Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1891)/Heft 4

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[53]

Nr. 4.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(3. Fortsetzung.)

Tante Polly schlief nicht, und Hilde auch nicht. Das Mädchen drückte sein glühendes Gesicht in die Kissen und träumte von einer wunderbaren Zukunft. Der erste Schritt war gethan; Hilde von Zweidorf hatte den felsenfesten Glauben, daß es ihr einmal glücken müsse in der Welt; sie hatte lange gekämpft, ehe sie die Einwilligung des Vaters erhielt, Malerin werden zu dürfen; sie hatte diese Kämpfe geführt mit einer gar nicht zu entmuthigenden Zuversicht. Es war ihr undenkbar, daß sie, die Hilde von Zweidorf, so leben und so verblühen sollte, wie die Toni es gethan hatte, wie die andern Schwestern im Begriff standen, es zu thun. Sie hatte diese hundertmal „schlappe Seelen“ gescholten und den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, wenn sie sah, wie die vier Schwestern, die außer ihr noch zu Hause waren, jeden Tag, den Gott werden ließ, mit dem Glockenschlage Acht in dem kleinen Zimmer saßen und nähten oder stickten. „Maschinen seid Ihr, aber keine Menschen!“ hatte sie ausgerufen, „fangt doch etwas anderes an, geht hinaus in die Welt – hier, in unserem armseligen Haus, kehrt das Glück nimmer ein, wir müssen es suchen!“

Aber die andern meinten, die Hilde wäre überspannt; sie hätten es hier zu Hause doch noch immer besser wie Bärbe und Lotte, die in ihrem Diakonissendienst nur ewig Krankheit, Noth und Tod ansehen müßten. – Nun, Hilde hatte nicht genäht; sie verdiente sich ihr Geld durch Malereien auf Seide und Leder, sie saß halbe Tage lang an den Wiesen, die sich um das Städtchen zogen, und malte in Wasserfarben die alte Burg hinter dem Flüßchen, den Eichenkamp, der sich fern vom Horizont abhob, oder einen Bauernhof mit wendischem Giebeldach, unter mächtigen Linden halb versteckt. Wenn es dann so einsam war um sie her, wenn die Sonne so goldig auf den Fluren lag, von fern die Mittagsglocke läutete und die Bienen im Grase summten, dann starrte sie mit den dunklen Augen traumverloren in die Ferne; sie sah nicht mehr das, was vor ihr lag: sie sah ein goldschimmerndes Chaos, noch nicht entwirrbar, noch nicht deutlich, aber sie wußte, das war das Glück, und Glück war Ruhm und Reichthum und dann – Er –.

Er mußte etwas sehr Bedeutendes und Vornehmes sein. Nur nicht kleben bleiben in dieser Niedrigkeit; nur hinauf in die durchgeistigte Sphäre der höheren Kreise. Und warum auch nicht? Hilde wußte, sie war talentvoll und – schön! Hinaus aus dieser Enge, wo aus Mangel an Kavalieren die Gymnasiasten sich Fräcke machen ließen und die Kur schnitten wie erwachsene Herren. Hilde hatte nie ein Altwedeler Tanzfest besucht, und wenn die

Nicht weinen!
Nach einem Oelgemälde von P. Seignac.

[54] Schwestern sich ihre weißen Kleidchen im Schweiße des Angesichts wuschen und bügelten und das Schleifenband auf die linke Seite umwandten, hatte sie die Achseln gezuckt und gefragt: „Für wen denn?“ Und während die andern tanzten, hatte sie mit offenen Augen daheim in ihrem Bette gelegen und immer nur gedacht: wie komme ich heraus aus dieser Enge, wie fange ich es an, das Leben zu sehen, das wirkliche Leben?

Hilde verstand sich nicht mit ihrer Mutter; das scheue gedrückte Wesen der blassen Frau regte sie förmlich auf. Gewohnt, von allem, was zum Leben gehört, stets nur einen kleinsten Theil beanspruchen zu dürfen, hatte die bescheidene Frau sich ein Wort angewöhnt, das sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, in alle ihre Reden einflocht. „Kinder, wollen wir heute mittag ein ‚bißchen‘ Fleischbrühe essen?“ oder „Wir gehen heute ein ‚bißchen‘ in die Kirche. – Papa hat ein ‚bißchen‘ Kopfschmerz. – Ich habe Grethchen ein ‚bißchen‘ Zeug zum Kleid gekauft. – Hilde, lasse ein ‚bißchen‘ frische Luft ins Zimmer –“

„Großer Gott, Mama, warum denn ein ‚bißchen‘? Die frische Luft wenigstens bekommen wir kostenfrei; Du kannst haben, soviel Du willst!“ eiferte Hilde dann.

„Ach, Kind, sei nicht gleich so heftig, ich denke mir nichts dabei, ich bin immer so ein ‚bißchen‘ zerstreut.“

Ach, dies Leben, das aus lauter ‚bißchen‘ bestand, war furchtbar gewesen für Hilde! Da, endlich hatte sie den Vater vermocht, an die Dresdener Tante zu schreiben, der müde, gebeugte Mann hatte es gethan um des lieben Friedens willen, wie er sagte, und wider Erwarten war eine bejahende Antwort von Frau Polly eingetroffen. Wie eine Bombe war dieser Brief ins Haus gefallen.

Frau von Zweidorf hatte ihr Kind, so gut es ging, ein „bißchen“ ausgesteuert. Gutmüthig gaben die Schwestern, was sie irgend entbehren konnten, zur Verzierung von Hildes Toilette, denn Hilde besaß eine starke Neigung, ihre einfache Kleidung zu verschönern und aufzuputzen, besonders ihre Hüte. Sie nahm ohne Bedenken die struppige Straußenfeder an, die Tonis Stolz war, und heftete sie auf den breitrandigen Rembrandthut, nachdem die Mutter sie ein „bißchen“ gekräuselt hatte. Toni war ja ohnehin nach Hildegards Auffassung aus den Jahren, wo man „Toilette“ macht: sie war zweiunddreißig. Der letzte Tag vor der Reise brachte das schon ungeduldige, aufgeregte Mädchen völlig außer sich: sie ertrug keine der guten Lehren der Schwestern und noch weniger Neckereien. Der Vater aber hatte mit trauriger Miene ein Zwanzigmarkstück auf die Platte seines Arbeitstisches gelegt und gesagt: „Ich gäbe Dir gern mehr, Herzenskind, aber ich hab’s jetzt nicht.“

Hilde wurde fast gerührt, und sie wollte doch nicht gerührt sein; weichliche Menschen bringen es selten zu etwas. Sie konnte es auch nicht noch einmal hören, daß die Mutter sagte: „Ach, Hilde, wenn Du doch ein ‚bißchen‘ Glück hättest!“ – Was sollte sie mit einem „bißchen“ Glück? Viel wollte sie, alles! Wozu das Zaudern?

Sie machte kurzen Prozeß: sie ging einen Tag früher fort. Ganz heimlich traf sie des Morgens um fünf Uhr Anstalten, das Haus zu verlassen; es wahr für sie so leicht, unbemerkt davon zu kommen, denn sie schlief allein in einem Bodenkämmerchen. Nachbars Fritz trug das Reisetäschchen zur Bahn, sie hatte es ihm schon am Abend vorher über den Zaun gegeben. Den Koffer konnten sie ihr ja nachschicken. Sie schrieb ein paar Abschiedsworte auf einen Zettel, legte ihn auf den Küchentisch und schlich sich fort. Vor der Schlafstubenthür der Eltern stockte ihr Fuß einen Augenblick, dann huschte sie desto eiliger die Treppe hinunter. Es war ihr, als hätte die Mutter gesagt: „Hilde, wird es Dir denn nicht ein ‚bißchen‘ schwer, uns zu verlassen?“ – Nein, es wurde ihr nicht schwer, denn vor ihr lag die Welt, die weite Welt!

Es war die erste Reise, die Hilde von Zweidorf unternahm. Eine andere würde das verwirrt und ängstlich gemacht haben, Hilde aber fand sich mit der Sicherheit einer amerikanischen Lady zurecht, die nichts anderes von Kindheit an gethan hat als reisen. Es sang und klang ihr vor den Ohren, selbst das Rollen der Räder wurde ihr zur Melodie, sie fuhr ja dem Glück entgegen!

Wie gut, daß sie nicht noch einen Tag gewartet hatte! Sie hätte ja dann Herrn Jussnitz nicht getroffen! Sie setzte sich hoch im Bette auf und legte die Hände an die pochenden Schläfen – sollte sie denn gleich bei dem ersten Schritt in das Leben hinaus alles finden?

Er hatte sie so eigen angesehen, so voll unverhohlener Bewunderung. Sie vergegenwärtigte sich seine Erscheinung – er war ein schöner Mensch von durchaus feinen Formen. Hilde kannte solche Herren zwar nur vom Hörensagen, aber das Bild, das sie sich von ihnen entworfen hatte, stimmte. Und er war ein Künstler obendrein, sein Name war schon genannt, er hatte Geschmack – welch eine verführerische Frauengestalt war diese Brockenhexe, deren Nachbildung Hilde gesehen hatte!

Mit ihrer leicht erregbaren Phantasie, mit ihrem nach Glück so hungrigen jungen Herzen, mit dem entschlossenen Charakter, für den es nichts Halbes gab, glaubte sie, als der Morgen tagte, ganz bestimmt, daß sie „ihn“ gefunden habe, daß sie ihn liebe und wieder von ihm geliebt sei, und daß ihr in den nächsten Tagen schon ein goldenes Märchenwunder die Erfüllung aller ihrer Wünsche bringen werde. Sie malte sich das alles aus bis aufs kleinste, sie sah sich endlich an seinem Arme durch die Straßen ihres Heimathstädtchens gehen – sie waren auf der Reise nach Italien – und hörte die Leute sagen: „Das ist die Hilde von Zweidorf, die den berühmten Jussnitz geheirathet hat.“

Mit fieberndem Kopf und unnatürlich glänzenden Augen kam sie zum Kaffee in die Wohnstube der Tante Polly. Sie beantwortete zerstreut eine Menge ziemlich neugieriger Fragen, betrachtete wie abwesend die kleinbürgerliche Einrichtung der guten Frau Berger, die in buntgeblümter Nachthaube und ebensolcher Jacke die Honneurs am Kaffeetisch machte, und setzte sich dann ans Fenster.

Tante Polly wischte Staub; hin und wieder warf sie einen fragenden ärgerlichen Blick auf das Mädchen, das mit lässig gefalteten Händen regungslos dasaß und auf die Straße blickte. Es war eine häßliche Straße mit kasernenartigen Häusern; das Haus der Tante, eines der wenigen alten Gebäude, die noch nicht der neuzeitlichen Ausbeutung der Baugründe zum Opfer gefallen waren, stand wie ein Zwerg unter den übrigen bis zum Dach hinauf übervölkerten Riesen. Auf dem Fußsteig, welchen ein dichter Herbstnebel glitschig und feucht gemacht hatte, gingen eilige Menschen hin und wieder – nicht das feine Publikum, das Hildes Augen gestern entzückt hatte, nur Leute, die ihrem Beruf oder einer Besorgung nachstrebten, hastig und geschäftig. Die Pferdebahn klingelte vorüber, Kohlenwagen kreischten auf dem Pflaster, und jetzt kam ein Leichenzug – alles so häßlich, grau in grau in dem Oktobersprühregen.

Tante Polly verließ die Stube, Hilde bemerkte es gar nicht; sie starrte noch immer da hinunter, sie wartete auf irgend etwas. Dort schritt die Tante über die Straße im weiten dunklen Regenmantel, den Schirm in der Hand. Sie wackelte etwas schwerfällig über das Pflaster und stieß, ehe sie in dem gegenüberliegenden Fleischerladen verschwand, mit einem jungen Burschen zusammen. Hilde beobachtete, wie sie sich umdrehte und ihm, ärgerlich kopfnickend, etwas nachrief; der aber kümmerte sich nicht darum, er kam geradeswegs herüber zu dem kleinen Hause. Hildes Herz stockte plötzlich; er trug ein wundervolles Rosenkörbchen in der Hand, und sie wußte mit untrüglicher Deutlichkeit: diese Rosen sind für dich! Sie erhob sich und trat auf den Flur hinaus; drunten klang richtig die Schelle, der Bursche kam die Treppe herauf und fragte nach Fräulein Hildegard von Zweidorf.

„Ich bin es!“ war ihre Antwort. „Von wem?“

„Ist mir nicht bekannt,“ erwiderte der Bote und gab den Korb in die heiße Mädchenhand. Er blieb noch ein Weilchen stehen, des Trinkgeldes harrend und die Thür ansehend, hinter der Hilde verschwunden war, dann stieg er pfeifend die Treppe hinunter. Das Mädchen in der Stube drinnen aber barg das Gesicht in den Blumen und sog den Duft ein, der sie vollends berauschte.

Tante Polly fand sie, wie sie mit rothem Antlitz und zitternd im Zimmer auf und abging, die Rosen in der Hand. „Was ist denn das?“ fragte die alte Dame, die eben ihr Kalbfleisch im Kochofen ansetzen wollte. „Wie kommst Du zu den Blumen?“ Es klang ein sehr mißtrauischer Ton durch diese Worte.

„Ich weiß es nicht, Tante, sie wurden eben hier für mich abgegeben.“

„Das ist ja merkwürdig! Das Ding da kostet um jetzige Zeit wenigstens seine zwanzig Mark. Hör einmal, liebes Kind,“ – und die dicke kleine Tante stand vor der schlanken Nichte mit [55] drohend aufgehobenem Finger und grimmigen Augen, „so Geschichten mit anonymen Blumen und ähnlichem Zeug, die giebt es bei mir nicht – verstanden? Du bist bei einer honnetten Frau und wirst Dich als honnettes Mädchen aufführen, oder die Thür steht offen – da –!“

Dem Mädchen war alles Blut aus dem Gesichte gewichen, das Körbchen mit den Blumen ihren schlaffen Händen entglitten. „Tante,“ stieß sie hervor, „was sagst Du da? Was denkst Du eigentlich?“

„Nur immer gemüthlich! Ich habe Dir bloß auseinandergesetzt, wie wir’s halten wollen,“ war die Gegenrede, und Frau Polly schälte eine Zwiebel über dem Kohlenkasten.

„Ich weiß nicht, von wem der Strauß kommt,“ vertheidigte sich Hilde. „Ich schwöre es Dir, Tante, ich kann nur vermuthen, daß er vom Herrn Maler Jussnitz ist, demselben, der gestern mit mir hierher fuhr, den ich von früher her kenne – seine Eltern wohnten neben uns – und der voraussichtlich mein Lehrer wird.“

„So, so! Na, das wird sich ja finden! Vorläufig kannst Du wohl irgend etwas anfangen, damit Du nicht so herumsitzst und auf dumme Gedanken kommst. Die Strümpfe von der letzten Wäsche sind noch nicht gestopft, auf dem Nähtisch liegt das Garn.“

„Ich – Tante – ich habe Kopfschmerz, ich muß in die Luft hinaus. Ich bin auch nicht hier, um Strümpfe zu stopfen, ich will mich zur Malerin ausbilden. Du erlaubst gewiß, daß ich die Galerie besuche?“

Tante Polly stand noch immer fassungslos mit der Zwiebel in der Hand, als schon die beleidigte Nichte aus der Hausthür trat und die Straße entlang eilte, weinend vor Zorn über die ihr gewordene Behandlung.

