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Die Gartenlaube (1891)/Heft 25

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[409]

Nr. 25.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Lea und Rahel.

Roman von Ida Boy-Ed.

(8. Fortsetzung.)


9.

Graf Clairon brauchte kein Unwohlsein vorzuschützen, um sich den folgenden Tag dienstfrei zu machen. Seine Stirn brannte, seine Hände waren kalt, sein Auge glänzte fieberisch.

Auf seine Abmeldung hin kam pflichteifrigst von selbst der ihm befreundete Stabsarzt und fand es ganz begreiflich, daß Clairon sich bei dem Regenschauer gestern einen kleinen Fieberzustand zugezogen hatte. Die Schwadron war ja überhaupt nur einmal naß und gar nicht wieder trocken geworden. Er verschrieb ihm ein fieberstillendes Mittel und fragte, ob man ihm abends durch einen Skat die Zeit vertreiben solle und welche Herren ihm dazu erwünscht seien. Clairon dankte; er fühle sich so ernsthaft schlecht, daß er den ganzen Tag zu verschlafen suchen wolle.

So ließ man ihn denn ziemlich ungestört.

Zuweilen sprach der eine oder andere Kamerad vor und fragte nach seinem Ergehen.

Ehrhausen saß eine Viertelstunde bei ihm und redete ruhig über das Wetter, die bevorstehenden Brigadeexerzitien und die Dauer des Manövers. Als er ging, hielt Clairon lange seine Hand fest und sagte:

„Sie dürften ein offenes Wort von mir erwarten, lieber Ehrhausen. Sie waren gestern abend Zeuge eines räthselhaften Vorgangs. Vergeben Sie mir, wenn ich noch schweige! Ich muß das allein mit mir abmachen.“

Eine Thräne flimmerte in seinem Auge.

„Es giebt Fragen, für deren Entscheidung wir nur die Richterstimme in der eigenen Brust anhören dürfen,“ sprach er weiter und seine Stimme bebte.

Ehrhausen war tief erschüttert, den stolzen und glänzenden Mann in solcher Gemüthsverfassung zu sehen. Er konnte ihm nur wieder und wieder die Hand drücken.

„Wenn ich um eins bitten darf, so veranlassen Sie


Sommer.
Nach einem Gemälde von H. Rettich.

[410] unsere liebe, kleine Baronin, zu schweigen von – von – jener Verlobungsanzeige, die Sie von Rahel gehört haben.“

Ehrhausens Stirn verschattete sich.

„Sie wissen, mein lieber Freund, daß meine Frau wie ein Kind ist und ihre Zunge nicht bewachen kann. Sie meint es nicht böse, sie will nicht klatschen. Aber das entfährt ihr so – sie kann nicht anders. Und so fürchte ich, hat sie schon heute vormittag der Frau des Rittmeisters von Fahning erzählt, daß Sie sich doch mit Lea verlobt hätten. Und die Fahning, immer bestrebt, sich auch als eine der Intimen von Römpkerhof hinzustellen, obschon man sie dort alle Jahr nur einmal einlädt, wird eilig ihre Wissenschaft verbreitet haben.“

Clairon seufzte schwer. Aber er gab dem Kameraden nochmals mit festem Druck die Hand.

Am späteren Nachmittag konnte er schon an den Gesichtern und Bemerkungen der Kameraden sehen, daß die Geschichte herum war.

Man neckte ihn wegen des Pechs, gerade heute krank zu sein. Man machte allerlei Anspielungen über Gerüchte, die umgingen und deren beneidenswerther Held er sei.

Clairon bat, daß man doch solchem Geschwätz nicht glauben solle. Wenn er ein besonderes Ereigniß mitzutheilen hätte, dürften die Kameraden gewiß sein, daß er selbst sie unverzüglich in Kenntniß setzen würde.

Er zeigte dabei eine ruhige Miene und sein Ton war fest, aber er litt unaussprechlich.

Endlich kam niemand mehr.

Er konnte die zahllose Male unterbrochenen Gedanken aufnehmen und weiter, immer weiter ausspinnen.

Das war eine quälerische Arbeit. Er überdachte sein Lieben, sein Irren und sein Entsagen.

Solche Stunden haben den Zeitwerth von Jahren für die Seele. Die Selbsterkenntniß steht auf und nimmt den verblendeten Augen die Binde ab. Und die Wahrheit, welche sie nun schauen, ist ein Anblick, der die Stirn furcht und die Wangen bleicht.

Sein Herz und seine Ehre fingen einen harten Handel miteinander an.

Das schöne, verführerische Mädchen, welches er auch jetzt noch heiß und verlangend liebte, schien vor ihm zu stehen und ihn zu bitten: „Nimm mich hin!“ Er sah sie so genau vor sich, daß ein Schauer ihn durchrieselte, halb des unheimlichen Bangens, halb der Sehnsucht.

Seine Lippen brannten, diese Lippen, die ihr rother, glühender Mund so oft geküßt hatte.

Ihm war, als müßte er sich auf sein Roß werfen und zu ihr hinjagen und in ihren Armen alles vergessen. Er wollte die Besinnung verlieren im Glück ihres Besitzes.

Er warf sich auf sein Sofa und drückte das Gesicht in die Kissen. Wie qualvoll! wie qualvoll!

War es nicht Wahnsinn, auf ein Weib zu verzichten, nach dem jeder Nerv seines Wesens begehrte?

Er richtete sich wieder auf. Er ging in der Geschichte seiner Liebe zurück bis zu ihren Anfängen und lebte alle zarten, heimlichen Freuden und Zweifel jener ersten Zeit noch einmal durch.

Dann ward er ihrer Gegenliebe sicher und warb um sie.

Und da begann seine Schuld. Ja, seine Schuld, welche er sich erbarmungslos eingestand.

Sein Hochmuth und seine Eitelkeit hatten sich mit ihrem Hochmuth und ihrer Eitelkeit verbündet, anstatt daß er mannhaft und stark sie zum Erkennen geführt hätte.

Wie jämmerlich erschienen ihm heute diese Bedenken um Geld und Gut und was die Leute dazu sagen, daß man nicht so unabhängig und reich sei, als man bisher geschienen!

Wie kläglich fand er sich selbst, daß er, anstatt solche Bedenken stolz von sich zu weisen, sie getheilt und für richtig gehalten hatte!

„Lea,“ hätte er sagen müssen, „wenn Du mich wahrhaft liebst wie ich Dich, dürfen uns diese Fragen nur nichtig sein. Können wir nicht im Glanz freien, so freien wir eben in Bescheidenheit. Die Liebe sei uns Glanz und Glück genug.“

Und dann, wenn sie trotzdem in ihrer Eitelkeit verstrickt blieb, hätte er sagen müssen: „Leb’ wohl!“

Stark und streng hätte er ihr entgegen halten müssen: „Entweder Du wirst meine Braut oder wir trennen uns auf immer.“

Aber das kochende Blut seiner Jugend hatte nicht von ihr lassen wollen. Ihre Augen hatten ihn verlockt, und heimlich war er ihr fort und fort so begegnet, als seien sie Brautleute.

Und er hatte ihre spielenden leichtsinnigen Redensarten über die Heirath mit einem andern angehört, hatte ihr nicht zornig verwehrt, dergleichen auch nur zu denken. Er hatte alles hingehen lassen und heimlich, heimlich geglaubt, das könne sie doch niemals thun.

Sie aber gab ihre Hand dennoch förmlich und feierlich einem andern! Und wenn diese ehrliche brave Rahel nicht gewesen wäre, hätte er dabei sitzen müssen und anhören, wie man Lea als künftige Frau Lüdinghausen beglückwünschte.

Maßloser Zorn wallte in ihm auf. Er hätte sie erwürgen können. Er liebte sie und hätte sie zugleich tödten mögen.

Dann kam wieder sein Verstand mit allerlei Scheingründen.

Rahel hatte ihn selbst als Verlobten Leas genannt vor mehreren Zeugen. Diese hatten schon davon gesprochen und Lea war schwer beschimpft, wenn er sich zurückzog. Rahel war die Verantwortliche, sie hatte seine Kavaliersehre herangezogen, flüsterte eine feige Regung ihm zu, eigentlich handelte er in einem Zwang und sein Gewissen brauchte nicht dreinzureden.

Er ging in seinem Zimmer mit großen Schritten hin und her. Sein Herz klopfte, daß er in den Schläfen das Hämmern des Blutes hörte.

Wenn wirklich für ihn als Mann der Zwang vorliegen würde, das Mädchen zu heirathen? Diese Frage, die seinem geheimsten Sehnen entgegenkam, machte ihn schwindeln.

Das Entsagen ist so schwer, so übermenschlich schwer! Und besonders dann, wenn es aus freigeborener Entschließung geschehen soll. – –

Er versuchte darüber nachzudenken, was er sagen würde, wenn er diesen Fall für einen Dritten zu entscheiden hätte.

Sekundenlang huschte der Einfall durch sein Hirn, daß er rathen würde: fordere diesen Lüdinghausen und tödte ihn, damit der Mann nicht mehr athmet, dem sie sich geben wollte und der sich von ihr geliebt glaubte.

Doch sofort erkannte er, daß das unreif und sehr knabenhaft gehandelt sein würde. Lüdinghausen hatte ausdrücklich erklärt, von dieser Nebenbuhlerschaft keine Ahnung gehabt zu haben. Und Lüdinghausen, das fühlte Clairon wohl, wäre nicht der Mann gewesen, um Lea zu werben, wenn er die Wahrheit geahnt hätte. Sie waren beide gleich schwer gekränkt, ja, wenn er unerbittlich wahr sein wollte – Lüdinghausen noch schwerer.

Und ihn, der um seinetwillen in solche Lage gekommen war, wollte er noch fordern?

Das war jedenfalls Thorheit.

Er dachte mit einem Gefühl der Achtung und Theilnahme an Lüdinghausen, dessen Haltung gestern abend sehr männlich gewesen war.

Und diesen Mann, der seinem ganzen Auftreten und seiner ganzen Persönlichkeit nach nicht sehr einlud, ein Spiel mit ihm zu wagen, diesen hatte Lea so getäuscht, daß er an ihre Neigung für ihn glaubte! Welche fluchwürdige Komödie!

Robert Clairon trat ans Fenster und sah auf die nächtige Straße der kleinen Stadt hinaus.

Der Regen hatte heute nachgelassen, aber zwischen den unregelmäßigen Pflastersteinen standen vereinzelt blanke kleine Lachen. Die Laterne, welche auf einem eisernen, aus der Hausmauer gegenüber vorspringenden Arm brannte, beleuchtete dort den Bürgersteig. Ganz selten ging in ihrem Schein jemand an den Häusern entlang. Die Schritte verhallten allmählich und fern hörte man manchmal eine Thürglocke bimmeln.

Die Augen des Mannes am Fenster trübten sich.

Wie eng das Leben! Wie einförmig der Dienst! Wie vorgezeichnet das ganze lange Dasein!

Und die eine heiße Sonne darin untergegangen für immer! Die Liebe verloren, die Hoffnung verdorrt!

Es war dunkel und niemand da, der sehen konnte, wie sich die Lippen unter dem blonden Bart fest, fest zusammenpreßten, wie das Haupt sich stolz wieder erhob und die Stirn sich furchte.

Wenn der Tag aufdämmern wird, findet er eine Falte auf dieser Stirn, die vorher nicht dastand, die aber nie mehr verschwinden wird.

Das kam daher, weil diese Stirn sich auf ein Grab geneigt hatte, ehe sie dem Leben wieder Trotz bot. –

[411] Der Kampf war zu Ende. Die Ehre hatte in ihm gesiegt.

Clairon machte Licht, seine Hände bebten nicht. Er setzte sich an den Tisch und schrieb:

„Lea, ich muß Dir für immer Lebewohl sagen. Ich erkenne an, daß auch ich schwer an Dir, an mir selbst und meiner Ehre gefrevelt habe, als ich darein willigte, Dich wieder und wieder zu sehen. Als Mann hätte ich Dich zwingen sollen, trotz all der vermeintlichen Hindernisse, welche nur in unserm Hochmuth solche waren, meine Braut zu werden oder mich zu lassen. So bin ich Dein Mitschuldiger, und die Strafe, welche mich heute trifft, trage ich zu Recht. Aber daß Du mich lieben und Dich zugleich einem andern als Gattin geben wolltest, macht Dich unwürdig des Namens einer Gräfin Clairon. Ich könnte und dürfte Dir nicht mehr mit ruhigem Bewußtsein die Ehre dieses Namens anvertrauen. Ich weiß es, ich thue Dir mit diesen Worten unaussprechlich weh. Aber der Tod ist wohl immer schmerzhaft, und von heute an soll und muß unsere Liebe todt sein und bleiben.
Robert, Graf von Clairon.“ 
*               *
*

Lea wachte im Bett und hörte, wie vor ihrem Fenster die Spatzen laut waren und sich trotz des düstern Tages vergnüglich wichtig machten. An den Falten des Betthimmels hing ein grau-brauner Nachtschmetterling; er war lange wild und planlos umhergeflattert, vergebens nach einem Ausweg suchend. Dabei hatten seine Flügel den Sammetschmelz verloren. Jetzt saß er da, sich mit klammernden Beinchen an dem bunten Stoff haltend, und ab und zu ging ein Zittern durch seinen Leib, die müden Flügel klappten auf und legten sich wieder.

Alles war grau und glanzlos, das Stückchen Himmel über den Baumkronen regendunkel, die Lindenblätter wie von einer nassen Hand abwärts gestrichen, und in den grünen Wipfeln fleckte es da und dort schon gelb auf.

Lea hatte merkwürdigerweise im ganzen recht gut geschlafen, aber weil sie die eine oder andere Viertelstunde gewacht hatte, glaubte sie, kein Auge zugethan zu haben. Jetzt, nachdem sie lange auf das trübe Bild hinter den Fensterscheiben geblickt hatte, bildete sie sich ein, zu frieren, weil der Anblick von viel Nässe ihr die Vorstellung von Kälte erweckte.

Es mußte auch schon spät sein und sie wollte lieber aufstehen.

Sie hatte keineswegs das Gefühl, als habe sich etwas ganz Außergewöhnliches, Schicksalentscheidendes begeben. In ihrem Kopfe hatten sich bereits die Ereignisse des gestrigen Abends vollständig verarbeitet.

Von irgend einer andern Gestaltung der Zukunft konnte nun nicht mehr die Rede sein, die ganze Zukunft hieß fortan eben „Clairon“.

Dem Lüdinghausen mochte schändlich kläglich zu Muth sein. Der arme Mann konnte ihr beinahe leid thun – es ist keine Kleinigkeit, wenn einem die Braut so vor der Nase weggeschnappt wird und man noch obendrein erfährt, daß sie einen gar nicht geliebt hat. Das heißt, diese letztere Demüthigung gönnte sie seiner schulmeisterlichen Ueberhebung; im übrigen würde er sich wohl augenblicklich aus der Gegend entfernen. Man nimmt Urlaub, läßt sich versetzen – so etwas kann man ja einrichten.

Und was die Heirath mit Clairon betraf, so konnte Rahel auch die Kosten ihres unsinnigen Benehmens tragen.

Sie – Lea – hatte aus Familienrücksichten und auch aus besonderen Rücksichten auf die Schwester, wie ihr in diesem Augenblick wenigstens vorkam, keinen armen Mann heirathen wollen. Rahel hatte sie dazu gezwungen – nun wohl – mochte sie also an den Opfern mittragen, die erforderlich wurden.

Das anständigste Auskunftsmittel war natürlich, daß Clairon den Dienst quittierte. Dann fiel die Nothwendigkeit fort, das Kommißvermögen beizubringen. Clairon mußte Landwirth werden und Römpkerhof mit bewirthschaften. Er verstand es ohne Zweifel besser als der experimentiersüchtige Papa. Vielleicht zog Papa sich auch ganz zurück; von Mamas Rente konnten die Eltern sehr anständig leben in Berlin oder in irgend einer Pensionsstadt wie Wiesbaden oder dergleichen.

Clairon übernahm Römpkerhof und nannte sich später „von Clairon und Römpker“.

Rahel mußte dann eben bei den Eltern oder bei ihnen bleiben und auf ihren Antheil an Römpkerhof verzichten.

Sie war im ganzen ja ein verständiger Mensch und Lea wollte es ihr schon in allen Tonarten vorstellen, daß das ihre Pflicht sei. Für den ungeheuren Skandal, welchen sie der Schwester bereitet hatte, war sie ihr dies Opfer schuldig. Sie würde es auch bringen – zweifellos. Denn Rahel war doch eigentlich eine selbstlose Seele, das mußte man ihr lassen. Na, irgend einen Vorzug hat schließlich jeder Mensch und derjenige der Unbedeutenden ist meistens die Selbstlosigkeit.

