersmann auf seiner Scholle; Leibeigenschaft und Frondienst haben aufgehört, und in der Kleinstadt wie auf dem platten Lande ist der Druck der Vögte und Gutsherren verschwunden. Wenn früher das platte Land die Stätte der Rohheit und Unwissenheit war und ein strebendes, wissensdurstiges Gemüth nur in der Stadt Anregung, Belehrung und Fortkommen finden konnte, so genießt heute das Bauernkind dieselbe Schulbildung wie der Sohn des gewöhnliche Städters; mit Hilfe der vervollkommneten Verkehrsmittel gelangen neue Menschen, neue Sitten, gelangt Anregung und Abwechslung auch in die abgelegensten Dörfer, und im kleinsten Neste werden die neuesten Zeitungen gelesen. Aber der Zug nach der Stadt hat nur einen noch größeren, ungeahnten Umfang angenommen. Jetzt heißt es „Stadtluft bringt Glück und Reichthum, bringt Vergnügen und Genuß,“ und die Söhne und Töchter des platten Landes verlassen ihre alte Heimath, um sie mit den Städten zu vertauschen. Da wächst denn ein Stockwerk über das andere; Straße legt sich an Straße; die Städte dehnen sich in die Breite und Länge, und in diesen Häusermassen birgt sich gar bald auch all die Noth und das Elend, das Laster und die Schande der Großstadt. Und auf das erste Hunderttausend der Stadtbewohner folgt bald das zweite, das dritte. Berlin ist seit 1816 bis 1885 von 197 000 auf eine Seelenzahl von 1 315 287 angewachsen, Paris in der Zeit von 1850 bis 1886 von einer Million auf 2 344 500, London im Laufe dieses Jahrhunderts bis zur Zählung von 1881von einer Million auf 3 816 483 und mit dem Außenring auf 4 788 774 Einwohner angeschwollen und zählt augenblicklich mehr als 5 Millionen Einwohner. In Amerika ist das Wachsthum der Städte noch weit außerordentlicher. So zählt Chicago jetzt eine halbe Million Einwohner und hatte deren vor einem halben Jahrhundert 70.

Die Statistik hat diesen Zug unserer Zeit, der sich in allen Kulturländern wiederfindet, mit Aufmerksamkeit verfolgt.

Von besonderem Interesse dürften die Zahlen sein, welche die Vertheilung des Bevölkerungszuwachses auf Großstädte, auf die übrigen Städte und auf das platte Land veranschaulichen. Für die in Betreff der Volkszunahme besonders denkwürdige Periode von 1871 bis 1875, in welcher die Bevölkerung Deutschlands am meisten gewachsen ist, ergab sich, daß im deutschen Reich die Bevölkerung in den Gemeinden über 100 000 Einwohner um 14,80% gestiegen war, in denen von 20 000 bis 100 000 um 12,11%, in denen von 5000 bis 20 000 um 10,74%, von 2000 bis 5000 um und 5,59% und in denen unter 2000 nur um 0,79%, das heißt: bei dem Anwachsen unserer Bevölkerung sind hauptsächlich die Gemeinden über 2000 Einwohner betheiligt, während auf dem platten Lande die Zunahme eine verschwindende ist; ja noch mehr: in manchen Gegenden unseres Vaterlandes war die Landbevölkerung um 1849 zahlreicher als augenblicklich, in Frankreich hat etwa ⅓ der ländlichen Departements die Bevölkerungsziffer, wie sie vor 30 Jahren war, noch nicht wieder erreicht.

Dieser Stillstand, ja theilweise Rückgang der ländlichen Bevölkerung erklärt sich nun freilich zur Hauptsache daraus, daß die Landwirthschaft selber nur einer beschränkte Zahl von Menschen Beschäftigung, Unterhalt und Fortkommen gewähren kann, daß also, da die Nachkommenschaft der Landbewohner fortwährend diese beschränkte Zahl übersteigt, ein Theil immer zum Verlassen der Heimath sich gezwungen sieht. Diese Leute wandern nun einestheils ganz aus, anderntheils aber strömen sie nach den Städten als den Mittelpunkten des Handels und Gewerbefleißes und bilden so den Hauptfaktor ihres Anschwellens. Es ist dies ein mit Nothwendigkeit sich vollziehender, in unsern wirthschaftlichen und Bevölkerungsverhältnissen begründeter Vorgang, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verschwinden, so nur noch allgemeiner werden wird, falls die Maschine auch auf landwirthschaftlichem Gebiete die Menschenhände entbehrlicher macht, oder, was Gott verhüten möge, der Großgrundbesitz , etwa nach englischem Muster, zunehmen würde.

Wir müssen mit dem Anschwellen der Städte als etwas Gegebenem, Naturgemäßem rechnen und, wenn uns beim Anblick der enormen Einwohnerzahlen unserer Großstädte etwa ein ängstliches Gefühl ihrer Ueberfüllung beschleichen will, daran denken, daß unsere Enkel vielleicht verdoppelten Zahlen sich gegenüber sehen werden. Man wird in absehbarer Zeit auf einen Stillstand unserer Städte-Entwickelung, etwa gar auf ein massenhaftes Zurückströmen der Menschen in die Kleinstädte und auf das platte Land nicht rechnen können es wird vielmehr das Ziel jeder einsichtigen Stadtverwaltung sein, die günstigsten Bedingungen für die Aufnahme noch größerer Menschenmassen zu schaffen. Dazu gehört vor Allem das Anspornen der Bauthätigkeit, wenn nöthig selbst die Anlage von Stadtkapitalien in dieser gewiß nicht verlustbringenden Richtung. Der schwerste Vorwurf gegen die Großstädte würde schwinden, wenn sich die Wohnungsnot in ihnen allenthalben beseitigen ließe, wenn der Mangel an Wohnungen nicht die Menschen zwänge, so dicht neben und über einander zu wohnen, sich gegenseitig Luft und Licht wegzunehmen. Dann gilt es weiter, die Straßen und Plätze zu verbreitern und zu vermehren, alte, düstere und winklige Quartiere niederzureißen, die Städte gleichsam zu lichten und sie mehr in die Breite wachsen zu lassen. Endlich sollten schon im Voraus die Straßen bestimmt werden, von wo künftige Stadtbahnen den Verkehr der Großstädter unter einander erleichtern und sie schneller ins Freie führen können.

Verfasser dieser Zeilen ist nun aber keineswegs der Ansicht, daß der ständige Aufenthalt selbst in der wohlgebautesten Großstadt dem Landleben vorzuziehen sei, daß gar der Menschenzuzug vom Lande angefeuert und unterstützt werden müsse; auch er ist ein warmer Freund des Rufes „Zurück aufs Land!“, den man in der Jetztzeit so oft erschallen hört. Er will im Folgenden versuchen, die Grenzen zu bezeichnen, in denen die Mahnung ausführbar ist, und die Mittel anzugeben ihr nachzukommen. Das Lob des Landlebens, wie es sich seit den Zeiten eines Horaz durch die Dichtung hindurchzieht, das Lob der Landstadt, deren Verehrer schon spärlicher zu finden sein dürften, soll an dieser Stelle nicht in gewohnter Weise angestimmt werden. Einige von der Erfahrung bestätigte Thatsachen mögen reden.

Der Mensch lebt auf dem Lande länger, natürlicher, ruhiger und zufriedener als in der Stadt. Aber besonders eins läßt dem Großstädter den Landaufenthalt so begehrenswerth erscheinen, scheucht den Philister aus der dumpfigen Bierstube auf und macht den Bewohner der hohen Miethwohnung sehnsüchtig in die Ferne blicken: die Sorge um die Gesundheit, und sei sie es auch nur in ihrer leichteste Form, dem Bedürfniß nach ruhiger Erholung, fernab von des Lebens verworrenen Kreisen. Der Reiche findet diese Erholung auf seinen Landsitzen, der Bemittelte nennt die Großstadt im Sommer ausgestorben, da er nicht seines Gleichen sieht, und flieht ins Bad, selbst in weniger vermögende Kreise unserer Großstädte ist allmählich die Gewohnheit eines jährlichen Landaufenthaltes eingedrungen, und sie finden in billigen, anspruchslosen Dörfern und abgelegenen Landstädten bescheidene Unterkunft, auch mehren sich die Fälle, wo Arbeitgeber die Forderung „Ferien den Arbeitern!“ für ihre Industrie als berechtigt anerkennen und eine wirkliche Erholung dadurch ermöglichen, daß sie ihren Arbeitern auch während der arbeitsfreien Tage den vollen Lohn auszahlen. Mancher Arbeiter stammt ja vom Lande, wird von den Verwandten und Bekannten des Heimathsdorfes gern aufgenommen und lernt erst jetzt die Liebe für das Landleben, [555] das er unter dem Geräusch der Maschinen vergessen hatte. In dieser Weise verwirklicht ein großer Theil der Großstädter wenigstens für einige Wochen die Forderung „Zurück aufs Land!“. Das Land empfängt von dem Kapital der Großstadt, und diese sieht dafür erfrischte und gekräftige Leute in ihre Mauern einziehen. Das Land wird diese sich immer mehr verallgemeinernde Gewohnheit des Großstädters fördern, wenn es nicht zu theure Preise berechnet, und der Staat sie unterstützen, wenn seine Posten und Eisenbahnen den Verkehr erleichtern und billiger machen.

Doch der natürliche Zug nach ruhigem Landleben wird von einer großen Zahl solcher Menschen, die durch Amtspflichten und künstlerische oder gewerbliche Interessen an die Großstadt gebunden sind, in noch viel radikalerer Weise befriedigt. Amphibienartig sind sie theils Stadtbewohner, indem sie in der Stadt ihren täglichen Berufsgeschäften nachgehen, theils Landbewohner, indem sie ihr Heim in der ländlichen Umgebung der Großstadt sich erbaut haben. So legen sich im weiten Kranze Wohnplätze der Städter mit durchaus ländlichem Charakter um die Großstädte. An den schöneren Punkten haben sich Begüterte angesiedelt, und es entstehen dort reizende Villenstädtchen; Gewerbtreibende, Subalternbeamte, kleine Rentiers bilden Baugenossenschaften, wählen sich mit Bedacht ein Plätzchen in gesunder Lage, vielleicht nahe am Walde und nehmen bei der Einrichtung ihrer Wohnhäuser vielleicht noch auf etwaige Sommergäste Rücksicht. Der genossenschaftliche Zusammenhalt sichert ihnen leicht das nöthige Geld zu billigem Zinsfuße. Gute Bahnverbindung mit der Stadt, schon um der schulpflichtigen Kinder willen, ist mit Hauptbedingung bei derartigen Gründungen.

Auch die großstädtischen Industrie-Arbeiter siedeln sich immer mehr, theils freiwillig, theils gezwungen in umliegenden Dörfern und Landstädten an. In der Morgenfrühe sieht man sie scharenweise in der Großstadt anlangen. Einen großen Theil befördert die Eisenbahn, andere das Dampfschiff, andere die Pferdebahn, mancher kommt auf selbst erbautem oder billig erstandenem Dreirad oder Zweirad vor seiner Fabrik an; viele endlich müssen den stundenlangen Weg zu Fuß zurücklegen. Möchten doch noch öfters die Eisenbahnverwaltungen durch billige Arbeiterzüge diese wohlthätige Entwickelung begünstigen! Möchte man auch beim Bau von Arbeiterwohnungen von der Großstadt etwas seitab gelegene Dörfer mit guter Bahnverbindung mehr in Betracht ziehen, besonders falls dem Arbeiter ein eigenes kleines Haus geschaffen werden soll. Die unmittelbare Nähe der Großstadt mit ihren hohen Bodenpreisen, theuerem Lebensunterhalt und mit der Gelegenheit zu unnöthigen Geldausgaben erschwert dem Arbeiter die Erhaltung des eigenen Hauses und macht insbesondere die Mitarbeit der Hausfrau unentbehrlich.

Mit Nachdrücklichkeit ist weiter oben schon betont worden, daß der Menschenzuzug in die Großstädte theilweise nothwendig ist. Derselbe hat aber in der Neuzeit einen oft krankhaften Charakter angenommen. Viele vertauschen ihre ländliche Heimath nicht aus Mangel an Gelegenheit zu ausreichendem Auskommen mit der Stadt, sondern in der trügerischen Hoffnung, dort müheloser zu Besitz und Genuß gelangen zu können. Die Stadt hat allmählich in der Phantasie der Landbewohner einen glänzenderen Schein angenommen, als sie verdient. So wächst in den Städten das Angebot von Arbeitskräften zu stark; eine oft ungesunde Konkurrenz macht sich geltend, für bescheidene Posten melden sich dort Hunderte von Bewerbern. Auf dem Lande sehen wir ganz das Gegentheil: wir lesen häufig in den Zeitungen, daß diese Landstadt einen tüchtigen Arzt, jene einen braven Klempner- oder Schornsteinfegermeister dringend in ihre Mauern wünscht; wir hören aus größeren Landsitzen die Klagen über Mangel an Hauslehrern und Wirthschafterinnen; es fehlt an ländlichen Dienstboten, und fremde, oft ausländische Arbeitskräfte müssen zur Bestellung der Felder herbeigezogen werden. Dazu bereitet gerade augenblicklich gemeinnützige Thätigkeit dem Landmann in unserem Vaterlande wieder günstige Aussichten für den Erwerb eines eigenen Herdes. Im Nordwesten werden durch die Moorkultur Tausenden Räume eröffnet, thätig frei zu wohnen; im Nordosten wird der Großgrundbesitz zerschlagen, um eine gesunde deutsche Bauernschaft herzustellen. Warum nicht lieber dorthin, als in die Großstadt oder gar übers Meer. Freilich wird es langer Zeit und ernster Arbeit bedürfen, und viele Faktoren müssen zusammenwirken, um die Vertheilung des Bevölkerungszuwachses auf Stadt und Land befriedigend zu regeln. Es muß die Vorliebe für das Landleben in vielen Kreisen unseres Volkes wieder geweckt werden; es gilt, sie in den Schulen zu pflegen; in der Presse, auch der ländlichen, muß sie immer eifrigere Fürsprecher finden; die Hygiene muß den Sinn für reine, frische, gute Luft in unserem Volke immer mehr wachrufen; die städtische Stellenvermittelung muß sich mit ihrer ländlichen Schwester in innigere, planvollere Verbindung setzen; die Erziehung unserer wandernden Gesellen zur Landarbeit, die wichtige Aufgabe unserer Arbeiterkolonien, muß einen noch größern Umfang annehmen, und es wird dann endlich die Zeit immer mehr die Täuschung des Landbewohners über so viele vermeintliche Vorzüge unserer Großstädte beseitigen.