Das empörte Mädchen ging immer der Pferdebahn nach und endlich fand sie sich wieder in vornehmen schönen Straßen. Sie frug irgend jemand nach der Gemäldegalerie und man wies sie zurecht. An einer Straßenecke war sie genöthigt, stehen zu bleiben, so lebhaft war der Verkehr von Wagen und Fußgängern. Zwischen zwei Pferdebahnen, einigen Lastwagen und verschiedenen Droschken wand sich ein eleganter Landauer hindurch. Hilde bemerkte zuerst nur die prächtigen Rappen, die vor Ungeduld über den Aufenthalt die Köpfe mit den schaumbedeckten Gebissen in die Luft warfen. Dann zuckte sie zusammen – war das nicht „er“? Der Insasse des Wagens wandte den Kopf zu seiner Nachbarin, einer blonden jungen Frau, deren ovales zartes Gesicht ein einfaches stahlblaues Kapothütchen umschloß. Er mußte es ja sein, so konnten sich doch nicht zwei Menschen gleichen!

Hilde schob sich rücksichtslos durch die Menge, um besser zu sehen, aber da war auch schon Raum auf der Straße geworden und die Equipage sauste davon. Mechanisch ging Hilde, den Wagen mit den Augen verfolgend, nach; etwas Unbekanntes, Quälendes hatte sie erfaßt. Das Gefährt verschwand nach kurzem ihren Blicken; sie wanderte weiter und zermarterte sich den Kopf.

Aber er konnte es ja gar nicht gewesen sein! Er sprach gestern zu ihr von Ringen und Kämpfen, dem er fast erlegen sei, und jener in der prächtigen Equipage sah nicht aus wie ein Künstler, der mit Entbehrungen zu schaffen hat. Und Hilde lachte sich selber aus. Der da im Wagen neben seiner Frau war sicher ein reicher Fabrikant. Sie dachte an ihre Rosen daheim: einer, der neben solch schöner Frau saß, verschenkte nicht Blumen an andere, so heimlich – – Sie ward allmählich ruhiger und faßte Beschlüsse: sie wollte ganz vernünftig werden, sich mit Tante Polly vertragen; vorläufig hing sie ja von dieser ab. Sie fragte nach der Xstraße und kam nach langem Wandern zurück.

Tante Polly lag auf dem Sofa, das Gesicht mit der Schürze zugedeckt, und hielt Mittagsruhe. Die Stube roch nach Fleischbrühe und Nudeln: im Ofen stand ein Schüsselchen, wohl für Hilde zurückgestellt, denn Tischtuch, Teller und Besteck harrten ihrer noch. Die alte Frau erwachte nicht; schweigend holte Hilde sich ihr Essen, und wie eine Else so leise deckte sie nachher den Tisch ab. Sie hatte zu Hause dergleichen nie gethan; sie war da von allen verhätschelt, verwöhnt und als „Talent“ gefeiert worden. Dann öffnete sie leise ein Fenster und suchte sich die Strümpfe zum Stopfen.

Es gelang ziemlich mangelhaft, denn Hilde war ungeübt, und die Rosen, die vor ihr standen, verwirrten sie so, daß sie blaues Garn zu schwarzen Strümpfen nahm. Aber die alte Frau, die, ohne daß Hilde es bemerkt hätte, erwacht war und das schöne Mädchen am Fenster so bemüht sah, söhnte sich aus mit dem Vorhergegangenen; sie lag ganz still und betrachtete das Bild vor ihr und meinte bei sich, daß es doch sehr behaglich sei, so ein junges, frisches Menschenkind um sich zu haben; was an ihr liege, wolle sie versuchen, sie vernünftig zu machen und ihr die Raupen aus dem Kopf zu bringen, welche die Zweidorfsche Wirthschaft darin gezüchtet hatte. Und wenn sich die Hilde einlebte mit ihr, na – dann konnte man ja auch gelegentlich mal an ein Testament denken.

„Höre, mein Hildchen!“ rief sie, plötzlich sich aufrichtend, in unverfälschtem Sächsisch, „wir wollen uns wieder vertragen, gomm her und gieb mir die Hand!“ Und Hilde kam herüber und schlug ein.

„Du darfschst nur nie wieder derartige Aeußerungen thun wie heute früh.“

„Ich weiß sehr wohl, was ich thue, und kenne die Welt, wenn ich auch noch jung bin –“ bemerkte Hilde.

Tante Polly wollte lachen. „Du Kiekindiewelt!“ sagte sie; aber sie verstummte vor dem lodernden Blick dieses jungen Geschöpfes.

„Und,“ fuhr Hilde fort, „ich bitte Dich, nicht zu vergessen, daß ich eine Zweidorf bin und daß unser Wappenspruch heißt: ‚Ueber alles die Ehre!‘“

Taute Polly war ganz roth geworden. Hilde stand da vor ihr wie eine Fürstin, so hoheitsvoll. Tante Polly ahnte plötzlich, daß sie ihren Meister gefunden habe; sie ging ganz betroffen in die kleine dunkle Küche, und dort stand sie wie eine Fremde in ihren eigenen vier Pfählen.

Na, das konnte ja nett werden, wenn das Mädchen beständig ihren adligen Stammbaum ins Treffen führte! Seufzend stieg sie endlich die Treppe hinunter in das Büdchen und schickte den Kleinen der Gemüsehändlerin zu ihrer Aufwartefrau. Es war nichts mit dem Ersparen dieser Hilfe; Tante Polly fand den Muth nicht, ihre hochgeborene Nichte an das Aufwaschgefäß zu befehlen, sie begriff es sogar nicht mehr, daß sie einmal daran gedacht hatte. Sie fand Hilde, als sie wieder heraufkam, in dem kleinen Fremdenstübchen beschäftigt, sich mit Hilfe eines großen Pappdeckels eine Art Staffelei am Fenster zurechtzumachen.

„Es geht nicht,“ sagte das Mädchen, „es ist zu dunkel.“ Und Tante Polly entgegnete, ob Hilde nicht in der guten Stube malen wolle. Als sie es heraus hatte, biß sie sich auf die Lippen; wie kam sie nur dazu? Und doch trieb sie eine nie gefühlte Macht, die Putzstube aufzuschließen und stumm mit anzusehen, wie Hilde eifrig sich dort einzurichten begann; sie nickte ergeben, als Hilde mit einem: „Du erlaubst doch, Tante?“ ein halb Dutzend Porzellanblumentöpfe mit künstlichen Camelien und Rosenblüthen von der Fensterbank entfernte.

„Ich danke Dir vielmals, Tante,“ sagte das Mädchen dann, „ich werde Dein hübsches Zimmer in Ehren halten.“ – Im stillen schauderte ihr vor der Ausstattung des Raumes, besonders vor der Tapete, die kornblumenblau war mit eingestreuten weißen Rosen. Auch störten sie die schrecklichen, von Pfuscherhand gemalten Oelbilder der Tante und ihres Seligen. Aber das war ja alles nur ein Uebergang, eines Tages würde sie weder die blaue Tapete, noch die stümperhaften Porträts mehr zu sehen brauchen! Sie nahm ein Aquarell des väterlichen Hauses, hinter dem ein plumper alter Mauerthurm und hohe Linden empor ragten, vor, und während sie ihre Farbentuben und Pinsel aus ihrem Malkästchen herauskramte, erzählte sie der Tante allerlei von daheim; dann begann sie, an der Skizze weiter zu arbeiten.

„Es stellt so verkleckst aus,“ sagte Tante Polly, „und das Papier ist so grob! Muß das so sein?“

„Ja!“ erwiderte die Nichte kurz, und Tante Polly nickte und setzte sich seufzend mit dem Strickstrumpf an das gegenüberliegende Fenster und beobachtete die Häuser drüben. Sie tröstete sich damit, daß es ja immerhin recht interessant sei, wenn man sehe, daß sie eine Nichte habe, die male.

Aber Hilde konnte nicht immer malen, und die Stunden wollten gar nicht vergehen; wie lang war so ein Tag – wie entsetzlich lang! Sie schlief des Nachts nicht, sie dachte nur immer an den versprochenen Besuch. „In drei Tagen komme ich,“ hatte er gesagt – würde er Wort halten?

Und der dritte Tag brach an. Hilde von Zweidorf saß früh morgens schon an ihrer Arbeit, aber die Farben trockneten ein, denn sie blickte immer auf die Straße. Als die Besuchszeit um die [56] Mittagsstunde vorüber war, gerieth sie in ihre alte fieberhafte Unruhe; sie aß keinen Bissen und ging in Tante Pollys guter Stube auf und nieder wie eine gefangene Löwin. Wenn er sein Versprechen nicht hielt, was sollte aus ihr werden? Daran, daß sie hierher gekommen war, um allein ihren Weg zu finden, dachte sie nicht mehr; sie betrachtete ihr Lebensschifflein als gescheitert, wenn er fortblieb.

Und er kam nicht. Es ward dunkel, Hilde konnte nichts mehr erkennen auf der Straße. Sie stellte sich auf den Flur an das Treppengeländer und horchte auf den Ton der Klingel. Einmal meinte sie, er müsse es sein, es kam jemand in das Haus – ihr Herz ging in mächtigen vollen Schlägen und ihre Glieder zitterten, aber es war nur der Briefbote, der ein Schreiben von daheim brachte. Sie steckte es in die Kleidertasche und wartete weiter. Er kam nicht.

Zum Abend schüttelte sie ein leichter Frost, dem glühende Hitze folgte. Tante Polly sah, daß das Mädchen kaum noch im stande war, sich aufrecht zu halten; tiefe Schatten lagen unter ihren Augen und das Gesicht erschien ganz verändert.

„Um Gotteswillen, geh’ zu Bett, Kind! Werde nur nicht krank!“ Und sie brachte selbst das Mädchen in ihr kleines Kämmerchen. „Schlaf, schlaf!“ sprach sie ihr zu, „Dir hat die frische Luft gefehlt; warum wolltest Du auch nicht ausgehen in der ganzen Zeit? Es kann doch nicht gesund sein, immer zu malen!“

„Ja, ich bin müde!“ stieß das Mädchen hervor. Und als die kleine Frau gegangen war, da wühlte sie den Kopf in die Kissen und stöhnte wie zum Tode getroffen. Der Mann hatte sie einfach zum besten gehabt oder sie längst vergessen, während sie an nichts anderes gedacht hatte als an ihn. Sie ballte die Hände vor Zorn und überlegte, wie sie sich rächen wollte, wenn sie ihn einmal treffen würde. – Sie verstand es in diesem Augenblick ganz gut, daß es Frauennaturen giebt, die einen Ungetreuen zu erdolchen imstande sind. – Sie schlief auch diese Nacht nicht, und am andern Morgen fand sie kaum die Kraft, sich zu erheben; aber die Hoffnung, er könnte doch heute noch kommen, verlieh ihr wieder Muth.

Sie las heute auch den Brief von zu Hause, er war von ihrer Mutter. Die Zeilen flossen über von mütterlicher Zärtlichkeit und Sorge, aber es lag doch etwas Gekränktsein darin. „Als ich Deine Abschiedsworte auf dem Küchentisch fand, Hilde, da hab’ ich recht weinen müssen,“ hieß es, „ich dachte, wenn Du Deine Mutter ein ‚bißchen‘ lieb gehabt hättest, wärst Du nicht ohne Abschied gegangen. Möchten doch nur Deine goldenen Träume zur Wirklichkeit werden, gutes Kind, und Dir alle Enttäuschungen erspart bleiben!“

Hilden drängten sich die Thränen in die Augen; aber zornig wischte sie dieselben hinweg. Wenn die Mutter ahnte, welche Enttäuschung ihr „gutes Kind“ bereits getroffen hatte! Aber das durfte sie nicht erfahren, sie nicht und niemand auf der Welt! Und Hilde nahm wieder ihren Platz ein vor ihrer Malerei und blickte auf die Straße. Die Tante verlangte, sie solle ausgehen, aber sie weigerte sich heftig. Sie wartete. Und als abermals die Dämmerung niedersank, da sprang sie plötzlich wie elektrisirt vom Stuhle auf und sank dann wie ohnmächtig wieder zurück – auf dem Flur fragte eine Männerstimme nach Fräulein von Zweidorf.

Sie hatte die Klingel nicht gehört, hatte ihn nicht kommen sehen – nun war er da und Tante Polly führte ihn herein. Die alte Dame hatte es eilig, die Lampe zu holen, um ihren Gast zu beleuchten; sie fand ihn vor Hilde stehend, die noch immer auf ihrem Platze saß, blaß wie der Tod.

Leo Jussnitz war ungemein liebenswürdig zu Tante Polly; er erzählte von den früheren freundnachbarlichen Beziehungen zur Familie Zweidorf; wie er sich glücklich schätze, Fräulein Hilde hier nützlich sein zu können, die er noch als kleines Mädchen gekannt habe, wie er sich freue, sie nun hier unter dem Schutz einer so liebenswürdigen Tante zu finden, und wie er gekommen sei, das Nähere des Unterrichts wegen zu verabreden.

Tante Polly sah ihm beständig auf seine rechte Hand, aber an dem tadellos sitzenden Handschuh zeichnete sich kein Ehering ab. Hilde sprach noch immer nicht, erst als er sich mit der Frage unmittelbar an sie wandte, ob es ihr genehm sei, morgen mit dem Unterricht zu beginnen, und ob es ihr passe, übermorgen die erste Sitzung zu gestatten, kehrte die Farbe in ihre Wangen zurück.

„Ja!“ sagte sie kurz; und sie setzte hinzu. „In welchem Kostüm wollen Sie mich malen?“

„Wie anders als mit der spanischen Mantille?“ erwiderte er und blickte sie bewundernd an, „aber Sie müssen aussehen wie heute, so blaß und so zornig und“ – so schön, wollte er sagen, verschluckte aber das letzte.

Sie antwortete nicht. Tante Polly schwieg und wagte nicht mehr, drein zu reden.

„Wo ist Ihr Atelier?“ fragte Hilde endlich.

Er nannte die Straße.

„Guter Gott!“ meinte Tante Polly, „das ist ja am Ende der Welt! Und dahin willst Du alle Tage laufen?“

„Gewiß, Tante! Und in Deiner Gesellschaft wird mir der Weg nicht lang werden,“ antwortete Hilde und zupfte an den gehäkelten Spitzen, die über das Armpolster ihres Stuhles gebreitet waren.

Jussnitz mußte lächeln, denn Tante Polly machte in diesem Augenblick ein sehr wenig gescheites Gesicht. Die gute Dame wußte nicht, ob sie sich wundern oder ärgern sollte über die Ansprüche, die man an ihre Person stellte. Wie konnte sie denn alle Tage – alle Tage –? Ach, ihre Zeit, ihre schöne Zeit! „Aber, ich bitte Dich, Kind,“ begann sie, „bedenke doch!“

„Liebe Tante,“ antwortete Hilde, ganz mit der vornehmen Miene, durch die Frau Polly Berger schon vor drei Tagen zum Schweigen gebracht worden war, „liebe Tante, bedenke Du, daß Du Dir die ungeheure Last, an einer jungen Nichte Mutterstelle zu vertreten, aufgebürdet hast, und daß Dir nun nichts weiter übrig bleibt, als diese Last geduldig zu tragen.“

Tante Pollys Gesicht wurde hiernach nicht klüger aussehend, nur färbte es sich dunkelroth vor Aerger. Das war die Strafe für ihr Mißtrauen: Hildegard verstand es, sich zu rächen.

„Alle Tage?“ stammelte sie hilflos.

„Ja!“ erwiderte Hilde kurz.