So sah Lea ihre Zukunft fertig vor sich, freilich ein bißchen magerer, als sie sich’s gewünscht hatte, aber man blieb wenigstens vornehm, sehr vornehm. Lea beschloß, als Gräfin Clairon sich von dem größten Theil der hiesigen Gesellschaft unter dem Vorwande des Hochmuthes zurückzuziehen. Dann sparte man und konnte es vielleicht ermöglichen, jeden Winter zur Saison nach Berlin an den Hof zu gehen. Der gute Papa mußte eben auch lernen, sich ein bißchen einzurichten.

Sie stand auf und ging in ihr Toilettenzimmer, wo sie zu ihrem Erstaunen Rahels Tisch unbenutzt stehen sah. Sie horchte, – alles still nebenan. Nun, Rahel hatte wohl ebenfalls die Nacht durchwacht und schlief jetzt.

Es klopfte. Lea schrak zusammen. Freudige Röthe stieg ihr in das Gesicht. Natürlich schon eine Botschaft von Robert; er fühlte wohl, daß man noch heute die Verlobung anzeigen müsse. Sie lief in ihren Pantoffeln an die Thür; ihr reiches Haar umwallte sie aufgelöst, und ein Frisiermantel, von Spitzen umrandet, hüllte ihre Gestalt ein. Sie öffnete ohne Besinnen.

Herr von Römpker stand vor ihr, er hielt einen offenen Brief in der Hand und sah sehr ärgerlich aus.

„Nun?“ fragte Lea.

„Uns solche Geschichten zu machen! Dem einen Skandal den zweiten hinzuzufügen!“ rief er.

Lea empfand einen kurzen, eisigen Schreck.

„Was ist?“ stammelte sie.

„Rahel ist auf und davon. Einfach weggegangen und zu Raimar,“ sagte er.

„Ach, weiter nichts?“ rief Lea und die Farbe kam langsam in ihr Gesicht zurück. Aber ihr war doch so elend geworden, daß sie sich auf den nächsten Stuhl setzte.

„Raimar schreibt mir: ‚Deine Rahel kam gestern abend spät durchnäßt und weinend hier an. Ihr habt dem armen Kinde wohl schöne Dinge zu hören gegeben. Einstweilen behalte ich sie hier, bis ich weiß, daß sie, ohne Gefahr, neuen Kränkungen zu begegnen, heimkehren kann. Wenn Du willst, magst Du sie Dir dann holen. Gieb Nachrichten Deinem Raimar.‘“ Und Herr von Römpker fügte hinzu: „Es ist beinahe komisch. Was haben wir ihr denn gethan?“

Lea und ihr Vater sahen sich an und besannen sich.

„Ach ja,“ meinte Lea, „mir ist, als ob wir ein bißchen heftig gewesen wären. Aber wer legt denn in solcher Stimmung die Worte auf die Goldwage? Und sie hatte ja die Schuld, sie hat uns in der unglaublichsten Weise wie Schachfiguren ihres Willens behandelt.“

„Was soll ich aber antworten?“

„Sieh mal nach, vielleicht hat sie etwas hinterlassen!“

Herr von Römpker ging in Rahels Zimmer. Da lag ein Brief unter der Lampe vor dem Pfeilerspiegel, und darin stand:

„Liebe Eltern, da Lea meines Anblicks für einige Tage überhoben zu sein wünscht, gehe ich nach Kohlhütte. Wenn Ihr und wenn Lea wirklich empfindet, daß ich recht für Euch gehandelt habe, so ruft zurück Eure betrübte Tochter
Rahel!“ 

Herr von Römpker gab Lea den Brief und lachte.

„Es scheint wirklich, daß eine kleine Schraube bei ihr los ist,“ sagte er.

„Antworte, daß Du Rahel herüberholen werdest, sobald wir Nachrichten von Clairon hätten!“

Vater und Tochter sahen sich tief an, als wollte jeder lesen, was für Gedanken dem andern im geheimsten Innern wohnten.

„Du fürchtest …“ begann er.

„O, nichts!“ sagte Lea, stolz den Kopf erhebend.

Wie sie schön war, in ihren weißen, reichen Gewändern und mit dem prachtvollen Haar, die feine Haut blühend in Morgenfrische! Nein, ein solches Mädchen läßt man nicht, dachte der Vater.

[412] „Du hast recht,“ meinte er vergnügt, „Clairon wird schon kommen. So bist auch Du entschlossen, ihn zu nehmen? Hast Du übrigens auch bedacht, daß die Schwierigkeiten in gleichem Maße wie damals fortbestehen?“

„Gewiß! Clairon muß den Dienst quittieren und Römpkerhof mit bewirthschaften.“

„Aber nein,“ rief Römpker glücklich, „Du bist doch so recht mein Kind und denkst immer dasselbe! Dieser Ausweg erschien auch mir als der einfachste. Er nimmt später mal das Gut und nennt sich ‚Clairon und von Römpker.‘“

„Das ist zu reizend,“ jubelte Lea, „genau so, wie ich mir’s ausmalte.“

Herr von Römpker ging davon. Ja, wohl hatte er sich’s genau so ausgemalt wie Lea, nämlich folgendermaßen: eine Hypothek nehme ich nicht auf, Clairon muß quittieren, dann fällt der Vermögensnachweis fort, das junge Paar wohnt hier, für sein Taschengeld hat Clairon die kleine Erbschaft von seiner Mutter, Lea bekommt von mir eins, etwas höher als ihr jetziges, vielleicht giebt der ältere Clairon, der Majoratsherr, auch etwas dazu und im übrigen muß sich das junge Paar eben nach der Decke strecken. Wir können nicht alle Millionäre sein, das ist mal so in der Welt. Und vielleicht ist Clairon tüchtig in der Wirthschaft, er schlägt mehr heraus als ich, und ich brauche mir trotz des Familienzuwachses keine Einschränkungen aufzuerlegen. Und wenn’s Lea ein bißchen sauer fällt, daß ihr Leben nicht fürstlich wird, wie sie wohl dachte und wie sie’s auch fordern konnte, na, da muß sie sich eben gestehen, daß sie selbst die Karre so verfahren hat. Wozu brauchte sie noch mit dem einen zu liebeln, wenn sie doch den andern heirathen wollte? Das war unvorsichtig, sehr unvorsichtig! Und Rahel, diese eckige, sonderbare Person, hing das dann gar an die große Glocke! Was die Töchter eingebrockt hatten, mußten sie wohl oder übel ausessen.

Er schrieb an Raimar, daß er seine Tochter heute oder morgen abholen werde und daß Rahel ein Gänschen sei; kein verständiger Mensch nehme gleich jedes Wort so buchstäblich. Aber er wolle weiter nicht böse mit Rahel sein. Er begreife auch, daß sie aus idealen Beweggründen so gehandelt habe, allein auch sie werde wohl inzwischen eingesehen haben, daß die Welt bald einem Narrenhaus oder einem Kampfplatz gleichen würde, wenn die Menschen sich gegenseitig stets die Wahrheit an den Kopf werfen wollten.

Als der Bote nach Kohlhütte abgeritten war, frühstückte Römpker sehr behaglich.

Seine Frau erschien mit erloschenen Augen und vergrämten Mienen, das Unglück hatte sie zu tief gebeugt. Sie hatte nur die einzige Sehnsucht, mit Fräulein Malchen sich auszusprechen.

Ihre Stimme bebte, als sie um Erlaubniß bat, Malchen holen lassen zu dürfen.

„Ach, was soll die alte Schachtel immer hier,“ meinte Herr von Römpker, „sie schwatzt doch nur aus dem Hause. In ihrem Strickbeutel trägt sie die Neuigkeiten fort. Mir wird immer ganz übel, wenn ich diese Carrés von Glasperlen und schwarzer Wolle sehe mit dem lila Seidenbeutel daran.“

„Malchen klatscht nicht,“ erwiderte Frau von Römpker gekränkt. „So soll mir der einzige Trost versagt sein, an dieser treuen Brust zu weinen?“

„Aber warum willst Du das Weinen denn nicht allein besorgen.“

„Du kannst noch frivol sein, nachdem das Schicksal uns so gestraft hat!“ klagte sie und schluchzte vor sich hin.

Lea kam geräuschvoll, ihr Schritt klang fest, die Seide ihres orientalischen Morgenkleides knisterte.

„Kein Brief für mich?“

„Noch nicht.“

Und der Morgen rückte vor. Bis elf Uhr hielt ihn Lea erträglich aus. Dann erfaßte eine qualvolle Ungeduld ihr ganzes Wesen.

Wenn er gestern abend oder heute morgen gleich geschrieben hätte, müßte sie schon längst seinen Brief haben.

Aber vielleicht hatte sein Bursche denselben fahrlässigerweise gar nicht besorgt und Clairon, vom Dienst nach Hause kommend, fand ihn noch vor.

Dann würde er wettern und auf jagendem Roß jemand senden.

Ja gewiß, so war es. Dann konnte es halb eins oder gar eins werden, denn die Felddienstübungen waren erst gegen zwölf Uhr zu Ende.

Lea hatte einen rettenden Einfall, rettend insofern, als er ihre Ungeduld beschäftigte. Sie zog ein wetterfestes Kleid, einen Regenmantel und Gummischuhe an und lief durch den Park, am Seeweg unter den Erlen dahin, bis sie an das freie Feld kam. Dort watete sie im schlammerweichten Boden weiter, daß die Erdspuren dick an ihren Füßen kleben blieben. Der Regen prasselte auf die Seide des Schirms über ihr und an jeder Schirmrippenspitze bildete sich eine rinnende Traufe.

Endlich hörte der Regen auf. Eine Schar von Raben flog über die Stoppelfelder links und ließ sich nieder.

Rechts von ihr grenzte ein noch ungemähtes Weizenfeld an den Pfad. Das Getreide lag schwer vom Regen niedergestrichen, bei jedem Schritt rauschte es Lea gegen die Füße.

Das Gelände hob sich sanft vom See her und fiel gegen die Stadt zu wieder ab. So entstand eine Wegeshöhe, die, so gering sie auch war, doch gestattete, die beiden Chausseen zu übersehen, welche sich von rechts und links der Stadt näherten.

Lea stand wie eine Statue. Der Wind hob die Enden ihres Gazeschleiers, den sie unter dem Kinn verknotet trug, und spielte damit vor ihrem Gesicht. Das hinderte den freien Blick und sie mußte die flatternden Zipfel mit der Hand auf die Brust niederhalten.

Ihr Hoffen erfüllte sich. Fern und klein erschienen auf der Chaussee von links die Husaren, die im Schritt daherzogen. Sie sahen aus wie lauter Zinnsoldaten, so winzig und so gleichmäßig.

Dicht vor der Stadt fingen ihre Trompeter an zu blasen; der Wind trug einige schwache Laute herüber.

Da wandte sich Lea um, und während sie heimging und sich dann trocken anzog, war ihre Seele gleichsam abwesend. Jetzt ritten sie in die Vorstadtstraße. Jetzt schwenkten die Züge ab. Jetzt hielt Clairon vor seiner Wohnung. Ehrhausen, der nebenan wohnte, sprach vielleicht noch mit ihm. Dafür gab Lea fünf Minuten zu. Dann trat er ein und fragte: ist kein Brief da? Nein. Wie, ist keine Antwort von Römpkerhof gekommen? Keine Antwort? War es zu glauben? Da lag ja noch sein Brief. Verwünscht – und das Pferd war schon weggeführt. Schnell in den Stall und den Fuchs gesattelt. Der Bursche lief nach dem Stall, welcher sich einige Häuser weiter im Hof eines ländlichen Gasthauses befand. Das dauerte wieder einige Minuten. Und gewiß schwatzte er unnütz mit dem Burschen von Ehrhausen, der die Pferde im selben Stall hatte. Aber nun ritt er. Endlich, endlich! Lea sah ihn näher kommen, Meilenstein um Meilenstein.

Sie stand am Fenster der vorderen Wohnräume, um ihn gleich durch die Parkpforte einreiten zu sehen.

Es schlug zwei Uhr. Alle Verzögerungen, die Lea nach und nach um zahlreiche vermehrt und deren mögliche Dauer sie um reichliche Minuten verlängert hatte – alle Verzögerungen gerechnet, war die Zeit dennoch längst verronnen, in der sein Bote hätte hier sein können.

Ihre Wangen brannten, ihr Kopf ward heiß und schwer. Er schmerzte sie so, als bohrten sich ihr Nägel in die Augenhöhlen.

Aber noch ein neuer Hoffnungsgedanke kam ihr.

Er wollte am Ende selbst herausreiten. Er fand ein geschriebenes Wort in dieser Stunde zu kalt und leer. Und er, immer doch ein Sklave seines Dienstes, konnte nicht vor dem Nachmittag.

Aber welche dienstlichen Verpflichtungen ließen sich denn nicht abstreifen? Ein Freundeswort an seinen Rittmeister und er wurde von allen Pflichten frei für heute.

Doch Ehrhausen oder ein Sekondelieutenant von der Schwadron konnte krank oder der Brigadekommandeur angelangt sein.

Er mußte ja schreiben, er mußte! Er konnte sie doch nicht so vergehen lassen in Verzweiflung und Ungewißheit.

Schon wagte sie nicht mehr, ihren Vater anzusehen, schon mied dieser ihren Blick.

Unheimliches Schweigen lag auf dem ganzen Hause.

Im Wohnzimmer, parkwärts, saßen Frau von Römpker und Fräulein Malchen. Fräulein Malchen strickte und ihre Alide nähte an dem Flickenteppich und beide tranken Thee und flüsterten immerfort zusammen.

[413]

Nach einer Photographie im Verlage von R. Wagner in Berlin.
Brunnenpromenade in Kissingen.
Nach dem Gemälde von Ad. Menzel.

[414] Leas Kopfschmerzen nahmen so zu, daß sie unfähig war, noch stehen und gehen zu können.

Sie wankte in ihr Zimmer, legte sich zu Bett und ließ sich Eisumschläge auf die Stirn machen.

„Wenn ich Ludwig zu ihm schicken würde?“ dachte sie.

„Hinschicken? Ihn rufen? Zeigen, wie man leidet? O nein!“

Ein letzter Rest von weiblichem Stolze bäumte sich in ihr auf.

Es wurde Abend. Ihr Vater saß lange still an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Sprechen konnte sie nicht, aber ihr Blick, matt unter halbgesenktem Lid, suchte ihn.

Er war sehr blaß und seine Augen waren feucht.

„Lea,“ begann er mit einmal aus einem Gedanken heraus, den er verfolgt hatte, „ich habe mich gefragt, ob wir ihm schreiben sollen, oder ob ich selbst hineinfahren könne zu ihm. Aber wir dürfen es nicht. Weiß Gott, es geht nicht. Das Warten will ertragen sein.“

Lea preßte mit ihren Fingern seine Hand. Ja, sie empfand es auch, das Warten wollte ertragen sein.

Die Nacht brach an. Frau von Römpker erbot sich, bei Lea zu wachen, doch Lea sagte, daß sie nur ein wenig Kopfschmerzen habe und daß Ruhe für sie am besten sei.

Man ließ die Thür nach dem Ankleidezimmer offen und in diesem eine Lampe brennen. Uebrigens hatte ja Lea neben ihrem Bett den Knopf einer elektrischen Glocke, mittels welcher die Jungfer ihrer Mutter jeden Augenblick geweckt werden konnte.

Lea war allein. Sie sah unverwandt den Lichtstreifen an, der breit durch die Thür kam, auf dem Fußboden lag und dann in einem Winkel schräg an der Wand aufstieg.

Der unglückliche Falter am Betthimmel wachte wieder auf und flatterte an der Decke des Zimmers schattenhaft umher. Zuweilen senkte er sich und taumelte über Leas Gesicht in solcher Nähe hin, daß er ihr ein widriges Gefühl verursachte; endlich fand er den Weg zum Licht. Lea hörte, wie er nebenan ab und zu dumpf gegen die Lampenglocke stieß.

Sie lag ganz regungslos, und allmählich, in der Dauer von Stunden, wurde ihr schmerzender Kopf freier. Aber der Schlaf kam nicht auf ihre Lider.

Und plötzlich brach sie in ein Weinen aus.

Sie preßte die gefalteten Hände vor ihr Gesicht und ihre umhergehetzten Gedanken lösten sich in einem Gebet.

„Nimm ihn mir nicht, Gott! Ich liebe ihn zu sehr. Seit heute weiß ich erst, wie sehr. Vergieb mir, daß ich ihn lassen wollte! Ich will ihn glücklich machen und ein edler Mensch werden.“

Und weil sie in Noth war, geschah es ihr wie Hunderten von Menschen: da demüthigte sie ihre Seele und flehte zu Gott, den sie im Alltagsleben so wenig brauchte.

Als sie gebetet hatte, fühlte sie sich sehr beruhigt. Ihr schien es, als könne einer so selten Bittenden der liebe Gott nichts abschlagen.

Sie schlief ein.

Am nächsten Morgen fand sie ihren Vater allein unten; die Mama ließ um Entschuldigung bitten, daß sie heute im Bette frühstücke.