Zum Schluß mag auf die große Einbuße an Lebensfreude und Lebensfrische hingewiesen werden, welche das Großstadtleben für unsere Kinder und unsere heranwachsende Jugend bedeutet. Der Trieb, in der freien Natur herumzuschweifen, über Berg und Thal zu streichen, sich auszulaufen und in Wiese und Wald auszutoben, ist so recht eine Mitgabe unserer jüngeren Jahre. Und da steckt nun so ein kleiner lebendiger Knirps zwischen den hohen Häusern; auf den Straßen darf er nicht herumtollen; die Stadtanlagen stehen unter dem Schutze des Publikums und dies hat sich gegen die kleinen Störenfriede verbündet; die Promenaden vor der Stadt haben die Erwachsenen für sich in Beschlag genommen und allzuweit darf der Junge sich nicht entfernen. So bleibt ihm oft nur der enge Hof für seine kindlichen Spiele, sein Jagen und Springen. Man erzählt sich von Großstadtkindern, die noch nie ein Kornfeld gesehen haben. Das Gewissen unserer Großstädte ist indessen in dieser Beziehung schon erwacht. Grade jetzt ist die Zeit, wo edle Gemeinnützigkeit Tausende von schwächlichen Stadtkindern in ländliche Ferienkolonien sendet. Städter und befreundete Landbewohner pflegen jetzt häufiger ihre Kinder für längere Zeit gegenseitig auszutauschen; die Stadtverwaltung bringt ihre unglücklichsten Pfleglinge, die verwaisten und verwahrlosten Kinder mit Vorliebe bei wackeren Bauernfamilien unter, statt sie in städtische Waisenanstalten zu stecken. Dem Verfasser dieser Zeiten ist einmal die Stiftung einer Dorfschule zu Gesicht gekommen, nach deren Satzungen die Dorfkinder einmal jährlich in die nahe Großstadt geführt werden sollen; wahrlich, unsern armen Stadtschülern thut es mehr noth, daß ihnen regelmäßige Ausflüge aufs Land durch Stiftungen ermöglicht werden!


Kleine Bilder aus der Gegenwart.

Der Fang der Eintagsfliege.

Wer in der ersten Hälfte des Monats August die Elbufer der Sächsischen Schweiz und des romantischen Böhmens besucht und Abends, von der Wanderung ausruhend, vor der Thür eines Wirthshauses seinen Schoppen Landwein trinkt, kann Zuschauer eines überraschenden Schauspiels werden. Da flammen längs des Stromes, wechselnd am rechten und linken Ufer, in geringen Abständen von einander zahlreiche Feuer auf, soweit wir unsere Blicke schweifen lassen. Unwillkürlich denken wir an eine großartige Illumination oder an Freudenfeuer zu Ehren irgend eines Ereignisses – bis wir belehrt werden, daß es sich um den sogenannten Weißwurmfang handele, um das Einheimsen der Eintagsfliegen oder Hafte zum Gebrauch als Vogelfutter u. dergl.

In der Ordnung der Insekten, welche die Geradflügler oder Kaukerfe (Orthoptera) umfaßt, bilden die Eintagsfliegen oder Hafte (Ephemeridae) eine Familie. Sie sind zarte, weichhäutige, schlanke Thiere mit vier netzadrigen Flügeln, deren hintere kleiner sind und bei einer Gattung (Eloë) fehlen, mit verkümmerten Mundtheilen, borstenähnlichen Fühlern und langen Schwanzborsten; der Körper ist weich, lang und dünn. Die Larve, welche zwei bis drei Jahre im Wasser lebt, sehr gefräßig ist und sich gewöhnlich in einer in die Uferwand gegrabenen Doppelröhre aufhält, kriecht dann auf einem Halm empor und das ausschlüpfende, vollkommene Insekt unterscheidet sich von allen Verwandten dadurch, daß es sich nochmals häutet. Den Vorgang der letzten Häutung des Uferhafts sehen wir, und zwar an einem Weibchen, rechts oben auf unsrer Abbildung dargestellt. Unten rechts erblicken wir die Haut selbst; links oben flattert ein Haftmännchen, während im Wasser Larven von Ephemera vulgata sichtbar sind. – Wo die Eintagsfliegen massenhaft aus dem Wasser [556] hervorkommen, kleben ihre leeren Häute überall an Steinen, Gesträuch und selbst an den Kleidern der Menschen fest, und davon mag das Kerbthier wohl den Namen Haft tragen. Die Bezeichnung Eintagsfliege finden wir bereits im Alterthum, und schon Aristoteles wußte, daß das entwickelte Insekt nur kurze Frist zu leben hat. Die Schwärme schweben oberhalb des Wassers hin und her. Etwa einen oder zwei Tage, sogleich nach stattgehabter Paarung lassen die Weibchen ihre gelben, länglichen Eier ins Wasser fallen und dann, nach vollbrachtem Lebenszweck, sterben sie, ohne Nahrung zu sich zu nehmen.

Eine unserer Abbildungen stellt den Fang der Hafte dar. Nach altherkömmlicher Gewohnheit, ohne Streit und Zank, nehmen die Leute familienweise von je einer Stelle am Ufer Besitz, errichten einen etwa 3 Meter großen viereckigen Herd, unmittelbar am Wasser und ein wenig in den Strom hinein, bauen in der Mitte eine kleine Feuerstelle auf und legen auf diese ein altes Drahtgeflecht. Darauf stellen sie einen weiten, irdenen Topf ohne Boden und entzünden in diesem Kienholz. Bald umschwärmen die Hafte jedes Feuer förmlich wie Schneeflocken zu Millionen, fallen mit versengten Flügeln auf ringsum ausgebreitete Sackleinwand nieder, werden zusammengekehrt und in Körbe geschüttet. So währt der Fang etwa von 8 Uhr bis 10 Uhr Abends und je nach der wärmern oder kühlern Witterung ist er mehr oder minder erfolgreich. Die an der Luft getrockneten, durch Schütteln und Abblasen von den Flügeln befreiten Hafte werden nun als Weißwurm in den Handel gebracht. Mein Gewährsmann, Herr Buchhalter F. Zwiflhofer in Prag, giebt an, daß die Leute dabei 10 bis 12 Gulden allabendlich und in den 14 Tagen dieser Ernte im Ganzen 120 bis 140 Gulden ohne Sorgen, Kosten und bei geringer Arbeit erwerben. Hier handelt es sich um die eigentliche Eintagsfliege oder das gemeine Haft (Ephemera vulgata, L.). In vielen anderen Gegenden, an der Elbe, Moldau, Theiß u. a. kommt nicht nur diese, sondern auch die nächstverwandte Art, die langschwänzige Eintagsfiiege (Palingenia longicauda, Oliv.), auch Theißblüthe genannt, in ungeheuren Massen vor. Namentlich die letztere zieht in dichten Schwärmen bis zur Höhe von 16 Meter langsam stromaufwärts und wird zuweilen in ganzen Wagenladungen als Dünger auf den Acker gebracht. Die Bewohner jener Gegenden können darum nicht dringend genug zur bestmöglichen Ausnutzung dieses werthvollen Materials angeregt werden.

Weißwurmfang an den Ufern der Elbe.
Originalzeichnung von E. Schmidt.

Bis vor Kurzem hatten wir nur zwei, gegenwärtig aber stehen uns drei hochwichtige Nahrungsmittel für kerbthierfressende Stubenvögel, also für unsere herrlichsten Sänger, zu Gebote: Ameisenpuppen, Mehlwurm und Weißwurm. Es bedarf wohl kaum des Hinweises darauf, daß wir auf die Ameisenpuppen, obwohl sie bis jetzt als geradezu unentbehrlich für die Vögel gelten, binnen verhältnißmäßig kurzer Frist werden völlig verzichten müssen, weil nämlich die Ameise an sich von höchster Wichtigkeit für die Erhaltung der Wälder ist und daher das Sammeln ihrer Puppen, beziehentlich das Zerstören der Ameisenhaufen bereits hier und da, namentlich in Preußen, verboten worden ist. Mehlwurmsfütterung ist für die Stubenvögel immerhin nur bedingungsweise zuträglich und dieser leckere Nahrungsstoff kann keineswegs in allen Fällen Verwendung finden; für gewisse, sehr zarte Vögel wird er sogar nur zu leicht verderblich. Unter allen Umständen allein als ein immer gedeihliches, überaus werthvolles und zweifellos zukunftsreiches Futtermittel dürfen wir daher nur den Weißwurm ansehen. Selbstverständlich müssen wir bei ihm, wie bei jedem Futterstoff für die Vögel überhaupt, die Anforderung stellen, daß er im allerbesten Zustand sei. Zunächst prüfen wir ihn auf Aussehen und Geruch. Er muß in gleichmäßig graugelbem, grobem Schrot bestehen, welches keinerlei fremde Beimischungen, wie Steinchen, Sand, Spreu, Thon-, Erd- oder gar Teigstücke, enthält. Der Geruch darf nicht faul, sauer oder scharf sein. Weißwurmmasse, welche feucht, schmierig, angeschimmelt ist, stockig oder dumpf riecht, ist vom Einkauf auszuschließen. Im guten Zustand ist der Weißwurm für zahlreiche Futtergemische zu verwenden, deren Vorschrift ich in meinem „Lehrbuch der Stubenvogelpflege, -Abrichtung und -Zucht“ gegeben habe.

Auf Grund meiner Erfahrungen im Laufe von Jahrzehnten kann ich mit Entschiedenheit behaupten, daß der Weißwurm ein naturgemäßes und gesundes Futter für alle Vögel ist, daß er von Kerbthierfressern und Körnerfressern, allen Edelsängern, Finkenvögeln, Papageien u. A. m. selber und zur Aufzucht ihrer Jungen gern verzehrt wird, sobald man ihn in den entsprechenden Gemischen darbietet und die Vögel allmählich an diese gewöhnt. Ferner kommt in Betracht, daß bei zweckmäßiger Ausbeutung des Weißwurms ein billigeres Vogelfutter als jedes andere geboten werden kann, und daß er auch noch nach zwei anderen Richtungen hin bedeutsamen Werth erlangen könnte und zwar in Folgendem. Es giebt keinen anderen Nahrungsstoff, der einen vollen und zugleich gesundheitszuträglichen Ersatz für die Ameisenpuppen zur Aufzucht von kalifornischen Wachteln, allerlei Fasanen und anderen kostbaren und edeln Hühnervögeln gewähren könnte, wie eben der Weißwurm. Schließlich ist derselbe entschieden als die vortrefflichste Fütterung für junge Fische anzusehen, und von der Aufzucht der Großflosser oder Makropoden im Zimmer-Aquarium bis zu der kostbarster Edelfische giebt es nach meiner Meinung kein vortheilhafteres Futter.

Weißwurm, Eintagsfliege (natürliche Größe).
Originalzeichnung von E. Schmidt.

Die Leser wollen es mir nicht verargen, wenn ich angesichts der hohen Wichtigkeit dieses Nahrungsmittels für unsere Vögel u. A. m. die Hauptbedingungen für die erfolgreichste Gewinnung und Verwerthung desselben anfüge. An der Theiß in Ungarn, wo die Eintagsfliegen am massenhaftesten auftreten, sollte der Fang in möglichst großartiger Weise betrieben werden, denn nach meiner festen Ueberzeugung könnten auch die größten Massen dieses Futtermittels entsprechende Verwendung finden. Hauptsache wäre es dabei freilich, daß einerseits die Zubereitung sachverständig und sorgfältig ausgeführt würde, und daß sich andererseits die Pfleger und Züchter von allerlei Stubenvögeln eben so wie die des kostbarsten Geflügels und nicht minder die Fischzüchter der Ausbeutung des bedeutsamen Nahrungsstoffs mit Eifer und Verständniß zuwenden möchten. Selbstverständlich müßte die Möglichkeit jeder etwaigen Verfälschung durchaus ferngehalten werden; das Trocknen, die Verpackung und Versendung müßte in der Hand kenntnißreicher und zuverlässiger Leute liegen. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, kann sich die Eintagsfliegenernte zweifellos als eine Goldquelle für weite Landstriche ergeben. Dr. Karl Ruß.     