„Ich möchte das Bild zu der Berliner Ausstellung fertig haben,“ fügte Jussnitz hinzu.

„In die Ausstellung sollst Du? Was wird denn aber da Dein Vater sagen?“ Tante Polly griff nach jedem Strohhalm, um sich zu retten.

„Tante, ich bitte Dich, das verstehst Du nicht!“ rief das Mädchen erregt und ließ ihre Augen über die kleine Dame hinblitzen.

Jussnitz hielt es für angezeigt, aufzubrechen. Tante Polly trippelte hinaus, um die Flurlampe anzustecken.

„Weshalb kamen Sie gestern nicht?“ fragte Hilde leise und heftig.

Er lächelte; sie gefiel ihm so gut in ihrer zornigen Erregtheit. „Ich bekam eine wichtige Abhaltung, just als ich mich auf den Weg machen wollte.“

„Wissen Sie, was warten heißt?“ fragte sie.

„O ja! Bei Ihnen heißt es so ungefähr –“

„Krankwerden!“ unterbrach ihn Hilde kurz.

Er wußte, sie sprach die Wahrheit; ihre fieberhaften Augen erzählten es ja so deutlich.

„Leben Sie wohl, Herr Jussnitz, und Dank für die Blumen!“ setzte sie hinzu.

Er lächelte wieder. „Und wenn ich diesen Dank gar nicht verdiente?“ fragte er.

Sie stutzte einen Augenblick, dann lächelte auch sie; unbeschreiblich lieblich ward ihr eben noch so düsteres Gesichtchen.

„Bei Gott, ich weiß nicht, ob ich Sie nicht doch lieber ntit lachendem Munde malen soll!“ rief er; und als sie ihm die Hand gab, führte er dieselbe an die Lippen und flüsterte: „Auf Wiedersehen!“

Tante Polly leuchtete dem Gaste die Treppe hinunter. Als sie zurückkam, um der Nichte Vorstellungen zu machen, hatte diese das Zimmer verlassen und war in ihr Kämmerchen geflüchtet; dort gab sie ihren überreizten Nerven nach und weinte, weinte zum Herzbrechen.

Tante Polly stand draußen und forderte vergebens Einlaß; endlich ging sie kopfschüttelnd in die Wohnstube. – Himmel! was sollte das geben? Hübsch und fein ist er, und – man kann ja nicht wissen – in Liebessachen ist das Unwahrscheinlichste am glaubhaftesten. Na, sie würde es den Zweidorfs gönnen. „Ach, Polly, Polly,“ sprach sie halblaut zu sich, „Du bist schön reingefallen mit Deiner dummen Gutmüthigkeit; hoffentlich kommt die Sache bald zu einem guten Ende!“

(Fortsetzung folgt.)




[57]

Aus den Tiroler Freiheitskriegen.
Nach einem Gemälde von Matthias Schmid.

[58]

Die Edelkoralle.

Von Carl Vogt.

War das ein ungewohntes Leben und Treiben an der zoologischen Station in Neapel im Frühjahr 1884! Nicht sowohl unter den zahlreichen Männern der Wissenschaft, alten und jungen, die dort mit gemahnter Emsigkeit und Ausdauer ihren Studien sich hingaben, als unter den Fischern und Matrosen, sowie den verschiedenen Beamten, welchen der Empfang der eingebrachten Thiere, ihre Sortirung und Konservirung obliegt. Einige Fischer hatten Bäumchen und Aestchen von Edelkorallen zum Verkaufe angeboten, freilich getrocknet und abgestorben - aber das kundige Auge des Konservators Salvatore lo Bianco hatte sofort erkannt, daß die Polypen noch vor wenig Stunden gelebt haben müßten. Man wurde Handels einig und die sonst so argwöhnischen und mißtrauischen Fischer hielten um so weniger vor ihrem Landsmanne zurück, als sie unmittelbar einsahen, daß die Station ihnen Stücke und Zweige, welche für die Verarbeitung nur höchst geringen Werth hatten, bester bezahlen würde als die Fabrikanten. Salvatore dampfte zu ihnen hinaus auf die Bank halbwegs Capri, auf welcher sie arbeiteten, gab ihnen die nöthigen Anleitungen und die Gefäße, in welchen sie die für die Station bestimmten Bäumchen lebend in Seewasser hereinbringen sollten, und bald standen überall in den mit strömendem Wasser gespeisten Aquarien Glasgefäße mit lebenden Korallen, deren milchweiße, blüthenartige Polypen sich lustig ausbreitetet.

Die Kunde verbreitete sich rasch. Fremde und Neapolitaner, jedermann wollte das neue Meerwunder der lebenden Korallen sehen. Mancher ging wohl enttäuscht weg; statt der kleinen rothen Bäumchen, an deren Aesten und Zweigen niedliche, weiße Sternblüthen und Knospen sich zeigten, die nur mit äußerster Langsamkeit sich öffneten oder schlossen, hätte er vielleicht erwartet, daß die lebende Koralle lustig umherschwimme wie ein Fisch oder mit den Armen im Wasser herumfuchtele wie ein vom Winde bewegter Baum. Aber die meisten der zahlreichen Besucher gingen dennoch befriedigt von dannen, denn die Edelkoralle ist doch eigentlich ein echt neapolitanisches Gewächs, für das jeder Interesse hat.

Die Korallenfischerei ist für das westliche Mittelmeer, was die Schatzgräberei für das Binnenland; auf dem Boden mühseliger Arbeit und harter Entbehrungen blühen die wunderreichsten Sagen von fabelhaften Reichthümern, die der glückliche Finder, der von den untermeerischen Dämonen begünstigt wird, ans tiefen Grotten und Klüften erbeuten kann; sie ist eine Lotterie, in welcher nur derjenige gewinnt, der die Träume und übrigen mystischen Andeutungen auszulegen weiß , während die große Mehrheit leer ausgeht. Schon aus diesem Umstande wird es erklärlich, daß die Korallenfischerei, an welcher sich früher auch Spanier, Portugiesen und Franzosen betheiligten, fast ausschließlich in den Händen der Italiener und unter diesen wieder der Bewohner von Torre del Greco bei Neapel sich befindet. Selbst in denjenigen Gewässern, welche anderen Nationen gehören, wie z. B. an den Küsten von Algerien und Tunis, sind es italienische Fischer, welche das Geschäft betreiben, und Torre del Greco entsendet für sich allein dreiviertel der sämmtlichen Barken, die Italien stellt.

Ich wollte die Fischerei mit eigenen Augen sehen, und so dampften wir denn an einem prachtvollen Frühlingsmorgen, Salvatore und ich in Begleitung einer Dame, auf dem „Balfour“, einem kleinen offenen Boote, das der Station gehörte und zur Fischerei auf der Oberfläche mit dem feinen Netze diente, hinaus auf Capri zu, wo wir nach einer Stunde Fahrt die zwei „Coralline“ fanden, deren Mannschaft uns freudig begrüßte; sie ahnten, daß sie heute einen guten Fang machen würden, obgleich die See etwas hochging und dem schleppen des Fangkreuzes nicht günstig war. In der That nahmen die Danksagungen und Einladungen zu baldigem Wiederkommen kein Ende, als die „Eccellenza“ jeder Barke einen Thaler beim Abschiede spendete über den Preis der erbeuteten Korallen. „Sie können oft zwei oder drei Tage fischen, bis sie soviel verdienen,“ meinte Salvatore, und doch waren es zehn Mann, welche die zwei Thaler unter sich zu vertheilen hatten!

Nach besonderem Maßstab - denn die Mannschaft jeder Barke bildet eine kommunistische Gesellschaft, die auf Antheil arbeitet. Keiner der Teilnehmer hat feste Bezahlung; der Gewinst hängt von dem glücklichen Zufall und der Thätigkeit der Mannschaft ab. Bei solchen Unternehmungen stehen die Italiener allen übrigen Nationen voran; sie legen sich die härteste Arbeit und die unglaublichsten Entbehrungen auf, um geträumte Reichthümer, in Wirklichkeit aber nur einige klingende Münze zu ergattern. Torre del Greco sendet 300 Barken im Jahre aus, die sieben Monate lang, zwischen Anfang März und Ende Oktober, in See bleiben und im Durchschnitte mit zehn Mann, worunter ein Padrone und ein Junge, besetzt sind. Meist bleiben die Leute während der ganzen Zeit an Bord, wo sie ihren sämmtlichen Proviant haben , den sie zu Hause auf Borg entnommen haben, um den Betrag bei der Rückkehr, natürlich mit Wucherzinsen, von dem Erlöse zu bezahlen. Zwieback und Wasser ist die Grundlage; dazu kommt etwas Oel, Macceroni, Bohnen, gesalzenes Fleisch, Käse und Wein für die Festtage. Man berechnet die gesammten Ernährungskosten einer Schiffsmannschaft für die ganze Zeit van sieben Monaten , also 210 Tagen, auf 1650 Franken, somit für die Ernährung eines Mannes dreiundzwanzig und einen halben Franken im Monat, nicht ganz 80 Centimes auf den Tag! „Hätte ich nicht einigen Mundvorrath und einen Korb Orangen mit mir gehabt“, sagte mir Salvatore, der einmal einen Monat lang mit den Fischern südlich von Sciacca zugebracht hatte, „so weiß ich nicht, was aus mir geworden wäre bei dem ewigen Einerlei von steinhartem Zwieback und fauligem Wasser. Elende Nahrung und unaufhörliche harte Arbeit - man begreift nicht, wie die Leute es aushalten können, und begreift noch weniger, wie sich immer noch Mannschaft findet! Wenn sie auf dem Lande arbeiten wollten, verdienten sie das Doppelte und Dreifache mit halber Anstrengung.“

Härteste Arbeit in der That, die Tag und Nacht fortdauert, wobei sich die Männer ablösen, so lange das eigentümliche Fangnetz, „ingegno“ genannt, auf dem Boden des Meeres geschleppt wird. Aber in den entscheidenden Augenblicken wo der Fangapparat heraufgewunden wird, müssen alle Hand anlegen.

Die Edelkoralle wächst nur auf steinigem oder felsigem Grunde und meist in einer Tiefe von 50 bis 150 Faden (1 Faden etwa - 1,80 Meter). Gewöhnliche Schleppnetze können nicht benutzt werden, denn die Korallenbäumchen wurzeln meist in den Rissen und Klüften der Felsen, am liebsten sogar in Vertiefungen, Höhlen und Grotten, an deren Decke sie haften. Das Ingegno besteht aus zwei starten Holzbalken, die kreuzweise zusammengefügt sind. Die Arme der Apparate, welche von den großen Barken benutzt werden, können bis zu vier Metern Länge, vom Mittelpunkte aus gemessen, haben; in dem Mittelpunkte des Kreuzes wird ein Stein oder ein schweres Metallgewicht befestigt, schwer genug, um den ganzen Apparat bis aus die angegebene Tiefe hinabzuziehen. An den Armen hängt ein Gewirre von aufgequirlten Tauen, zerschlissenen Netzen von mehreren Metern Länge, die sich nach allen Seiten hin ausbreiten, sobald das Fangkreuz in das Wasser geworfen wird, und den Boden fegen wie ein Besen. Diese Fäden schlingert sich um alles, was unten kraucht und festsitzt; sie werden vom Wasser in die Ritzen und Klüfte hineingespült und umgarnen die Korallen, die dort festsitzen. Gelinder Wind und wenig hoher Wellengang begünstigen nun die Arbeit; das Fangnetz wird langsam fortgeschleppt und zugleich ruckweise gehoben, so daß es die festgewachsenen, von den Fäden umschlungenen Korallen abreißen kamt. Oft aber verschlingt sich das Netz so, daß es nicht loszubringen ist. „Herbei mit dem Tortolo“, kommandirt der Kapitän. Ein etwa hundert Kilo wiegender Eisenring, der an einem Seile gehalten ist, wird über Bord geworfen; matt sucht mit ihm die Felsen zu zertrümmern an welchen das Netz sich verankert hat. Nach mehrstündigem Schleppen wird dieses mittels der Winde heraufgezogen und endlich mit äußerster Anstrengung aller Kräfte über Bord eingeholt.

Fabelhaft ist die Menge von Thieren, die da mit heraufgebracht werden: Seeigel, Seesterne, Seewalzen, Muscheln und Schnecken, Krabben und Krebse, zuweilen selbst Fische, Schwämme, Korallen, Polypen. Seescheiden und Anemonen hängen in den Fäden. Das alles wird herausgerissen und, wenn es nicht eßbar ist, in das Meer zurückgeworfen. Aber da schimmert es in rothem Scheine! Mit äußerster Sorgfalt werden die Fäden entwirrt, oft auch mit dem Messer zerschnitten und so ein niedliches [59] Bäumchen der Edelkoralle aus dem Gewirre gelöst. Ein seltenes Glück will es zuweilen, daß die Koralle an einem losen Stein festgewurzelt ist; meist kommen nur größere oder kleinere Bruchstücke herauf. Je dicker und länger die Stammstücke, desto werthvoller sind sie für die fernere Bearbeitung zu Schmuckgegenständen; der Kaufwerth wächst fast in ähnlicher Weise mit den Maßen, wie bei den Edelsteinen mit dem Gewichte. Aber den Naturforscher interessiren die feineren Endzweige am meisten, denn dort lebt und wächst die Koralle, dort finden sich in der Rindenschicht die von kleinen Polypen bewohnten Zellen, die mit dem Stamme verwachsen und durch Kanäle verbunden sind. Die gütige Vorsehung, die alles zum besten wendet, hat mit dieser Entrichtung eine zarte Fürsorge für den Geldbeutel der Naturforscher bethätigt - sie können, selbst wenn sie nur außerordentliche Professoren sind, die Kosten für eine Untersuchung allenfalls erschwingen. Ich habe mir sogar erlaubt, das Bäumchen, dessen Abbildung ich hier gebe (B), statt einer banalen Bronzefigur auf die Uhr des Kamines in meinem Salon zu stellen, was den doppelten Vortheil bietet, daß es einerseits ganz hübsch aussieht und andererseits den Besucher zu der Frage veranlaßt: „Bitte, Herr Professor, was ist denn das?“ wodurch man glücklich über die Einleitungsgespräche eines ersten Besuches von Wind und Wetter, Schnupfen und Rheumatismen oder Krieg und Frieden hinübergelotst wird. Salvatore hat nach mancherlei Versuchen ein Verfahren entdeckt, wodurch die Korallenbäumchen, die frisch von der Bank bei Capri eingebracht worden sind, in konservirenden Flüssigkeiten und vollständig entfalteten Polypen ganz in der Weise erhalten bleiben, als ob sie noch lebten. Da man in dieser Art präparirte Bäumchen von der Station zu verhältnismäßig billigem Preise beziehen kann, so dürften sie, in hübschen Glasgefäßen aufgestellt, einen ganz artigen Zimmerschmuck abgeben.

Man kann freilich die Form der Bäumchen nicht gerade zierlich nennen. Die Aeste sind mannigfach gebogen, sperrig, die Enden der Zweige oft knorrig, verdickt und die Oberfläche mit unregelmäßigen Warzen bedeckt. Aber Stamm, Aeste und Zweige haben eine lebhaft rothe Farbe, auf welcher sich die ausgestreckten Polypen wie feine, halb durchsichtige Blüthenkelche von weißer Farbe gar prächtig abheben. Aus jedem geöffneten Wärzchen tritt ein kurzer, drehrunder, halsförmiger Kelch hervor, der sich mit acht fein gekerbten Blättchen entfaltet.