Lea sah todtenbleich, aber gefaßt aus. Sie wußte, heute kam die Entscheidung, und sie glaubte an eine erlösende.

Aber sie sprachen wenig zusammen bei diesem Frühstück.

Da erschien Ludwig mit strahlendem Gesicht.

„Der Bursche mit diesem Brief vom Herrn Grafen ist gekommen und sagt, Antwort sei nicht nöthig,“ meldete er.

Seine treue Seele freute sich, eine Botschaft bringen zu können, denn er hatte seit vorgestern abend Unheil gewittert.

„Es ist gut,“ sagte Herr von Römpker und nahm ihm den Brief ab.

Leas Aufregung steigerte sich so, daß sie eine förmliche physische Uebelkeit davon empfand.

„Lies!“ sagte sie heiser.

„Er ist an Dich!“

„Einerlei! Ich kann nicht,“ stieß sie hervor.

„Lea,“ begann Römpker mit fast flüsternder Stimme zu lesen, „ich muß Dir für immer Lebewohl sagen!“

Da stieß sie einen fürchterlichen Schrei aus und mit einem verzweifelten Satz war sie neben ihrem Vater und riß ihm das Blatt aus den Fingern.

Sie hielt es zwischen ihren beiden Händen, sah hinein mit vorgeneigtem Haupt. Ihre Lippen lallten die Silben nach.

„Un – würdig – des Na – mens – ei – ner Gräfin – Clai – ron …“

Und das stramm auseinander gehaltene Briefblatt riß mitten durch.

Lea brach in die Kniee. Sie stemmte die Fäuste auf den Fußboden und neigte den Kopf, tief, tief.

So blieb sie lange und ihre Augen bohrten sich in das Holz des Fußbodens.

Ihr Vater stand und barg sein Gesicht in den Händen.

Wie lange sie so blieben, sie wußten es beide nicht. Minuten? Eine Stunde?

Diese Zeit war länger, als ihr ganzes bisheriges Leben ihnen gewesen war.

Endlich raffte Lea sich empor und trat vor ihren Vater. Aus ihrem weißen Gesicht flammten ihn ihre Augen an. Sie packte mit festem Griff sein Handgelenk und sagte mit ihrer tieftönigen Stimme, die jetzt hart und gebieterisch klang:

„Du wirst alles thun, was ich will?“

„Alles, mein Kind,“ sagte er zitternd.

„So laß uns in die Welt hinaus. Am liebsten heute noch. Er soll erkennen, wen er in mir verwirft.“

Römpker umarmte seine Tochter. Er war von Centnerlasten der Angst befreit durch diesen „verständigen Wunsch“.

(Fortsetzung folgt.)



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Kissinger Brunnenpromenade.


Kurbäder und Kurbrunnen erfreuen sich eines hohen Alters. Wenn Faust in seiner Apotheose an den Mond sich dahin äußert:

„Von allem Wissensqualm entladen,
In deinem Thau gesund mich baden,“

so ist das nichts anderes, als was heute ein durch seine Studien überangestrengter, nach dem ewigen Stubenhocken und Bücherstaubschlucken an Brust und Magen leidender Herr Professor an Karls-, Marien- oder irgend ein anderes Bad ausrufen könnte. Und wenn die Griechen von der kastalischen Quelle schwärmten, welche die Trinkenden zu Poeten machte, oder die Edda von dem Born erzählt, an dem die Asen ewige Jugend sich tranken, so ist das sicher so eine Art Apollinaris oder Gieshübler, Faulbrunnen, Rakoczy oder Vichy gewesen, welcher die Gesundheit zurückgab, so daß die kranken Leute sich plötzlich verjüngt und zu lyrischen Extravaganzen angeregt fühlten.

Thermen wurden schon bei den ältesten Kulturvölkern aufgesucht, aber bis in unser Jahrhundert war das Reisen ein so unverhältnißmäßig theures Vergnügen, daß es sich nur wenige bevorzugte Große leisten konnten, und erst seit der Erfindung der Eisenbahn, eigentlich erst seit den letzten Jahrzehnten der Rundreisekarten, der chemischen Analysen, der telegraphischen Depeschen, der Prospekte und Cirkulare hat das moderne Bäderleben wie alles, was heute geboten wird, Bedeutung für alle Schichten des Volkes gewonnen und besitzt in Hunderttausenden von bürgerlichen Familien eine Wichtigkeit, wie man sie früher nicht einmal ausdenken konnte. Nach einem alten Naturgesetz zieht die Kälte zusammen, dehnt die Wärme aus. In den Wintermonaten rücken alle Familienmitglieder gemüthlich in den erwärmten Räumen der Häuslichkeit zusammen, sobald aber die Sonne ihre Strahlen senkrechter zur Erde sendet, treibt es in den Städten wie in einer Tonne gährenden Mostes, und es ist, als ob die Moleküle es nicht mehr nebeneinander aushalten könnten, der Gatte trennt sich von der Gattin, der Bruder von der Schwester, und in weite Kreise sich dehnend, zerstreut sich die Familie nach den verschiedensten Sommerfrischen, in die Alpen, an die See, vor allem in die Bäder!

Ich muß offen gestehen, daß ich mich noch niemals zum Kurgebrauch in einem Badeorte aufgehalten habe: wenn ich also darüber berichte, so thue ich dies gewissermaßen mit der „Objektivität vollster Unkenntniß“; aber ich habe doch einen großen Theil derselben als Tourist kennengelernt, und selbst ein solcher kann sich nicht ganz dem gewinnenden Eindrucke dieses geschäftigen Schlaraffenlebens entziehen. Während man sich das Jahr über nur mit Menschen zusammengespannt sieht, die bis zur Ermüdung des Geistes oder Körpers angestrengt arbeiten, wobei ich allerdings Bälle, Diners, Konzerte, Vorträge, Theater, Besuch von Bildergalerien und Ausstellungen auch ein bißchen in die „Arbeit“ einzuschließen mir gestatte, sehen wir uns hier umringt von Tausenden, welche kaum an etwas anderes denken, als wieviel Schritte sie vor Tisch und nach Tisch gehen, wie lange sie schlafen, wieviel Becher sie vor dem Frühstück nehmen dürfen, wann sie sich heute zum Bade einstellen, ob sie dies oder jenes Gericht bei Tisch an sich vorübergehen lassen müssen oder ob sie es sich genehmigen dürfen, welchen sanften Spaziergang sie diesen [415] Nachmittag wählen, wo sie ihren Kaffee einnehmen werden und ob sie nach dem Kaffee noch ein Stündchen in das Lesekabinett sich verfügen oder der Musik zuhören oder irgendwelches nicht aufregende Spielchen machen sollen und auf welcher Bank sie Platz nehmen könnten, um von den ungemeldeten und unwillkommensten Kurgästen, den Mücken, möglichst wenig belästigt zu werden.

Wenn man als Zugereister die Leute in den Bädern über diese kleinen Sorgen um das Ich mit der wichtigsten Miene der Welt debattieren hört, kann man sich eines Lächelns nicht erwehren, und doch sind sie alle so beschäftigt und gehen abends mit derselben Erschöpfung zu Bett, als wenn sie ein ungeheures Tagewerk hinter sich hätten. Es kommt aber etwas hinzu, was immer und überall anregend wirkt und wenn nicht das Hauptheilmittel, so doch mit den Hauptreiz dieser Kurorte bildet, was die von den gesellschaftlichen Pflichten des Winters und von den sehr lieben, aber oft sehr quälenden Ansprüchen der Kinderstube abgemattete Hausfrau alle Müdigkeit überwinden läßt, wenn es an das Einpacken ins Bad geht, und was den eingestaubtesten Philister seinem Skat und seiner Stammkneipe entfremdet: die Gesellschaft.

All die kleinen Leiden, welche der einzelne zu ertragen hat und daheim unausgesprochen in seinem Innern birgt, um seiner Umgebung nicht lästig zu fallen, hier trifft er Gleichgesinnte, denen er sie in aller Ausführlichkeit vorlegen und bei denen er stets überzeugt sein darf, ein geneigtes Ohr zu finden. Es ist ein Trost im Elend, Genossen zu haben: hier findet die nervöse Dame, welche bei jedem Tastenanschlag zusammenschrickt, Nachbarinnen, welche schon das Summen einer Fliege aus dem Häuschen bringt: hier schließt sich der fette Herr, welcher Jahrzehnte nicht mehr das Glück gehabt hat, seine Füße anders als im Spiegel zu sehen, an eine ganze Kohorte von Leidensgefährten an, im Verhältniß zu denen er sich eine Sarah Bernhardt an Schlankheit vorkommt und mit denen er nun gemeinsam die großen Märsche ausführt, welche ihnen der Arzt gerathen hat; hier trösten sich an attackenfreien Tagen gichtleidende Gourmands über das frugale Mahl, welches ihnen ihr Arzt gestattet, und vornehme hysterische Damen finden bei liebenswürdigen Kavalieren für ihr interessantes Leiden verständnißvolles Eingehen.

Während man aber in den kleineren Bädern einander bald kennt und von jedem zugekommenen Gaste Notiz nimmt, bildet in den großen internationalen Kurorten die Badegesellschaft – dem Meere gleich – eine in ewigem Fluß und Wechsel befindliche Masse, die alle Morgen wenn nicht neue Erscheinungen, so doch neue Toiletten auf den Platz bringt, an deren Oberfläche Bekanntschaften sich anknüpfen, oft flüchtigerer Art, erlöschend, sobald der eine Theil nach Hause fährt, oft beständigerer Natur, mit verhängnißvollem Ausgange, das heißt mit schließlicher – Vermählung.

Mit seinem Bilde aus Kissingen hat Meister Menzel einen Griff ins volle Badeleben gethan, und wo Menzel das Leben packt, da ist’s interessant. Wir sehen die Badegesellschaft von Kissingen in angestrengtester Thätigkeit. Rakoczy und Pandurbrunnen werden auf kleinen beweglichen Oefen vorgewärmt. Rechts kühlt Frau Kommerzienräthin den für ihre Lippen etwas zu heißen Trank durch Blasen ab, während ihre beiden schwarzlockigen Kleinen ein Vergnügen daran finden, ihre Fingerchen in den aufsteigenden Dämpfen zu wärmen; vermuthlich macht es ihnen Spaß, Mama im Trinken Gesellschaft zu leisten, obwohl sie es, Gott sei Dank – durchaus nicht nöthig haben. Der leberleidende hagere Berliner dahinter – ist’s ein Staatsanwalt oder gar ein „Geheimer revidierender Kalkulator“? – erfreut sich, aus der Nelke in seinem Knopfloch zu schließen, derzeit einer ausgezeichneten Stimmung. Zweckbewußt schlürft er sein Glas Nummer 4 – der Mann verzählt sich nicht! Links prüft ein deutscher Gelehrter mit tastenden Fingern eben „das Gemisch“, als stände er in seinem Laboratorium. Er trägt den Typus der achtundvierziger Männer, den runden Hut, den weiten Ueberzieher, den etwas verwilderten grauen Vollbart und graues Haupthaar, aber er ist längst ein ausgesöhnter Mann in Amt und Würden geworden und neigt sehr zu Hypochondrie und Schopenhauerscher Weltverachtung; den Regenschirm, welchen er in steter Gefährdung seiner Umgebung unter den Arm geklemmt trägt, läßt er auch bei sonnigstem Wetter nicht von der Hand. An ihm vorüber schreitet eben ein Mann, den ich entschieden für Hamlets Geist halten würde, wenn man nicht wüßte, daß dieser in Helsingör durchaus unabkömmlich ist. Er ist auch kein Däne, sondern ein Sohn Albions und zwar einer, welcher sein halbes Leben in einem indischen Regiment gestanden hat und im Verkehr mit den Radschputen braun wie ein Hindu geworden ist. Seine Gattin weilt mit der Familie in Brighton, während ihm sein Arzt Kissingen verordnet hat, und er wandert, sein Glas wie einen Orden vom Goldenen Vließ um den Hals gehängt, als ein wandelnder Thurm mit unfehlbarer Regelmäßigkeit schweigsam durch die Trinkerschar. Er versteht zwar kein Deutsch, wenn er aber überhaupt Neigung hätte, sich um andere Menschen zu kümmern, so würde er sich sicher über die Gruppe freuen, welche sich hinter ihm aufgestellt hat. Ein vermuthlich pommerscher Gutsbesitzer, einstmaliger Major, jetzt unternehmender Witwer, heute wieder jung geworden, in weißem Hut und weißem Beinkleide, hat es nämlich erst ungemein schüchtern, dann stufenweise kühner werdend, auf das Herz einer liebenswürdigen Dame abgesehen und überreicht ihr bereits ein Bukett, welches seinen demnächst zu erwartenden förmlichen Antrag einleiten soll. Der geistliche Herr, ein österreichischer Vikar, amüsiert sich über dieses Ereigniß, das er vorausgesehen hat, mit einer gewissen Schadenfreude, denn die lebhafte junge Witwe hat ihm anvertraut, daß sie sich vor acht Tagen mit einem jungen Deutschamerikaner heimlich verlobt hat, der nach Beendigung der Kur heimgekehrt sei, um seine Eltern, Dollarmillionäre, auf seinen Schritt langsam vorzubereiten. Heute noch oder morgen soll von Boston das Kabeltelegramm einlaufen, welches ihr gestatten wird, sich öffentlich als die Braut des vielumworbenen Mr. Bob Miller, Firma Miller Brothers, zu bekennen. Sie nimmt übrigens dem Major a. D. seine Annäherungsversuche nicht übel; die heimliche Braut freut sich, daß sie Eindruck auf den Promenadenfreund gemacht hat, und daß seine Huldigung von der interessanten jungen Dame im großen Hut mit Bänder- und Federnschmuck, welche zu verschiedenen Malen Neid auf ihre Triumphe an den Tag gelegt hatte, bemerkt wird, bereitet ihr, die ihr Schäfchen bereits im Trocknen hat, doppeltes Vergnügen.

Ueberall, wo immer man umblickt, merkwürdige Kurgäste, gemüthliche Philister, grauhaarige freundliche Matronen, junge hübsche Frauen am Arme alter Herren, ein anziehender Roman mit Hunderten von Personen. Selbst zwischen dem kleinen dem Kinderpaare zugehörigen Pudel und dem italienischen Windspiel im Vordergrunde des Bildes würde sich etwas anknüpfen, wenn nicht eine starke Hand letzteres an der Kette zurückhielte. Wie gesagt: das allerschönste von dem Bade bleibt – die Brunnenpromenade.

Daß die Bäder unterhalten, erfrischen, daß der Umgang mit neuen Menschen, die Anregung neuer Lebensgewohnheiten, der Aufenthalt in freier Luft, das regelmäßige Leben wohlthätig wirkt, scheint mir außer Frage zu stehen. Was die Wirkung der Becher und Bäder selbst betrifft, so muß ich das Urtheil darüber den Jüngern der Heikunde überlassen. So viel ist unbestritten: wenn jemand mit seinem vierzigsten Jahre anfängt, Bäder zu besuchen, und das aus Gewohnheit und Dankbarkeit so an 40 bis 50 Jahre hintereinander fortsetzt, dann wird er ein ganz respektables Alter erreichen. Oscar Justinus.     




Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Mein Dienst auf der „Elisabeth“.

Von H. Rosenthal-Bonin.0 Mit Zeichnungen von C. Grethe.

(Schluß.)


Wer noch nie den Tropen sich genähert hat, der kann sich gar nicht vorstellen, was der Passatwind für Schiff und Mannschaft bedeutet. Er ist das Paradies aller Seefahrer auf Erden. Eine Frühlingsluftströmung, die das Schiff wochenlang unter stets mildem, heiter lächelndem Himmel dahingleiten läßt, seinem Ziele zu! Fast nie eine Störung, nur reines, volles Genießen! Mit rosigem Glanz versinkt die Sonne, mit rosigem Schimmer steht sie auf – das Meer ist leuchtend blau, der Himmel von ungetrübter Klarheit. Die See lächelt in leichtem Spiel der Wellen und ist so voll Licht, daß man bis zum Grunde hinunter zu sehen glaubt.

Der Schiffer hat auf seine Weise Ferien, denn schwere Arbeit giebt es jetzt nicht, und ergötzt sich an dem üppigen Thierleben, das der Ocean ihm darbietet. Oft umspielen Herden von Tümmlern das dahingleitende Schiff, Rudel von schimmernden Boniten und dickköpfigen Pottfischen ziehen vorüber, Scharen von lustig springenden und ganz toll sich überschlagenden Delphinen begleiten stundenlang das Fahrzeug; es ist ein märchenhaftes Thierleben, wohin man blickt, und der Seemann greift, um nicht gar zu sehr dem Faulenzen sich zu ergeben, zur Harpune, zielt und schleudert, um sich eine Beute herauf zu holen. Die Thiere sind schlau und vorsichtig und nur selten wird ein Tümmler gefangen; gelingt es aber, eines dieser fetten Burschen habhaft zu werden, so giebt’s ein großes Schmausen an Bord, wenn auch der Gefangene nur für den wenig verwöhnten Seemannsgaumen ein Leckerbissen ist.