[557]

Magdalena.

Von Arnold Kasten.
(Fortsetzung.)

Die Wirkung der Worte Felsing’s war eine unbeschreibliche. Der Graf war zusammengeschreckt wie vom Blitz getroffen. Er ließ die Waffe fallen, streckte beide Hände wie abwehrend oder einen Stützpunkt suchend vor sich in die Luft, schwankte und stürzte jäh zu Boden.

Laut weinend eilten Gabriele und Hans auf den Vater zu, während der Doktor ihn aufzurichten suchte.

Aber auch auf einen zweiten Anwesenden hatten die Worte Felsing’s wie ein Blitz gewirkt, der plötzlich, die Augen blendend, niederfährt. Emil stand todtenbleich, er war keines Wortes mächtig und starrte bald den am Boden liegenden Grafen, bald Felsing an, dessen Augen Flammen sprühten, während sein Gesicht erdfahl aussah und die Lippen unheimlich zuckten. So blieben Beide einige Minuten unbeweglich, während Richard rasch und energisch im Nebengemach den leblosen Körper der Gräfin aufheben und durch die herbeieilende Dienerschaft nach der andern Seite in ihr Zimmer tragen ließ, ohne daß Gabriele und Hans, die angstvoll um den Vater beschäftigt waren, auch nur ahnten, was nebenan vorging. Eben trat er zur Thür wieder heraus, als die erste leise Bewegung über die Züge des Grafen ging und er tief seufzend den Kopf etwas zur Seite neigte. Jetzt löste sich die Erstarrung, die bisher auf Emil gelegen; er trat rasch vor, knieete neben dem Grafen nieder und suchte die Hand des Mannes zu fassen, für den er ein grenzenloses Mitleid im Herzen fühlte. Aber eine andere Hand griff hart an seine Schulter und suchte ihn emporzureißen.

„Zurück!“ tönte ihm Felsing’s heisere Stimme ins Ohr, „Du hast mit diesem Menschen Nichts zu schaffen, der Dich einst verstoßen und verlassen –“

„Kommen Sie zu sich, Herr Konsul,“ sagte jetzt Richard unwillig mit starker Betonung. „Was Sie auch zu sagen haben, hier ist nicht der Ort dazu. Treten Sie zurück und ersparen Sie ihm Ihren Anblick im ersten Moment. Sie sehen ja – er ist wehrlos!“

Die jungen Männer hoben den Grafen auf einen Sessel, und Gabriele bemühte sich, unter tausend Liebkosungen, ihn zum Leben zurückzurufen. Endlich öffneten sich seine Augen, und ihr erster, starrer Blick fiel auf Emil’s Gesicht. Allmählich kehrte dann die Erinnerung zurück und der Graf flüsterte scheu vor sich: „Mein Sohn – wirklich mein Sohn?“

Aber plötzlich sprang er auf, wie von einem Schuß emporgeschreckt, und sah sich wild um:

„Ist sie todt? Wo habt Ihr sie hingetragen?“

Er stürzte durch die Thür ins Nebenzimmer – es war leer. Vom Gange her trat eben der Haushofmeister ein, er kam aus den Zimmern der Gräfin zurück.

„Ist sie todt?“ schrie ihn sein Herr an.

„Ich habe nach dem Arzt geschickt,“ sagte der Mann betreten, „ich weiß nicht –“

Aber schon war der Graf an ihm vorbei. Schwankend und taumelnd schleppte er sich an den Wänden hin, im nächsten Moment eingeholt und unterstützt von Gabriele und Richard, welchen Hans und die Diener nachfolgten.

Im Arbeitszimmer des Grafen war es todtenstill geworden. Die zwei zurückgebliebenen Männer standen und sahen sich schweigend in die Augen. Endlich griff Felsing nach seinem Hut und sagte rauh zu Emil:

„Komm! Ueberlaß den Bankerotteur seinem Schicksal, der von Deiner Geburt bis auf den heutigen Tag keinen Gedanken für Dich hatte. Komm!“

Allein Emil blieb stehen. „Ich kann nicht so von hier gehen, Vater,“ sagte er aus schwerem inneren Kampfe heraus; „ich muß erst Klarheit haben über mein Verhältniß, zu diesem Manne und zu Dir, ehe ich weiß, was meine Pflicht ist. Sage mir Alles!“ fügte er stehend hinzu.

Felsing zögerte mit der Antwort, dann, als er den entschlossenen Widerstand in Emil’s Augen las, zischte er leise zwischen den Zähnen heraus:

„Du bist der Sohn eines armen braven Mädchens, das der hochadelige Herr bethörte und verließ, wie das so aristokratischer Brauch ist. Ich aber, der die Arme in ihrer Verzweiflung sah, der vergebens versuchte, dem vornehmen Sünder das Gewissen zu rühren, ich nahm Dich nach ihrem Tode, und jeder Blick in Dein Kindergesicht war mir eine Mahnung zur Rache an Magdalenens Mörder!“

„Mäßige Dich, Vater,“ bat der junge Mann.

„Ich bin eiskalt,“ versetzte dieser. „Wer fünfundzwanzig Jahre Zeit zur Abkühlung hatte, der deklamirt nicht mehr, wenn er von seinen Vorsätzen spricht!“

„Und es ist also doch so, wie ich ahnte,“ rief Emil; „Du hast den Ruin des Grafen gewünscht und herbeigeführt!“

„Das Beste dazu hat er selbst gethan,“ versetzte Felsing mit seinem unheimlichen Lächeln, „es brauchte schließlich keine große Anstrengung, um den Knoten zusammenzuziehen. Aber,“ fuhr er leidenschaftlicher fort, „auch wenn er klüger gewesen wäre, es hätte ihm nichts geholfen! Auf seinen Fersen war Einer, der nicht mehr von ihm abließ! Jahrelang war der Gedanke an die künftige Rache mein einziges Labsal, er hielt mich aufrecht, wenn mir der Muth sinken wollte; er ließ mich Alles überwinden, was Andern unüberwindlich scheint. Geld, Bildung, Ansehen – ich erwarb mir Eines um das Andere, ich mußte es erwerben, um ihm nahe kommen zu können, um den Eintritt in seine Kreise zu erzwingen. – Ich habe sie dabei kennen gelernt, diese hohlköpfigen Aristokraten, die vor dem gemeinen Mann kriechen, wenn sie Geld von ihm wollen, ich verachte sie Alle, am meisten aber diesen elenden Weichling, der nicht einmal den Muth seiner Schlechtigkeit hat … All ihre falsche Freundlichkeit vergalt ich mit gleicher Münze und ließ dabei keinen Augenblick mein Ziel außer Augen. Heute habe ich es erreicht,“ fuhr er in wildem Triumphe fort, „er ist ruinirt, und er hat Dich gesehen, nicht als schmutzigen Betteljungen, sondern groß und schön, wie Du bist – nun soll er es erleben, wie’s thut, wenn ein solcher Sohn sich voll Verachtung von dem Vater abwendet, der ihn fünfundzwanzig Jahre lang verleugnet hat. Komm!“

„Ich – kann nicht, Vater,“ stieß Emil heraus, indem er seine Hand von dem umklammernden Griff befreite, „kann es nicht so, wie Du willst. Mißverstehe mich nicht,“ rief er angstvoll, als er die unendliche Bitterkeit sah, die sich über Felsing’s Züge lagerte, „Du bleibst mir immer, was Du bis heute warst –“

„Ich verstehe,“ höhnte Felsing und griff wieder nach seinem Hut. „Ewige Dankbarkeit und so weiter! Und dabei Uebergang ins aristokratische Lager! Das Blut, das Blut! Ich hätte das Blut bedenken sollen. Nun, ich kann allein gehen!“

„Du thust mir bitter Unrecht!“ rief der junge Mann empört. „Niemals kann der Graf in meinem Herzen die Stelle eines wirklichen Vaters einnehmen und Dein Haus wird das meinige sein, so lange Du mich nicht aus demselben weisest. Aber laß mich noch eine Viertelstunde hier – ich muß den Unglücklichen noch sehen und sprechen, er flößt mir trotz Allem ein tiefes Mitleid ein – ich kann nicht grausam und unbarmherzig gegen ihn handeln!“

„Und er konnte es doch so gut gegen Dich, Du weichmüthiger Thor! – Mache was Du willst,“ fuhr Felsiug in steigender Erbitterung fort, „vergiß mich und denke nur daran, wie Du ihm die wohlverdiente Züchtigung ersparst; Du hast wahrlich alle Ursache dazu. Ich aber gehe jetzt, ich habe genug an der Luft in diesem edeln Hause, und vielleicht möchtest Du auch nicht gerne zusehen, wie der Herr Graf zum zweiten Mal die Pistole auf mich anlegt …“

Er sah auf Emil, der die Augen abwandte, und ein Krampf des grimmigsten Schmerzes verzog sein dunkles Gesicht. Noch einen Augenblick blieb er wartend stehen, als aber der junge Mann plötzlich aufstand und nach dem Korridor horchte, woher ein fernes Stimmengewirr schallte, da wandte [558] er sich ab und schritt lautlos über die Schmelle und die Treppe hinunter.

„Ich habe ihn verloren!“ murmelte er drunten im Weitergehen vor sich hin. „Thor, der ich war, das nicht vorauszusehen, blinder Thor! Das ist nun unsere Rache, Magdalena! …“




11.

Wenn im Norden die ersten Herbststürme durch die sonnenlose Luft toben und kalte Regengüsse als Vorboten des Winters die öden Straßen fegen, dann lächeln dem schönen Landstrich der Riviera di Ponente noch köstliche, goldene Tage.

Weithin gedehnt zieht sich der wundervolle Küstensaum mit seinen Dörfern und Städtchen, den malerischen Felsennestern auf steilem Absturz und den prächtigen Villen, deren Gärten das tiefblaue Meer bespült.

Ueber dem Citronen- und Orangendickicht dieser Gärten heben Palmen Cypressen und Pinien die Häupter empor; an den Felsen gedeihen Feigen und Trauben in üppiger Fülle, das ganze Land zu einem blühenden Garten wandelnd.

Unter dichtem Grün auf halber Anhöhe in der Nähe von Bordighera steht ein kleines Landhaus mit weißen Wänden von dessen Terrasse man das ewige Spiel der Brandung zwischen den Uferfelsen vor sich sieht, und wo das Auge weiterhin die sonst geschwungenen Linien der Bucht verfolgen kann, bis zu der großen Einheit des Meerhorizontes.

In einem Zimmer dieses Landhauses saß mehrere Monate nach den im vorigen Kapitel geschilderten Ereignissen ein junger Mann, welchen wir trotz seines gebräunten Teints und wild wuchernden Vollbartes unschwer als den Pflegesohn des Konsuls, Emil, erkennen. Sämmtliche Läden des Gemachs waren dicht verschlossen, denn draußen leuchtete die Sonne eines prachtvollen Oktobermorgens schon so warm aus dem klaren, wolkenlosen Blau des italienischen Himmels herunter, daß man ihre Strahlen von dem Eindringen ins Haus abhalten mußte, um sich eine erträgliche Temperatur in demselben zu sichern. Nur die nach der bedeckten, schattigen Terrasse führende Flügelthür war offen geblieben.

Der junge Mann saß vor einem mit Büchern und Papieren aller Art bedeckten Tische und schien eifrig in den letzteren zu lesen.

Plötzlich hob er den Kopf und lauschte.

Dicht vor seinen Fenstern ertönte eine helle Frauenstimme, welche ein deutsches Lied sang. Es war das alte, ewig junge Liebeslied Walter’s von der Vogelweide:

„Unter der Linden, auf der Heide,
Wo ich mit meinem Trauten saß,
Da mögt ihr finden, wie wir Beide
Blumen brachen und das Gras.
Vor dem Wald mit süßem Schall –
      Tanderadei –
Sang im Busch die Nachtigal.“

Wunderbar rein und zart klangen die Töne durch das stille Gemach.

Der junge Mann schien die unsichtbare Sängerin wohl zu kennen, denn ein freundliches Lächeln erhellte, während er lauschte, seine Züge.

Die letzten Töne des Liedes waren noch nicht verhallt, als sich auf der Schwelle der offenen Thür eine auch uns wohlbekannte Erscheinung zeigte: Gabriele Hochberg.

Ein einfacher Strohhut beschattete ihr hübsches Gesicht, aus welchem die blauen Augen noch immer keck und fröhlich herausblitzten.

„Wahrhaftig,“ begann sie, „da sitzt er noch immer, der entsetzliche Bücherwurm, und stöbert in alten Papieren herum, während draußen der herrlichste Morgen heraufgezogen ist und das Meer in den prachtvollsten Farben glänzt! Schau her,“ fuhr sie fort, auf einen Armkorb deutend, den sie auf einen Stuhl niedersetzte – „die herrlichen Orangen! Eine davon sollst Du bekommen – diese rothe nicht – nein – die bekommt Richard!“

„Natürlich, o, das versteht sich ja von selbst,“ lachte Emil, „daß Richard die rothe bekommen muß! Was macht er denn im Augenblick? Mich nimmt Wunder, daß Du Dein Observatorium schon verlassen hast, von welchem aus Du jede seiner Bewegungen beobachtest.“

„Er muß einen interessanten Fang gemacht haben; denn er hat die Barke schon verlassen und sich in sein Strandhäuschen zurückgezogen!“

„Ah so,“ erwiederte Emil mit spöttischem Tone, „deßhalb bist Du auch schon hier! Ohne Richard hat ja der herrliche Morgen und der glänzende Meeresspiegel weiter kein Interesse mehr!“

„Höre, Emil!“ fiel ihm Gabriele in die Rede, weißt Du wohl, daß Du ein recht langweiliger Mensch geworden bist, der den Kopf aus seinen Büchern und Schreibereien nur herausstreckt, um seine arme Schwester mit anzüglichen Redensarten zu quälen? Geh, Du bist ein herzloser Mensch!“

Emil nickte freundlich.