So bieten sich auch die Polypen im Leben dar, und man muß oft lange und scharf mit der Lupe beobachten, um Bewegungen der einzelnen Blüthenblättchen, der Arme, wie die Zoologen sie nennen, oder die Zusammenfaltung des ganzen Polypen zu sehen, der die Arme nach innen einschlägt, wo im Mittelpunkte der Blumenkrone sich der Mund befindet, und langsam den Hals in die Warze zurückzieht, die sich über ihm mit acht Lappen schließt.

Stamm, Aeste und Zweige sind aus zwei Theilen gebildet, einer dicken, lebenden Rinde und einem inneren festen Kern, der allein zur Verarbeitung benutzt werden kann und aus concentrischen Schichten dichter Kalksubstanz zusammengesetzt ist, die meist roth, rosa, seltener gelblich oder schwärzlich gefärbt ist. Die Mode wechselt in Beziehung auf die Farbe; früher wurde die Koralle um so höher geschätzt, je lebhafter die Farbe war, jetzt wird das blasse Rosa vorgezogen. Die erste Behandlung besteht in der Ablösung der Rinde, in deren lederartig verfilztem Gewebe zahlreiche lose Kalknadeln eingebettet und die Zellen der Polypen, sowie die von ihnen ausgehenden Kanäle ausgehöhlt sind.

Ein Korallenbäumchen ist das vollendetste Vorbild einer rein kommunistischen Gesellschaft; alle Individuen sind durch Röhren und Gefäße miteinander verbunden, und was das eine verdaut, kommt der ganzen Kolonie zugute. Der zentrale Mund eines jeden Polypen führt in einen geräumigen Magensack, der durch acht im Kreise gestellte Scheidewände an die Zelle, in welche sich der Hals und der Kelch der Blumenkrone zurückziehen können, befestigt wird. Auf den Armen stehen zahllose, mikroskopische Wimpern, die einen Strudel erzeugen, durch welchen kleine Körperchen in den Mund eingewirbelt werden. Der Magensack ist an seinem Grunde durch Spalten direkt in Kanäle geöffnet, die in der Rinde ein verzweigtes Netz bilden und sich endlich zu Sammelkanälen vereinigen, welche unmittelbar dem steinigen Kerne aufliegen. Auf den Scheidewänden, die den Magen umstehen, entwickeln sich Eier und Samenzellen; sie sind die Träger der Fortpflanzungsorgane. Meist sind die Stöcke verschiedenen Geschlechtes, das eine Bäumchen männlich, das andere weiblich; doch hat man auch schon Bäumchen gefunden, auf welchen Polypen beiderlei Geschlechtes eingepflanzt waren. Die befruchteten Eier entwickeln sich im Innern der Kanäle zu infusorienartigen Jungen, die über und über mit Wimpern überzogen sind, schließlich durch den Magen und Mund der Polypen hinausschlüpfen in das freie Meer, in diesem einige Zeit herumschwimmen und dann an einem geeigneten Orte sich festsetzen und auswachsen zu neuen Bäumchen.

Die Erzeugnisse der geschlechtlichen Fortpflanzung, auf deren Entwicklung wir später zurückkommen werden, sind also nur zur Versendung nach auswärts, zur Bildung neuer Korallenbäumchen bestimmt, sie tragen zum Wachsthum der ganzen Kolonie nicht das Mindeste bei. Wie aber geschieht dieses?

Um eine genauere Kenntniß der Vorgänge, welche sich bei dem Wachsthum der Kolonie abspielen, zu erhalten, muß man besondere Veranstaltungen treffen und mit dem Rasirmesser die Rinde in seine Schnitte zerlegen, die so durchsichtig sind, daß man sie unter dem Mikroskope beobachten kann. Aber die in der Rinde angehäuften Kalknadeln und das innere Skelett setzen dem Messer zu bedeutenden Widerstand entgegen; sie müssen also durch Säuren aufgelöst und entfernt werden. Erst wenn dies geschehen ist, kann man die Substanz mit Weingeist so härten, daß ihre Zerlegung in feine Schnitte möglich ist. Zeitraubende, wochenlang dauernde Vorbereitungen, die aber schließlich zum Ziele führen!

Das Wachsthum und die Bildung neuer Thierchen, die damit eng verbunden ist, werden durch die Nährgefäße der Rinde vermittelt. Diese sind mit Zellen ausgekleidet, welche eine direkte. Fortsetzung der den Magen auf seiner Innenseite überziehenden Zellen sind. An den Gesäßen bilden sich Erweiterungen, Aussackungen, in welchen die Zellen wuchern, so daß sie oft den ganzen Innenraum der Aussackungen zu erfüllen scheinen. Schließlich bilden diese Zellenwucherungen eine Knospe, an welcher man bald die eingeschlagenen Arme und den inneren Magensack mit den umgebenden Falten wahrnimmt. Diese Knospen drängen gegen die Oberfläche hin, die Aussackung wird zur Zelle, die anfangs noch vollkommen geschlossen ist, während man die Mundöffnung der in ihr steckenden Polypenknospe schon deutlich wahrnehmen kann. Endlich öffnet sich die Zelle auf der warzenförmigen Erhöhung und der Polyp kann nun feine Arme entfalten und Nahrung herbeiwirbeln.

Diese Knospenbildung von innen heraus findet am lebhaftesten an der Spitze der Zweige und an denjenigen Stellen statt, wo neue Zweige gebildet werden sollen, und mit ihr wächst das Bäumchen weiter, wenn es an geschütztem Orte ungestört sich entwickeln kann , in seltenen Fällen bis zu einer solchen Größe, daß der ganze Baum einen Meter Länge und der Stamm fast die Dicke eines Armes erreichen kann. Von solchen Riesenkorallen träumt der Fischer - aber sie wachsen nur im Hintergrunde tiefer Grotten, in welche das „ingegno“ nicht eindringen kann! Während aber die Bäumchen an der Spitze der Zweige fortwachsen, sterben die Polypen an dem Stamme allmählich ab, wie die Knospen an dem Stamme eines Pflanzenbaumes verschwinden.

Niemand weiß, wie lange die Edelkoralle wächst und um wie viel sie in einem Jahre wächst. Gewiß hängt dieses Wachsthum sehr von einer Menge zusammenwirkender Umstände ab, besonders von der reichlichen oder spärlichen Zufuhr der Nahrung. Wahrscheinlich aber wächst die Edelkoralle nur sehr langsam, wie aus dem Umstande geschlossen wird, daß ausgefischte Bänke zwanzig und mehr Jahre lang brach liegen müssen, bevor wieder dort Korallen erbeutet werden können, die verkäuflich sind. So wurde die zwischen Neapel und Capri gelegene Bank, die man neu entdeckt zu haben glaubte, noch zu Zeiten Cavolinis, im Anfange dieses Jahrhunderts, befischt, dann aber aufgelassen und vergessen - die jetzt dort erbeuteten Bäumchen haben keine bedeutende Größe. Vielleicht hängt dieses langsame Wachsthum mit der Festigkeit des harten inneren Skeletts zusammen, das so dicht ist, daß es eine schöne Politur annehmen kann. Andere, nicht benutzbare Korallen mit porösem Skelette scheinen dagegen ziemlich schnell zu wachsen, wie man aus Beobachtungen an untermeerischen Telegraphenkabeln oder an Ankern und ähnlichen Gegenständen schließen kann, die aus dem Meere heraufgeholt wurden.

Die Edelkoralle folgt in der doppelten Fortpflanzungsweise durch Eier, welche bewegliche Junge hervorbringen, und durch [60] festsitzende Knospen, welche mit den übrigen Thieren der ganzen Kolonie in Verbindung bleiben, dem allgemeinen Gesetze, das für alle festsitzenden Thierkolonien gilt. Die auf ungeschlechtliche Weise erzeugte Knospe vermehrt die Insassen der Kolonie, das durch geschlechtliche Befruchtung erzeugte Junge verläßt die Kolonie, um als Pionier in das Weite zu schweifen und in größerer oder geringerer Entfernung eilte neue Kolonie zu bilden.

Wie dies geschieht, habe ich schon angedeutet - es dürfte aber wohl von Interesse sein, den Vorgang etwas näher zu verfolgen.

Die Eier werden innerhalb der Hohlräume, an deren Wänden sie sich entwickeln, zu kleinen, platten Würmchen, die etwa einen Millimeter Länge haben, weißlich durchsichtig und über und über mit Flimmerhaaren bedeckt sind, mittels welcher sie in der Flüssigkeit umherschwimmen. So drehen und winden sie sich eine Zeitlang in den engen Innenräumen umher, bis sie durch die Spalten des Magensackes in diesen gelangen und schließlich durch den Mund des Polypen in das freie Wasser hinausschlüpfen. Diese wurmförmigen, etwas abgeplatteten Larven, die man Planulae genannt hat, haben noch keinen Mund, aber eine innere, ringsum geschlossene Höhlung; erst nach einigem Umherschwimmen, wobei sich das eine Ende ballenförmig ausdehnt, das andere aber etwas röhrenförmig auszieht, bricht an diesem spitzeren Ende der Mund durch, so daß dann das Thierchen einer hohlen Birne gleicht. Es schwimmt stets mit dem dicken Ende voran, steigt gern zur Oberfläche des Wassers empor, um sich dann wieder auf den Boden sinken zu lassen. Da es sich nach mehrtägigem Umherschwimmen mit dem stumpfen Ende an irgend einem festen Körper festsetzt, so erklärt sich aus dieser Gewohnheit des Aufsteigens die Thatsache, daß die Koralle gern auf der Unterfläche überhängender Felsen sich festsetzt.

Während man schon Ende April und Anfang Mai in den Gewässern von la Calle, dem Hauptorte der algerischen Korallenfischerei, reife Eier in den Korallenstöcken findet, scheint die Ausstoßung der Larven erst gegen das Ende des Monats August zu beginnen und in der ersten Hälfte des September ihren Höhepunkt zu erreichen; dann nimmt sie ab und im November findet, man weder Larven noch Eier in den Korallenstöcken.

Wollte man auf die Hegung der Korallen dieselben Regeln . anwenden, wie auf den Schutz der Austern und der Fische, so sollte während der Fortpflanzungszeit, also vom 15. August bis letzten September, das Fischen nach Korallen gänzlich verboten werden. Allein bis jetzt hat man an solche Schonungszeiten noch gar nicht gedacht und ehe man sie einführte, müßte man durch erneute und ausgedehnte Beobachtungen erst feststellen, ob diese Epochen auch für alle Meere dieselben sind.

Nachdem die birnförmige Planula eitle Zeitlang umhergeschwommen und vielleicht von Wind, Wellen und Strömungen über weite Strecken weggeführt worden ist, setzt sie sich mit dem breiten Ende fest und bildet nun einen kleinen warzenförmigen Kuchen, ähnlich eitlem Gugelhupf, mit einer centralen Mundöffnung, die in den einfachen Magen führt. Die kleinsten festsitzenden Wärzchen, die der französische Forscher Lacaze-Duthiers fand, hatten nur ein Viertel eines Millimeters Durchmesser, sie machten sich aber schon durch die rothe Farbe bemerklich, die von kleinen Kalknädelchen herrührt, welche in dem durchsichtigen Zellengewebe der Körpersubstanz sich bilden.

Nun wächst der Polyp rasch aus; er erhebt sich auf einer schwammigen Wurzel; der Magensack mit seinen acht Strahlenbändern im Innern und die acht um den Mund gestellten Arme lasten sich bald unterscheiden.

Aber noch ist es ein einfacher Polyp, der mit verbreiterter Basis aufsitzt.

Bald erscheint aber an einer beliebigen Stelle des rothen Körpers ein weißes Wärzchen; es wächst aus, öffnet sich, die Arme brechen durch - ein Tochterpolyp hat sich als Knospe gebildet. Dieser Knospe folgt bald eine zweite, dritte und so fort, wobei sich das Gebilde mehr streckt und in seinem Innengewebe das feste Skelett aus sich zusammenschließenden und miteinander verschmelzenden Kalknädelchen entstehen läßt.

Die Knospung schreitet rasch vorwärts, die Warze wird zu einer lang gestreuten Keule, aus deren Endknopfe stets neue Polypen sprossen. Einige derselben werden vielleicht durch stärkere Zufuhr von Nahrung oder auf eine andere Weise begünstigt, so daß sie zahlreichere Knospen in ihrem Umkreise entstehen lassen; die Stelle hebt sich empor und wird zu einem Aste, der Nebenzweige treiben kann. Aber noch sind die Korallen nicht ganz vor Feinden geborgen, vor Unfällen geschützt. Ein vorüberstreifender Fisch kann wohl einen der sperrigen Zweige abbrechen; die Narbe heilt schnell zu ohne weitere Folgen. Noch öfter werden bei der Fischerei Zweige und ganze Bäumchen abgerissen, die nicht an dem Netze hängen bleiben, auf den Boden fallen, zu Grunde gehen und später als todte Abfälle aufgefischt werden. Es giebt Nacktschnecken, welche mit ihrer bezahnten Zunge die Polypen anderer Korallen förmlich abgrasen; auf den Korallenbänken der südlichen Meere leben Fische, die mit ihren harten schnabelförmigen Schneidezähnen sogar die Kalksubstanz der Korallen abraspeln, und sie mit ihren platten Backzähnen zu zermalmen und die thierische Substanz zu verdauen. In andere Korallen bohren sich kleine Krebsthiere, Rankenfüßer oder auch Muscheln ein; in den halb weichen Bandkorallen (Alcyonium), die ich bei Cette fischte , traf ich fast regelmäßig eingebohrte Krebse an, die tief in das Innere eingedrungen waren. In anderen Fällen werden gewisse Korallen von Schwämmen oder Moossthierchen dergestalt überwuchert, daß sie vollständig absterben und ihr Skelett den Schmarotzern nur noch als Stütze dient. Ich habe sogar Bandkorallen gefunden, um deren Zweige Tintenfische, kleine Sepiolen, ihre Eier so fest mittels eines lederartigen Ringes angeheftet hatten, daß manche dieser Zweige dem Absterben nahe waren.

Weder ich noch irgend ein anderer Beobachter hat ähnliche Vorkommnisse bei der Edelkoralle gefunden. Sie hat andere Feinde, die besonders häufig an den Korallen des westlichen Mittelmeeres, bei Oran und an den spanischen Küsten, sich finden lassen. Ein kleiner Röhrenwurm, eine Serpula, die sich mit einer weißen Kalkröhre umgiebt, bohrt sich bis in den Kern ein, so daß die bearbeitete Koralle von einer Unzahl feiner, weißtapezirter Löchelchen durchbohrt scheint. Die Koralle ist, wie der Händler sich ausdrückt, „gestochen“ und wenig werth. Viele spanische Korallen nehmen die die eigentümliche Durchsichtigkeit der Politur an, welche die Korallen von la Calle und Böne an der algerischen Küste so werthvoll macht. Ihre Masse ist von einem wahren Filze von mikroskopischen Fädelt einer Alge durchschwärmt, die sich auch in andere Korallen und selbst in Muschelschalen einnistet. Zuweilen, aber selten, bilden sich auch solche Filze von mikroskopischen Kieselschwämmen in dem Geäste der Korallen aus.