Anders verhält es sich hierin mit den fliegenden Fischen. Die sind selbst für den Feinschmecker eine ausgezeichnete Delikatesse.

Das Erscheinen dieser seltsamen Meeresbewohner ist für den Schiffer ein Zeichen, daß er in die Wendekreise eingetreten ist. Unglaublich stark ist diese Zone von den sonderbaren Wesen belebt, denn immerfort und immerfort sieht man bald hier bald dort den silberschimmernden Fisch in Schwärmen zu Hunderten und Tausenden plötzlich aus der blauen Fluth sich erheben und nach einer Strecke von etwa 50 Metern wieder ins Wasser fallen.

Wir fingen diesen willkommenen Luftspringer nachts in Netzen, die vermittelst Stangen am Schiff angebracht waren und wagrecht unmittelbar über dem Wasser schwebten. Eine kleine Laterne wurde an der Stange befestigt, und dutzendweise flogen die vom Schiff aufgeschreckten Fische gegen das Licht, um sich alsbald im Netz zu fangen. In einer Nacht erbeuteten wir so 70 fliegende Fische. Spia Tjaden, unser Beherrscher der Küche, besaß eine besondere Kunst der Zubereitung dieser forellenähnlich schmeckenden Flossenträger; er briet sie sehr schnell in kochendem Fett, und die Frau Kapitän spendete aus ihrem Vorrath Zitronen, mit deren Saft begossen die knusprige Speise aufgetragen wurde.

[416]

Ja, der Passat ist das Paradies des Seemanns! Schon vierzehn Tage führten wir unser wohliges Schlaraffendasein, nur wenig unterbrochen durch allerlei leichte Geschäfte, Waschen, Polieren, Anstreichen, Nageln, Schnitzen, Theeren, Stengenschmieren, Tauanziehen, Segelflicken und Kleiderausbessern. Sommerluft, lachende Sonne, leuchtendes Meer, soweit das Auge reicht, tagelang, wochenlang! Und zwischen Sonne und Meer schwebt lustig dahin das Schiff, mit weißen schöngeblähten Segeln unter stets gleichmäßiger Brise, und die Mannschaft wird dick und wohlgenährt. –

Schon seit einigen Tagen spähte der Kapitän eifrig nach Südwesten – wir sollten die Kap-Verdischen Inseln eigentlich schon erreicht haben! Da ertönte es eines Morgens: „Land too Luvert!“ und wir erblickten in westlicher Richtung, kaum sich abhebend vom Himmel, zart umrissene Linien von Felsbergen.

Das war ohne Zweifel St. Vincent, und in wenigen Stunden würden wir diese zweite wichtige Station unserer großen Fahrt erreicht haben. So dachten wir, aber so leichten Kaufs sollten wir nicht davonkommen.

Ahnungslos segelten wir dahin. Da hob sich plötzlich das Schiff, wie das öfters geschieht, wenn sich aus dem sonst gleichmäßig wogenden Wasser durch irgend eine Rückströmung eine größere Welle aufbäumt, stieß auf den Wasserkamm und fuhr stark nieder. In demselben Augenblick erscholl auch langgezogen der böse Ruf „Mann über Bord“ und der Ausluger deutete nach der Luvrichtung. Wie schnell waren wir aus unserer freudigen Erregung gerissen! Sofort wurde gebraßt, daß der Wind von unten in die Segel fuhr, die Focksegel losgebunden und das Steuer beigedreht, damit das Schiff halte. Zwei Mann sprangen in das Boot und lösten die Schlingen – die andern stürmten gleichfalls dorthin, um zu helfen, und der erste Steuermann stand schon auf dem Kajütendach und warf einen Rettungsring. – Das alles war das Werk weniger Sekunden. Es war ein wildes, fieberhaftes Treiben; denn jetzt konnte jede Minute verlorener Zeit das Leben eines Mannes kosten. Wir sahen den Verunglückten als dunklen Gegenstand schon weit hinter dem Schiff treiben. Der Ring, obgleich gut geworfen, ging doch zu fern von dem Mann ins Wasser. Da sauste das Boot nieder und stieß von der „Elisabeth“ ab; die Ruder wurden eingesetzt, und nun begann ein heißes Jagen nach dem Dahintreibenden, den irgend eine geheimnißvolle Macht der Rettung entziehen zu wollen schien. Er sank und kam wieder nach oben, er schaukelte bald nach dieser Richtung bald nach jener – endlich, bei einer Bogenwendung, die das kräftig vorfahrende Boote machte, schoß er gegen uns, so daß zwei Langruder sich gleichzeitig unter seinen Körper schoben und der Haken ihn festhalten konnte. Der Mann war besinnungslos und gab kein Lebenszeichen von sich; wir zogen ihn herein – es war Mertens! Der stille stets träumerische junge Mann hatte auf der Nock der Bramraa gearbeitet und war bei der unverhofften Bewegung des Schiffes heruntergestürzt. Innerhalb weniger Minuten lag der Gerettete auf Deck, aber es dauerte lange, bis er unter den erfahrenen Händen der Kameraden Zeichen von wiederkehrendem Leben gab. Erst als die Frau Kapitän an dem Rettungswerk sich betheiligte und ein paar stärkende Tropfen dem Regungslosen in den Mund goß, zitterten seine Augenlider, und eine schwache Athmung stellte sich ein. Nach Verlauf einer weiteren Stunde war Mertens aus der tiefen Ohnmacht erwacht; allein er sprach irre und zeigte Spuren einer schweren Erkrankung. So wurde er ins „Krankenlogis“ gebracht und ein Schiffsjunge als Wärter bestellt.

Kranke an Bord sind üble Vorbedeutungen, und die Schiffsleute sind abergläubisch, es herrschte darum ein etwas gedrückter Ton auf der „Elisabeth“ und stiller, als wir gedacht, fuhren wir in den schönen Hafen von St. Vincent.

Der sichere Hafen ist das einzig Schöne an diesem rothgelben, starren, nur äußerst spärlich bewachsenen Felseilande. St. Vincent ist ein trauriger Ort, es regnet hier kaum dreimal im Jahre, es giebt keine Quellen auf der Insel, die Felsen setzen kein Erdreich an und die Schiffe können an diesem Platz nichts bekommen als Kohlen und destilliertes Seewasser zum Trinken, letzteres zu hohen Preisen. Wir waren gezwungen, Wasser einzunehmen, da unser Vorrath erschöpft war, und nachdem dies geschehen war, kehrten wir den glühenden Felskolossen den Rücken und fuhren in die frische See hinaus.

Neben dem Winde hatten mir eine Aequatorialströmung zum Helfer auf unserer Fahrt. Da das herrliche Wetter anhielt, so wäre alles wunderschön gewesen, wenn der junge Mertens nicht den Typhus bekommen hätte. Bleich und entstellt lag er in seiner Koje und redete irre, und namentlich in den stillen Nächten, wenn der Himmel so durchsichtig war, daß wir glaubten, die scheibenförmig erscheinenden, großen, geheimnißvoll leuchtenden Sterne mit Stangen erreichen zu können, hörten wir ihn rufen, lachen, schwatzen, weinen, – ein schauerlicher Gegensatz zu der erhabenen feierlichen lichten Schönheit der tropischen Nächte.

Unsere Kapitänin hatte neben dem Schiffsjungen die Pflege des Schwerkranken übernommen. Viele Stunden des Tages und manchmal auch der Nacht saß die feine Frau an seinem Bette und machte ihm Eisumschläge auf den Kopf und gab ihm Chinin und Limonade, genau nach dem Krankenbuche, das der Kapitän an Bord hatte; jedoch es wollte nicht besser werden. Die Fieberdelirien verstärkten sich und wechselten mit zeitweiliger völliger Bewußtlosigkeit, und in einer wunderbar schönen ruhigen sanft durchleuchteten Nacht, als das südliche Kreuz stärker als je glänzte und die Wellen weithin silbern leuchteten und so eigenartig murmelten, da hauchte der junge Mertens, im Beisein des Kapitäns, seinen Geist aus, die erstarrende Hand in der seiner treuen Pflegerin.

Eine dumpfe, beklommene Stille herrschte an Bord. Als der [417] Kapitän den Tod des jungen Kameraden in das Schiffsbuch eintrug und wir alle unterschrieben, da liefen den harten Seeleuten die Thränen über die gefurchten Wangen.

„Mann über Bord!“

Am nächsten Morgen wurde das Deck besonders geputzt, unten in dem „Krankenlogis“ wurde ernst gearbeitet, und nach einiger Zeit kam die Leiche des Entschlafenen, sorgfältig in Segeltuch eingenäht und auf ein starkes Brett gebunden, herauf. An der Regeling wurde sie aufgebahrt. Das Schiff ward zum Stehen gebracht und die Flaggen auf Halbmast herabgezogen. Ein leises Glockenzeichen, die Mannschaft tritt zusammen, vor der Leiche wird ein Kreis gebildet, der Kapitän spricht das Vaterunser, und wir sprechen es leise mit. Dann wird das beschwerte Brett über die Regeling gehoben und langsam in die klare, heiter lächelnde Fluth hinabgelassen. Wir sahen es sinken, immer dunkler war es, erst tief blau, dann schwarz, endlich entschwand es ganz unseren Blicken, und nur einige aufsteigende Blasen zeigten an, wo unser Kamerad in kühler Tiefe sein Grab gefunden hatte.

Glucksend und murmelnd spielten die Wogen am Körper des Schiffs während dieses einfachen Seemannsbegräbnisses, und aus der Kajüte hörten wir das Weinen und Schluchzen einer Frauenstimme.

Dann wurde das Schiff wieder in Gang gesetzt, das Steuer drehte sich knarrend, die Brise schwellte die Segel, und fort ging es, südlichen Küsten entgegen.

Begräbniß.

Einige Tage war es auf der „Elisabeth“ noch recht still; gedrückt schlichen wir umher und [418] thaten schweigend unsere Arbeit – dann forderte das Leben seine Rechte, die altgewohnte Heiterkeit kehrte wieder bei uns ein.

Nach Süden – nach Süden!

Zwei Wochen waren seit dem Begräbniß von Mertens verflossen und aus der Aequatorialströmung kamen wir in den Guineastrom, der uns durchaus nach Osten führen wollte. Da gab es denn tüchtige Segel- und Steuerarbeit. Der Wind frischte auf und acht Tage kämpfte die „Elisabeth“ mit schiefstehenden Masten gewaltig – dann erreichten wir südatlantische Strömung und das Ferienleben begann wieder, hier und da unterbrochen von einem tropischen Regenguß, der binnen weniger Sekunden das Verdeck zollhoch mit Wasser übergoß und unseren Trinkwasservorrath ganz anständig vermehrte. „Solch ein Regen schlägt durch Blech und Schmiedeeisen“ – meinte Spia Tjaden, der Schiffskoch; in der That, Gummimantel und Theerdecken helfen nichts dagegen, davon habe ich mich manchmal überzeugt!

Tapfer durchschnitt die „Elisabeth“ weitere zwölf Tage die blauen südlichen Wasser – dann näherten wir uns dem Aequator. Die Fahrt über die „Linie“, welche die Erdkugel in zwei Hälften theilt, läßt kein Schiff ohne die Feierlichkeiten vorübergehen, die ein Hauptspaß für die älteren Seeleute, weit weniger ergötzlich und angenehm aber für die Neulinge sind, die bisher die Linie noch nicht passiert haben; denn diese müssen in jeder Hinsicht die Kosten des Vergnügens tragen.

Eines Morgens, nachdem der Kapitän eifrig Messungen angestellt hatte, konnte man denn auch ein geheimnißvolles Treiben auf und unter Deck wahrnehmen.

Unter der „Linie“.

Am Bugspriet ward ein Kübel Seewasser aufgestellt, der Theereimer fand daneben Platz, und über dem Wasserkübel ward ein hübscher Sitz auf einem Brett errichtet. Der Schiffszimmermann, prächtig als Neptun verkleidet, mit einem riesigen Holzdreizack und einem fußlangen Flachsbart, und Spia Tjaden in Admiralskleidung, der in dieser Uniform einem Jahrmarktsaffen wunderbar ähnlich sah, waren unter den Klüverbaum gestiegen; der Rest der Mannschaft hatte sich am Ankerspill aufgestellt. Langsam kam Neptun auf die Back und fragte in feierlichem Tone die Versammelten: „Könnt’ wi an Bord kamen?“ Lautes Hurrahrufen war die Antwort. Und nun umwandelte Neptun mit Gefolge unter der Melodie „Mädele ruck, ruck, ruck an meine grüne Seite“ dreimal den Kübel, dann nahm er Platz auf der Back, sein Admiral hinter ihm – ein Leichtmatrose und ein Schiffsjunge waren die Täuflinge.

Zuerst begann das Examen: ob der Schiffsjunge wüßte, was ein Schiff wäre – wie dem Teufel seine Großmutter mit ihrem Mädchennamen geheißen habe – was daraus entstünde, wenn man Pflaumen mit Theer gekocht äße, und andere dergleichen schöne Fragen mehr. Nachdem diese gebührend beantwortet waren, zeigte man den beiden den Aequator; sie mußten durch ein Fernrohr sehen, über dessen letztes Glas ein Haar gezogen war. Das war der Aequator!

Jetzt erhielten die Täuflinge die Erlaubniß zum Gehen – aber plötzlich eilte ihnen jemand nach. Sie hätten sich ja den Bart nicht abnehmen lassen, sie seien heut’ an ihrem hohen Feiertag nicht rasiert! Das dürfe nicht ungestraft bleiben – und bevor die Unglücklichen sich dessen versahen, waren sie auf die Bank über dem Kübel gesetzt, mit Theer wie beim Barbieren „eingeseift“ und gründlich mit einem Holzmesser rasiert. Mitten in dieser Prozedur ein Ruck, man hat das Brett unter ihnen weggezogen und sie fallen in den Wasserkübel. Mühsam arbeiten sie sich unter dem Jubel der Kameraden heraus, da werden noch ein paar Eimer Wasser über ihre Köpfe gegossen und vervollständigen die Taufe. Den Schluß bildet die Erlegung der Taufgebühr in Form einer tüchtigen Grogbewirthung, deren Kosten die Frau Kapitän großmüthig aus ihrer niedlichen grünseidenen Börse für die armen Teufel bestritt.

Den ganzen Tag über herrschte Karnevalstimmung auf der „Elisabeth“, Mittags gab’s Backpflaumen und Kartoffelklöße und am Abend ein Tänzchen auf dem Deck. Erst tanzten die Männer miteinander, daß das Schiff in seinen tiefsten Planken erzitterte, und dann gewährte als besondere Ehre die Frau Kapitän jedem Schiffsmann einen Tanz, bei dem die alten Seebären die Dame so zart anfaßten, daß oft Herr und Dame allein tanzten, bis sie sich endlich wieder fanden.

So wechseln Ernst und Scherz, Heiteres und Trauriges auf dem Schiff. Für den Seemann ist eben sein Fahrzeug die ganze Welt. Auf den schwankenden Planken lebt und webt er. Am Lande giebt er nur Gastrollen und macht Dummheiten. –

Der Aequator war hinter uns und wir suchten die Brasilianische Strömung zu gewinnen, um Pernambuco anzulaufen.

[419] Der Steuermann war mir noch immer die Geschichte der Heirath des Kapitäns schuldig. Wie das beim Dienst so geht, verschiedene Mal fing er in seiner orakelhaften Manier an, dann kam etwas dazwischen und er mußte seinen schmallippigen Tabakmund schließen.

Heute saßen wir in sonntäglicher Stimmung am Achterdeck auf einer schön gelegten Taurolle. Das Wetter war lieblich, das Schiff glänzte vor Sauberkeit und spiegelte sich mit seinen Segeln wie ein Riesenschwan in der Fluth. Der Kapitän hatte, wie üblich, ein Kapitel aus der Bibel gelesen und saß jetzt mit seiner Frau vor dem Kajütenlicht, sein Warenbuch auf den Knieen, und rauchte sein Pfeifchen, während die Frau Kapitän neben ihm sich niedergelassen hatte und, den Kopf an seine Schulter gelehnt, auf ein Kästchen sah, das Geranien, Stiefmütterchen und Levkoien enthielt, Pflänzlein aus ihrem heimathlichen Garten in tropisch üppiger Entfaltung. Ich schaute zu dem friedlich dasitzenden Paare hinüber und der erste Steuermann auch.

„Was ist es denn mit der Heirath des Kapitäns?“ fragte ich.

„Nicht leiden wollt’ es der Alte, ihr Alter.“

„Warum denn nicht?“

„Der Kapitän hatte kein Schiff, war arm, hatte eben erst sein drittes Examen gemacht und keinen Groschen im Beutel.“

„Da hatte der Alte ja doch recht!“ warf ich ein.