„Spanne Deine Phantasie besser an, Gabi,“ sagte er dann ermunternd, „‚langweiliger, herzloser Mensch‘ befriedigt meinen Ehrgeiz nicht, das sind zu allgemeine Titel. Wenn Du mich wenigstens einen raffinirten Barbaren genannt hättest, wie gestern, als ich Richard zu einem kleinen Spaziergang mit mir allein aufforderte.“

„Ganz recht,“ fiel Gabriele ein, „das bist Du auch, ein heuchlerischer, unschuldig thuender Barbar, der den Frieden zwischen Eheleuten stört und Einem sogar das Bischen Unterhaltung mit dem Fernrohr mißgönnt! Was Anderes bleibt einer armen Frau übrig, deren Mann jeden Morgen, den Gott giebt, an den Strand rennt, um Fische und Quallen und andere See-Ungethüme zu fangen und in einer eigens dazu erbauten Holzhütte stundenlang zu beobachten, während ihr Herr Bruder den ganzen lieben, langen Tag Untersuchungen und Berechnungen über Konsumvereine und Volksküchen, Arbeiterwohnungen und Arbeiterassociationen macht und zwischen hinein zur Abwechselung in alten Briefschaften kramt!“

„Des Weibes Schicksal ist beweinenswerth!“ citirte Emil in tragischem Tone. „Arme Gabriele! Daß Du unglücklich bist, sah ich gleich, als ich ankam, aber von dem wirklichen Umfang dieses Unglücks hatte ich doch noch keine Ahnung … bekommen wir bald etwas zu frühstücken? Es ist unglaublich, wie das Mitgefühl den Appetit schärft!“

Gabriele schüttelte seine versöhnungsuchende Hand energisch ab und fuhr unbeirrt in ihrem Texte fort:

„Früher durft’ ich doch mit Richard auf den Fang fahren, ja, er nahm mich sogar in die geheimnißvolle Holzhütte mit, wo er seine Schätze aufbewahrt und seine Untersuchungen macht. Aber es dauerte nicht lange, so behauptete er, ich sei zu unruhig und ihm fehle, wenn ich um ihn sei, die nöthige Aufmerksamkeit zu seinen Beobachtungen. Ich durfte also nicht mehr mit an den Strand, mußte hier oben bleiben. Was sollt’ ich machen? Der gute Papa muß absolute Ruhe haben, Mama geht nicht von seiner Seite, und wollt’ ich mich mit Dir unterhalten, so hattest Du auch nie Zeit. Ist es da ein Wunder, wenn ich in meiner Verzweiflung auf die Idee kam, mir ein Fernrohr aufstellen zu lassen, mit welchem ich nach Richard’s Station hinuntersehen kann?!“

Sie hielt erschöpft inne.

„Ja,“ lachte Emil. „ein Fernrohr und einen Flaggenstock dazu, um durch das Aufziehen verschiedenartiger Fahnen ihm wichtige Mittheilungen aus der Entfernung machen zu können. Die weiße Flagge zum Beispiel, wenn ich nicht irre, bedeutet: ‚Richard, ich liebe Dich!‘ – die blaue: ‚Richard, ich liebe Dich unaussprechlich!!‘ – die rothe aber: ‚Richard, ich liebe Dich rasend und sehne mich dermaßen nach Dir, daß, wenn Du nicht augenblicklich nach Hause kommst, ein Unglück geschieht!!!‘“

„Abscheulicher Mensch!“ rief Gabriele aus, indem sie auf Emil zusprang, welcher aber geschickt hinter den Tisch retirirte und vor Lachen kaum noch die Worte herausbrachte.

„Ja, ja, Du bist erkannt, Gabi! Die rothe Fahne ist das Nothsignal Deiner Sehnsucht!“

Gabriele nahm, da sie sah, daß sie hier doch nichts ausrichten konnte, plötzlich eine gravitätische Miene an.

„Ich finde es unter meiner Frauenwürde, auf solche Dummheiten zu antworten. Es ist ja doch nur der reinste Neid von Dir, ja, Neid und Eifersucht. Im Uebrigen weißt Du recht wohl, daß die rothe Flagge bedeutet, es sei höchste Zeit, daß er [559] zum Frühstück nach Hause komme. Deßhalb ist sie soeben wieder aufgezogen worden, und ich habe darum auch keine Zeit mehr, Deine albernen Witze anzuhören, weil ich jetzt nach Papa und Mama sehen und dann dafür sorgen muß, daß die unvergleichliche Teresa den Braten nicht wieder anbrennen läßt. Ob Du freilich Etwas davon bekommst, das fragt sich nach Deinen heutigen Schlechtigkeiten noch sehr!“

Sie drehte ihm mit flinken Fingern eine Nase und war im nächsten Augenblicke aus der Thür gesprungen.

Emil sah ihr lächelnd nach.

„Du könntest Recht haben, Schwesterchen“ sagte er leise vor sich hin, „etwas Eifersucht ist vielleicht im Spiel. Aber nein – nein, ich gönne sie ihm, er ist der Einzige, der dieses goldene Herz verdient.“

Dann saß er lange sinnend, in Erinnerung verloren.

Wie war das Alles gekommen, Eines aus dem Andern!

Erst hatte er geglaubt, ein großes Opfer zu bringen, wenn er vor des Freundes Liebe zurücktrat und sich über dessen Glück zu freuen suchte. Der Entschluß war ihm wahrlich nicht leicht geworden, denn die blauen Augen hatten ihm doch tief ins Herz gestrahlt. Dennoch hatte er sich keinen Augenblick ein neidisches Gefühl gestattet. Dann aber waren jene stillen Seelenschmerzen untergegangen in der fürchterlichen Katastrophe, die unmittelbar darauf folgte und andere Opfer, andere Qualen wie mit Flammenschein beleuchtete.

Welcher unglückseligen Verkettung von Umständen war übrigens auch jene Katastrophe entsprungen! In dem Augenblicke, als die Gräfin, erschöpft von den Anstrengungen und Erschütterungen des Tages, ihrem Manne frohen Herzens das verhängnißvolle Papier und die sichere Aussicht auf Rettung bringen wollte, gerade in diesem Augenblicke hatte ihr Breda die Nachricht von der unhaltbaren Lage, von der Flucht ihres Erstgeborenen übermitteln müssen! Das war über ihre Kräfte gegangen. Die Verzweiflung hatte sie erfaßt. Mit einer Ohnmacht ringend, war sie in das Zimmer des Grafen gegangen, um diesem nur schnell das Papier zu übergeben, dann, kaum mehr ihrer Sinne mächtig, in das Nebenzimmer geflüchtet, um Zeit zu gewinnen, sich zu sammeln. Da hatten ihre Kräfte sie verlassen – ohnmächtig war sie zusammengebrochen.

Der Graf in unseliger Verblendung, hatte sie todt geglaubt! Außer sich, sinnlos, hatte er zum zweiten Male nach der Waffe gegriffen, die mit ihr und dem Tische, an den sie sich angeklammert, zu Boden gefallen war! Und in diesem Augenblicke mußte der, welchen der Graf für den Anstifter all’ dieses Unheils hielt, mußte Felsing dem Verblendeten, Rasenden entgegentreten!

Den jungen Mann überlief es eiskalt, als er sich den schrecklichen Moment wieder vergegenwärtigte.

Aber durch die Alles abgleichende Macht der Zeit waren auch die Schrecken jener Stunde allmählich verblaßt und aus der Saat des Unglücks war sogar noch Glück erblüht. Richard hatte Gabriele gewonnen.

Mannhaft hatte er in den dunkeln Tagen, welche auf die Katastrophe folgten, der bedrängten Familie zur Seite gestanden, hatte getröstet und mit Rath und That geholfen, wo er konnte. Und seinem offenen, frischen, muthigen Wesen war es gelungen, Alle wieder aufzurichten, mit neuer Lebenshoffnung zu erfüllen, die verwickelten Geschäftsverhältnisse des Grafen zu ordnen, um dann, nachdem er die noch unbesetzte Stelle für das Petersburger Aquarium erhalten und in aller Stille die Geliebte zum Traualtare geführt, die Familie in dieses ruhige Asyl zu flüchten, in dessen Nähe er sich sofort sein Laboratorium zu anstrengender Berufsarbeit errichtet hatte.

Zu der Ordnung der beinahe unheilbar verwickelten Geschäftsverhältnisse hatte übrigens ganz im Geheimen eine Hand mitgewirkt, welche Emil recht wohl als diejenige seines Pflegevaters erkannte, wenn dieser auch unzugänglicher als jemals war und jede forschende Bemerkung oder Frage kurz und schroff abwies. Emil stand hier überhaupt vor einem Räthsel.

Nicht eine Silbe mehr, als er an jenem Unglücksnachmittag im furchtbarsten Zorn herausgestoßen, war dem hartnäckigen Manne zu entreißen: der Sohn Magdalena’s wußte weiter Nichts von ihr, als ihren Namen, nicht, in welchen Beziehungen Felsing zu ihr gestanden, nicht, welcher Art sein Konflikt mit dem Grafen war, noch woher der tödliche Haß gegen denselben stammte. Alle Bitten und Beschwörungen des jungen Mannes prallten an seinem eisigen Schweigen ab. „Laß das,“ sagte höchstens Felsing mit düsterer Miene, „wenn mich Eines im Leben reut, so ist es, daß mir überhaupt ein Wort davon entfuhr. Ich kann nicht weiter davon reden.“ Und wenn Emil dann den bitter gramvollen Zug um seinen Mund sah, die gebeugte Haltung des früher so stramm aufrechten Mannes, wenn er ihn Nacht für Nacht wie einen ruhelosen Geist in seinem Zimmer hin und her gehen hörte, dann zerschmolz rasch der Zorn, den er manchmal über einen so unerhörten Eigensinn empfand. Und er brauchte nur der zahllosen Wohlthaten zu gedenken, die dieser so gefürchtete Mann auf sein Haupt gehäuft hatte, um eine warme, überströmende Empfindung im Herzen zu fühlen. Ja, er warf es sich sogar als Unrecht vor, als schnöden Undank gegen Felsing, daß er den Grafen seinen Vater, nicht hassen konnte, daß ihn dessen Unglück und menschlich liebenswürdiges Wesen zur lebhaftesten Sympathie bewegte, so daß ihn sogar der Drang seines Herzens endlich trieb, hierher zu dem noch immer Leidenden zu eilen, und daß er ihn hier, wo er im Verein mit Richard seine Briefe und Papiere ordnete und in denselben hundertfache Beweise seiner Herzensgüte fand, von Tag zu Tag mehr lieben lernte!

Unter diesen Papieren war ihm besonders eines aufgefallen, welches einen Beweis von früher zwischen seinem Vater und seinem Pflegevater bestandenen Beziehungen zu geben schien, dieselben aber in keiner Weise erhellte.

Es war ein Brief des Pfarrers von Eckartshausen, in welchem dieser dem Grafen mittheilte, daß er in seinem Auftrag, aber ohne Nennung seines Namens, einem gewissen Johann Felsing dreitausend Thaler vorgestreckt habe.

Dem Briefe lag eine Quittung bei, welche mit einer des Schreibens sehr unkundigen Hand, beinahe unleserlich, unterzeichnet war. Und ein zweites Schreiben des Pfarrers fand sich noch, in welchem er mittheilte, daß er das von Felsing zurückgezahlte Geld, welches der Graf nicht mehr zurücknehmen wolle, auf dessen Wunsch für Wohlthätigkeitszwecke verwenden werde und für diese reiche Schenkung seinen Dank ausspreche.

Aus dem Sinnen, in welches Emil versunken war, weckte ihn die Stimme Gabrielens, welche mit den Worten: „Briefe, Emil – Briefe!“ ins Zimmer flog.

„Von wem?“ frug Emil.

„Der eine von Hans an mich, der andere von Deinem Pflegevater an Dich – der Poststempel ist von Genua! Er wäre also ganz in der Nähe?“

„Gieb her und sieh nach, was Hans schreibt!“

Beide öffneten hastig die Briefe.

„Gute Nachrichten,“ sagte Gabriele während des Lesens. „Hans hat die Aufnahmeprüfung ins Gymnasium leidlich überstanden – es geht ihm sehr gut, es gefällt ihm täglich besser im Hause des Professors - doch was ist das? Er hat Nachrichten von Eugen erhalten – Dein Pflegevater habe Eugen die zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten nöthige Summe zur Verfügung gestellt, alle Schulden seien bezahlt, und er habe gegründete Aussicht, wieder in die Armee eintreten zu können!“

Sie ließ das Blatt sinken und sah Emil in höchstem Erstaunen an.