Aeußerst zart und empfindlich sind die Edelkorallen gegen äußere Einflüsse jeder Art und namentlich gegen schnelle Temperatur oder Lichtwechsel. Lacaze-Duthiers, der sich jahrelang mit ihrer Beobachtung und Behandlung in Aquarien beschäftigte, klagt Jammer und Noth über diese Empfindlichkeit; bei Scirocco starben regelmäßig alle seine Korallen in den Aquarien, wenn diese auch mit beständig fließendem Seewasser gespeist waren; wenn die Temperatur des Wassers 16° C. überstieg, wurden sie unbehaglich, die Polypen schlossen sich und starben nach kurzer Zeit; es war ihm unmöglich, sie den Sommer über am Leben zu erhalten, und im Winter tödtete sie ein Sinken der Temperatur unter 12° C. In den Aquarien der Station zu Neapel, wo die Gläser vor Sonnenstrahlen und grellem Lichte geschützt sind, lebten die Korallen während der Winter- und Frühlingsmonate vortrefflich - aber immerhin gab es unter den vielen einzelne Stöcke, die beharrlich ihre Kelche geschlossen hielten, obgleich die lebhaft rothe Farbe der Bäumchen, die bei dem Tode einer gelblichen Farbe Platz macht, deutlich bewies, daß sie in voller Lebenskraft sich befanden. Lacaze-Duthiers, der nur auf sich und die Mithilfe eines intelligenten Matrosen, den er sich herangezogen hatte, angewiesen war, mußte ungemein viel Zeit, Mühe und Sorgfalt verschwenden, um seine Untersuchungen zum Ziele führen zu können; jetzt hat man es leichter in solchen Stationen wie die von Neapel, wo frisches, durchlüftetes und zugleich Nahrung enthaltendes Wasser den Behältern. in welchen man die Korallen bewahrt. unmittelbar aus dem Meere in stetem Strome zugeführt wird.

Die Korallenfischerei ist für Italien kein unbedeutender Erwerbszweig, der außer den Fischern selbst eine Menge von Arbeitern ernährt. Bis zu dem Jahre 1873 blieb die Fischerei fast stationär und beschäftigte etwa 360 Boote, van welchen 300 allein von Torre del Greco ausgingen, die anderen besonders von Alghero in Sardinien, Trapani und Messina in Sicilien, Santa Margherita [61] und Livorno in Toskana. Torre del Greco allein entsendete größere gedeckte Corallinen von 10 bis 14 Tonnen mit 10 bis 12 Mann Besatzung; die andern Orte fischten nur auf den Bänken in der Nähe ihrer Häfen mit kleineren Fahrzeugen wie diejenigen, die wir auf der Bank vor Capri arbeiten sahen. Die werthvollsten Korallen werden an der afrikanischen Küste zwischen Algier und Tunis, namentlich bei Bône und la Calle gefischt – das Kilogramm wurde im Jahre 1870 roh, wie es aus dem Meere kam, im Mittel auf 65 Franken Handelswerth geschätzt, während die an der sardinischen Küste, besonders in der Bonifaziostraße gefischten Korallen nur auf 50 Franken und die von Corsica auf 45 Franken geschätzt wurden. Nach einem amtlichen Berichte des

Die Edelkoralle.


Die Tafel soll eine Zusammenstellung verschiedener Zustände und Entwicklungsstufen der Edelkoralle geben. Sämmtliche mit Buchstaben bezeichnete Figuren sind in natürlicher Größe, die mit Ziffern bezeichneten dagegen sind bedeutend, etwa zehnmal vergrößert dargestellt.

A. Ein an einem überhängenden Felsen festgewachsenes, todtes Korallenbäumchen, wie sie bei Sciacca gefischt wurden. Die Astspitzen stehen nackt aus der theilweise rissig gewordenen und von Würmern angebohrten Rinde hervor, die ein braunrothes, schmutziges Aussehen hat. Nahe der Wurzel ist die Rinde des Stammes abgeschilftert, so daß man den feinstreifigen, inneren Kern sieht, der zu Schmuckgegenständen allein verwendet wird. B. Ein von der zool. Station zu Neapel konserviertes Korallenbäumchen, dessen Polypen fast alle entfaltet sind. Die Polypen sind durchscheinend weiß, die Rinde, in der sie sitzen, hell zinnoberroth. Die kolbigen Enden der Zweige sind besonders reich mit sprossenden Polypen besetzt.

a. Ganz kleine, noch einfache Korallen. Sie gleichen kleinen Tröpfchen von rothem Siegellack und stellen ein schon herangewachsenes Stadium dar. Die kleinsten, schon roth gefärbten Anfänge haben nicht einmal ein Viertel Millimeter im Durchmesser. b. Weiteres Stadium, wo der Mutterpolyp schon eine noch geschlossene Seitenknospe getrieben hat. c. Der Stiel ist ausgewechselt und trägt einen Endkolben mit zwei oder drei Polypen. d. Der Stiel hat sich verlängert und die Zahl der Knospen in dem Endkolben ist vermehrt. e. Noch größeres Exemplar, das sich anschickt, Seitenäste zu treiben.

1. Zehnfach vergrößerter, noch einfacher Polyp mit kugligem Körper, von oben gesehen. Man sieht in dem Mittelpunkte zwischen den acht ausgestreckten Armen, deren Randfransen entwickelt sind, auf einer etwas ovalen, hügelförmigen Erhebung die Mundöffnung. 2. Ein ähnliches Stadium im Profil. Arme und Körper des Polypen sind durchscheinend weiß, der Körper roth gesprenkelt. 3. Etwas älteres Stadium im Profil, mit ausgestreckten Armen. Am Rande des rothen Körpers sproßt eine durchscheinende, farblose Warze, ein zweiter Polyp, hervor. 4. Ein auf dem Zweige festsitzender, erwachsener Polyp, stark vergrößert, von der Seite. Die Arme sind zurückgeschlagen und aus dem wulstartig aufgetriebenen Munde schlüpft eben eine Larve, eine Plannla, hervor. 5. Im Wasser mittels eines Flimmerkleides umherschwimmende, neugeborene und einige Tage alte Larven, Plannlae, in verschiedenen Stellungen ihres ungemein biegsamen und dehnbaren Körpers.

[62] Syndikus von Torre del Greco brachten die Fischer dieses Ortes im Jahre 1869 ein: Korallen von den nordafrikanischen Küsten im Werthe von 975 000 Franken, von den sardinischen Küsten im Werthe von 1 425 000 Franken, von Corsica im Werthe von 472 500 Franken, also im ganzen für nahezu drei Millionen, und der Gesammtbetrag der Fischerei betrug etwa fünf Millionen Kilo roher Korallen. Von dem Jahre 1875 an nahm die Fischerei einen plötzlichen Aufschwung durch die Entdeckung einer reichen Bank, die etwa in der Mitte zwischen Sciacca, einer kleinen Stadt an der Südküste Siciliens, und der vulkanischen Insel Pantellaria aufgefunden wurde; im Jahre 1878 wurde eine zweite, im Jahre 1880 eine dritte in der Nähe entdeckt und diese Bänke waren so reich, daß im Jahre 1882 auf diesen Bänken 582 Boote mit 5766 Mann zwischen März und Oktober arbeiteten und 19120 Centner Korallen im Werthe von 4½ Millionen Franken erbeuteten. Aber die Herrlichkeit sollte bald ein Ende nehmen, denn diese Bänke sind jetzt schon nahezu erschöpft und zudem lieferten sie nur sehr schlechte, längst abgestorbene, durch die Fäulniß der lebenden Theile sehr oft braun und schwarz gefärbte Korallen, die nur einen sehr geringen Handelswerth, 200 bis 250 Franken der Centner, hatten.

Dieser letztere Umstand ist leicht erklärlich. Die drei genannten Bänke befinden sich in der Nähe der Stelle, wo im Juli 1831 ein vulkanischer, untermeerischer Ausbruch stattfand, infolge dessen eine Insel aufgeschüttet wurde, welche die verschiedenen Namen Julia, Ferdinandea und Graham erhielt. Der Ausbruch dauerte bis zum 12. August; Massen von Schlacken und todten Fischen wurden bei Sciacca an den Strand gespült. Dann hörte die vulkanische Thätigkeit nach und nach auf; der nur aus losen Schlackenmassen aufgeschüttete Krater wurde ein Spiel der Wellen; Ende November war die bis zu 80 Meter Höhe aufgethürmte Insel schon dem Meere gleich und Ende Dezember fand man dort 24 Faden Tiefe, während jetzt die Corallinen in einer Tiefe von 150 Faden etwa fischen. Unzweifelhaft sind diese Korallen durch den vulkanischen Ausbruch sammt und sonders getödtet worden; es waren also bei der ersten Entdeckung im Jahre 1875 etwa 44 Jahre verflossen, seit sie todt und verwesend auf dem Boden des Meeres lagen. Mögen die Korallen auch noch so widerstandsfähig sein, so zeigt die schlechte Beschaffenheit der Stücke doch, daß nur lebend gefischte Bäumchen die Mühe lohnen. In der That scheint jetzt die Korallenfischerei wieder auf den alten Standpunkt von 1870 zurückgekehrt zu sein.

Auf den von dem untermeerischen Vulkane gekochten Bänken haben sich keine neuen Korallen angesiedelt. Aber auch die fortlebenden Bänke verarmen allmählich, und in allen Berichten wiederholt sich die Klage. daß es mit der Fischerei abwärts gehe. In dem sardinischen Städtchen Alghero, wo sie früher lebhaft betrieben wurde, hatte sie schon bei meinem Besuche im Jahre 1886 fast gänzlich aufgehört. An Gesetzen und Verordnungen, welche dieselbe regeln sollen, fehlt es freilich nicht, aber meistens sind es polizeiliche oder fiskalische Maßregeln, welche zur Erhaltung und Erneuerung der Bänke nicht das mindeste beitragen.

Gerade dort aber wäre der Hebel einzusetzen, jedoch erst nach längeren, wissenschaftlichen Vorstudien, die nur mit Aufwand von viel Zeit, Mühe, Geduld und auch Geld unternommen werden könnten.

Ich erwähnte schon, daß wir nur sehr unvollständige Kenntnisse über die Fortpflanzungszeiten, über die Bedingungen, unter welchen die schwimmenden Larven der Korallen leben und sich festsetzen, und noch weniger über das Wachsthum der Korallenbäumchen besitzen. Cavolini und nach ihm Lacaze-Duthiers haben zwar über den letzten Punkt Versuche angestellt, indem sie bezeichnete Scherben, Töpfe, Wasserkrüge und dergleichen auf Korallenbänken versenken ließen, in der Hoffnung, daß dieselben später wieder aufgefischt werden könnten, so daß man das Alter der vielleicht darauf angesiedelten Korallen genau bestimmen könnte. Aber ich habe nirgendwo in Erfahrung bringen können, ob diese Versuche einen Erfolg gehabt haben. Von den durch Lacaze-Duthiers bei la Calle versenkten Töpfen wurden nach ein paar Jahren einige aufgefischt, es hatten sich aber keine Korallen darauf angesiedelt.

Man säet und züchtet jetzt Austern an geeigneten Stellen der französischen Küsten, warum sollte dies nicht auch mit Edelkorallen möglich sein?

Freilich sind die Bedingungen weit schwieriger, denn die Koralle lebt in größeren Tiefen als die Auster; aber diese Schwierigkeiten könnten doch vielleicht überwunden werden.

Es ist wahrscheinlich, daß man durch länger fortgesetzte Versuche zu Methoden geführt werden würde, nach welchen man Massen von Larven bis zu dem Zeitpunkte züchten könnte, wo sie sich festgesetzt und zu kleinen Bäumchen umgewandelt hätten, die man dann auf Bänken oder felsigen Gründen aussetzen könnte, welche leicht zu überwachen wären. Solche Orte müßten während einer Reihe von Jahren unter Bann gelegt und nur von Zeit zu Zeit dort einige Züge gethan werden, um sich zu vergewissern, daß die Korallen dort gedeihen und wachsen. Wären einmal sichere Grundlagen gewonnen, so könnten daraus die Schonzeiten abgeleitet werden, wo jegliche Korallenfischerei untersagt wäre, um die Fortpflanzung nicht zu stören; es könnte schließlich eine Art Wechselwirthschaft eingeführt werden, die für eine Reihe von Jahren das Abfischen gewisser Bänke untersagte, um später dort desto gewinnreicheren Fang zu sichern. Die meisten Bänke liegen in solcher Nähe der Küsten, daß die Ueberwachung derselben leicht ausgeführt werden könnte; es geschieht dies ja schon jetzt, besonders an den algerischen Küsten.

Das alles und weit mehr noch ist schon vor mehr als zwanzig Jahren von Lacaze-Duthiers gesagt und ausführlich begründet worden; aber seit dieser Zeit ist kein Schritt voran gemacht worden, und es wird wohl noch manches Jahr vorüberziehen, bis man sich veranlaßt finden wird, Beobachtungen anzustellen und darauf gegründete Maßregeln zu ergreifen.




Truggeister

Roman von Anton von Perfall.
(3. Fortsetzung.)
2.

Das Rittergut Schönau, dem Freiherrn Christian von Brennberg-Schönau gehörig, war noch vor zehn Jahren durch einen ehrwürdigen Hochwald von der Stadt getrennt. Für Christian war das ein heiliger unverletzlicher Bannwald, der, eine lebendige Mauer, sein geliebtes Schönau umgab und den verhaßten üblen Dunst der nahen Stadt in realem und idealem Sinne aufsaugte. Da machte sich in M … vor einigen Jahren das Bedürfniß eines zweiten Bahnhofes auf der Südseite der Stadt geltend, die Schienenwege führten unvermeidlich durch Brennbergs Wald. Verzweifelt wehrte sich der alte Mann um sein Heiligthum; er prozessirte zum ersten Male in seinem Leben, er trat bittend bis vor den Thron; dort, glaubte er, müsse man seine Gefühle ehren – Schönau war ein altes Lehen der Brennberg, hier an dieser ehrwürdigen Stelle hatten es vor Jahrhunderten seine edlen Vorfahren als Lohn der Treue erhalten – umsonst! Der Südbahnhof von M … erschien wichtiger als die Erhaltung des Schönauer Waldes. Da ergriff Christian von Brennberg zum ersten Male in seinem Leben ein Gefühl, das ihn entsetzte, das Gefühl der Empörung, des Trotzes – er begriff plötzlich Dinge, die ihm stets ein Räthsel gewesen waren: offene Auflehnung gegen die Staatsgewalt, Barrikaden, rothe Fahnen. Doch das hielt nicht lange an.

Als dann wirklich die Bresche geschlagen wurde, als seine alten Freunde krachend, ächzend zu Boden sanken, durch die kahle Lücke die Häuser der Vorstädte so unverschämt herüberzublicken begannen auf Schönau, da gab es ihm nur einen schmerzlichen Riß durch und durch, dann erfaßte ihn jene Ergebung, welche ein unabwendbares historisches Schicksal einer absterbenden Rasse gleichsam zum Trost verleiht. Es handelte sich in Christians Augen nicht um den Südbahnhof; nein, eine neue Zeit brach durch diese Lücke, der jede Absonderung, jede Individualität verhaßt war. Und mochte es auch nur ein unbedeutendes Rittergut sein hinter dem Walde – unter die Nivellirwalze damit! Platz gemacht für die steinerne Armee, die in geschlossenen Gliedern unaufhaltsam anrückte.