„Nicht recht hatte er!“ grollte der Steuermann. „Denn das Mädchen wollte ihn doch haben; sie besaß selbst von der Mutter Geld, nicht viel, aber genug, um ein Schiff zu kaufen. Dem Alten war der Aarhus zu simpel, nur ein einfacher Schiffer, dessen Vater ein Lotse gewesen – er wollte was Vornehmes für seine Tochter, wenigstens den Sohn eines Senators.

Da sagte jedoch die Tochter ‚Pros’t Mahlzeit‘ – –“

„Habt Ihr’s gehört?“ unterbrach ich den Steuermann.

„Nein!“ rief er ärgerlich – „ich sage nur so! – Sie erklärte also dem Alten, daß sie nur diesen Mann und keinen andern nehme, denn der habe ihr Herz. Es gab einen großen Zank, und der Alte sprach von Enterben und Verstoßen. Die Tochter aber legte den Finger auf die Bibel und sagte: ‚Da steht, du sollst Vater und Mutter verlassen und dem Manne anhangen!‘ und nun gab’s noch mehr Skandal. Der Alte wollte seine Tochter fortbringen, einsperren, was weiß ich; man sprach in ganz Bremen davon, und eines Tags ging das Mädel fort, ließ sich in Schottland trauen, kam als Frau Aarhus wieder und zog gleich in das kleine Haus zu ihrem Schwiegervater, wo auch ihr Mann wohnte. Das gab ein Aufsehen! Jetzt trat Kapitän Aarhus fest auf beim Alten, bis der schließlich das Geld seiner Tochter herausgab; Aarhus kaufte sich dann den schönen ‚Morgenstern‘, den er ‚Elisabeth‘ umtaufen ließ, und fuhr mit seiner Frau ab. Jetzt mag sie bei ihren Blumen an ihren Vater und an das große Haus daheim voll Gold und Silber denken! – Aber es reut sie nicht, das weiß ich gewiß!“ schloß der Steuermann seinen Bericht.

„Nein, sicher nicht!“ wiederholte ich mit Ueberzeugung, „wenn auch mancher wehmüthige und schmerzliche Gedanke ihr durch den Kopf gehen mag. Der Kapitän ist ein tüchtiger, ehrenwerther, schöner Mann und ein Schiffer ersten Ranges, und er hat eine ehrliche Liebe zu seinem Weib Elisabeth.“

Das Schiff „Elisabeth“ zog indessen weiter seine Bahn. Allmählich jedoch nahm die Herrlichkeit des ewig schönen Wetters ein Ende. Die Regengüsse mehrten sich und Gewitter mit starken Luftströmungen und plötzlichem Windwechsel mahnten zu großer Aufmerksamkeit. Wir näherten uns nämlich der brasilianischen Küste, und in diesen Breiten begann jetzt der Winter mit seiner Regenzeit. Nebel hatten wir zwar nicht zu fürchten, doch gab es in diesen Gewässern schon Gegensegler, in gleichem Kurs fahrende entgegenkommende Schiffe – etwas, was man im Passat zu dieser Jahreszeit nicht zu besorgen hat.

Noch eine vierzehntägige unruhige Fahrt, und eines Abends ertönte wieder der Ruf vom Ausguck „Land in Sicht! Twee Strich in Lee!“ Die Sonne neigte sich zum Untergang, der Tag war erträglich gut gewesen, und bei klarem Himmel erblickten wir jetzt Berglinien in zartem rosa Duft. Vorläufig mußten wir uns mit dem Anblick aus der Ferne begnügen, denn da vor Pernambuco eine gefährliche Felsbank liegt, so waren wir gezwungen, die Nacht über zu kreuzen.

Am nächsten Morgen hielten wir auf die Küste zu, und bald kam uns auch das Riff zu Gesicht, an dem die Wellen in langen weißen Linien sich schäumend brechen. Es erstreckt sich, vor der Küste hinlaufend, wohl zwei Stunden breit und bildet den guten Hafen der berühmten brasilianischen Hafenstadt, während es zugleich die Einfahrt bedeutend erschwert. Auf unsere Signale kamen in einem lateinischen braunrothen Segler zwei Lotsen, die uns erst einen langen Weg nach Norden steuerten, und dann erschien vom Riff her eine Dampfbarkasse, die auf uns zufuhr. Sie nahm uns ins Schlepptau, und herein glitten wir in das gelbbraune Wasser, zwischen Felsbank und Stadt in den Hafen, ein riesenhaftes Wasserbecken, wo wir im Osten neben einer Anzahl andrer großer, hauptsächlich italienischer und englischer Segler Anker warfen.

Sobald die Ankunft des Schiffes gemeldet war, fuhr ein Boot mit der Post vom Hafenamt auf uns zu. Es war ein Eilbrief da für die deutsche Brigg „Elisabeth“, Kapitän Aarhus, an die Adresse der Frau Kapitän Elisabeth Aarhus.

Ich sah Frau Elisabeth erbleichen, als sie die Aufschrift des Briefes erblickte. – Sie zitterte und mußte sich einen Augenblick an die Kajütenhauswand lehnen, dann erbrach sie den Brief und las – ihr blasses Gesicht färbte sich rosig, und plötzlich fiel sie dem neben ihr stehenden Kapitän um den Hals und lachte und weinte und weinte und lachte.

Der Brief war von ihrem Vater, ein Dampfer hatte ihn vor vierzehn Tagen schon von Bremen gebracht. Ich hatte Gelegenheit, das Schriftstück später zu lesen – es lautete:

„Obwohl Du Dich von mir getrennt hast, um einen Mann zu heirathen, den ich seiner gesellschaftlichen Stellung nach Deiner nicht würdig glaubte, will ich doch nicht hart sein und Dir Dein Vaterhaus noch ferner verschließen.

Es hat mir wehgethan, daß Du nur schriftlich von mir Abschied nahmst, als Du eine so große Reise, dazu auf einem Segelschiff, antratest. Ich hätte Dich, wenn Du gekommen wärst, wie meine Tochter empfangen und Deinen Mann auch. Ich habe Stunden schwerer Sorge um Dich gehabt und schreibe Dir diese Zeilen, damit Du bei Deiner Ankunft in Pernambuco sofort telegraphieren mögest, ob Du gesund und wohl bist.

Ich will Deinen Mann als meinen Schwiegersohn anerkennen und in alle seine Rechte einsetzen, denn es soll nicht heißen, daß ich den Gatten meiner Tochter in kleinen Verhältnissen gelassen habe; man hat mir von seiner Tüchtigkeit und seinem Muth erzählt, und so wird er wohl seinen Platz behaupten und, wie ich hoffe, uns Ehre machen.

Ich begreife, wenn Du – namentlich in den ersten Jahren – Deinem Manne auf seinen Fahrten folgen willst. Es ist mir jedoch ein peinlicher Gedanke, Dich allen Zufälligkeiten der Segelschiffahrt ausgesetzt zu sehen, und deshalb biete ich Deinem Manne an, die Brigg ‚Elisabeth‘ mir zu überlassen und dafür den Dampfer ‚Bremen‘, der in Pernambuco liegt und dies Schreiben überbracht hat, zu übernehmen, als selbständiges Eigenthum, als Dein Vatergut. Er ist ein vortrefflich ausgestatteter Kauffahrteidampfer von dreitausend Tonnen und besitzt eine Kajüte, in welcher Du bequem wohnen kannst. – Gerhardt, der mit dem ‚Bremen‘ in Pernambuco liegt, ist von allem verständigt und wird die

[420]

Das Frühlingsfest der Berliner Künstler.
Nach einer Zeichnung von C. E. Doepler d. Ält.

[421] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.

[422] ‚Elisabeth‘ sammt Ladung auf meine Rechnung übernehmen. Ich bitte Deinen Mann, den ‚Bremen‘ mit den von mir gecharterten Gütern, Baumwollenballen und Tabak, zu incargieren und hierherzuführen. – Es drängt mich, Dich bald wieder zu sehen.
Dein Dich liebender Vater 
Jakob Krusen, 
Senator.“ 

Natürlich zauderte Kapitän Aarhus keinen Augenblick, die ‚Elisabeth‘ gegen den prächtigen Dampfer zu vertauschen, denn welcher Kapitän würde nicht lieber auf einem großen Dampfer herrschen als auf einem Segler, wer würde anstehen, einen Dampfer im Werthe von etwa mehreren hunderttausend Mark gegen ein Segelschiff auszuwechseln, das vielleicht achtzigtausend gilt. Und dann konnte er auf einem so schönen Dampfschiff seiner jungen Frau ein anderes Logis und andere Bequemlichkeiten bieten als auf dem besten Segelschiff. Für die Dauer war der Aufenthalt auf einem Segler für die ganz anders gewöhnte Frau auch kaum durchführbar – das mochte der Kapitän auf dieser Reise eingesehen haben.

Am folgenden Tage, nachdem wir gelandet waren, gab mir Kapitän Aarhus den Brief seines Schwiegervaters und theilte mir seinen Entschluß mit, die „Elisabeth“ abzugeben. Ich begriff ihn, bat aber zugleich, meinen Dienst auf der „Elisabeth“ quittieren zu dürfen. Gerhardt war ein ganz guter Mann, ich kannte ihn, allein als Kapitän war er nur ein erfahrener Handwerker, und nachdem ich auf der „Elisabeth“ unter einem Kapitän gedient hatte, der mein Freund war, gelüstete es mich nicht weiter, auf demselben Schiff unter den gänzlich veränderten Verhältnissen zu bleiben.

Ich beschloß, vorläufig in Pernambuco Station zu machen und, soweit meine bescheidenen Mittel reichten, eine andere Gelegenheit abzuwarten. Aarhus billigte meinen Entschluß, die Kapitänin hätte mich gern auf dem „Bremen“ gesehen – ich vertröstete sie auf später – und so endete mein kurzer, aber erlebnißreicher Dienst auf der „Elisabeth“.




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Eine Beichte.

Novelle von Ernst Wichert.

Bei „Meinharts“ wurde heute schon vom frühen Morgen an silberne Hochzeit gefeiert. Die Nachbarn waren durch den Choral der Stadtkapelle aus dem Schlaf geweckt worden, und etwas später, so um die Kaffeezeit, hatte der Herr Oberst sogar die Regimentsmusik geschickt, die zwar im Garten hinter dem Hause spielte, aber straßenweit vernehmlich war. Hätte noch jemand zweifeln wollen, wem an diesem 20. Mai die Ständchen galten, so würden ihn die Laubgewinde zurechtgewiesen haben, die von geschäftigen Händen über Nacht um das Thürgerüst genagelt, um das Geländer der Vortreppe gewickelt und in Bogen aus den Fenstern des freundlichen Häuschens in der Kollegiengasse gehängt worden waren. Aber die ganze Stadt wußte auch ohne das alles, daß „Meinhardts“ silberne Hochzeit feierten.

Doktor Eduard Meinhart war erster Oberlehrer am städtischen Gymnasium, seit einigen Jahren schon durch den Titel Professor ausgezeichnet, die Hauptstütze der Anstalt, klassischer Philologe und Litterarhistoriker zugleich, ebenso beliebt bei seinen Schülern als bei deren Eltern – ja, man durfte dreist sagen: bei der ganzen Stadt. Er stellte gleichsam deren geistigen Mittelpunkt vor, nicht so sehr durch sein Amt, so viel Würde es ihm auch geben mochte, als durch persönliche Eigenschaften, durch seinen Geist, seine ungewöhnliche Begabung, seine Fähigkeit, die ganze Gesellschaft anzuregen. Er ließ sein Licht nicht in der Studierstube und im Schulzimmer verglimmen, sondern gern überallhin leuchten, wo man sich daran erfreute. Nicht leicht konnte etwas Gemeinsames unternommen werden, ohne daß er an die Spitze trat; und war es auch nur im Sommer ein Waldfest oder im Winter eine Schlittenfahrt, immer hatte er dabei eine Ueberraschung bereit, die kein anderer in dieser Weise bieten konnte. Er dichtete Prologe und Lieder, hielt ernste und launige Tischreden, ordnete Reigentänze und lebende Bilder an, schrieb sogar kleine Lustspiele für allerhand feierliche Gelegenheiten und übte sie als Regisseur ein. Er brachte regelmäßige Vorlesungen zustande, hielt den Journalzirkel in guter Ordnung, war der beste Berather des Buchhändlers, der die Leihbibliothek besaß, und mußte selbstverständlich jedem Ausschuß angehören, der sich mit öffentlichen Angelegenheiten nichtpolitischer Art zu beschäftigen hatte. Ihm war es zu verdanken, wenn die Provinzialstadt ein reicheres gesellschaftliches Leben entfaltete als mancher größere Ort, und man kargte auch nicht mit Dank. Das sollten der Professor Meinhart und seine Frau heute erfahren.

Frau Cäcilie – oder Cilli, wie man den Namen allgemein nach dem Beispiel ihres Mannes abkürzte – war nur wenige Jahre jünger als dieser und vielleicht niemals besonders schön gewesen; aber ihr schmales, von aschblonden Locken eingefaßtes Gesicht zeigte noch jetzt einen ungemein lieblichen Ausdruck und das große Auge eine wundersame Leuchtkraft. Sie schien sich die Aufgabe gestellt zu haben, ganz ihrem Manne zu leben, und sie versicherte, daß dies für eine Frau das beste Mittel sei, auch ihren Kindern etwas zu werden und der Gesellschaft nützlich zu sein. Was war das aber auch für ein reizendes eheliches Verhältniß! Wenn man von einer Musterehe sprechen wollte, wies man auf Meinhardts. Der Himmel ihres Glückes schien nie getrübt gewesen zu sein. Wie frei und doch wie rücksichtsvoll sie verkehrten! Was das eine that, war dem andern immer recht. Die Gesellschaft, so viel sie die beiden in Anspruch nahm, führte sie keineswegs voneinander ab. Wer freilich den vollen Genuß von ihnen haben wollte, mußte sie in ihrer ganz einfachen, vielleicht etwas altmodischen Häuslichkeit aufsuchen.

Sie hatten drei Kinder, alle wohl gerathen. Das älteste war ein Mädchen, vor kurzem an einen wohlhabenden Gutsbesitzer in der Nähe der Stadt verheirathet. Der Sohn studierte und war zum Fest von der Universität gekommen. Das jüngste Töchterchen zählte erst sechzehn Jahre, ähnelte der Mutter und besaß dabei die ganze Lebhaftigkeit und geistige Regsamkeit des Vaters, nicht zum wenigsten dessen Talent, Verse zu machen und Dramatisches mit wechselnder Stimme vorzulesen. Sie war des Hauses hellster Sonnenschein. In ihr schien vereinigt neu zu erstehen, was die beiden Alten einander zugebracht hatten. Es war nicht zu entscheiden, ob sie mehr ein Liebling des Vaters oder der Mutter war, deren Namen sie erhalten hatte. Aber die älteren Geschwister, denen sie das reizendste Spielzeug gewesen war, gönnten ihr auch neidlos diesen Vorzug.

Ich kannte Eduard Meinhart von alter Zeit her. Wir waren zusammen auf der Universität, sogar in derselben burschenschaftlichen Verbindung gewesen und hatten uns eng befreundet. Er war drei Semester hindurch unser Senior. Schon damals bewies er sich als ein in mancher Hinsicht ungewöhnlicher Mensch – streng sittlich ohne kleinliches Aburtheilen, heißblütig und verständig zugleich, fleißig und doch stets für uns zu haben, ebenso leicht angeregt als wieder anregend. Er verstand es trefflich, uns zusammen zu halten, für gemeinsame Zwecke in Thätigkeit zu setzen, eine idealistische Richtung zu geben. Er war unbemittelt, verdiente den größten Theil seines Unterhalts durch Stundengeben und als Korrektor einer Buchhandlung, schien aber nichts zu entbehren und erübrigte noch immer so viel, daß er seiner „Bude“ mit den Gipsbüsten unserer großen Dichter, für die er schwärmte, ein künstlerisches Ansehen geben konnte. Aus seiner Feder kamen nicht nur Kneiplieder, auf die wir stolz waren, so schwer sie sich auch singen ließen, sondern ebenso historische Trauerspiele, in denen die Helden den Mund gewaltig voll zu nehmen pflegten. Wir nannten ihn „Schiller“ und versprachen uns für ihn eine große Zukunft.

Ich wußte auch, daß er heimlich verlobt war, und hätte mich gewundert, wenn ein so leicht entzündliches Herz nicht früh Feuer gefangen hätte. Verlobt freilich –! Das Wort hatte einen philiströsen Beiklang. Ein Student, der schon ans Heirathen dachte –! Ich begriff, daß er darüber nicht gesprochen haben wollte. Selbst für mich war seine Braut nur immer „seine Liebe“. Ich erfuhr trotz unserer engen Freundschaft von dem [423] Verhältniß vielleicht nur, weil ich einmal in seiner Abwesenheit auf dem Tische seines Zimmers ein Heft mit Gedichten „an Cilli“ fand, das er wegzuschließen vergessen hatte.