„Ist denn das möglich?! Mein Gott, dann wäre ja Papas schwerster Kummer gehoben – Eugen wieder Officier – ach, welches Glück, welches Glück!“ Sie wollte in ihrem Jubel zu den Eltern hinüber stürmen, aber Emil sagte, indem er ihren Arm ergriff:

„Warte, so plötzlich geht das nicht; bedenke des Vaters angegriffenen Zustand – und die Hand, von welcher die Hilfe kommt!“

„Du hast Recht,“ erwiederte Gabriele betreten, „daran dachte ich in meiner Glückseligkeit gar nicht ... Es wird ihm furchtbar schwer werden, dem armen Papa, das zu überwinden ...“

„Das wird noch nicht das Schwerste sein,“ sagte Emil mit einem halben Seufzer. „In meinem Briefe steht –“

„Doch nicht, daß Hans im Irrthum ist?“

„Davon kein Wort. Aber – daß mein Pflegevater mich nächstens hier besuchen will.“

Sie sahen sich schweigend ein paar Sekunden in die Augen. „Nun,“ sagte Gabriele endlich kleinlaut und zögernd, „das ist ja sehr schön und wird Dich sehr erfreuen – nein, nein!“ brach sie [560] plötzlich aus, „ich kann nicht lügen! Schrecklich ist es, daß er kommt, der finstere Mann mit dem bösen Gesicht … Emil, Emil,“ sie warf sich an des Bruders Hals und schluchzte laut, „nun ist unser Glück hier zu Ende. Er kommt, um sich an Papas Ruin zu weiden, um Dich uns zu entreißen –“ sie konnte vor Schmerz nicht weiter sprechen.

„Beruhige Dich, mein Herz,“ sagte er und strich ihr die Haare aus der Stirn, „so ohne Weiteres nimmt man mich nicht fort. Du täuschest Dich übrigens auch – einer Niedrigkeit ist Johann Felsing nicht fähig. Sein Kommen hierher muß einen besondern Grund haben, aber gewiß nicht den, unsern Vater zu demüthigen. Er haßte ihn – ja, aber nur so lange dieser glücklich war … und mich liebt er und wird nichts verlangen, was mich unglücklich machen müßte. Warten wir es also ab – sage vorerst den Eltern nichts, hörst Du? Und vor Allem trockne Deine Augen, daß sie hell aussehen, wenn Dein Gebieter kommt. Er kann nicht mehr lange ausbleiben, denkst Du auch daran, was er für einen Riesenappetit mitbringen wird?“

Gabriele lächelte unter Thränen.

„Ach ja,“ sagte sie, „Richard – und das Frühstück! Gut, daß Du mich daran erinnerst!“

Damit war sie rasch davon geeilt und hatte Emil allein gelassen, welcher nun den Brief seines Pflegevaters wieder hervorzog und aufs Neue las. Es waren kurze Zeilen, ohne jede Angabe des Grundes, der ihn herführe, und Emil’s Stirn verdüsterte sich, während er sie wiederholt überlas; es befiel ihn trotz aller gegen Gabriele gezeigten Zuversicht eine seltsame, stets wachsende Unruhe.

Was wollte sein Pflegevater hier?

Ehe es ihm noch möglich war, seine Gedanken so weit zu sammeln, um darüber eine Vermuthung zu gewinnen, sah er einen Herrn im Reise-Anzug, von dem Gärtner geführt, den Weg zur Terrasse heraufkommen und erkannte im nächsten Augenblick den Konsul, welcher langsam die Verandatreppe heraufstieg. Emil eilte ihm entgegen.

„Vater!“ rief er, ihn herzlich umarmend. „Welch freudige Ueberraschung! Wie ist es möglich, daß Du schon hier bist? Eben erst erhielt ich Deinen Brief.“

„Ich nahm in Genua einen Wagen und fuhr die Riviera entlang ohne Unterbrechung hierher,“ sagte Felsing.

„Und, nicht wahr, der Weg ist bezaubernd schön?“

„Ich habe wenig davon gesehen, Wasser und Berge sind für mich kein Grund, in Entzücken zu gerathen, und löschen mir keine schlimmen Erinnerungen aus. Das habt Ihr andern Enthusiasten besser!“

„Du fuhrst allein?“ suchte Emil abzulenken.

„Allein, wie ich überall bin, seit Du mich verlassen hast. Ich wandere wie Ahasver, vor einer Woche war ich in Paris, vor zweien in London; es ist mir keine Erinnerung davon geblieben. Der Todte im Grab ist nicht einsamer, als ich es in dieser Welt bin, in der mir ein Sohn lebt, den ich mit Sorge und Liebe großgezogen habe!“

„Mein Vater!“ erwiederte Emil lebhaft. „Du sagst das in einem Tone des Vorwurfs, der mir weh thut! Du kennst doch die Pflichten, die mich hierher führten. Und Du glaubst nicht, wie glücklich es mich macht, daß Du endlich den Bann gebrochen, daß Du nun doch zu uns kommst! Ich will nur rasch Gabriele rufen und nach Richard senden.“

„Nein, laß das!“ wehrte der Konsul. „Ich komme zu Dir, Emil, nicht zu Jenen!“

„Zu mir nur? Nicht zu den Meinen?“

„Nein, nicht zu den ,Deinen‘,“ fuhr Felsing fort, „nicht zu dem Manne mit dem liebenswürdigen Lügengesicht, der die Gabe hat, sich in alle Herzen zu schmeicheln und mit seinen Verbrechen straflos zu bleiben, wo die Unschuldigen zu Grunde gehen. Ich kann ihn nicht sehen, den unersättlichen Egoisten, der nun auch mein Letztes an sich reißt, wie er mir alles Andere im Leben genommen hat. Es giebt keine Gerechtigkeit dort oben, sonst müßte es anders stehen mit mir und mit ihm!“

„Es steht mit ihm nicht so, wie Du glaubst,“ erwiederte Emil kopfschüttelnd, „er ist wahrlich nicht straflos geblieben. Und – er ist mein Vater, vergiß das nicht!“

„Dein Vater! Ja, daß Gott erbarm, das ist er, aber der Wolf im Wald ist seinen Jungen ein besserer Vater, als er Dir gewesen ist. Gewissenlos hat er Dich Deinem Schicksal überlassen! Doch nein, nicht etwa nur Deinem Schicksal überlassen – hinausgestoßen, feindlich und grausam hinausgestoßen hat er Dich, ohne auch nur einen Augenblick zu fühlen, was der roheste Tagelöhner für sein Kind fühlt!“

„Du sagst es,“ erwiederte Emil, „und ich muß annehmen, daß Du es glaubst. Urtheilen darüber kann ich erst, wenn Du mir Alles erzählst, um was ich Dich bis jetzt umsonst gebeten habe. Aber das kann ich schon heute sagen: zur Hälfte mindestens mußt Du Dich täuschen. Es mögen verhängnißvolle Irrthümer und Mißverständnisse, leidenschaftliches Handeln mit im Spiele gewesen sein – eine Gemeinheit aber, eine Rohheit hat Graf Hochberg nicht begangen, das ist meine unumstößliche Ueberzeugung. Müßte ich daran irre werden, so wäre mein einziger Wunsch, Du hättest mir kein Wort von diesem unglückseligen Verhältniß gesagt.“

„Was gäbe ich darum, wenn ich es nicht gethan hätte!“ fuhr Felsing heftig auf und schlug sich gegen die Stirn. „Nie hat ein Mensch eine rasendere Thorheit begangen! Du ahntest nichts, wärst ruhig mit mir wieder aus jenem Hause gegangen und ich Unsinniger mußte selbst das Wort sprechen, durch das ich meinen Sohn verlor! Es hat mich seither beinahe den Verstand gekostet!“

Emil faßte nach seiner geballten Faust und löste sanft und freundlich die Finger.

„Ich bin Dir nicht verloren, Vater,“ sagte er. „Könntest Du Dich doch entschließen. die furchtbare Last von Groll und Haß von Deinem Herzen herunterzuwerfen, wie glücklich würde ich sein! Wenn es mir gelänge, Euch zu versöhnen –“

„Nimmermehr!“ schrie Felsing wild. „Du mußt wählen zwischen mir und ihm. Die rechte Hand wollte ich lieber verlieren, als sie ihm zum Frieden reichen, dem Elenden, der mein ganzes Lebensglück vernichtet hat!“

„Weißt Du auch,“ sagte Emil und sah dabei fest in Felsing’s drohende Augen, „daß ich mich manchmal frage, was wohl größer war, sein Unrecht gegen Dich, oder Dein wüthender unmenschlicher Haß, Deine grausame Rachsucht?“

Der Konsul schob mit einem Ruck den Sessel zurück und fuhr in die Höhe.

„So!“ sagte er feindselig, „sind wir bereits so weit? Du bemitleidest ihn und verdammst mich?!“

„Ich verdamme Niemanden,“ antwortete Emil ernsthaft. „Aber Mitleid, ja, das fühle ich für den Unglücklichen, der schwer büßt, was er gesündigt hat. Und Du selbst hast mich an seine Seite gedrängt, indem Du ihn so elend machtest. Er ist mein Vater, ist unglücklich und tief gebeugt – ich kann und darf ihn nicht verlassen!“

„Emil!“ keuchte Felsing in ungeheuerster Aufregung, „ist das – ist das Dein letztes Wort? Du wolltest wirklich – auch Du – mich ihm opfern?“ Er wandte sich ab. „Menschen, Menschen! …“ brach es in höchster Bitterkeit aus seiner Brust heraus.

Aber Emil war gleichfalls mit blitzenden Augen in die Höhe gesprungen.

„Und warum muß es denn Dein letztes Wort sein,“ rief er hocherregt, „daß Du nicht verzeihen kannst? Wer ist der Härtere von uns – Du, mit Deinem starren unbarmherzigen Haß, der Du mir verbieten willst, meinen Vater zu kennen, oder ich, der ich weiter nichts verlange, als Euch Beide lieben zu dürfen, Euch versöhnt zu sehen?“

„Emil,“ sagte Felsing, tief aufathmend, mit ungeheurer Ueberwindung, „Du weißt nicht, was Du verlangst. So wenig wie ich heute mein vergangenes Leben auslöschen und für eine Thorheit erklären kann, so wenig kann ich mich mit diesem Mann versöhnen. Ich kann nicht, hörst Du?! Hier innen“ – er schlug auf seine Brust, „ist Alles kalt und ausgebrannt; an der Neigung für Dich allein spürte ich, daß ich ein Herz hatte wie andere Menschen. Das ist nun auch vorbei, ich habe elend Bankerott gemacht damit, es bleibt mir nur übrig, es wegzuwerfen und mit Füßen darauf zu treten. Und setzt will ich werden, was sie mich bis jetzt fälschlich nannten: herz- und gefühllos – vielleicht lebt es sich viel angenehmer so! Aber wer jetzt meinen Weg kreuzt, der mag sich hüten! – Und nun lebe wohl, ich gehe, da ich hier nichts mehr zu schaffen habe und Du mir abtrünnig geworden bist. Wir sehen uns nicht wieder!“

[561] Er wandte sich rasch der Glasthür zu. Aber Emil schlang seine beiden Arme um den außer sich Gerathenen und rief:

„Nein, ich lasse Dich nicht: Du darfst nicht so von mir gehen, wir müssen eine Verständigung finden. Und – Eines bist Du mir vor Allem schuldig, Du mußt mir endlich Alles erklären, was mir bisher dunkel blieb; ich muß wissen, woran ich bin!“

„Frage doch Deinen Vater,“ erwiederte Felsing höhnisch; „er steht Dir jetzt viel näher als ich und weiß ohne Zweifel die Hauptsache viel besser!“

„Das war ein falscher Klang in Deiner Stimme,“ erwiederte Emil mit der Ruhe, welche dem leidenschaftlichen Manne schon oft imponirt hatte, „so kenne ich Dich nicht!“

„Vater Werner“ bei seinem Liebeswerk.
Nach einem Oelgemälde von R. Heck.

„Du hast Recht,“ sagte Felsing mit einer Art von Beschämung. Er ließ sich ohne Widerstand zu dem Rohrsofa zurückführen und sah voll bewundernder Zärtlichkeit in die klaren, gebietenden Augen des jungen Mannes. Ein schmerzlicher Seufzer entrang sich seinen Lippen. „Es ist vielleicht besser so,“ sagte er dann. „Erfahren mußt Du die jammervolle Geschichte doch einmal, ob Du nun mit mir gehst oder ob ich ohne Dich weiter ziehe. Glaube übrigens nicht,“ fuhr er nach einer Pause fort, „daß ich aus einem andern Grunde schwieg, als weil ich Dir Schmerz ersparen wollte. Und erinnere Dich, daß Du es verlangt hast, wenn meine Worte Dir sehr wehe thun.“

Emil drückte ihm schweigend die Hand und setzte sich dann neben ihn.

(Schluß folgt.)
[562]
Das erste Jahr im neuen Haushalt.
Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.
VIII.
24. Februar. 

Meine Marie!