[63] Der Freiherr bekam jedes Mal einen Hustenanfall, wenn jemand die Rede auf den Wald und die Bahn brachte: er behauptete, die schlechte Stadtluft, die jetzt bei Nordwind gerade auf ihn zugetrieben wurde, sei daran schuld. Und sie kam wirklich an ihn heran, die Stadtluft. Der Holzhändler, dem er sonst die Thür gewiesen hatte, wurde von ihm jetzt wenigstens angehört. „Der Wald ist ja doch verloren, der Sturm kann ihn jetzt von allen Seiten fassen, die Freude daran ist mir nun einmal verdorben,“ so redete er sich selbst ein, während der gebotene hohe Preis ihn lebhaft erregte. Sein Theodor, der Lieutenant, brauchte viel Geld – so schlug er einen Morgen um den andern los. Schönau warf eine spärliche Rente ab und Christian hatte sein ganzes Leben mit finanziellen Verlegenheiten zu kämpfen, nur zu oft sparte er sich die Repräsentationskosten seines Hauses vom Munde ab. Jetzt in seinen alten Tagen fiel ihm auf einmal das Geld nur so in den Schoß, um das er oft die qualvollsten Nächte durchlebt hatte. Die Habsucht erwachte in ihm.

Was wurde denn geschätzt in der Stadt? Etwa ein alter Name, ehrenvolle Traditionen einer Familie? – Geld, und nichts als Geld! Nicht nur beim Volke, nein, auch bei Hofe! Wie sie ihn behandelten, die Herren Adjutanten und Kammerherren, ihn, den armen Brennberg von Schönau im altmodischen Frack, als er Audienz verlangte! Gab etwa sein Sohn, sein Theodor etwas auf die Güter, die er selber, der Vater, hochzuhalten gewohnt war? Konnte er die Idee in ihm retten, in der sein Vater aufgewachsen war? Nimmermehr! Die Kinder sind nicht mehr Kinder ihrer Väter wie früher, sondern Kinder ihrer Zeit. Theodor lachte über das verschnörkelte, altmodische, ärmlich eingerichtete Schlößchen, über die alten brüchigen Ahnenbilder, über den Vater selbst in dem kaffeebraunen langen Rock mit steifem Kragen, der hohen schwarzen Kravatte und den Vatermördern, über das „Euer Gnaden“ der Dienstboten, auf das so streng gehalten wurde. Geld wollte er, Geld, um zu genießen! Das war das neue Evangelium, gepredigt aller Orten, von allen Ständen, tausendstimmig scholl es heraus aus dem schwarzen Dunst der Stadt, und an den alten Mauern von Schönau brach sich das Echo.

Darum, wenn auch mit blutendem Herzen, die Taschen gefüllt von dem Erlös des alten treuen Waldes! Ihn selbst freilich, den Herrn von Brennberg mit dem kaffeebraunen Rock und der hohen Kravatte, sollte der Zeitgeist doch nicht unterkriegen, ihn nicht und das Schlößchen auch nicht, das schwur er sich wiederholt; da wollte er sich verschanzen und alle Angriffe muthig abschlagen, keinen Fuß breit weichen von seinem Standpunkt – sterben im kaffeebraunen Rock unter dem Gelächter der Menge!

Seine Frau war gestorben kurz nach der Geburt seines Sohnes, des letzten Brennberg; alles that der Vater, den Jungen in seinen Anschauungen zu erziehen; doch sonderbar, der kümmerte sich um nichts, als was hinter dem Walde lag. Seit er einmal mit dem Vater in die Stadt gefahren war, da war es vorbei, da war er nicht mehr zu halten, Schönau war ihm zu eng, zu langweilig; er war glücklich, als ihn der Vater in ein städtisches Institut gab, er lachte und schlug in die Hände vor Freude, als es zur Abfahrt ging.

Das war Christian zu viel. Er verstand sein Kind nicht mehr, an dem er hing mit der ganzen Liebe, die ein Vater zu seinem Einzigen haben kann. Er selbst hatte bis zu seinem zwölften Jahre nichts als Schönau gekannt, der Wald war seine Grenze gewesen, er hatte sich gefürchtet, sie zu überschreiten, und als er sie überschreiten mußte, welch’ qualvoller Schmerz, welch’ bitteres Weh der Trennung, welche Sehnsucht nach Hause! – Und sein Sohn, sein Theodor, der Erbe von Schönau, der letzte auf Schönau, er haßte es nahezu! Christian fühlte es damals schon, die Grenzlinie einer neuen Zeit lag zwischen Vater und Sohn, er hüben, dieser drüben! –

Noch einmal hoffte er, als sein Theodor den Entschluß faßte, Offizier zu werden. Das Brennbergsche Blut regte sich also doch in ihm, und einmal in der Uniform, so dachte der Vater, würde er auch alle die anderen neuzeitlichen, geradezu staatsgefährlichen Schwärmereien verlieren. Aber auch darin irrte er sich. Trotz aller Unterordnung im Dienste regte sich auch in dem Offizierskreise schon der neue tolle Geist. Die Kameraden frugen nicht nach dem Alter und dem Adel der Familie, sondern nach der Höhe der Zulage. Schönau war in den Augen des jungen Lieutenants erst recht ein altes fades Nest, und seine bürgerlichen Kameraden, die hie und da mit ihm hinausgeritten kamen, bestärkten durchaus nicht seinen Sinn für alte Ueberlieferungen mit ihren schlechten, Christian tief kränkenden Witzen über das alterthümliche Gerümpel.

Der alte Brennberg glaubte sich gefeit gegen die verlockenden Töne des neuen Evangeliums der Genußsucht; er lachte bei den Ermahnungen seines Sohnes, den Rest seiner Jahre es sich doch noch wohl sein zu lassen, jetzt, wo er um die Mittel dazu nicht verlegen sei. Und doch ertappte er sich oft auf einsamen Ritten durch Feld und Flur auf sonderbaren Gedanken. Er sah sich bei Hofe, in der ersten Gesellschaft der Stadt, als der reiche Brennberg, sein Wappen prangte an dem Wagenschlag, die Diener waren in den Farben seines Hauses gekleidet, trotz aller Aufklärung da drinnen in der Stadt, mit Geld in der Tasche spielt der Adel noch immer seine Rolle! Es wäre eigentlich eine drollige Ironie des Schicksals, wenn gerade die neue Zeit seinem Haus wieder zu dem alten längst entschwundenen Glanze verhälfe!

Aber er wies sie jedesmal ärgerlich ab, diese Gedanken, und wenn der Stefanelly kam, der alles Land umher förmlich auffraß, ließ er ihn jedesmal derb abfahren, so verlockend auch seine Anträge waren.

*      *      *

Die Herbstarbeiten waren im vollen Gange, die gelben Stoppelfelder verschwanden immer mehr, der rothbraune Ton des umgeackerten Erdreiches beherrschte die weite flache Landschaft. Schwere Ackergäule, Ochsenpaare tauchten da und dort schwerfällig aus dem Nebel auf, im täuschenden Lichtspiel zu unnatürlicher Größe anwachsend, während andere in der Ferne langsam zerflossen. Nur die saftgrünen langgezogenen Rübenfelder, aus denen die rothen und blauen Kopftücher und Röcke der Tagelöhnerinnen herausleuchteten, brachten Farbe in die Eintönigkeit der Landschaft.

Der alte Gutsherr von Schönau ritt von Acker zu Acker; die Reitstiefel mit gelben Ueberschlägen, der lange Rock, der zu beiden Seiten des altmodischen Sattels herabhing, die verschossene grüne Schirmmütze, der fette alte Schimmel mit dem langen Schweif, alles war weit und breit bekannt, es gab nur einen Brennberg im ganzen Lande. Die Mägde in den Rübenäckern stießen sich und kicherten, die Knechte winkten sich lachend zu, niemand grüßte ihn, das war er schon längst gewohnt. Mit gebeugtem Haupte, in Gedanken versunken, ritt er seinen Grundstücken zu.

Gegen Norden drang dumpfes Tosen aus dem Nebel. Dann hob sich dieser auf einen Augenblick; strahlenförmig sich in das Ackerland bohrende, im Bau begriffene Straßen wurden sichtbar, Dachstuhlgerippe, in denen es ameisenartig wimmelte; auf der Landstraße bewegten sich knarrend von der Stadt her ganze Kolonnen Ziegelfuhrwerke. Christian hielt an, hob sich im Sattel und blickte wie ein Feldherr prüfend auf die sich entwickelnde Schlachtlinie des Feindes. Er maß mit den Augen die Entfernung der ersten Vorposten von seinem Acker, sie betrug kaum mehr tausend Schritte! Vor ihm lagen die Felder bereits ungepflügt; wozu denn pflügen? Es verlohnte sich nicht mehr, im Frühjahr wurden sie ja überbaut, und die Leute erhielten, ohne eine Hand zu rühren, den zehnfachen Ertrag in klingender Münze. Ackern, säen, ernten, dreschen, welche Fülle von Schweiß und Sorge, und hier das blinkende schöne Geld mühelos über den Tisch heruntergestrichen! Für diese Leute war es doch eine herrliche Zeit, sie mußte es für jeden sein, der kein Brennberg war!

Da kam ein Mann auf einem Feldweg gerade auf ihn zu, und seine bekannte Erscheinung riß den Freiherrn aus diesem Gedankengang. Es war der alte Margold, sein früherer Gärtner. Auch ihn, den treuen Diener, den er noch von seinem Vater übernommen, hatte der Selbständigkeitstrieb der Zeit gepackt; Margold hatte ihn verlassen und eine Gärtnerei angefangen; und doch war er ihm nicht bloß Diener gewesen, er hatte ihn mit der alten treuen Herrenliebe geliebt, die schon längst ausgestorben ist, und Christian fühlte sich ihm jetzt noch verwandter als den in seinen Augen gesinnungslosen Standesgenossen, er war ein Stück seiner Zeit.

Christian ritt Margold entgegen, und der alte Schimmel wieherte hell auf, denn er erkannte seinen alten Futtermeister – Margold war seinerzeit im Hause Schönau alles gewesen. Der [64] Gärtner ging gebeugt und stützte sich ermattet auf den derben Knotenstock, demüthig grüßend blieb er stehen. Christian erwiderte huldvoll, er that ihm so wohl, der Gruß Margolds!

„Wohin? Wohin, Alter?“ fragte er mit der barschen Gemüthlichkeit alten Stils.

„Zu Ihnen, gnädiger Herr! Ich brauche Ihren Rath, unser einer kommt nicht mehr mit in der klugen Zeit. Wenn ich den gnädigen Herrn so wie einen einfachen Bauer der Arbeit nachschauen sehe, dann könnte ich weinen vor Zorn.“ Er stieß mit dem Stocke auf.

„Vor Zorn? Ueber mich? Du, Margold? Hat sie Dich auch schon gepackt, die moderne Krankheit?“

„Ueber Sie? Wie können Sie nur so etwas denken, gnädiger Herr! Nein, aus Zorn über meine Kinder – die Kinder eines Arbeiters, denen die Arbeit zu niedrig, eine Schande ist! Es ist ihnen zu schlecht bei mir draußen in Haching, ich soll verkaufen, in die Stadt ziehen – der Stefanelly hat ihnen den Kopf ganz verrückt. Es ist wahr, er bietet eine sündhafte Summe für das Anwesen – aber was nutzt denn das, wenn man nichts dabei im Sinn hat, als flott zu leben, den Herrn zu spielen und nichts mehr zu arbeiten, wie es den jungen Leuten jetzt allen im Kopf steckt! Ein paar Jahre, zehn Jahre vielleicht, und alles ist verlumpt und verludert in der Stadt drinnen! – Da kommen sie nun, um mich herumzukriegen mit Sachen, die mich ganz irre machen. Der Hans will die Loni Weinmann, die Nachbarstochter, heirathen. Ihr Vater hat erst vor ein paar Tagen an den Stefanelly verkauft um ein Heidengeld, und das ist dem Mädel in den Kopf gestiegen, sie will keinen Gärtnerburschen mehr zum Mann haben. Zu meiner Zeit wäre ein Mann viel zu stolz gewesen, so einem Mädel noch nachzulaufen – aber heut’ zu Tage! Mein Hans giebt ihr ganz recht und macht mir Vorwürfe, daß ich seinem Glücke im Wege stehe, und das will ich doch nicht, hei Gott nicht! So fremd einem heutigen Tages seine eigenen Kinder werden, man hat sie ja doch über alles gern! Und dann die Bertl. Das Mädel ist ja so fleißig und brav, hat mir immer Freude gemacht mein Lebtag. auch die haben sie herumgekriegt in der Stadt, und sie ist eigentlich die Hauptsache warum ich hier bin, – ich halt’s für meine Pflicht dem gnädigen Herrn gegenüber. Sie werden mir’s nicht glauben, Sie können’s ja fast nicht glauben, aber es ist doch so, Ihr Herr Sohn, der Herr Theodor, hat ihr den Kopf so voll geschwätzt; Sie wissen ja, gnädiger Herr, die Kinder sind zusammen aufgewachsen, sie haben sich gern gehabt – aber wer hätte denn an etwas weiteres gedacht!“

Brennberg fuhr auf aus seiner geduckten Stellung, in der er, mit dem Kopfe nickend, Margold zugehört hatte.

„Und wer soll denn an etwas weiteres denken?“ fragte er in strengem, kaltem Tone.

„Der Herr Theodor selbst! Ich sag es ja, die ganze Welt steht auf dem Kopf, der Herr Theodor selbst! Sie soll machen, daß ich verkaufe, hat der Herr Theodor meiner Bertl eingeredet, mit einer reichen Bürgerstochter könne heutzutage auch ein Lieutenant von Brennberg verkehren, der ständen alle Häuser offen, und er wolle mit ihr verkehren, er habe sie über alles lieb, und was so ein junger Herr denn halt alles sagt, um einem armen jungen Mädel den Kopf zu verdrehen. Da giebt’s nur zweierlei, was man glauben kann, Euer Gnaden, entweder, er meint’s wirklich ernst, der Herr Theodor – und dann ist es für beide ein Unglück – oder er hat schlimme Absichten mit meinem Kinde, dann – dann – ’s muß heraus, Euer Gnaden, dann ist er ein schlechter Mensch und macht Ihren alten Margold unglücklich! Darum bin ich gekommen, daß Sie dem jungen Herrn den Kopf zurecht setzen, daß Sie nicht eines Tags sagen können: ‚Der alte Margold selber hat dahinter gesteckt!‘ – Gott bewahre mich davor!“

Er seufzte schwer auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er seine Rede beendet hatte.

„Das glaube ich Dir alles aufs Wort, lieber Margold,“ entgegnete Christian; „ich glaube sogar, daß mein Junge die Werbung ernst nimmt. Was kümmert ihn sein Name, sein Stand! Deine Tochter ist hübsch, sie ist auch sehr klug und brav, sie vergiebt sich nichts ihm gegenüber und sie ist eines reichen Mannes Tochter, wenn Du Dein Anwesen verkaufst! Sein Vater, der alte Narr, will ja nicht, und der Bursche steckt in Schulden bis über die Ohren! Befriedigung seiner Leidenschaft, Genuß, Geld um jeden Preis, was sucht er denn sonst? Ich wüßte ein einfaches Mittel, meinem Jungen diese Heirath aus dem Kopf zu bringen: ich bin klüger als Du, verkaufe Schönau an den Stefanelly um ein paarmal hunderttausend Mark, ziehe in die Stadt – und mein Theodor sieht Deine Bertha nicht mehr an! Du bist starr, Margold, nicht wahr? Der alte Brennberg verkauft sein Schönau, die Welt geht unter, meinst Du? Sie geht aber nicht unter wegen des alten Brennberg und dreht sich lustig weiter. Ich sage Dir, Margold, Du bist nicht gescheit, wenn Du nicht verkaufst an den Stefanelly und in Deinen alten Tagen Dir Ruhe gönnst. So lange wird es ja reichen, und dann – was kümmert einen das ‚Dann‘? Bei mir ist es was anderes, ein alter Name, ein uralter Stammsitz – alter Kram, den alles verlacht, verhöhnt und den ich doch liebe! Wenn ich Du wäre, ich würde mich nicht besinnen, ich würde verkaufen und den tollen Tanz der Zeit noch mit meinen grauen Haaren mittanzen.“

Margold zerknüllte die Mütze zwischen den Händen und starrte mit offenem Munde und ängstlichem Blick auf Christian.