Nun wurde ich sein Vertrauter. Das Mädchen sei arm, sagte er, aber ein Schatz von Herzensgüte und Edelmuth, ihm ganz ergeben. Hätte es sich sonst auch entschließen können, so lange auf ein eigenes Heim zu warten? Ich erlaubte mir schüchtern die Frage, ob es für einen Menschen seiner Art, ob es für seine dichterischen Pläne und Hoffnungen gut sei, sich so früh gefesselt zu haben. Allein er versicherte in stürmischem Erguß, von einer Fessel sei da gar nicht die Rede. Cilli sei die treibende Kraft seines Lebensschiffes, sie gerade begeistere ihn zu seinen Dichtungen, sie sporne ihn an zu wissenschaftlichen Arbeiten, sie stelle allen seinen Bemühungen ein würdiges Ziel. Was hätten da einige Jahre zu bedeuten, die sie so wenig zähle wie er. Er las mir Gedichte vor, welche die wärmste Begeisterung und echte Empfindung athmeten. Nach allem, was er mir mittheilte, konnte ich so wenig an der Aufrichtigkeit und Stärke seiner Neigung als an seiner Charakterfestigkeit zweifeln.

Wir waren dann nach den Studienjahren bei verschiedener Berufsthätigkeit voneinander ab-, gelegentlich auch wieder einmal zusammengekommen. Eduard hatte nicht ganz gehalten, was die Genossen einst sich von ihm versprochen. Er war freilich ein sehr tüchtiger Philologe geworden, der seine Examina gut bestand, aber nicht der große Mann, den sie erwartet hatten. Es fiel mir auf, daß er noch als Doktor eine Hauslehrerstelle in einem gräflichen Hause annahm, aber er erklärte mir’s damit, daß er von allen Mitteln entblößt sei und nothwendig einige hundert Thaler ersparen müsse, um sich über das Probejahr an einem Gymnasium hinwegzubringen. Die Frage, wie es mit der Poesie stehe, schien ihm unbequem zu sein. Zur Ausführung der großen Ideen, mit denen er sich trage, meinte er, habe sich bisher unmöglich die Zeit finden lassen.

Endlich erfuhr ich, daß er verheirathet sei. Ich hatte mich auf Reisen befunden und schon deshalb zur Hochzeit nicht eingeladen werden können. Nach meiner Rückkehr besuchte ich ihn in der kleinen Stadt, in der er seine erste Anstellung mit vier- oder fünfhundert Thalern Gehalt gefunden hatte, und traf ihn im Besitz seiner Cilli, wirklich einer prächtigen Frau, so glücklich, wie ich mir überhaupt einen jungen Ehemann denken konnte, freilich auch etwas abgespannt von der schweren und oft unerfreulichen Berufsarbeit. Die kleinen und hie und da wohl kleinlichen Anforderungen seines Amtes mochten es auch sein, welche manchmal etwas wie einen Schatten, wie einen dunklen Schein von Mißmuth in seinen Zügen hervortreten ließen. Doch Frau Cäcilie mit ihrer anmuthigen und theilnehmenden Art, die wie von selbst eine herzliche Freundschaft auch zwischen ihr und mir ermöglicht hatte, schien die Wolke zu zerstreuen, eigentlich ehe sie entstanden war. Wo die Gedichte und Trauerspiele Eduards geblieben seien, darüber machte ich mir wenig Gedanken. Wenn man ein Stück Leben kennengelernt hat, versteht man es ganz gut, daß nicht alle die schönen Blüthen, die ein junger Baum überkräftig treibt, Früchte ansetzen.

Ich sah ihn und seine Frau im Laufe der Jahre noch wiederholt, wenn auch selten, aber ich hörte oft genug rühmen, daß er ein sehr braver Schulmann geworden sei und sich in seinem Kreise großen Ansehens zu erfreuen habe. Er theilte mir nicht nur pflichtschuldigst die Geburt seiner Kinder mit, sondern trug mir bei dem jüngsten sogar eine Pathenstelle an, die ich natürlich mit Dank annahm. Auch daß er Professor geworden sei, schrieb er mir mit einigen humoristischen Bemerkungen, die mich doch darüber beruhigten, daß ihm die Auszeichnung Freude bereitet habe. Damals ließ er auch einfließen, daß seine silberne Hochzeit nicht mehr weit ausstehe, um die Hoffnung anzuknüpfen, daß ich dabei nicht fehlen werde. Und da ich jetzt nur wenige Stunden Eisenbahnfahrt von ihm entfernt wohnte und aufrichtig die Sehnsucht empfand, den alten Freund an dem Ehrentage seiner glücklichen Ehe ans Herz zu schließen, auch seiner Frau mit mehr als mit einigen schriftlichen Worten meine freudige Theilnahme auszudrücken, so folgte ich der Einladung gern und war schon zum Polterabend an Ort und Stelle. Das liebenswürdige Paar wollte mir durchaus nicht erlauben, ins Gasthaus zu gehen; ich mußte das Giebelstübchen beziehen, das für mich hergerichtet war, und wurde gebeten, mir gar nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wo der Herr Studiosus ein Unterkommen finde. Der Abend in der Familie war sehr erquicklich, und die Feier durfte ich nun nicht als ein fremder Gast, sondern als ein Hausgenosse mitmachen.

Das war eine Feier! Schon um elf Uhr waren alle Tische mit prächtigen Blumenkörbchen und Sträußen bestellt. Das Lehrerkollegium erschien vollzählig, und der Direktor überreichte·mit einer lateinischen Rede als Geschenk die kostbare Ausgabe eines Klassikers, sich in gutem Deutsch gleich darauf bei der lieben Frau entschuldigend, daß man die Wahl so einseitig getroffen habe. Die Kolleginnen hoben aber jedes Bedenken, indem sie vor der Frau Professor einen Teppich ausbreiteten, den sie gemeinsam gestickt hatten. Dann kam eine zahlreiche Abordnung· der Sekundaner und Primaner, dem geliebten Lehrer zu gratulieren und ein Album zu überbringen. Der Bürgermeister erschien für den Magistrat, der Stadtverordnetenvorsteher schloß sich ihm an. Die Geistlichen, die Richter, der Landrath, endlich auch der Oberst brachten ihren Glückwunsch an.

Von den angeseheneren Gewerbetreibenden, ihren Frauen und Töchtern wollte niemand fehlen, selbst viele Gutsbesitzer aus dem Kreise fuhren vor. Die Thür stand gar nicht still. Im Nebenzimmer sang die Liedertafel, Gedichte wurden aufgesagt, Geschenke überreicht. Und jeder, der sich einfand, mußte bleiben, so eng der Raum auch war. Die Frau Professor hatte für Speisen und Getränke in Ueberfülle gesorgt. Man zog in den Garten, wo Tische und Bänke aufgeschlagen waren, nahm die Bratenschüsseln, Flaschen und Gläser mit und blieb weit über die Mittagsstunde hinaus vergnügt beisammen. Das Fest sollte abends in der „Ressource“ mit Illumination und Feuerwerk fortgesetzt werden, wozu die Familie und ihre Hausgäste feierlichst eingeladen worden waren.

Ich hatte den wohlthuenden Eindruck, daß alle diese Leute sich mit aufrichtiger Hingebung betheiligten. Jeder schien es als ein Herzensbedürfniß zu empfinden, „Professors“ an diesem Tage zu zeigen, wie man sie liebe und hochschätze. Ich sprach viele von den Herren und Damen, und alle waren voll ihres Lobes. Dabei stand, wie ich bald bemerken mußte, die Frau keineswegs in zweiter Linie. Sie hatte Verehrer, die sehr geneigt waren, ihr sogar den ersten Platz zu geben. So der alte Arzt. „Ich kenne die beiden,“ sagte er mir, „so lange sie hier am Ort sind, und ich kenne sie besser als mancher andere, weil ich im Hause die ganze Zeit über Arzt war. Jetzt freilich verdiene ich mein Honorar mit Sünden, spreche alle acht oder vierzehn Tage einmal vor, sitze im Lehnstuhl und verplaudere ein Stündchen sehr angenehm; aber die Kinder sind auch einmal klein gewesen und haben so weit gebracht werden wollen, daß sie nun kräftige gesunde Menschen geworden sind. Aus dem Vollen war nicht zu greifen, es mußte sehr sparsam gewirthschaftet werden. Und der Mann hatte Bedürfnisse, die in so enger Häuslichkeit und mit so spärlichen Mitteln schwer zu befriedigen waren. Er wollte von aller Noth des Lebens möglichst unberührt sein, ruhig seine wissenschaftlichen Arbeiten fördern können, daneben genug guten Humor behalten, um sich auch schöngeistig zu beschäftigen und in stetem Zusammenhang mit der Gesellschaft bleiben, die seine Talente beanspruchte. Frau Cilli hat das Unmögliche möglich zu machen gewußt. Und doch, glaube ich, hat es Zeiten gegeben, in denen der liebe Mann an nervöser Verstimmung litt und ihr die Sorge nicht durch freundliche Anerkennung erleichterte. Es war etwas in ihm, das über die vermeintliche Enge des Hauses hinwegstrebte, und es gehörte eine ganz feine Art der Leitung dazu, ihn immer durch sich selbst die Grenzen ziehen zu lassen, die er nicht überschreiten durfte, ohne das häusliche Glück zu gefährden. Freilich mußte man schon ein so naher Hausfreund sein wie ich, um dergleichen leichte Trübungen überhaupt bemerken zu können. Ach, diese Frau! Man lernt sie gar nicht aus. Was der Professor uns geworden ist, liegt gleichsam auf der Hand; wir danken es ihm, daß er alle geistigen Kräfte angespannt und uns aus der erbärmlichen Kleinstädterei herausgeholfen hat. Aber daß er das konnte und zum Besten des Ganzen alle seine liebenswürdigen Eigenschaften rein zu entfalten vermochte, das kommt doch zum guten Theil auf Rechnung ihres stillen Wirkens. Und dieses Wirken hat sich niemals aufs Haus allein beschränkt. Ich selbst bin Zeuge ihrer Wohlthätigkeit und ihres tapferen Verhaltens in allerhand Nothständen gewesen. Sie besitzt eine Willenskraft, die man ihrer schwächlichen Gestalt und [424] ihrem milden Wesen nicht zutrauen möchte. Ohne daß sie je laut hervortritt, ordnet man sich ihr unter. Unsere Frauen wissen, was sie an ihr haben.“

Der alte Herr hatte sich ganz warm gesprochen und auch in mir das freundschaftliche Gefühl für Frau Cilli neu gesteigert; und wie sie jetzt mit dem Silberkränzchen auf dem blonden Haar vor uns stand, erschien sie mir nur noch ehrwürdiger. Als die Gäste endlich gegangen waren und wir „en famille“ in der Fliederlaube saßen und den Kaffee tranken, hatte ich eigentlich bloß noch Augen und Ohren für sie, wie sie zu jedem ihrer Kinder nach deren Alter und Lebensstellung ein anderes und immer das wohlthuendste Verhältniß fand und dem Schwiegersohn recht freundschaftlich gute Lehren gab, damit er auch einmal eine so fröhliche silberne Hochzeit feiern könne. Ihren Mann schalt sie, ohne sich ihm doch zu entziehen, wegen seiner Zärtlichkeit aus, die der Wein verschulde. Das wollte er aber nicht gelten lassen. „Es sind freilich mehr als dreißig Jahre darüber vergangen,“ sagte er, „daß ich den ersten Kuß bekommen habe – ja, ja! der Freund kann’s ungefähr nachrechnen – aber ich hoffe doch, daß dieser jetzige“ – er drückte ihn herzhaft auf ihren Mund – „noch lange nicht der letzte sein wird.“

Sie ließ ihm ihre Hand und lehnte sich an seine Schulter, doch nur, um sich gleich wieder aufzurichten. Eine Minute lang schien sie etwas zu bedenken; es war, als ob es in ihren hellleuchtenden Augen schon fertig dastände, während es sich hinter der Stirn erst fornte. Sie blickte still über den Kreis ihrer Kinder hin, nahm das Gesicht ihres Mannes zwischen ihre Hände und fragte: „Bist Du nun mit Deinem Geschick zufrieden, Eduard?“

Er schien zu stutzen, als hätte für ihn die Frage noch eine ganz besondere Bedeutung. Dann umarmte er sie und sagte: „Mein liebes, liebes Weib!“ – Er war ernster geworden, sah auf das Silbersträußchen in seinem Knopfloch hinab und fuhr im schlichtesten Ton fort: „Kein Mensch kann auf diesen Schmuck mit größerem Stolz, mit innigerer Freude blicken als ich. Wie hat man uns heute geehrt, wie viele gute Worte der Anerkennung haben wir vernommen, wie überzeugend aufrichtig hat man unser Glück gepriesen! Und wie wenig ist doch davon in die Erscheinung getreten, für alle sichtbar geworden! Was wir einander gewesen sind, wissen ja selbst die Kinder nicht ganz; kaum haben wir’s eines dem andern gestanden. Aber es ist gut, daß so ein Tag kommt, an dem Rechenschaft gehalten und ein klares Urtheil gesprochen wird. Ob ich glücklich bin? – Von ganzem Herzen!“

Es schien sie zu durchschauern. „Du hast recht,“ sprach sie verloren vor sich hin, „es ist gut, daß solche Stunden kommen. Da dürfen wir jene Augenblicke vergessen, wo wir nach dem rechten Weg zum Glück nur unsicher tasteten, wo so wenig, so ganz wenig fehlte und –“ Sie brach plötzlich ab, wie erschreckt durch die eigenen Worte und die fragenden Blicke, welche sie an ihren Zuhörern bemerkte.

„Verzeih mir, Eduard,“ wandte sie sich an ihren Mann, „Du weißt, wir sind über unsere Erinnerungen nicht Herr, weder über die freudigen noch über die andern.“ Die Augen waren ihr feucht geworden, sie stand auf, drückte einen Kuß auf Eduards Stirn und trat dann in den Gang hinaus, der hinter der Laube am Zaun entlang führte.

Mein Freund saß noch eine kleine Weile auf seinem Platz, sehr ernst und ein wenig verlegen. Dann erhob auch er sich und folgte ihr. Ich sah, daß er den Arm um ihre Schulter legte und mit ihr auf und ab ging. Sie sprachen leise miteinander.

Wir Zurückbleibenden hatten wohl sämmtlich das Gefühl, in die schöne Harmonie des Festes sei ein Mißklang gekommen, der sie wenigstens für den Augenblick störte und dessen Ursache sich uns verbarg. Nach längerem Schweigen versuchten wir ein Gespräch einzuleiten, das die Tagesereignisse zum Gegenstand nahm, brachten es aber nur zu kurzen Bemerkungen. Das Fräulein begann den Tisch abzuräumen, die verheirathete Schwester half. Der Studiosus forderte seinen Schwager und mich zu einem Gang durch die Stadt auf. Jener war gleich bereit. Ich hatte das Bedürfniß, nach diesen mit neuen Eindrücken übersättigten Stunden ein wenig auszuruhen, und bat, mich zu entschuldigen. So blieb ich allein zurück.

Den Kopf an einen Eckpfosten gelehnt, sann ich mit geschlossenen Augen über den räthselhaften Vorgang nach, der eben sich abgespielt hatte. Nur wenige Minuten mochte ich so in mich versunken gewesen sein, als ich durch ein Geräusch aufgeschreckt wurde. Ich sah Frau Cilli am Eingang der Laube. Sie war offenbar rasch eingetreten, hatte sich indessen schon wieder abgekehrt, um fortzuschleichen.

„Darf ich Sie bitten, zu bleiben, beste Frau Professor?“ rief ich ihr nach, „Sie stören nicht.“

„Ich habe aber schon gestört,“ antwortete sie, sich umwendend. „Es thut mir leid, allein ich vermuthete nicht …“

„Sie sehen, ich bin ganz munter,“ beruhigte ich sie. „Wo ist Eduard?“

„Ich habe ihn in sein Zimmer geschickt,“ sagte sie lächelnd, „damit er sich in seiner Art eine Erholung schafft.“

„In seiner Art? Er wird sich doch wie andere Menschen in diesem Fall aufs Sofa legen und ein Stündchen verschlafen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Das würde ihn nur noch mehr ermüden. Nein, er muß ein wenig arbeiten, mindestens in einem Buche lesen, das seine Gedanken ablenkt und an anderer Stelle fesselt. Ich kenne ihn. Er ist durch die Gesellschaft leicht angeregt und dann voll Empfänglichkeit für ihre erheiternden Wirkungen. Aber sie darf ihn nicht zu lange zerstreuen wollen. Ich weiß, daß er sich vor diesem Tage im stillen nicht wenig gefürchtet hat – aus keinem anderen Grunde, als weil er dachte, vom frühen Morgen bis zum späten Abend Jubilar sein zu müssen. Nun konnte ich ihm gar keinen größeren Gefallen erweisen, als daß ich ihn selbst dazu drängte, den Schlafrock anzuziehen und sich an den Schreibtisch zu setzen. Sie sollen einmal sehen, wie munter und frisch er hinterher wieder sein wird. Er wollte sich freilich von mir nicht trennen, am Tage unserer silbernen Hochzeit, – wie schickt sich das! So sagte ich ihm denn, daß ich durchaus mit Ihnen noch ein bißchen ungestört plaudern möchte, und da fügte er sich.“

Natürlich sprach ich meine Freude über diese unverhoffte Gunst aus. Aber wie sehr ich mich auch bemühte, die Plauderei wirklich in Gang zu bringen, jeder Anlauf mißglückte. Frau Cilli war offenbar unaufmerksam und zerstreut, ich selbst innerlich noch zu sehr mit den Gedanken beschäftigt, in welchen sie mich vorhin unterbrochen hatte. Ob sie in Wahrheit nur „ein bißchen ungestört plaudern“ oder mich über ihre Erregung von vorhin aufklären wollte?