Neulich, als ich Dir von der halb verunglückten Gesellschaft schrieb, war mir noch recht zerknirscht zu Muthe, und es tröstete mich gar nicht, als Hugo mir sagte, auch das stehe bereits im Faust: „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereigniß!“ Er hat kein Verständniß für solche innere Schmerzen, deßhalb sagte ich auch nichts mehr, sondern ging, ehe noch Dein lieber Trostbrief kam, zu der guten Mama Baer und schüttete ihr mein Herz aus. Sie war so lieb und freundlich, sagte, das sei vielen Andern auch schon passirt und habe ja gar nichts zu sagen, ich erklärte aber: „Nein, dabei beruhige ich mich nicht. Sie müssen mir sagen, wo der Fehler sitzt, warum es bei mir nicht klappen will, wenn ich mir auch noch so große Mühe gebe!“

„Weil Sie nicht praktisch genug erzogen sind, liebes Kind! Uebung macht den Meister in allen Dingen. Sie würden wohl leichter als jetzt, wo es theures Lehrgeld kostet, dies Alles zu Hause gelernt haben, wenn Ihre Mama z. B. Sie dann und wann einen Gesellschaftsabend hätte allein besorgen lassen. Solche Veranstaltungen wären für junge Töchter, was die Manövertage für die Soldaten; man könnte sie auch von Zeit zu Zeit mit unvorhergesehenem Besuch überraschen, damit sie schnell überlegen und im beschleunigten Tempo ausführen lernten. Aber, obgleich dies in jeder Haushaltung ganz leicht gemacht werden könnte, ist es nicht gebräuchlich, das weiß ich wohl.“

„Nein, und bei meiner Mama wäre es sogar ganz undenkbar, sie muß Alles immer selbst thun.“

„Und erzieht deßhalb unpraktische Töchter. Aber fassen Sie nur Muth, einem ernstlichen Willen ist nichts unmöglich. Wenn Sie jeden Morgen zwei Stunden mit Aufräumen, Nachsehen und Anordnen zubringen, wenn Sie Ihrer vortrefflichen Rike keine Unordnung mehr durchgehen lassen und sie gewöhnen, für Sie Beide genau so zu serviren etc., als wenn Gäste anwesend wären …“

„Dann kündigt sie mir auf.“

„Das müssen Sie abwarten.“

„O, ich sage Ihnen, ich setze jetzt meinen höchsten Ehrgeiz darein, eine so pedantische, kleinliche, pünktliche Hausfrau zu werden, wie es die andern hier sind –“

„Nun schütten wir gleich wieder das Kind mit dem Bade aus. Kleinlich?! Warum denn? Sie sollen nur lernen, die Kleinigkeiten besser bedenken; denn sie sind es, die das Leben eigentlich ausmachen, sie thürmen sich, wenn man sie außer Acht läßt, als wachsende Hindernisse auf den Weg, während sie andernfalls, klug bedacht und geordnet, als erfreulicher Schmuck zu beiden Seiten dieses Weges stehen. Lassen Sie sich von einer alten und vielerfahrenen Frau sagen: unsere Hauptaufgabe ist, das Kleine und Kleinste täglich gewissenhaft zu besorgen und dabei den Sinn für das Große, den richtigen Maßstab für Groß und Klein niemals zu verlieren. Nur die Mischung dieser beiden Fähigkeiten macht die vollkommene Frau. Hätte man nur die Wahl zwischen der philisterhaft Pünktlichen und der geistig begabten Unordentlichen, so müßte man unbedingt die Erstere nehmen, die Mann und Kindern eine befriedigende Existenz zu sichern versteht. Aber wie viel schöne, reiche Lebensgüter gingen verloren, wenn es nur solche Frauen gäbe! Aus wie tiefen Quellen fließt das Glück eines Hauses, wo die Frau als Seele und Leiterin des Ganzen klug und besonnen jedes Ding zur rechten Zeit thut und thun läßt, den Arbeitsmorgen gewissenhaft anwendet, auf daß es dann am Nachmittag und Abend dem Manne, den Kindern und Freunden wohl und behaglich sein könne! Wenn dieselbe Frau in innerer geistiger Arbeit so weit gekommen ist, nicht nur blind die Ansichten ihres Mannes nachzusprechen, sondern die Gegenstände selbst beurtheilen zu können, wenn sie, statt pfiffig seine Schwächen zu benutzen, bemüht ist, mit liebevoller Hand ihn sittlich höher zu heben, wenn sie ihm den edlen Ehrgeiz nach bestmöglichem Wirken und Schaffen erregt, statt, wie so oft, den unedlen nach Titel und Orden, dann, glaube ich, giebt es auf der Welt kein Amt, das befriedigender und beglückender wäre als solch ein Frauenberuf. Lassen Sie Frau von Kolotschine nur über die deutschen Frauen spotten – ich sah neulich, daß Sie empfindlich wurden, das muß man nie in solchem Fall, liebes Kind! – und thun Sie das Ihre, damit Eine mehr in Deutschland ist, von der man sagen kann: sie ist praktisch wie eine Französin, gebildet wie eine Engländerin, patriotisch wie eine Russin und hat dazu ein warmes deutsches Gemüth! Es giebt deren bereits viel mehr, als die geistreiche Dame meint, aber allerdings, eine gehörige Anzahl ist noch weit von diesem Ziel entfernt.“

„O liebste Mama Baer,“ sagte ich, indem ich ihre gute alte Hand küßte, „wenn ich Sie so reden höre, da wird mir gleich so furchtbar ideal zu Muthe, daß ich kopfüber rennen möchte, um das Ziel so geschwind wie möglich zu erreichen.“

„Nur vergessen Sie nicht, mein Töchterchen, daß der Weg dazu über den Küchengarten, die Wäscheküche, Vorrathskammer und den Feuerherd geht!“ lachte die liebe alte Frau und gab mir einen Kuß auf die Wange. Dann tranken wir mit einander Thee, und ich kehrte ganz glücklich nach Hause zurück.

„Hugo!" rief ich, „jetzt paß einmal auf, was für eine ideale Hausfrau ich werde. Ueber Jahr und Tag bist Du der beneidenswertheste Mann im deutschen Reich!“

„Nun, nun,“ meinte er, „vor der Hand kann ich es auch so noch aushalten. Aber was ist denn los, Emmy?“

Das sagte ich ihm natürlich nicht. Aber ich fing ordentlich ein neues Leben an, räumte meine sämmtlichen Schiebladen und Kästen auf, machte Streifzüge in Rike’s Schmutzwinkel, fand zu meinem Entsetzen, wie viel bereits vernachlässigt worden war, und begann darauf eine gründliche Neu-Ordnung der Dinge. Allerdings nicht ohne Palastrevolution. Rike schrie gerade hinaus über solche Chikanen und drohte mit Fortgehen. Ich blieb eiskalt und erwiederte nur: „Wenn Sie dieses Wort wiederholen, sind Sie entlassen!“

Nun, sie wiederholte es nicht.

Aber wir leben seitdem in stillem Kriegszustand, sie sucht mich anrennen zu lassen, und ich verwende alle meine Geisteskräfte darauf, mich vor diesem Schicksal zu hüten. Vier Wochen ging denn auch Alles fabelhaft glatt und gut, ich habe schweigend eine Menge von Dingen gelernt und geübt, an die ich früher nicht dachte, und bin wirklich jetzt schon eine ganz gewiegte Hausfrau. Aber einmal trifft doch wieder Unglück ein, und so ging es mir am Fastnachtssonntag. Allerdings hat dort ein Jeder seine Dummheit frei und wir haben die meine denn auch in einem großen Karnevalsgelächter begraben.

„Backe nur tüchtig Fastnachtsküchelchen,“ hatte Hugo vorher gesagt, „ich esse sie leidenschaftlich gern, und es schadet gar nicht, wenn auch für den andern Tag einige übrig bleiben.“

Na, das sollte denn natürlich auch sein, ich wollte ihm aber außer den gewöhnlichen noch eine Anzahl gefüllter Berliner Pfannkuchen als besondere Ueberraschung bereiten. In meinem Kochbuch stand: „Nimm drei Pfund feines Mehl –“ ich dachte mir: du nimmst lieber vier, es kann nicht schaden, und ließ also Rike den Teig machen. Als ich gegen elf in die Küche kam, quoll eine weiche Masse über den Rand der größten Blechschüssel, daneben stand noch eine andere, bis oben hin voll. Nun, dachte ich mir, das reicht gewiß! Als ich aber eine halbe Stunde später wieder nachsah, wurde mir die Sache bedenklich. Rike stand am Nudelbrett und stach mit Feuereifer aus; Reihen von Küchelchen lagen vor ihr auf dem Tisch und immer neue gingen unter ihren Händen hervor. Das Schneidebrett, das Hackbrett, das Spätzlebrett, Alles saß voll Berliner Pfannkuchen und unermüdlich rollte sie ihren Teig, stach aus und füllte. Das erste, zweite, dritte Glas mit Marmelade ging zu Ende, ich sah eine Zeit lang zu, dann sagte ich zaghaft: „Es scheinen mir doch gar zu viele zu sein!“

„Ach was,“ erwiederte Rike, „beim Wirth, wo ich war, haben wir immer gerad so viel gemacht.“

Als sie den hundertsten Pfannkuchen füllte, erfaßte mich eine völlige Niedergeschlagenheit; sie stach unbekümmert weiter aus. Zuletzt saßen auf allen Küchenmöbeln bis zur Decke hinauf Fastnachtsküchelchen und „gingen“. Es würde mich nicht gewundert haben, zu oberst auf dem Pfarrthurm das letzte zu erblicken.

Nun, wie das Machen kein Ende genommen, so nahm denn auch das Backen keines. Die Pfanne strudelte über dem Feuer, der erste Schmalztopf wurde leer, Rike nahm den zweiten in Angriff, mein theuer bezahltes, gutes Schmalz, das noch zwei Monate reichen sollte! Als nun auch dieser den Boden zeigte, da wandelte mich eine Schwäche an und, Marie, ich setzte mich hin und weinte! Aber das half Nichts, die Pfannkuchen wuchsen unaufhaltsam weiter; ich hatte das Gefühl, sie würden mir nachlaufen, wenn ich aus der Küche ginge!

Plötzlich aber besann ich mich in meiner Pein auf Mama Baer’s Worte von dem Großen und dem Kleinen, und ich fühlte, dies sei eine Gelegenheit, mich stark zu zeigen. Hinter Rike’s breitem Rücken trocknete ich meine Thränen, dann setzte ich eine Platte von Pfannkuchen bei Seite: „Die tragen Sie später zu meiner Schwiegermutter, ich habe etwas mehr machen lassen, um ihr davon schicken zu können.“ Eine zweite kam auf den Tisch, sie wurden von Hugo ausgezeichnet gefunden, aber mehr als acht konnte er leider nicht essen und so blieb immer noch eine entsetzliche Menge in der Speisekammer, Stoff genug für vier Tage, selbst wenn wir uns ausschließlich von Pfannkuchen nähren wollten. Ich hatte gute Lust, es zu machen wie der Mann im Evangelium und auf die Straße zu senden, um Gäste zu laden! Ich that es auch, und über unsern Pfannkuchen-Abend werde ich Dir ein andermal berichten.

Aschermittwoch aber, nach zweitägigem Essen, erklärte Hugo, er könne nun keine Pfannkuchen mehr sehen noch riechen! Ich schickte den immer noch vorhandenen Rest in die nächste Schule, wo sie einen freudigen Absatz fanden. Nimm Dir ein Exempel an dieser Tragödie und mache es künftig besser als
Deine Emmy. 




Blätter und Blüthen.

„Vater Werner“ †. (Mit Illustration S. 561.) „Vater Werner todt!“ Von Reutlingen aus verbreitete sich diese schmerzliche Kunde, welche namentlich im Schwabenlande einen lebhaften Widerhall fand, denn dort weiß man es am besten, welch ein edles Herz aufgehört hat zu schlagen; dort weiß man aus eigener Erfahrung, daß Hunderte, ja Tausende Unglücklicher einen wirklichen Helfer in der Noth verloren haben. Aber auch den Lesern der „Gartenlaube“ ist der Name des Reisepredigers Gustav Werner, des ehrwürdigen Menschenfreundes und Liebesapostels, nicht fremd. Seine rastlose Wirksamkeit auf dem Gebiete der Fürsorge für die Armen ist schon in einem früheren Jahrgang dieses [563] Blattes (1862, Nr. 15) geschildert worden. Jetzt wo er als 78jähriger Greis in der Nacht vom 2. auf 3. August für immer seine Augen geschlossen, erachten wir es für unsere Pflicht, noch einmal die Gestalt des Mannes unseren Lesern vor Augen zu führen und kurz auf das große Werk eines edlen Lebens hinzuweisen, welches so Vielen zum Trost gereichte und als leuchtendes Vorbild echter Menschenliebe hingestellt zu werden verdient.