„Das sagen Sie, der Herr Christian von Brennberg auf Schönau! Mein Geschäft aufgeben, mit zwei noch rüstigen Armen ein Herumlungerer werden in der Stadt und ruhig zusehen, wie – wie alles das hart mit diesen Händen Erworbene zum Teufel geht, verpraßt wird von meinen Kindern? – Sie sagen das? Ja dann – dann haben sie ja ganz recht, die Bertl und der Hans, dann bin ich wirklich der einzige Blinde auf der Welt! Da muß ich ja laufen, daß ich den Stefanelly nicht versäume!“

Seine Stimme klang wie von zornigem Weinen erstickt, er wandte sich zum Gehen.

„Da schaue hin, Alter,“ – der Gutsherr wies mit dem Reitstock auf die neue Baulinie – „glaubst Du, dem gefräßigen Ungethüm dort könnten wir widerstehen? Unmöglich. Auch Schönau wird und muß fallen! Ich habe alle Hoffnung aufgegeben, es zu erhalten, Deine Nachricht über Theodor beschleunigt nur meinen Entschluß. Für uns zwei handelt es sich um etwas ganz anderes: darum, daß wir mit unseren grauen Haaren nicht von unseren Jungen selbst mit hineingezogen werden in den schwindelhaften Taumel, der jetzt alles beherrscht; das wäre das schmachvollste! In Dir steckt gesundes Arbeiterblut, bei Dir hat das weniger Gefahr, anders ist es bei mir! Mein Großvater war ein Spieler, die Brennbergs waren reich, bis er an das Regiment kam! Wenn nun das alte Laster, das unserem Stamme schon so viel Verderben gebracht hat, wieder zum Durchbruch käme! Mein Theodor kämpft bereits mit ihm, und Dir kann ich es ja sagen, Margold, das viele Geld, das ich für meinen Wald eingenommen habe, beunruhigt mich ganz sonderbar. Das glaubst Du nicht, wenn Du mich so ansiehst in meinem alten Rock und meinen Kappenstiefeln, und doch ist was daran! Ich sage Dir, ich fürchte mich vor mir selbst, darum verkaufe ich nicht, wenn ich nicht muß.“

Margold bekam eine förmliche Angst um seinen alten Herrn; der Schmerz um seinen Wald, meinte er, und der Leichtsinn seines Sohnes konnten ihn wohl verrückt gemacht haben.

„Das verstehe ich alles nicht,“ erwiderte er verwirrt; „aber das sehe ich schon, ich muß nachgeben, und vielleicht kann ich meine Kinder vor dem Taumel bewahren, denn es steckt auch in ihnen Arbeiterblut, denke ich. Nichts für ungut, gnädiger Herr, wegen dessen, was ich von dem Herrn Sohn berichtet habe! Mein Gott, er wird es sich nicht so überlegt haben. Ich hätte gar nichts sagen sollen! Es ist ja zum Lachen – der Herr Lieutenant von Brennberg und die Bertl Margold! Nein zum Lachen!“

Und Margold ging ohne Gruß den Feldweg zurück, den er gekommen war. „Nein zum Lachen!“ klang es noch aus dem Nebel, in dem er rasch verschwand.

Christian blickte seinem alten Gärtner nach und das Wasser trat ihm in die Augen. „Der hält aus! Den kriegen sie nicht unter!“ murmelte er vor sich hin, und in tiefes Sinnen versunken ritt er gegen Schönau zurück.

(Fortsetzung folgt.)




[65]

Bei der Kirche Santa Maria della Salute in Venedig.
Nach einem Gemälde von G. Schönleber.

[66]

Erinnerungen an Schliemann.

Von Rudolf Virchow.


I.

Die nachstehenden Erinnerungen an Schliemann waren schon geplant, als er noch am Leben war. Als ich ihm den Wunsch des Herausgebers dieser Blätter mittheilte, empfing ich umgehend die Aufforderung, den Plan zu verwirklichen. Jetzt, wo schon das Grab die entseelte Hülle birgt, wo noch alle meine Gedanken von dem schweren Verlust erfüllt sind, den wir erlitten haben, jetzt möge man mir verzeihen, wenn ich zunächst von den Vorgängen spreche, welche seinen Tod herbeigeführt haben.

Es war im letzten Frühjahr auf einer Reise durch den Ida, die wir zusammen während der griechischen Osterwoche unternahmen, daß eine Schwerhörigkeit, welche sich schon seit Jahren bemerkbar gemacht hatte, ziemlich schnell und fast zur Taubheit sich steigerte. Schliemann erzählte mir, daß er sich schon im Jahre 1864 während einer Reise um die Welt in Java einer schweren Operation auf dem einen Ohre unterzogen habe. Seit dieser Zeit war er niemals ganz frei von leichteren Störungen gewesen und auch schon vor unserem Aufbruche zum Ida war eine nicht unerhebliche Zunahme der Schwerhörigkeit eingetreten. Indeß machte er daraus keinen Gegenstand der Klage. Am 13. April erstiegen wir den einen Gipfel des Ida, den Sarikis (1800 m). Wir waren bei einer Lufttemperatur von 17,5° C. am Fuße des Berges angelangt, trafen aber oben einen gewaltigen Sturm aus Südwest, der eine Erniedrigung der Temperatur auf 5,5° C. und zuweilen etwas Regen mit sich brachte. Die Gewalt des Sturmes war so stark, daß wir nicht aufrecht stehen konnten und daß die Regentropfen, die uns in das Gesicht geschleudert wurden, wie kleine Steine wirkten. Halb erstarrt traten wir den Rückweg an. Spät abends langten wir wieder in unserem Nachtquartier, Evjiler, an. Am nächsten Tage ritten wir über den östlichen Paß, um die Südseite des Gebirges zu besuchen. Unser Führer brachte uns auf einen schmalen Saumpfad, der hoch über der Thalsohle längs eines schroff abfallenden Hanges hinführte. Unsere Karawane, die 6 Berittene und 2 Packpferde zählte, zog sich in einer langen Linie am Gebirge fort. Hier war es, wo die Schwerhörigkeit Schliemanns sich zum ersten Male zu einer solchen Höhe steigerte, daß es mir fast unmöglich wurde, mich ihm durch Zuruf verständlich zu machen. Er begann dann auch, über Schmerzen im Ohr zu klagen. Ziemlich spät abends kamen wir in Zeitünlü an. Am nächsten Morgen untersuchte ich sein Ohr und fand eine so starke Anschwellung, daß der Gehörgang vollkommen verschlossen erschien. Leider hatte ich mein chirurgisches Besteck nicht bei mir, so daß eine genauere Untersuchung nicht möglich war; wir begnügten uns daher mit einer Reinigung des Gehörganges und warmen Einspritzungen, die in der That Linderung brachten. Erst am 18. April trafen wir wieder in Hissarlik ein. Hier ergab sich, daß die Anschwellung ihrer Hauptsache nach aus einer knochenharten Auftreibung bestand, und daß auch in dem andern Ohr, wo noch eine Narbe von der früheren Operation erkennbar war, eine ähnliche Auftreibung saß.

Es konnte kein Zweifel darüber sein, daß es sich um wirkliche Knochenauftreibungen, sogenannte Exostosen, handelte. Zufälligerweise habe ich die Exostosen des äußeren Gehörganges früher einmal in einer besonderen Abhandlung, die in den Sitzungsberichten unserer Akademie der Wissenschaften erschienen ist, ausführlich behandelt, und zwar bei Gelegenheit einer Beobachtung über die Schädel der alten Peruaner. Während Exostosen dieser Art in Europa seltene Vorkommnisse sind, fanden sie sich bei der altperuanischen Bevölkerung in einer auffälligen Häufigkeit, so daß man sogar die Frage aufgeworfen hat, ob eine aristokratische Klasse, die von den Spanieut den Namen Orejones erhalten hat, nicht etwa die bevorzugten Träger dieser Anomalie geliefert habe. Ich habe damals nachzuweisen gesucht, daß diese Art der Exostosen eine besondere Entwickelungskrankheit darstelle, vergleichbar gewissen Exostosen der langen Knochen der Extremitäten, welche genauer bekannt sind, und daß sie in ihren Anfängen bis auf frühe Zeiten des Lebens zurückreichen. Der besondere Sitz der Exostosen im Ohr Schliemanns, ihr symmetrisches Vorkommen auf beiden Seiten, das nachgewiesene Vorhandensein wenigstens der einen im Jahre 1864 ließen nach meiner Meinung keinen Zweifel darüber, daß es sich auch bei ihm um einen alten Zustand handelte, der nur dadurch verschlimmert war, daß sich ein neuer Katarrh hinzugesellt hatte, dessen Absonderung den sonst noch wegsamen Theil des Kanals verlegt hatte. Ich konnte Schliemann nicht verhehlen, daß eine Beseitigung der Exostosen nur auf dem Wege einer schweren Operation möglich sei; ich rieth daher, unter Anwendung geeigneter Mittel das Zurückgehen des Katarrhs abzuwarten und sich der Operation nur im Nothfalle zu unterwerfen.

Nach meiner Abreise am 21. April trat die Ungeduld des damals ganz einsamen Forschers in ihr Recht. Er war gewohnt, sobald er die Umstände überlegt hatte, einen schnellen Entschluß zu fassen und ihn unweigerlich durchzuführen. Selbst in kleinen Dingen war er im höchsten Maße ungeduldig, was freilich nicht hinderte, daß er, wo es nöthig war, in großen Dingen die äußerste Geduld entwickelte. Die festgesetzte Zeit der Ruhepause, des Essens, der Arbeit mußte auf die Minute pünktlich eingehalten werden. Irgend eine Frage, die ihn beschäftigte, mußte so schnell als möglich zur Beantwortung gebracht werden; auf einen Brief erwartete er umgehend Antwort. So geschah es auch diesmal. Ich war kaum in Konstantinopel angekommen, so berichtete er auch schon wieder über die Fortdauer der Schwerhörigkeit und verlangte den Nachweis eines Ohrenarztes. Eben war ich in Berlin zurück, so kam auch schon die Meldung, daß er in Konstantinopel gewesen sei und daß der Ohrenarzt sich zur Vornahme der Operation bereit erklärt habe. Meine Warnung hatte aber doch die Wirkung gehabt, daß Schliemann vorläufig die Operation vertagte. Dafür verlangte er aber den Namen des besten Ohrenarztes in Deutschland.

Er hielt dann noch in der Troas aus bis zum Schlusse seiner Ausgrabungen im Anfange des August und weilte darauf in Athen bis zum November, wo er nach langer Trennung Frau und Kinder wiedersah. Dann aber hielt es ihn nicht länger. Schon unter dem 12. November schrieb er mir von Halle: „Hoch lebe Asklepios![1] Die Operation erklärt Professor Schwartze für ausführbar und will sie morgen früh gleichzeitig auf beiden Ohren vornehmen.“ So geschah es denn auch, und als er am 13. Dezember abends in Berlin eintraf, brachte er mir zwei Schachteln mit den bekannten elfenbeinartigen Knochenmassen mit, die aus seinen Gehörgängen ausgemeißelt waren.

Wie ein Held hatte er sich der schweren Operation, für welche es nothwendig geworden war, die eine Ohrmuschel ganz abzutrennen, unterworfen. Er litt danach an so heftigen Schmerzen im linken Ohr, daß er die Frage aufwarf: „Wie soll ich dabei Troja ausgraben?“ Auch das Sprechen erregte ihm große Schmerzen. Aber die Ohrmuschel wuchs schnell wieder an und am 6. Dezember berichtete er: „Zu meiner größten Freude geht’s seit gestern abend besser und habe ich zum ersten Male schlafen können. Heute keine Schmerzen und hoffe ich daher bald reisen zu können. Heute habe ich sogar einmal ausgehen können: es war mir eine große Wohlthat.“ In der That wurde ihm gestattet, am 12. Dezember abzureisen.

Er kam über Leipzig, wo er mit seinem Verleger, Herrn Brockhaus, sich berathen hatte, nach Berlin. Leider hatte seine Schwerhörigkeit wieder zugenommen. Er hatte Jodoformpulver in großer Menge in den Gehörgang eingeblasen und es zeigte sich, daß eine trockene Masse, von der nur ein kleiner Theil sich ohne Schwierigkeit entfernen ließ, den hinteren Theil des Gehörgangs verstopfte. Da er schon am Mittage des 14. Dezember nach Paris abreisen wollte, so rieth ich ihm, sich vorläufig mit milden, erweichenden Mitteln zu begnügen. Sein Zustand war im übrigen anscheinend ganz zufriedenstellend. Er hatte keine nennenswerthen Schmerzen, kein Fieber. Wir besuchten zusammen zu Fuß seine Sammlung im Museum für Völkerkunde, deren Neuaufstellung seinen höchsten Beifall fand. Dann aß er noch bei mir mit Appetit Frühstück, war heiter, theilnehmend und aufmerksam wie nur je in seinen besten Tagen, und als wir uns trennten, rief er mir noch zu: „Unsere nächste Reise geht nach den Canaren.“ Dieser Gedanke hatte ihn schon seit einigen Monaten beschäftigt.

Dann kam noch ein letzter Brief aus Paris. Er war im Grand Hôtel, in dem wir während der Ausstellung im Herbst [67] 1889 zusammen genußreiche Tage verlebt hatten, am 17. Dezember geschrieben. Schliemann berichtete, daß er einen Ohrenarzt aufgesucht und daß dieser ihm aus der Tiefe des Ohres außer Jodoform eine „Masse“ von Knochen herausgeholt habe. Aber er höre auf dem rechten Ohr und hoffe, das linke werde sich auch erholen. Am Abend desselben Tages gedachte er nach Neapel abzureisen, um dort, wie er mir schon in Berlin gesagt hatte, die neuen Erwerbungen der Museen, insbesondere die letzten Ausgrabungen von Pompeji, zu mustern.

Seitdem habe ich von ihm direkt nichts gehört. Die erste Nachricht kam am 27. Dezember früh durch eine telegraphische Depesche über London, sie meldete seinen am 26. erfolgten Tod. Nachher haben die Zeitungen und Privatbriefe Einzelheiten gebracht, welche den plötzlichen Verlust noch schmerzlicher machen. Nach diesen Nachrichten scheint kein Zweifel darüber zu bestehen, daß von dem kranken Ohr aus ein entzündlicher Prozeß nach innen auf das Gehirn, vielleicht auch auf einen der großen Blutleiter in der hintern Schädelgrube, sich ausgebreitet hat. Jedenfalls war der Knochen in weiterer Ausdehnung erkrankt, wie sich bei einer am 25. vorgenommenen Anbohrung des Warzenfortsatzes zeigte. Möglicherweise ist schon die Pariser Angabe so zu deuten, daß sich in dem Knochen ein cariöser Prozeß entwickelt hatte. Und so müssen wir uns in das Unvermeidliche mit, ach wie schmerzlicher, Ergebung fügen und es noch als einen Trost ansehen, daß ein schneller Tod den Mann vor dem schlimmeren Uebel einer langwierigen Umnachtung des Geistes bewahrt hat.