Während ich unwillkürlich diese Frage zu entscheiden suchte, mußte ich wohl die Freundin mit recht forschenden Blicken angesehen haben. Denn auf einmal brach sie kurz ab und sagte:

„Es ist unmöglich, Sie über meine Bewegung wegzutäuschen, ich lese es in Ihren Augen; Sie ahnen, daß mein Kommen halb eine bestimmte Absicht hat und im Zusammenhang steht mit den Worten, die mir vorhin vielleicht sehr unbedacht entschlüpften. Sie sind meines Mannes ältester Freund, und ich glaube, auch für mich selbst ein wenig Ihre Theilnahme und Liebe gewonnen zu haben. Darf ich da nicht, um mein Gemüth zu erleichtern, zu Ihnen flüchten und am heutigen Tage Ihnen gleichsam eine Beichte ablegen? Wollen Sie mich gütig anhören?“

„Ich merkte wohl, daß es sich für Sie um ein außerordentliches Geheimniß handelte,“ versuchte ich im heitersten Ton zu entgegnen, um ihr die Eröffnung zu erleichtern. „Ich bin ganz Ohr, verehrteste Freundin. Was Sie zu beichten haben werden –“

„Wer weiß,“ fiel sie ein. indem sie mit einer nervösen Bewegung das lockige Haar von der Schläfe fortstrich, „wer weiß, ob Sie mich absolvieren werden. Fast hätte ich’s vorhin ausgesprochen, wie so wenig gefehlt habe, daß Eduard und ich diesen schönen Tag nie erlebten. Er erscheint Ihnen doch als ein schöner Tag? Und allen den andern auch, die ihn mit uns feierten, und uns selbst … ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich bin, daß ich Eduard glücklich weiß. Ich darf’s doch? Das ist eben die Frage, die mich beschwert. Ich habe vielleicht ein großes Unrecht gegen ihn begangen. Vielleicht! Vielleicht auch nicht, und ich hoffe … aber diese Hoffnung kann wieder ein selbstsüchtiges Gefühl sein. Sie sollen entscheiden.“

„Es ist Ihnen bekannt,“ fuhr sie nach kurzem Nachsinnen fort, „daß Eduard Student war, als er sich mit mir verlobte. Daß er es that, war nicht das Ergebniß einer leidenschaftlich erregten Stunde. Wir hatten einander schon lange still im Herzen getragen und wohl auch durch Zeichen, die in solchem Fall beiden Theilen untrüglich scheinen mögen, zu verstehen gegeben, daß wir in unsern Empfindungen übereinstimmten. Eduard bat schriftlich [425] um meine Hand, nicht einmal unmittelbar nach einem Beisammensein, und ich antwortete ihm auf demselben Wege. Wir hatten beide Zeit gehabt zu kühlerer Ueberlegung, und es wäre unsere Schuld gewesen, wenn wir trotzdem voreilig dem Zwange eines noch unklaren Gefühls gefolgt wären. Meine zumal! denn so jung ich war, mein Verstand war in einer sehr herben Schule des Lebens früh ausgereift, und ich übersah mit aller Deutlichkeit den weiten und beschwerlichen Weg bis zum Ziele. Ich sagte ihm, daß ich an seine Liebe glaube und sie aus wärmstem Herzen erwidere, fügte aber mit einer Dringlichkeit, die er für aufrichtig halten mußte, die Bitte hinzu, nochmals sehr ernstlich zu prüfen, ob er sich und seiner Zukunft nicht ein Opfer des Herzens schuldig sei, das jetzt noch leicht wäre. ‚Ich weiß,‘ schrieb ich ihm, ‚daß Sie unverbrüchlich Ihr Wort halten werden, wenn Sie es gegeben haben – dafür bürgt mir Ihr Charakter. Aber um so mehr ist es Ihre Pflicht, nicht den Augenblick über Ihre ganze Zukunft bestimmen zu lassen. Wenn Sie je bereuten, würden Sie tief unglücklich sein und mich tief unglücklich machen – Sie müssen die Gewißheit fühlen, nie bereuen zu dürfen!‘ Er antwortete mit einem schönen Gedicht, dessen letzte Zeile lautete: ‚Ich liehe Dich und weiß, nie kann mich’s reu’n.‘ So sandten wir uns denn das Wort, das unseren Bund besiegeln sollte, und als wir einander darauf Aug’ in Auge blickten, brauchten wir es nicht erst noch auszusprechen, daß wir nur gethan hatten, was wir thun mußten – daß wir uns fürs Leben angehörten.

Wie heiter vergingen uns die Jahre! Wir waren ganz unserer Liebe froh, küßten und lachten, wenn wir beisammen waren, wie nur lebensfrisches junges Volk lachen und küssen kann, und schrieben uns in den langen Trennungszeiten Briefe voll unsinniger Zärtlichkeiten, doch auch voll ernster Selbstbekenntnisse, die uns bewiesen, daß unser Streben allewege Schritt hielt. Es war noch so lange, bis wir uns am Altar würden die Hände reichen können – wir dachten kaum flüchtig so weit voraus, lebten ganz der beglückenden Gegenwart. Ich wußte mich geliebt und war überselig, Eduard durch meine Liebe voll befriedigt zu sehen.

Er dichtete. Schon vor unserer Verlobung hatte er mir schüchterne Verse zugesteckt, und ich gestehe, daß sie ihm mein Herz nur um so rascher gewonnen hatten. Wenn man uns Mädchen so schön besingt –! Und daß man uns besingt, macht schon die Verse schön. Aber Sie kennen ja selbst viele seiner Liebeslieder und haben sie gelobt, wie er mir später einmal verrieth.

Daß ich sie nicht kritisierte, werden Sie verstehen. Was kümmerte es mich, ob ein Dichter vor ihm die Reime schon künstlicher verschlungen, den Jubel seines Herzens eigenartiger auszudrücken verstanden hatte; ich fand die Empfindung treu und schlicht, wie ich selbst sie in ihm geweckt hatte, sah mich in seiner Dichtung wie ein verschöntes Spiegelbild. Kein Wunder, daß ich ihn ermuthigte, seiner reichen Begabung alle Freistunden zu widmen.

Er schrieb indessen an mich nicht nur Verse, die wirkliche Herzenserlebnisse waren. Sie wissen ja, daß der dichterische Drang ihn auch zu epischen und dramatischen Versuchen trieb. Er hatte immer mit einem Uebermaß von Ideen zu kämpfen, die sich stets sehr rasch, aber so im ersten Anlauf unvollkommen gestalteten.

Er theilte sie mir unfertig mit, immer ganz Feuer und Flamme, und ich bemühte mich redlich, sie mir faßbar zu machen und ihm selbst näher zu bringen. Meist jedoch kamen meine Erwägungen schon zu spät. Er versicherte dann, längst sich selbst überzeugt zu haben, das sei doch nichts oder bereits verbraucht; etwas anderes aber verspreche den besten Erfolg. Und selten erging es diesem andern glücklicher. Er durchstöberte die ganze Weltgeschichte nach dramatischen Stoffen, plante, entwarf die Personenverzeichnisse und die Reihenfolge der Auftritte, führte wohl auch ganze Akte aus, um schließlich die Arbeit, die ihm nicht genügte, wieder liegen zu lassen. Einige Dramen wurden auch fertig, und ich selbst schrieb sie sauber für ihn ab, damit er sie einer Bühne einreichen könne. Aber sei es, daß dann die Lust schon verraucht war, daß er die Scheu nicht überwinden konnte, sich hinauszuwagen, oder daß die ersten Schritte schon auf Hindernisse stießen – er hatte die Freude daran verloren und vermied sogar, darüber zu sprechen. Etwas anderes – wieder etwas anderes!

Ich darf nicht verschweigen, daß ich mich zu diesen Erzeugnissen seiner Muse nicht ganz in gleicher Weise stellte wie zu seinen Liebesliedern. Auch sie schienen mir voll Talent, voll Kraft und Schwung zu sein, allein sie hatten für mich immer etwas Gemachtes, künstlich Erzwungenes, nicht aus seinem eigentlichen Wesen Herausgewachsenes. Sie waren gewiß so gut und in vieler Hinsicht besser als Stücke, die von den Theatern aufgeführt, von den Zeitungen mit Aufmerksamkeit besprochen wurden. Und dennoch sah ich nur zu deutlich, daß ihnen etwas fehlte, wofür Eduard gar kein Auge hatte und das ihnen doch erst die Theilnahme des Publikums sichern konnte – glaubte es wenigstens zu sehen.

Es war vielleicht ungeschickt, daß ich ihn darauf aufmerksam machte, ohne imstande zu sein, mich klar auszusprechen; aber ich dachte ihm zu nützen. Ich merkte bald, daß ich ihn verstimmte, und schwieg.

Das gefiel ihm noch weniger.“




Das Frühlingsfest der Berliner Künstler.

Von Hermann Heiberg.0 Mit Abbildungen von C. E. Döpler d. Ä.

Kalter Mai, doch endlich Sommersonne! Nach den rauhen Pfingsttagen ein lichtdurchflutheter, heißer Tag, ein blauer reiner Himmel und die Natur mit ihrem sattfrischen Grün an Bäumen, Gebüschen und Rasen in prangender Schönheit, die schon allein das Auge entzückte, als am 21. Mai der Verein Berliner Künstler sich anschickte, in dem Ausstellungsparke nahe beim Lehrter Bahnhof die Feier seines fünfzigjährigen Bestehens durch ein großes Kostümfest zu begehen, das den Einzug Karls des Großen in Aachen nach der Rückkehr von der römischen Kaiserkrönung darstellen sollte.

Nach drei Uhr beschritt ich den Vorplatz, der in einem stillen Frieden dalag und ein Alltagsgesicht bot, als sei’s ein Irrthum, hier näher zu treten, um ein großes Schaugepränge in Augenschein zu nehmen. Aber schon hinter dem Stadtbahnbogen veränderte sich das Bild; eine Gruppe von Avaren auf weißen Rossen erschien, Brustketten rasselten und Sturmhauben blitzten; und nachdem ich mit eifriger Anstrengung einen Platz gewonnen hatte, ward mir zunächst der Anblick des von Tribünen eingerahmten, mit Zuschauern besetzten Festplatzes, auf dem sich ein Schauspiel entrollen sollte, das durch seine schier erdrückende Farbenschönheit und Mannigfaltigkeit unvergeßlich bleibt.

Bis an den Zeustempel hinauf, der noch von dem großen pergamenischen Fest vor ein paar Jahren herstammt, Mengen Volkes, rechts und links bis auf die Spitzen des Uraniatheaters Zuschauer, Herren und Damen im Festkleide, und alles umstrahlt von dem Gold der Sonne.

Eben tönen durch die heiße Luft die Gesänge der in schneeweiße, blauumrandete Tuniken gehüllten Schulkinder und der Mönche, die an dem Fuße des Tempels sich aufgestellt haben.

Dann eröffnet den langen Zug die Geistlichkeit in wallenden Gewändern, geführt von einem Priester, der den goldenen Krummstab in der Rechten hält. Knaben mit vergoldeten Palmenwedeln; dahinter die Scharen der frommen Nonnen, deren ernstblickende [426] Gesichter von Kapuzen umschlossen werden. Viele halten brennende, mit Blumen besteckte Wachskerzen, deren gelbes Licht von der hellen Luft seltsam absticht, in den Händen. Man vermeint, den Duft des Weihrauchs zu spüren, obschon die geschwungenen Kessel keinen solchen ausströmen.

Ihnen folgen, gemessenen Schrittes, die Benediktiner Mönche; sie tragen braune Kutten und haben sehr weltliche Gesichter, aber die buntgekleidete Menge neigt sich ehrfürchtig; unter dem Baldachin, geleitet von Aebten in prunkvoller Stola und in schneeigen Chorhemden, nähert sich der Erzbischof von Köln, eine mächtige Gestalt mit weißem Barte. Hinter der Geistlichkeit trabt der Kellermeister; seine Nase ist roth und das Auge gläsern, auch vermag er der Lust nicht zu widerstehen, einen Trunk aus einem Kruge zu nehmen – ein köstliches Bild! Dazu vom Festplatz her ernster feierlicher Hymnengesang und das wehmüthig die Luft durchzitternde Flötenspiel der blaugekeideten Musikanten.

Mein Auge umfaßt nun nochmals das Ganze. Ein Rahmen von Zuschauern, ein freier großer Platz, Hunderte von braunen, weißen und schwarzen Gestalten der Geistlichkeit, zu Seiten das bunteste Gemisch von Reisigen und Landstreichern, Bürgersleuten, Männern, Frauen, Burschen und Mädchen; links drüben das Palatium, auf dem die Kaiserin mit ihren Hofdamen thront, rechts der kaiserliche Herrschersitz, und als Wandcoulisse das hellsaftige Grün der die leichten Anhöhen bedeckenden Parkbäume und Gebüsche, aus denen in buntem Gemisch zum Zug gehörende Aachener Weiber hervorlugen. – Weiß, roth, gelb und grün! Schlanke und breitbrüstige Gestalten mit den seltsamsten Stickereien an den Doppelgewändern, mit silbernen und goldenen Ketten, byzantinischen Ohrringen und Reifen!

Am Ausgang aber, den Park begrenzend, steht in alterthümlicher Architektur das „Aachener Thor“ mit seinen von Schießscharten durchbrochenen Thürmen und seiner Laube, einer überdachten offenen schmalen Halle, in der fast plumpen Einfachheit des Baues und der kalkhellen, unter den Fenstern die Spuren der Zeit zeigenden Abtönungsfarbe! Ein Meisterstück von „Echtheit“, und von geradezu großartiger Wirkung!

Nun aber hat das Auge wieder andere Aufgaben. Schmetternde Fanfarentöne der Trompeter oben auf der Laube verkünden die Ankunft Karls des Großen, der nach der Kaiserkrönung in Rom in seine getreue Stadt Aachen einzieht und sich huldigen lassen will von allem Volk. Wer nicht wie ich in unmittelbarster Nähe, als stehender Zuschauer hinter der Aachener Bürgerschaft an dem Feste theilgenommen hat, vermag sich keine Vorstellung zu bilden von der Unsumme charakteristischer Einzelheiten, durch die der Blick während des Festzuges staunend gefesselt ward. –

Den Aufzug einleitend, sprengen gepanzerte Reiter mit verhängten Zügeln auf den Platz, sie sollen den Raum säubern; Krieger mit Speeren schließen die Volksmengen ab. Dann ertönt das Glöcklein mit seinen dünnen, alterthümlichen Klängen vom Thurm des Aachener Thors. Hinter dunkel gewappneten Reitern, denen der prunkvoll gekleidete Marschall vorauszieht, erscheint ein Wald von Speeren und Piken, getragen von riesigen Gestalten; es ist mächtiges Kriegsvolk in gebuckelten Lederkollern, Panzern, Eisenhelmen, mit Bären-, Löwen- und Pantherfellen behängt, glitzernd mit den ehernen Schilden, den Stirnbändern und tausendfältigem Schmuck, mit Schwertern und Dolchen; hoch über dem Haufen ragende Feldzeichen, ungeheuerliche Thierleiber mit aufgesperrten Rachen und rothen Zungen. Jetzt die rauschenden Klänge einer Bläserkapelle in mattrothen Wämsern und gekrümmten Mützen, endlich eine Schar Maien tragender Pagen in lichtblauen Gewändern: das ist der Vortrab.

Ihm folgt in seiner farbenreichen Pracht die mächtige Gestalt des Kaisers Karl hoch zu Roß. Ein gelbschwarzer Lederpanzer bedeckt die breite Brust; das blonde Haupt mit dem in Fülle strotzenden röthlichen Bart ist vom Helm überschattet, ein grünrother Mantel hängt von den Schultern herab, und die Rechte lenkt den purpurbedeckten Hengst.

Nun hebt sich Kaiser Karl höher im Sattel, streckt die Hand aus, und wie mit Zauberschlag sinkt alles auf die Knie, endloser Jubel dringt aus den Kehlen der Tausende von buntflimmernden Gestalten und braust durch die jetzt eben gedämpftere Luft. Das war ein Schwirren, Schilderklirren, Rasseln, Leuchten, und als nun doch wieder die Sonne hervorbrach, ein Brennen, Funkeln und Strahlen sondergleichen.