Werner war geboren den 12. März 1809 als Sohn einer ausgezeichneten württembergischen Beamtenfamilie, streng und einfach, aber liebevoll erzogen, in der Klosterschule zu Maulbronn und im Stifte zu Tübingen als Theologe gebildet. Nachdem er in Straßburg die edeln Bestrebungen des berühmten Steinthaler Pfarrers J. F. Oberlin kennen gelernt, kam er im Jahre 1834 als Vikar nach Walddorf, einem mit zwei Filialen verbundenen kleinen Dorfe bei Tübingen. Ungeheuren Zulauf von nah und fern fand der junge Prediger, der, ein Reich der Liebe und Gerechtigkeit als Kern des Christenthums verkündend, bald in weiteren Kreisen bekannt und vielfach auch von auswärts zu Vorträgen aufgefordert wurde. Obwohl er von mancher Seite befehdet und sogar aus der Liste der Predigtamtskandidaten gestrichen wurde, unterließ er doch nicht, seine Grundsätze in die That zu übertragen, und gründete, neben anderen gemeinnützigen Einrichtungen, in seinen Gemeinden Strickschulen und Kleinkinderschulen, welche von dienstwilligen Jungfrauen des Orts besorgt wurden. Im Jahre 1837 schlossen sich hieran die Anfänge eines Erziehungshauses für arme und verwaiste Kinder, das 1840 bereits 10 Zöglinge hatte. In diesem Jahr verließ er den Kirchendienst, widmete sich von jetzt ab ausschließlich der immer mehr begehrten Reisepredigt, die sich nach und nach über einen großen Theil von Württemberg und bis in die Schweiz ausdehnte, und siedelte mit seiner Anstalt nach Reutlingen über, zuerst in eine Miethwohnung, später in ein eigenes Haus. Angeregt durch sein Wort und Beispiel, gesellte sich hier zu ihm in treuer und lohnfreier Mitarbeit eine wachsende Zahl von Jungfrauen, deren eine er sich im Jahre 1841 zur Gattin erkor, später auch junge Männer. Man betrieb, theils als Erziehungsmittel, theils zum Broterwerb, Landwirthschaft und weibliche Industrie. Das Bedürfniß jedoch, die Kinder auch noch nach der Konfirmation einige Jahre zu behalten, ferner die mehr und mehr auftauchende sociale Frage, endlich die in den 1850er Jahren herrschende allgemeine Noth, welche nicht bloß für Kinder, sondern auch für hilflose Erwachsene jeder Art Versorgung in der Werner’schen Anstalt suchte, trieb den unermüdlichen Mann zu neuen Unternehmungen.

Die Reutlinger Anstalt wurde erweitert durch Pacht und Ankauf neuer Grundstücke, durch Errichtung von gewerblichen Werkstätten, durch den Ankauf und Betrieb einer Papierfabrik, welche jedoch später nach Dettingen verlegt und durch eine Maschinenfabrik ersetzt wurde, endlich in den letzten Jahren durch eine Möbelfabrik. Man gründete unter dem Namen „Zum Bruderhaus“, der aus geschäftlichen Gründen jeder Fabrik beigelegt wurde, in verschiedenen Gegenden des Landes, vorzüglich auf dem Schwarzwald, eine Reihe von Zweiganstalten mit gewerblichem oder landwirthschaftlichem Betrieb, welche unter der Oberaufsicht Vater Werner’s von früheren Angehörigen der Reutlinger Mutteranstalt geleitet wurden. Die jüngste bauliche Erweiterung erfuhr in den letzten Jahren die Reutlinger Anstalt durch Errichtung eines „Kinderhauses“, das heißt eines besonderen Gebäudes für Wohnungen und Schulräume der Kinder, sowie des Aufsichts- und Lehrpersonals, und durch Erbauung eines Krankenasyls. Alle diese Anstalten beherbergen zur Zeit gegen 1000 Personen (wovon 700 aus Württemberg), nämlich 160 „Hausgenossen“ (Mitglieder), und mehr als 800 Pfleglinge, wovon 200 Kinder und 120 Lehrlinge. Außerdem beschäftigen die drei Fabriken 500 Arbeiter, welche außerhalb der Anstalten wohnen. Der Werth sämmtlicher[WS 2] Niederlassungen beläuft sich auf etwa 1½ bis 2 Millionen Mark, worauf noch etwa ein Drittel Schulden haften.

Ein dem ehrwürdigen Greise befreundeter Künstler (R. Heck in Stuttgart) hat es unternommen, bei dessen letztem Geburtstag den Betsaal des Kinderhauses mit einem großen Oelgemälde (Figuren in Lebensgröße) zu schmücken und dem Gründer all dieser Anstalten ein würdiges Denkmal zu stiften, von dem wir auf Seite 561 eine kleine Skizze geben.

Das rührende Bild erklärt sich von selbst. In der Mitte steht „Vater Werner“, der hochgewachsene Greis mit den freundlich ernsten Zügen, auf dem einen Arme ein dürftig gekleidetes Kind, das sich zutraulich an ihn schmiegt, während die andere Hand tröstend einem hilfesuchenden alten Mann auf der Schulter ruht. Neben diesem steht ein frischer aufgeweckter Junge, der mit seinem Spaten eben an die Arbeit geht, und auf der andern Seite unter den Bäumen des Gartens befindet sich, geleitet von einer freundlichen Lehrerin, eine weibliche Arbeitsschule. Den Hintergrund bilden die Anstalts- und Fabrikgebäude, in weiterer Ferne die Stadt Reutlingen mit ihrem schönen gothischen Marienthurm und die Achalm mit dem Höhenzug der schwäbischen Alb.

Zum Alpensport. Ausführlich haben die Zeitungen über das Touristenunglück an der Jungfrau berichtet: wieder sind sechs Menschen bei dieser waghalsigen Belustigung zu Grunde gegangen, darunter Männer, auf welche die Wissenschaft zum Theil schöne Hoffnungen setzen durfte. Gewiß ist es schön, die Natur aufzusuchen in der erhabenen Einsamkeit der Schneefelder und Gletscher und auf den weitblickenden Alpenfirnen, und der muthige Forscher, der ihr dort irgend ein neues Geheimniß abzulauschen sucht, wird bei seiner Wanderung in jene unwirthbaren Regionen der Schnee- und Eiszone des Hochgebirges dieselbe Anerkennung finden, wie der Reisende in fernen Zonen und auf fernen Meeren, der mit den Gefahren des Klimas, der Thier- und Menschenwelt kämpft, den hier die Tropensonne tödlichem Fieber preisgiebt, dort das Eis des Pols in winterlicher Haft hält; aber alle diese muthigen Jünger der Wissenschaft haben stets fest das Ziel im Auge, freuen sich, wenn ihnen das zu Gute kommt, was ihre Vorgänger errungen haben, und wenn sie neue, noch nicht gebahnte Straßen einschlagen, so geschieht es nur im Hinblick auf mögliche neue Entdeckungen, mit denen die Wissenschaft und der Völkerverkehr bereichert werden soll.

Die Eigenart des Alpensports besteht aber gerade darin, nur um der Gefahr willen und um des zweifelhaften Ruhmes willen, diese überwunden zu haben, neue, bisher für unwegsam gehaltene Steig- und Kletterpartien aufzusuchen, die zu den Alpenspitzen führen; die Hilfe der Führer wird dabei oft verschmäht, um ganz ungeschmälert den Ruhm des selbständigen Alpenkenners und Gefahr verachtenden Helden genießen zu können; dann wieder werden solche Führer, die gegen ihre bessere Ueberzeugung um des Lohnes willen ein halsbrechendes Wagstück mitmachen, oft dem Tode geweiht und ihre Hinterlassenen dem Elend preisgegeben. Wie oft sind sie verunglückt mit den Bergsteigern zugleich, die sie begleiteten, oder bei den Rettungsversuchen, die sie unternahmen!

Der Zauber der Alpenwelt wird stets die Muthigen locken, auf beschwerlichem, oft sogar auf gefährlichem Wege dorthin emporzusteigen, wo er mit seiner ganzen Herrschaft das Gemüth gefangen nimmt, und es giebt Gefahren, welche die Elemente drohen und welche auch die Kenntniß des sichersten Weges nicht zu beseitigen vermag. Wer aber mit Absicht den unsichern, bisher mit Recht für unmöglich gehaltenen Weg wählt, nur um durch diese Parforcetour des Alpensports Bewunderung zu erregen, der fällt als ein Opfer der eigenen Eitelkeit, des menschlichen Größenwahns, der gerade gegenüber der erhabenen Größe der Natur „in seines Nichts durchbohrendem Gefühle“ verstummen sollte. Wie es scheint, trifft das bei jenen Wanderern auf die Jungfrau nicht ganz zu: sie sind wohl in Folge eines elementarischen Ereignisses, eines Schneesturmes, zu Grunde gegangen.

Der Lichthof des königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin. (Mit Illustration S. 549.) Zu den interessantesten Sehenswürdigkeiten Berlins gehört das im vorigen Jahre eröffnete großartige Museum für Völkerkunde. Unsere Abbildung zeigt uns eine der Rotunden mit dem Blick auf den prachtvollen Lichthof, welcher in der Mitte des Gebäudes gelegen ist. Im Hintergrunde erhebt sich das mehr als zehn Meter hohe östliche Thor der großen Tope (Dom) von Sântschi in Central-Indien. Das riesenhafte Sandsteinmonument stammt aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung und besteht aus zwei von drei Querbalken durchschnittenen massiven, vierkantigen Pfeilern; alle Flächen sind mit wohlerhaltenen Reliefs bedeckt; Scenen aus dem häuslichen Leben, Religionskultus etc. entrollen vor unsern Augen das lebensvolle Bild einer zweitausendjährigen Kultur und versetzen uns in die Gedankenwelt längst untergegangener Völker. Zu beiden Seiten des Thores zeigt unsere Abbildung zwei Holzstatuen Buddhas aus Rangun und Barma, in der Mitte die Figur eines als Gott dargestellten altsiamesischen Königs und Bekämpfers des Buddhismus, gefunden in dem Ruinenfeld von Kampengpet. Der zweitausend Jahre alte Gott-König darf als ein dem deutschen Volke gewidmeter Freundschaftsbeweis des regierenden Herrschers von Siam gelten, der einen Abguß des Fundes vor kurzem an das Museum schickte. Jenes eigenthümliche säulenförmige Bildwerk an der linken Seite ist ein Hauspfeiler der Haida-Indianer; der über zehn Meter hohe Stamm enthält geschnitzte Wappenthiere, welche die Genealogie des Besitzers darstellen, also einen Stammbaum. Elf buntbemalte, über einander gethürmte, fabelhafte Fratzen bedeuten eben so viel Ahnen, auf welche der jüngste Sproß gewiß mit Ehrfurcht und Stolz geblickt hat. Ein indianisches Zelt, amerikanische und australische Boote, nordische Schlitten etc. vervollständigen die Ausstattung des Raumes. Der Säulengang rechts führt uns in das Schliemann-Museum. Durch den Säulengang links gelangen wir in die vorgeschichtlichen Alterthümer der Mark Brandenburg; breite Treppen zu beiden Seiten führen zu den ethnologischen Schätzen aus Afrika, Amerika, Oceanien und Asien.

Die Expedition Stanley’s. Vielleicht wird, wenn diese Zeilen im Druck erscheinen, schon festgestellt sein, ob sich die über St. Thomas vermittelte Nachricht vom Tode des kühnen Entdeckers bestätigt hat oder nicht; jedenfalls hat Stanley diesmal bei seinem kühnen Befreiungszug mit mehr Schwierigkeiten und Hindernissen zu kämpfen, als bei seiner ersten großen Wanderung, auf welcher ihm der Gedanke des Kongostaates aufgegangen, dessen blaue Flagge mit dem goldenen Stern über den Fluthen des mächtigen Stromes weht.

Allen Nachrichten zufolge herrscht bei den Eingeborenen im Innern Afrikas bittere Noth in Folge voll Mißernten und sie sind vorzugsweise auf die Erträgnisse der Jagd angewiesen. Es ist daher nicht so unglaublich, daß die Neger sich gegen die Fremden zur Wehr setzten, welche in ihre Dörfer einbrachen, um den Proviant für ihren Zug, die nöthige „Negerhirse“ durch Tauschhandel oder mit Gewalt sich zu erringen. Möglich, daß in einem solchen Kampfe Stanley dem Ansturm der schwarzen Männer erlegen ist. Denn für beide Parteien gilt es hier einen Kampf ums Dasein.

Stanley hat seinen Zug veranstaltet, um Emin Bey zu befreien, ein durchaus ritterliches Unternehmen des muthigen Amerikaners, und wenn er bei diesem Wagniß seinen Tod gefunden haben sollte, so wäre dies nicht nur der ruhmvolle Tod des kühnen Entdeckers, der für die Wissenschaft in fernen Zonen stirbt; es wäre der Tod eines tapferen Kriegsmannes, der einen auf einem verlorenen Posten befindlichen Waffengenossen um jeden Preis zu erretten sucht. Ein solcher Opfertod ist doppelten Ruhmes werth.