Heinrich Schliemann.
Nach einer Photographie von N. Raschkow jun., Hofphotograph in Breslau.

Die große Theilnahme, welche Schliemanns Hinscheiden im ganzen Vaterlande gefunden hat, mag es entschuldigen, wenn ich in solcher Ausführlichkeit den letzten Leidensgang des Freundes dargelegt habe. Er selbst hat in seinem „Ilios“ in eingehender Weise seine Entwickelungsgeschichte und seine Lebensschicksale geschildert; so soll auch der Schluß seines reichen Lebens der allgemeinen Kenntniß nicht entzogen sein. Mir persönlich lag es um so mehr nahe, den Beginn der Katastrophe mit unserer Ida-Besteigung zu besprechen, als diese Reise für mich die letzte Gelegenheit geboten hat, die ungewöhnliche Leistungsfähigkeit des seltenen Mannes zu sehen.

Schliemann war als junger Mensch von zarter Gesundheit. Er hat eine zeitlang Blut gehustet und war damals so von Kräften gekommen, daß wohlmeinende Gönner ihn bestimmten, auf ein Schiff zu gehen, um nach Venezuela zu fahren und dort in einem milderen Klima seine Gesundheit wiederzugewinnen. Bis in sein Alter liebte er die Wärme, und der Gedanke an die Tropen begeisterte ihn. Mit welchen Hoffnungen mochte er damals das Schiff betreten! Aber, wie er zu sagen pflegte, „die Götter“ wollten es anders. Das Schiff scheiterte beim Texel und er war einer der wenigen Schiffbrüchigen, welche gerettet wurden. Damit begann seine schwere Lehrzeit in Amsterdam, welche die Grundlage seiner glänzenden kaufmännischen Laufbahn geworden ist. Und trotz aller Entbehrung kräftigte sich dabei sein Körper; meines Wissens hat er später nie wieder an der Lunge gelitten.

Wohl hat er zu wiederholten Malen gefährliche Anfälle von kaltem Fieber gehabt, die ihn wiederholt an den Rand des Grabes brachten. Eine solche Erkrankung brach nach seiner Weltumsegelung in Amerika aus. Ein anderes Mal faßte ihn die Malaria in der Troas, als er seine Ausgrabungen bis tief in den Sommer hinein fortsetzte. In einem beklagenswerthen Zustande traf er damals zu einer Generalversammlung der Deutschen anthropologischen Gesellschaft in Frankfurt a. M. ein. Eine Stunde, bevor er einen Vortrag halten sollte, war er noch im Schüttelfrost; dann aber verschwand er plötzlich und erschien nach einiger Zeit, scheinbar wohl, wieder. Er hatte in aller Eile ein kaltes Douchebad genommen! So gewaltsam pflegte er seine Behandlung selbst in Angriff zu nehmen.

In der That hatte er seinen Körper auf eine wunderbare Weise abgehärtet. In Athen war er gewohnt, jeden Morgen nach dem Piräus zu reiten und ein Seebad zu nehmen, Winter und Sommer. Aber auch anderswo zog ihn in erster Linie die See an. Er badete unter den ungünstigsten Verhältnissen. Eines Tages waren wir auf einer gemeinsamen Reise durch die Troas nach Assos gekommen. Der Berg, auf dem die berühmte Feste erbaut war, ist ein alter Vulkan, die Küste vor ihm weit und breit mit gewaltigen Steinblöcken durchsetzt. Trotzdem mußten wir baden. Aber es war ein gefährliches Unternehmen, wir konnten leicht die Beine brechen, und trotzdem war keine Aussicht, daß wir in freies Wasser gelangen würden. Da zeigte er mir, wie man es machen müsse; er legte sich mit der Brust voran auf die Steine und schob sich so allmählich vor, bis der Körper wenigstens von Wasser bedeckt war. Das geschah aber erst einige Hundert Schritte von der Küste. Mehrere Stunden später, gegen Mitternacht, bestiegen wir eine kleine Felucke, um zu Wasser längs der ganzen trojanischen Küste nach dem Hellespont zurückzufahren. Unsere Fahrt begann bei gänzlich conträrem Wind und der Kapitän (Reis) mußte zwischen der Insel Mytilene und dem Festlande hin und her kreuzen. Alles wurde seekrank, ich selbst befand mich recht unwohl, nur Schliemann lag ganz still neben mir im Kielraum. Als der Morgen aufging und wir mit einer günstigen Brise längs der Küste von Alexandria Troas hinsausten, erhob er sich endlich und zeigte, wie er auf der rechten Seite ganz durchnäßt war. Er hatte im Kielwasser gelegen, hatte mich aber nicht stören wollen! Schon am Vormittage ankerten wir am Karanli Limani, einer Bucht des Hellespont, und das erste Verlangen, das Schliemann stellte, war wieder ein Bad. Ich erfüllte seinen Wunsch, ihm Gesellschaft zu leisten, und ich muß gestehen, daß es ein Labsal war, in die krystallhelle Fluth des tiefen Beckens zu tauchen. Kaum waren wir aber wieder bekleidet, so erwachte auch die Unruhe. Waren wir doch fast 8 Tage von Hissarlik abwesend gewesen und die Ausgrabungen waren inzwischen fortgesetzt worden! Was konnte da alles geschehen sein! Schliemann setzte sich in eine so eilige Bewegung, daß ich anfangs nicht Schritt halten konnte. Dann aber nahm ich alle Kraft zusammen und überholte ihn. Es wurde fast ein Dauerlauf, in dem wir nicht eher aufhörten, als bis wir wieder auf dem Burgberge standen.

Von diesen Tagen an datirt eigentlich die persönliche, ich möchte fast sagen, die körperliche Werthschätzung, in der mich Schliemann hielt. Wir hatten in den Tagen vor Assos Ritte [68] gemacht, bei denen wir bis 14 Stunden lang im Sattel gewesen waren. Da sagte er mir eines Tages: „Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Sie sind der erste deutsche Professor, der so etwas hier geleistet hat.“ Und als ich in diesem Frühjahr wieder bei ihm in Hissarlik war, kam er auf unseren Dauerspaziergang von Karanli Limani zurück und gestand ein, daß es ihm sehr schwer geworden sei, mit mir Schritt zu halten. Ich weiß nicht, ob jemals ein so nahes Freundschaftsverhältniß zwischen ihm und mir entstanden wäre, wenn ich ihm nicht auch durch körperliche Leistung einigermaßen imponirt hätte. Er nahm seine Leistungsfähigkeit als Maßstab der Vergleichung für andere; wer ihm nicht gleichkommen konnte, der erschien ihm auch minderwerthig. Das war die Folge der selbstbewußten Kraft, welche er in unaufhörlicher Uebung erworben hatte. Die Uebung derselben war ihm so sehr Bedürfniß geworden, daß er nach starker geistiger Anstrengung jedesmal in einem forcierten Ritt oder in einem Schwimmbad Erholung suchte.

Die letzten Jahre brachten freilich sichtbare Zeichen der Abnahme seiner Körperkraft. Seine Hand zitterte leicht und seine Haltung wurde etwas mehr gebeugt. Aber er verlor nicht die Herrschaft über seine Muskeln; es ist ein Irrthum, wenn man erzählt hat, er sei schließlich ein schwacher Mann geworden. Als wir von der letzten Ida-Reise zurückgekehrt waren, sagte er mir: „Ich glaube nicht, daß ich noch einmal den Sarikis besteigen werde.“ Es war ihm sauer geworden, aber er hatte es doch geleistet, und was ich betonen möchte, seine Lunge und sein Herz hatten sich gut gehalten. An ihm konnte man erkennen, was der Mensch durch gute Gymnastik aus einem ursprünglich schwachen Körper machen kann. Hätte die tückische Krankheit, die ganz lokaler Natur war, ihn nicht dahingerafft, so würde er sicher noch manches Jahr in froher Arbeit die Welt mit neuen Entdeckungen überrascht haben.

All sein Streben war dahin gerichtet, mit dem März eine neue, wie er dachte, die letzte Campagne auf Hissarlik zu eröffnen. Seit Jahr und Tag war alles daraufhin geordnet. Jetzt ist der Ort, von wo er so ruhmvoll „die Wissenschaft des Spatens“ verbreitet hat, vereinsamt. Wird sich ein Nachfolger finden, der die unterbrochene Arbeit aufnimmt und zu Ende fuhrt? Wird dies geschehen in dem Geiste treuer, hingebender Forschung, die der Verstorbene in immer reinerer Form entwickelt hatte, in der Gesinnung einer treuen Nachfolge, in der Begeisterung eines klassisch geschulten Geistes? – –



Blätter und Blüthen.

Aus den Tiroler Freiheitskriegen. (Zu dem Bilde S. 57.) Es war ein blutiges Jahrzehnt, das erste unseres sinkenden neunzehnten Jahrhunderts. In schauerlicher Majestät schritt der Kriegsgott über das gehetzte Europa, und wie die Bilder im Kaleidoskop, das des Kindes Hand planlos dreht, so wechselten die Geschicke der Länder und Völker.

Da drehten einmal die Diplomaten zu Preßburg wieder an dem Kaleidoskop: und das Steinchen Tirol, das bisher mit dem Steinchen Oesterreich zusammengelegen hatte, fiel zu dem Steinchen Bayern! Aber es waren eben keine Steinchen, keine empfindungslosen todten Massen, welche die Herren am grünen Tische da durcheinander warfen. Es waren Menschen von Fleisch und Blut, Völker von lebendigem, feurigem Selbstbewußtsein. Und so ging’s nicht!

Als die bayerische Regierung anfing, das Land Tirol nach ihrer Weise einzurichten und zu verwalten, nicht nach der alten, gewohnten, durch jahrhundertelange Ueberlieferungen geheiligten, da ergriff der Geist des Aufruhrs die verletzten Volksgemüther. Helden erstanden wie Andreas Hofer, Speckbacher, Haspinger, und selbst ein Erzherzog war ihrer Sache günstig, Und als die bayerischen Soldaten kamen, das Land zur Unterwerfung zu zwingen, da mußten sie jeden Fuß breit Boden, jeden Paß, jede Straße, jedes Haus erkämpfen. Das ganze tiroler Volk wehrte sich mit dem äußersten Heldenmuthe, vom Knaben bis zum Greise, und selbst die Mädchen und Frauen blieben nicht zurück. Sie luden die Büchsen, sie schleppten die Steine zusammen, sie wälzten die Stämme heran, sie pflegten die Verwundeten, retteten die Verfolgten, beteten für die Bedrängten – und sie vergossen mit ihren Gatten, Vätern, Brüdern ihr Blut im heiligen Kampfe für das Vaterland.

Eine Scene aus diesem Freiheitskriege Tirols hat uns die Meisterhand Mathias Schmids geschildert. Ein Trupp Männer hat ein den Thalweg günstig beherrschendes Gehöfte besetzt und die zwei blühenden Töchter des Bauern haben ihnen treulich geholfen, die Mauer gegen den Thalhang hin mit Schießscharten zu versehen, Munition herbeizuschaffen und alles zum ernsten Kampfe vorzubereiten. Da knattern die ersten Schüsse – noch sieht man den Feind kaum. – Da bricht die eine der Schwestern, von einer Kugel in die Brust getroffen, mit einem schrillen Schrei in die Kniee. Mit dem letzten Rest von Kraft hat sie sich noch hinüber zu dem Bilde des Gekreuzigten geschleppt, dort aber haucht sie ihr junges Leben aus, und die jammernden Gebete der Schwester mischen sich in das Toben des Kampfes. –     

Venedig. (Zu dem Bilde S. 65.) Gesättigt, überwältigt, fast erschöpft von der Fülle der auf uns einstürmenden Eindrücke haben wir das Denkmal von Venetias Größe, den Markusplatz mit seinen stolzen Palästen, seiner wunderbaren Markuskirche und den tausend andern Sehenswürdigkeiten verlassen und uns, vorbei an dem Dogenpalast, über die „Piazetta“ nach dem Molo begeben, um von dort aus auf wonniger Gondelfahrt die Schlange des „Canal Grande“ entlang uns wieder zu sammeln und zu neuen Genüssen zu erholen. Da, gleich wie wir uns zur Einfahrt in den Kanal anschicken, bietet sich uns ein neues Bild voll zauberhaften Reizes – es ist das Bild, welches unser Künstler festgehalten hat. Zur Linken erhebt sich, eine breite Treppe bis zu dem Spiegel des Kanals herabsendend, die Kirche Santa Maria della Salute. Zwei prächtige Kuppeln wölben sich über dem anmuthigen Bau, der im siebzehnten Jahrhundert, nach der Ueberlieferung zum Andenken an die Pest des Jahres 1630, entstand. Auf der äußersten Spitze der Landzunge aber, welche von dem „Canal Grande“ und dem „Canal der Giudecca“ gebildet wird, fällt uns ein Thurm mit einem eigenthümlichen Aufsatz ins Auge. Es ist der Thurm des Hauptzollamts, der „Dogana di Mare“, und über ihm thut eine riesige Fortuna auf eine großen Kugel Dienste als – Windfahne. Der Künstler, Professor Schönleber an der blühenden Karlsruher Kunstschule, hat diesen Schauplatz noch mit einer reichen Staffage von Fahrzeugen aller Art ausgestattet, so das Ganze zu einem Bilde von packender lebendiger Wahrheit erhebend.

Gefärbte Spielwaren haben schon oft zu Vergiftungen Anlaß gegeben, denn trotz aller gesetzlichen Vorschriften giebt es doch gewissenlose Leute, welche solche Waren mit giftigen Farben färben. Die Gefahr der Vergiftung ist bei den lose anhaftenden und sich leicht auflösenden Wasserfarben am größten, Oelfarbenanstriche sind schon weniger gefährlich, da bei ihnen die Farben in den Firniß eingerieben sind, welcher die einzelnen Farbstoffkörnchen mit der unlöslichen Masse des verharzten Leinöls umhüllt. Am wenigsten gefährlich sind aber die Farben, die man zum Färben von Kautschukspielwaren benutzt, weil hierbei als Bindemittel in Schwefelkohlenstoff gelöster Kautschuk verwendet wird, der die Farbe durch feste Verbindung mit der Kautschukunterlage ganz unlöslich macht. Diese Farbe bewirkt nach der Aussage des Hygieinikers Prof. Rosenthal, selbst wenn sie in den Mund genommen wird, keine Vergiftung. Die Kautschukspielwaren kann man darum ganz besonders zur Anschaffung für ganz kleine Kinder empfehlen. *     


Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (3. Fortsetzung). S. 53. – Nicht weinen! Bild. S. 53. – Aus den Tiroler Freiheitskriegen. Bild. S. 57. – Die Edelkoralle. Von Carl Vogt. S. 58. Mit Abbildung S. 61. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (3. Fortsetzung). S. 62. – Bei der Kirche Santa Maria della Salute in Venedig. Bild. S. 65. – Erinnerungen an Schliemann. I. Von Rudolf Virchow. S. 66. Mit Bildniß S. 67. – Blätter und Blüthen: Aus den Tiroler Freiheitskriegen. S. 68. (Zu dem Bilde S. 57.) – Venedig. S. 68. (Zu dem Bilde S. 65.) – Gefärbte Spielwaren. S. 68.


[Verlagswerbung für den „Gartenlaube-Kalender für 1892“. ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Der griechische Name des Gottes der Heilkunde.