Aber da die Sinne soviel zu gleicher Zeit in sich aufnehmen mußten, so war’s fast eine wohlthuende Erleichterung, daß nach diesem allein mehr als eine halbe Stund in Anspruch nehmenden Aufzug und der damit verbundenen Huldigung des Volkes und Krönung des Kaisers eine längere Ruhepause eintrat.

Dann zeigte sich der Kaiser, der sich zurückgezogen hatte, in neuer Gewandung vor dem Volke. Das Eintreffen der Kaiserin ward angekündigt; sie erschien in samtener goldgelber Robe, eine herrliche, dunkle Frauengestalt, und der Frankenbeherrscher neigte sich und geleitete sie zum Thronsitz, um den sich die Fürsten, die Heerführer, die Töchter des Herrschers und der schimmernde Hofstaat geschart hatten.

Alsbald folgte der Reigentanz der Aachener Bürgerschaft auf dem Festplatz. Röcke und Haarzöpfe flogen, Kappen und Mäntel hoben sich reizvoll ab in dem fluthenden Licht. Das Händeklatschen klang lustig, und das Juchhe! aus fröhlichen Kehlen wollte kein Ende nehmen.

Und jetzt der Zug des Landvolkes! Mit Ochsen bespannte Wagen, in ihnen eine Fülle von eigenartigen bäuerlichen Gestalten zwischen Stroh und Maiengrün, zwischen Fässern und [427] Humpen und allerlei Geräth; weiße und braune Hengste vor primitiv zusammengezimmerten, großen, plumpen Fuhrwerken mit Rädern ohne Speichen, alles echt, von verblüffender Wirkung! Zwischendurch zweifelhafter, zerlumpter Troß, Landstreicher, Rattenfänger mit lebendigen Thieren, Kesselflicker und Panzerschmiede, betrunkene Wegelagerer und unvermittelt daneben Fremdlinge aus fernen Ländern: Mohren, Araber, byzantinische Krieger; endlich berittene Sachsen, die sich später – selbst Zuschauer – wieder zu neuen Gruppen vereinigten.

Geradezu berückend in seiner glänzenden eigentümlichen Farbenpracht war der den Schluß bildende Gesandtschaftszug. Maurische Fürsten, Sklaven mit Goldgefäßen, Teppiche, Pfauenwedel, krumme Säbel, Beduinen, Haremsweiber, Kamele, Mohrenkönige, Perser in üppigen, langen Gewändern, mit gelocktem Haupt- und Barthaar, und wilde trotzige Avaren!

Den Gesandtschaften zu Ehren fand dann ein Reiterschwerttanz statt auf wilden Rossen, ein Stück Reitkunst, das in der größten Manege nicht besser hätte ausgeführt werden können.

Das war der erste, wegen der Massen, die auf dem verhältnißmäßig kleinen Raum sich entfalten mußten, ein wenig zögernd sich entwickelnde Theil des Festes.

Ihm folgte in märchenhafter Schönheit das Abendfest im Park; träumerische silberne Gewässer, berauschende Musik, Tanz auf dem Festplatz, der bald von smaragdgrünem, bald von purpurrotem oder magnesiumweißem Licht umflossen ist; im Hintergrunde, ernst, mächtig emporstrebend, der Tempel, beleuchtet von drei einzelnen flammenden Fackellichtern.

Ich sah das Feldlager der Krieger, schritt vorüber an den Wirthschaften, in denen bunte Gruppen zechten und lachten.

Häufig versperrten den Weg singende und spielende, einen Höllenlärm verursachende Musikantenbanden.

Hier und dort huschten auch einzelne Paare vorüber, und im Theater lauschte das Volk dem lustigen Festspiel.

Und warme, weiche Luft und volles Leben unter den Tausenden: Jubel wohin man kam und sah, immer Neues, die Sinne Fesselndes, ob es nun in der Osteria war, wo an den langen Tischen Aachener Bürger mit Persern Schmollis tranken, oder in der Konditorei und in den Hallen des Hauptrestaurants, wo in buntem Wirrwarr gepanzertes Kriegsvolk mit modischen Damen des 19. Jahrhunderts den Champagner überfließen ließ und jetzt den „Frohsinn“ als alleinigen Herrscher auf den Thron setzte!

Der Einzug Karls des Großen in Aachen würde verdienen, von dem Stift eines Adolf Menzel wiedergegeben zu werden. Ich bemerkte den Meister im Saal des großen Restaurants, wie er mit seinem weißen, runden Kopf fast allzu ernsthaft den wilden Tänzen der Araber zuschaute, und es wirkte seltsam, seine kleine, moderne Gestalt auftauchen zu sehen unter den weiß umwallten Orientalen, den tief verhüllten, eine betäubende Musik vortragenden Haremsgestalten und den sich in frommer Raserei ergehenden Fakiren und Derwischen. – Erst als Nacht und Tag sich leise berührten, als das große Gestirn am Himmel seine Ankunft durch tastendes Licht verkündete, hatte das herrliche, malerische Fest sein Ende erreicht!




Blätter und Blüthen.

Brehms Thierleben. Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit der große Naturforscher Alfred Edmund Brehm mit der „Gartenlaube“ in Verbindung trat, und diese Verbindung hat sogar seinen Tod überdauert. Noch im letzten Jahrgang konnten in diesen Blättern dem Leser Abschnitte aus Brehms populären Vorträgen mitgetheilt werden, die inzwischen auch als Buch unter dem Titel „Vom Nordpol zum Aequator“ erschienen sind. Wenige Jahre aber nach jenem Eintritt Brehms unter die Mitarbeiter der „Gartenlaube“" erschien der erste Band desjenigen Werkes, welches seinem Namen den festesten Grund in der Werthschätzung des deutschen Volkes gegeben hat, der erste Band des „Thierlebens“. Von 1863 bis 1869 währte die allmähliche Veröffentlichung der ersten Auflage in sechs Bänden, 1876 bis 1879 folgte die zweite in zehn Bänden, und nunmehr stehen wir bereits vor der dritten Auflage des Riesenwerkes, von welcher drei Bände, die Säugethiere umfassend, zur Ausgabe gelangt sind. Brehm selbst, der am 11. November 1884, noch nicht sechsundfünfzigjährig, sein Leben beschloß, hat für diese neue Auflage nichts mehr thun können; aber in Pechuel-Loesche, Wilhelm Haacke, E. L. Taschenberg, W. Marshall u. a. gewann die Verlagshandlung (das Bibliographische Institut in Leipzig) tüchtige sachverständige Männer, welche die Neubearbeitung des Brehmschen Textes übernahmen, ihn mit den neuesten Ergebnissen der Forschung in Einklang zu setzen und von unwesentlichen Abschweifungen zu befreien bemüht waren, selbstverständlich unter schonender Wahrung der Eigenart des ursprünglichen Verfassers. Eine wesentliche Erneuerung wird das Abbildungsmaterial erfahren, insofern nach der Ankündigung der Verlagshandlung im ganzen gegen tausend Neuzeichnungen dem Werke einverleibt werden sollen.

Wir wünschen dem „Thierleben“ auch in seiner neuen Gestalt eine immer weitere Verbreitung in unserem Volke; denn besser, als alle lobenden Worte es aussprechen können, wissen die Leser der „Gartenlaube“ aus eigener Erfahrung, wie Brehm das Thierleben kennt, wie meisterhaft er es zu schildern versteht – und wie erziehend, erhebend, sittlichend die eingehende Beschäftigung mit der Natur an der Hand eines so bewährten Führers auf den Geist des Menschen wirkt. [428] Ein Lebensretter im Hochgebirge. Vom Hintergrunde des Grödnerthales in Tirol führt, mitten hindurch durch die bizarre Pracht der Dolomiten, ein Uebergang hinüber nach Kolfuschg, vom Volke das „Grödner“ oder „Kolfuschger Jöchl“ genannt. Es ist nicht schwierig zu begehen im Sommer und bei gutem Wetter. Anders aber, wenn wildes Schneegestöber oder dichter Nebel den Pfad verhüllt! Der einsame Wanderer, der auf dieser Höhe vom Unwetter überfallen wird, sieht sich plötzlich rath- und schutzlos den tückischen Elementen preisgegeben, er verliert den Weg, irrt verzweifelnd umher und ist rettungslos dem Verderben verfallen, wenn nicht eine helfende Hand sich nach ihm ausstreckt.

Und sie ist ihm nahe, die helfende Hand. Ein alter Bauer taucht plötzlich vor ihm auf, in grobem Lodengewand, mit „Schneestrümpfen“ (Gamaschen) angethan und Schneereifen an den Füßen. Er reicht dem Verschmachtenden erst einen stärkenden Trunk, dann geleitet er ihn sicher entweder vollends hinüber ins jenseitige Thal oder, wenn das Wetter zu schlecht, der Verunglückte zu entkräftet ist, bringt er ihn nöthigenfalls auf dem vorsichtig mitgenommenen Schlitten, zurück nach seiner schlichten Bauernhütte am Fuße der Ferrara Alpe, um ihn dort solange mit uneigennütziger Gastfreundschaft zu pflegen, bis er imstande ist, seine Reise fortzusetzen.

Wer aber ist dieser hilfreiche Geist, der wie ein guter Engel die Wanderer in diesem Felsenwinkel umschwebt, und wie ist es möglich, daß er immer da zur Stelle ist, wo man seiner bedarf?

Die Antwort darauf enthüllt uns das Bild eines Mannes, der so groß dasteht an edler Menschlichkeit wie jener Wackere, auf den Gottfried August Bürger einst das „Lied vom braven Mann“ gedichtet hat.

Johann Battista Lardschneider, gemeinhin „Inatscher“ (richtiger „Livinatscher“) genannt, ist der Besitzer eines bescheidenen Gehöftes, dessen Benennung „Livinatscha“ man mit den häufigen und gefährlichen Lawinenstürzen der Gegend in Zusammenhang bringt, wie man wohl auch den Besitzer selbst im Scherze den „Schneebauer“ heißt. An seinem Hause vorbei führt der Aufstieg zum Joche. Ahnungslos pilgert der Fremde vorüber: er ist bei leidlichem Wetter aufgebrochen von Sta. Christina und denkt bei guter Zeit drüben zu sein in Kolfuschg oder Corvara. Lardschneider aber kennt die Wetterzeichen des Hochgebirgs besser. Er weiß, daß binnen wenigen Stunden der Nebel undurchdringlich am Berge hangen oder daß die weißen Flocken dahergefegt kommen werden auf den Flügeln des Orkans, und ihm ahnt nichts Gutes für den sorglosen Wanderer. So folgt er ihm still, ohne sich und seinen Rath aufzudrängen, nur um nahe zu sein im Falle der Gefahr, – und mehr als zwanzig Menschen hat Johann Battista Lardschneider auf diese Weise das Leben gerettet, ohne je mehr als ein „Vergelt’s Gott“ dafür anzunehmen.

Johann Battista Lardschneider, ein Lebensretter im Hochgebirge.

Heute ist dieser „Lebensretter von Profession“, wie man den Wackeren nennen möchte, 63 Jahre alt; von untersetztem starken Körperbau, erfreut er sich geistiger und körperlicher Rüstigkeit; er lebt genügsam von dem schmalen Erträgnisse seines kleinen Bauerngutes und vom Taglohne. Richtet ein Nachbar an ihn die Frage, warum er denn die Vorbeireisenden ganz ohne Vortheil beherberge und sich selbst oft der Lebensgefahr aussetze, um andere, ihm fremde Leute zu retten, so giebt er zur Antwort: „Mein seliger Vater, der im Jahre 1856 gestorben ist, hat mich an seinem Todestage noch an sein Bett gerufen und zu mir gesagt: ‚Battista, beherberge die armen Fremden und leiste ihnen Dienste nach Deinen Kräften!‘ Soll ich denn die letzten Aufträge meines todten Vaters nicht gewissenhaft befolgen? Und es hat mich auch niemals gereut, das gethan zu haben, was mein guter Vater schon gethan hat und was auch meine eigenen Söhne thun werden, sobald ich todt bin!“

Für die großherzige Gesinnung dieses seltenen Mannes ist übrigens noch ein Zug bezeichnend. Nicht nur den Menschen, sondern auch den Thieren läßt er seine Retterthätigkeit zu gute kommen. Mehr als einmal hat er das Weidevieh der Bauern aus jener Gegend noch rechtzeitig zu Thal getrieben, ehe es dem tückischen Schneesturm zum Opfer fiel. Der Paßübergang selbst aber wurde auf Lardschneiders Anregung hin im vorigen Herbst durch Stangen gezeichnet. –

Vielleicht dringen diese Zeilen der „Gartenlaube“ auch bis zu dem schlichten Bauern im Grödnerthale. Mögen sie ihm dann ein Beweis sein, daß ihm der Dank für seine edlen Thaten nicht mangelt und daß man draußen in der Welt mit Bewunderung aufblickt zu seinem Beispiele. Es hat ja nicht jeder Gelegenheit, fort und fort Menschenleben aus Todesgefahr zu befreien. Aber jeder kann streben, daß er an werkthätiger Nächstenliebe, an unerschrockenem Opfermuth, an selbstloser Uneigennützigkeit werde wie jener „Lebensretter im Hochgebirge“.

Eine abgehärtete Pflanze. Wie weit das Anpassungsvermögen gegen hohe Kältegrade in der Thier- und Pflanzenwelt gehen kann, davon berichten uns die Nordpolfahrer. Die wunderbarste Mittheilung dieser Art verdanken wir Nordenskjöld aus der Zeit, wo er am Strande von Pillekaj an der Nordküste Sibiriens mit der „Vega“ im Jahre 1878/79 überwinterte. Die mittleren Temperaturen der Wintermonate, vom November bis April, betrugen –16° bis –26° C., und an einzelnen Tagen verzeichnete man selbst den klingenden Frost von –40° bis –46° C.! Auf diesem kalten Strande wuchs auf der Kuppe eines dem Anprall der Winde ausgesetzten Sandhügels ein Stock des Löffelkrautes (Cochlearia fenestralis). Die Polarforscher hatten im Sommer 1878 gesehen, wie dieses Kraut zu blühen begann und auch theilweise Früchte ansetzte. In diesem Zustande der Blüthe, wo die Pflanze noch eine Menge ungeöffneter Blüthenknospen trug, wurde sie von dem furchtbaren Polarwinter überrascht. Man hätte erwarten sollen, daß die Frostgrade von –40 bis –46° C. die zarten Blätter und Knospen, die unreifen Samen erbarmungslos zerstören würden. Mit nichten! Das Kind der nordischen Flora erlag nicht dem Schicksal unserer zarten Blumen, die schon ein Reif tödtet. Als der Sommer wiederkam, da erwachte die Pflanze und setzte ihr Leben dort fort, wo es durch den Winter unterbrochen worden war; ihre Blätter grünten weiter, aus den Blattachsen sproßten neue Blüthenstände hervor, und die Blüthenknospen, die der vorhergehende Sommer gebildet hatte, öffneten sich. Da blieben die Nordpolfahrer erstaunt stehen und sannen nach über dieses Wunder der Natur, uber diese unverwüstliche Lebenskraft, die der rauhen Polarwelt zu trotzen wußte. *     




Inhalt: Lea und Rahel. Roman von Ida Boy-Ed (8. Fortsetzung). S. 409. – Sommer. Bild. S. 409. – Kissinger Brunnenpromenade. Von Oscar Justinus. S. 414. Mit Bild. S. 413. – Mein Dienst auf der „Elisabeth“. Von H. Rosenthal-Bonin (Schluß). S. 415. Mit Abbildungen S. 416, 417, 418 und 419. – Das Frühlingsfest der Berliner Künstler. Bild. S. 420 und 421. – Eine Bechte. Novelle von Ernst Wichert. S. 422. – Das Frühlingsfest der Berliner Künstler. Von Hermann Heiberg. S. 425. Mit Abbildungen S. 420, 421, 425, 426 und 427. – Blätter und Blüthen: Brehms Thierleben. S. 427. – Ein Lebensretter im Hochgebirge. Mit Bildniß. S. 428. – Eine abgehärtete Pflanze. S. 428.




Nicht zu übersehen!

Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs unserer Zeitschrift. Wir ersuchen daher die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die Postabonnenten machen wir noch besonders auf eine Verordnung des kaiserlichen Reichspostamts aufmerksam, laut welcher der Preis bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahrs aufgegeben werden, sich pro Quartal um 10 Pfennig erhöht (das Exemplar kostet also in diesem Falle 1 Mark 70 Pfennig statt 1 Mark 60 Pfennig).

manicula Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefern wir incl. Porto für 30 Pfennig (2 Nummern 60 Pf., 3 Nummern 85 Pf.). Den Betrag bitten wir mit der Bestellung in Briefmarken einzusenden.
Die Verlagshandlung.




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.