Was die Befürchtungen wegen Stanley’s Expedition überhaupt rechtfertigt, das ist die Gegnerschaft der mächtigen arabischen Großhändler, denen der Kongostaat eine ihre Interessen in jeder Hinsicht gefährdende Macht ist und welche diese Expeditionen der Europäer im innern Afrika mit scheelem Auge ansehen. Sie machen gute Miene zum bösen Spiel, solange jene bewaffneten Reisezüge in bedrohlicher Nähe sind; doch kaum sind diese weiter gegangen, so spannen sie wieder ein Netz heimtückischer Intrigen um den Zug der Fremden, soweit ihre Macht bei den schwarzen Eingeborenen reicht. So erfährt man, daß Stanley am Mittellaufe des Kongo den dort allmächtigen Händlerkönig Tippo Tib zu seinem Beamten gemacht, mit anderen Worten, seine Gunst dadurch zu erwerben gesucht [564] hat, daß er ihm Tribut zahlte. Tippo Tib ließ sich das gern gefallen, ohne von seinen hinterlistigen Plänen abzustehen. Möglich, daß Stanley den Aufhetzungen dieses Arabers zum Opfer gefallen ist. Es wäre dies ein neuer Beweis dafür, daß der riesige Kongostaat sich sowohl in den Protokollen der internationalen Verträge wie auf der Karte großartig genug ausnimmt, daß aber diese Karte noch keine Wahrheit ist und daß die neue Staatsherrschaft für Millionen nicht viel mehr ist als eine bunte Flagge, die sich gelegentlich auf den Wassern zeigt, daß sie noch zu kämpfen hat mit der ungebrochenen Wildheit unzähliger Naturvölker und den Intriguen der bisherigen thatsächlichen Machthaber auf diesen Gebieten, der Geld- und Handelsfürsten, die sie ausbeuteten. Wie schwierig auch nach allen diesen Nachrichten die Lage der Expedition sein mag, so ist doch zu bedenken, daß Stanley wiederholt noch größere Schwierigkeiten zu überwinden wußte. Außerdem sind in dem „dunklen Erdtheil“ schon Viele todtgesagt worden, welche doch als Sieger im Kampfe gegen die heimtückischen Eingeborenen und das mörderische Klima heimgekehrt sind. So erscheint auch nach den neuesten eingegangenen Mittheilungen die Hoffnung berechtigt, daß die Nachricht von dem Tode des kühnen Reisenden sich als eine falsche erweisen dürfte und daß es ihm gelingen wird, das Ziel seiner neuesten Expedition, die Befreiung Emin Bey’s, zu erreichen. †      

Botaniker in der Sennhütte. (Mit Illustration S. 553.) Kaum hat die Frühlingssonne die Schneedecke von den Bergeshalden weggenommen, da sprießt es auch schon an allen freigewordenen Plätzen auf dem Grasboden, zwischen Felsspalten, am Bachesrande, und alsbald öffnen die ersten Alpenblümlein ihre verschlafenen Augen, um recht neugierig in die einsame Welt hinein zu blicken. Denn einsam ist’s um diese Zeit noch dort oben; erst wenn sich die alpine Flora in ihrer vollen Ueppigkeit entfaltet, kommen Mensch und Vieh auf jene Höhen zu Gaste und lassen sich’s an dem Segen und der Naturschöne behagen. Nur der Mann der Wissenschaft, der Botaniker, macht eine Ausnahme, denn sobald es in den Bergen „aper“ ist (die Bewohner der Alpen sprechen „aaber)“, das heißt, wenn sich die ersten grünen Flecke zeigen, unternimmt er schon Ausflüge, um die ersten Blumen, deren Blüthen sich fast unter dem Schnee entfalten, zu erobern. Wenn aber die Alpen bezogen sind und dadurch einem städtischen Gaste Gelegenheit geboten wird, sich in irgend einer wohnlichen Behausung niederzulassen, dann, um mit den Berglern zu reden, „bringst’n scho gar nimmer an!“ Der Herr Botanikus klettert mit den Kühen und Geisen um die Wette an den Hängen und in den Schluchten herum, nicht etwa, um bloß Alpenrosen und Edelweiß zu pflücken; nein, mit Bergstock und Hacke bewaffnet, späht er nach Pflänzchen, welche der Laie gar nicht bemerkt, die aber in den Augen des Kundigen höchst interessant und selten erscheinen.

Welche Freude aber harrt des eifrigen Sammlers, wenn er, mit Beute beladen, Abends am gastlichen Herde der Sennerin eintrifft und dann seine botanischen Schätze ordnet und ein Glas süße Milch trinkt, während der Schmarren in der Pfanne brodelt! Neugierig blickt die dralle Burgl auf das „g’spaßige“ Thun des Stadtherrn; sie winkt dem mit zu Gaste erschienenen alten „Sepp“, der den Herrn aus der Stadt auf den Bergen herumführt, schalkhaft mit den Augen zu und sagt halblaut zu ihm: „Was er ebba mit dö Kräutl thuat?“ und richtet dann einige naive Fragen an den Fremden.

Dieser aber lächelt vergnügt in sich hinein – vor sich seine geliebten Pflanzen, neben sich ein paar harmlose Naturkinder, an deren Naivetät er sich herzlich ergötzt, und endlich die Aussicht auf ein delikates alpines Abendessen; das sind die glücklichen Stunden des Botanikers.

Der „Gartenlaube“-Kalender für das Jahr 1888. Pünktlich wie immer hat sich wieder unser Kalender eingestellt und wir hoffen, er wird auch wie immer unseren Lesern willkommen sein. Reichhaltig ist auch diesmal sein Inhalt; zunächst erfüllt er die Pflicht zu orientiren über alle die wichtigen Dinge, um derentwillen die Kalender eingeführt sind: über alle Tage und Festtage des Jahres 1888, die Stellung, die es in der griechischen, jüdischen, mohammedanischen Zeitrechnung nimmt, über die Finsternisse, Umlaufszeit der Planeten etc. Jeder Monat erhält seine astronomische Signatur; außerdem wird er mit land- und hauswirthschaftlichen Notizen und einigen Sentenzen aus den Werken bekannter Dichter ausgestattet. Doch damit begnügt sich unser Kalender nicht; er orientirt auch über die deutschen Schutzgebiete und Konsulate mit Hilfe einer Uebersichtskarte, bringt eine Genealogie der europäischen Regentenhäuser, statistische Notizen über das Deutsche Reich, eine Darstellung der Staaten Europas nach der Größe der Bevölkerung und des Areals, giebt eine Münzvergleichungstabelle, eine Vergleichung der Thermometergrade, einen Wechselstempeltarif, Mittheilungen über erlaubte Gewichtsabweichungen, über Zeitunterschiede zwischen Berlin und anderen Orten, über das Klima einiger größerer Städte Europas, die mittlere Lebensdauer, über Titulaturen und Anreden im Verkehr mit Behörden; und am Schluß bringt der Kalender noch eine polytechnische Umschau, Post- und Telegraphentarife, ein Verzeichniß der wichtigsten deutschen Messen und Märkte.

Wir sehen, unser Kalender ist ein Hausfreund, der uns als Rathgeber in keiner wichtigen Frage im Stiche läßt; aber auch für die Unterhaltung sorgt er durch Erzählungen und Gedichte, für die Belehrung durch kleinere selbständige Artikel, und mit allerlei Illustrationen sind diese Geschichten und Aufsätze geschmückt. Die Namen W. Heimburg, Karl Weitbrecht, Oskar Justinus, Frida Schanz, F. F. Engelberg, M. Lenz bürgen für den Werth des erzählenden Theils und die Mannigfaltigkeit desselben im Ernsten und Humoristischen. Ein reichhaltiges Feuilleton von „Blättern und Blüthen“ bietet noch viel des Unterhaltenden in leichter Form. Von den belehrenden Artikeln heben wir hervor: „Die Ernährung des Säuglings“ von L. Fürst, „Wirksames Wohlthun“ von A. Lammers, „Die Frau des kleinen Mannes“ von Emil Peschkau, „Vom Büchermarkt“ von Rudolf von Gottschall, den „Rückblick auf die bemerkenswerthen Ereignisse vom Juli 1886 bis 1887“ von Schmidt-Weißenfels, einzelne Texte zu Illustrationen. So bleibt der „Gartenlaube-Kalender“ dem altbewährten Motto getreu: „Wer vieles bringt, wird Allen etwas bringen!“ Indem wir denselben also den Lesern der „Gartenlaube“ als eine Art Ergänzung dieses Blattes aus voller Ueberzeugung empfehlen, müssen wir leider auch an dieser Stelle wieder darauf hinweisen, daß von unberufener Seite ein sogenannter „Gartenlauben-Kalender“ herausgegeben wird, welcher trotz seines Titels in keinerlei Beziehung mit der „Gartenlaube“ steht und dessen Inhalt in keiner Weise von uns vertreten werden kann. Wir empfehlen deßhalb unseren Lesern, bei der an ihre Buchhandlung zu richtenden Bestellung die Verlagsfirma (Ernst Keil’s Nachfolger) mitzunennen. †     


Allerlei Kurzweil.


Skat-Aufgabe Nr. 12.[1]
Von K. Buhle.

Die Mittelhand gewinnt ein schwaches Eichelsolo nach den ersten 6 Stichen:

1. (−11) 4. (+7)
(p. As) (p. 9.) (p. 7.) (p. D.) (tr. K.) (car. 8.)
2. (+13) 5. (+4)
(p. Z.) (tr. D.) (car. 7.) (tr. B.) (car. 9.) (c. B.)
3. (−2) 6. (−13)
(tr. 9.) (tr. 8.) (car. B.) (tr. 7.) (car. As) (p. B.)

denn die Gegner bekommen nur 57 Augen, weil der Gegner in Hinterhand einen Fehler in einem der obigen Stiche gemacht hatte, ohne welchen die Gegner 61 Augen erhalten hätten.

Wie saßen die Karten? Worin bestand der Fehler und wie wäre bei fehlerfreier Spielführung der Gang des Spiels gewesen?


  1. Aus dem Lösungsturnier des 2. deutschen Skatkongresses.
Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 11 auf S. 532:

Daß das Spiel in Vorhand unverlierbar ist und sogar mit Schwarz gewonnen werden muß, ist auf den ersten Blick zu sehen. Aber auch in Mittel- oder Hinterhand ist das Spiel unverlierbar; nur darf der Spieler nicht etwa die beiden Ober (eO gO), sondern er muß die beiden Däuser oder am besten rD, eO legen, denn dann können, wie eine einfache Berechnung ergiebt, die Gegner ganz unmöglich 60 Augen erreichen. Kommt der Spieler zum Stechen, so muß er bei seinen 8 Trümpfen selbstredend mit einem W einstechen. Hätte aber der Spieler die beiden Ober gedrückt, so würde das Spiel z. B. bei folgender Sitzung:

Vorhand: eZ, e8, e7, gZ, gK, g9, g8, g7, sD, sK,
Mittelhand: eD, eK, e9, rZ, rK, rO, r9, r8, r7, sZ

durch die ersten beiden Stiche 1. gZ, sZ, gD, 2. rZ, rD, sD verloren gehen.


Auflösung des Räthsels auf S. 548:

Zwar bin ich nur ein Glücksersatz,
Doch ist auch der ein theurer Schatz,
Weil nicht der Rechte selbst gekommen,
Hast du statt seiner mich genommen;
Doch nimmt der Rechte das nicht schief,
Denn ich bin ja sein Liebesbrief.


Auflösung des Vorsetz-Räthsels auf S. 548: „Echo, Necho.“



Kleiner Briefkasten.

(Anonyme Anfragen werden nicht berücksichtigt.)

B. in K. Um kaukasisches Petroleum von amerikanischem zu unterscheiden, bedient man sich am besten einer Senkwage (Aräometers) für leichte Flüssigkeiten und prüft damit, bei der für das betreffende Instrument bezeichneten Temperatur, auf welche das zu untersuchende Oel zu stellen ist, das specifische Gewicht. Die kaukasischen Oele sind durchweg specifisch schwerer, indem dieselben nie unter 0,800, meist aber 0,805 bis 0,820 an der Skala anzeigen. Amerikanische Leuchtöle ergeben eine Dichte von 0,780 bis 0,795. Genauer feststellen läßt sich die Abstammung nur durch Theildestillationen bei bestimmten Temperaturen und beim Wiegen der gewonnenen Theile. Das Verhältniß der flüchtigeren Produkte gegenüber den schwereren ist bei dem amerikanischen ein überwiegendes. Als ein vorläufiges, doch ziemlich sicheres Unterscheidungsmerkmal dient auch der den gedachten Leuchtstoffen eigene blaue Schimmer, den diese in der seitlichen Durchsicht zeigen. Bei amerikanischem Oele ist derselbe sehr stark vorhanden, während er bei russischem Oele nur schwach auftritt oder gänzlich fehlt.


Inhalt: Der Unfried. Eine Hochlandsgeschichte von Ludwig Ganghofer. S. 549. – Zurück aus den Großstädten aufs Land! Ein Beitrag zur Wohnungsfrage. Von Dr. jur. Karl Böhmert. S. 554. – Kleine Bilder aus der Gegenwart. Der Fang der Eintagsfliege. Von Dr. Karl Ruß. S. 555. Mit Illustrationen S. 556. – Magdalena. Von Arnold Kasten (Fortsetzung). S. 557. – Das erste Jahr im neuen Haushalt. Eine Geschichte in Briefen. Von R. Artaria. VIII. S. 562. – Blätter und Blüthen: „Vater Werner“ †. S 562. Mit Illustration S. 561. – Zum Alpensport. S. 563. – Der Lichthof des königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin. S. 563. Mit Illustration S. 549. – Die Expedition Stanley’s. S. 563. – Botaniker in der Sennhütte. S. 563. Mit Illustration S. 553. – Der „Gartenlaube“-Kalender für das Jahr 1888. – Allerlei Kurzweil: Skat-Aufgabe Nr. 12. Von K. Buhle. S. 564. – Auflösung der Skat-Aufgabe Nr. 11 auf S. 532. S. 564. – Auflösung des Räthsels auf S. 548. S. 564. – Auflösung des Vorsetz-Räthsels auf S. 548. S. 564. – Kleiner Briefkasten. S. 564.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: von Dächern und Dächern; angepasst an Buchausgabe in Ludwig Ganghofers gesammelte Schriften, 1906.
  2. Vorlage: sämmlicher